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{"created":"2022-01-31T16:55:56.741223+00:00","id":"lit10276","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ebbinghaus, Hermann","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1: 320-334","fulltext":[{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Emp fin dungs werte.\nVon\nH. Ebbinghaus.\nI.\nDie in den beiden ersten Heften dieser Zeitschrift mitgeteilten Briefe Fechnebs \u00fcber negative Empfindungswerte werden in einer Beziehung f\u00fcr jeden, der von ihnen Kenntnis genommen hat, eine \u00e4ufserst interessante Lekt\u00fcre gewesen sein, insofern sie n\u00e4mlich einen anziehenden Einblick in die wissenschaftliche Pers\u00f6nlichkeit ihres Verfassers gew\u00e4hren. Auf die geistige Unerm\u00fcdlichkeit des ausgezeichneten Mannes \u2014 und, wie ich sagen m\u00f6chte, latenten Mitbegr\u00fcnders dieser Zeitschrift, \u2014 auf seinen durchdringenden Scharfsinn, auch auf seine Z\u00e4higkeit in Pesthaltung einmal angenommener Ansichten f\u00e4llt durch sie ein charakteristisches Licht. Aber wie steht es in sachlicher Beziehung? mit den negativen Empfindungswerten selbst n\u00e4mlich? Sollte wohl einer der ausgesprochenen Gegner der FECHNERschen Auffassung durch die vielseitige Beleuchtung und Verteidigung dieser Auffassung zu ihr bekehrt worden sein? Oder sollte die vermutlich viel gr\u00f6fsere Zahl Derer nun wirkliche Klarheit gewonnen haben, welche nicht recht wissen, was sie mit den negativen Empfindungen anfangen sollen, aber freilich auch nicht recht wissen, wie sie von ihnen als einer notwendigen Konsequenz ann\u00e4hernd richtiger Formeln loskommen k\u00f6nnen? Ich glaube beides nicht, sondern vermute, die meisten Leser der Briefe werden sie mit dem unbestimmten Gef\u00fchl aus der Hand gelegt haben, dafs die Sache doch wohl noch irgend einen Haken haben m\u00fcsse.\nFreilich hat sie noch einen Haken. Und da die Frage nach den negativen Empfindungswerten nicht nur f\u00fcr sich selbst Bedeutung hat, sondern auch auf die ganze Auffassung","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n821\ndessen, was unter positiven Empfindungswerten und unter der Messung solcher Werte zu verstehen ist, orientierend zur\u00fcck-wirkt, da ferner \u00fcber diese Dinge \u2014 wie die neueste Ver\u00f6ffentlichung von M\u00fcnsterberg zeigt \u2014 selbst unter den Psychologen von Fach noch Unklarheit herrscht, so will ich versuchen, jenen Haken aufzuzeigen und herauszuziehen.\nNicht als ob hier\u00fcber noch etwas ganz Neues zu sagen w\u00e4re. Was ich meine, ist schon vor Jahren gesagt worden, n\u00e4mlich von Delboeuf,1 aus dessen Versuchen die einzig m\u00f6gliche Interpretation der negativen Empfindungswerte besonders leicht sich ergab. Wenn seine Darlegungen nicht durchschlagend gewirkt haben, so liegt das vermutlich daran, dafs sie nicht in der ganzen ihnen zukommenden Einfachheit gegeben worden sind. Delboeuf verwickelt die Sache durch Hineinziehung der sogenannten Erm\u00fcdungserscheinungen und seiner auf diese gebauten allgemeinen Theorie der Sensibilit\u00e4t. Aber die Bestimmung positiver und negativer Empfindungswerte ist ganz und gar unabh\u00e4ngig davon, ob es Erm\u00fcdungserscheinungen giebt oder nicht, und sie kann auch in der That ganz aus diesem ihr inad\u00e4quaten Zusammenhang losgel\u00f6st werden.2\nII.\nWas negative Empfindungswerte sind und allein sein k\u00f6nnen, mufs klar werden aus der Bestimmung dessen, was positive Empfindungswerte sind. Denn wenn die Benennung der einen als negativer und der anderen als positiver Werte \u00fcberhaupt einen Sinn haben soll, so mufs sie dem Verh\u00e4ltnis Rechnung tragen, zu dessen Bezeichnung eben jene Termini dienen. Sollte sich ergeben, dafs etwas einem solchen Verh\u00e4ltnis Entsprechendes auf dem Gebiete der Empfindungen nicht existiert, so ist die Bezeichnung sinnlos, d. h. ein\n1\tBesonders deutlich nicht in den \u00e4lteren Schriften, sondern in der mit Ber\u00fccksichtigung der TANNERYSchen Bedenken geschriebenen Abhandlung in der Berne philosophique Y (1878), die im wesentlichen wieder abgedruckt ist u. d. T.: Examen critique de la loi psychophysique, Paris, 1883.\n2\tStumpf z. B. interpretiert (Tonpsychologie, I. 399) die PECHNERsche Formel gewissermafsen im DELBOEUFschen Sinne, aber frei von der irreleitenden Hineinziehung der DELBOEUFschen Theorien. Was hier \u00fcber die negativen Empfindungswerte folgt, ist nichts als die logische Konsequenz einer solchen Anschauung, die auch die meinige ist.","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nH. Ebbinghaus.\nblofser Name f\u00fcr gewisse analytische Konsequenzen, die sachlich keine Bedeutung haben. Negative Empfindungswerte m\u00fcssen also, wenn \u00fcberhaupt etwas, dann \u201eunter allen Umst\u00e4nden solche sein, die mit gleich grofsen positiven additiv verkn\u00fcpft den Wert 0 geben.\u201c1 Das heifst: wenn ich einer beliebigen Empfindung erst einen positiven und dann einen gleich grofsen negativen Wertzuwachs erteile (oder umgekehrt), so mufs der Effekt derselbe sein als ob ich sie ganz unge\u00e4n-dert gelassen h\u00e4tte. Was sind denn nun aber positive Empfindungswerte ?\nWertangaben sind Zahlenangaben, wenigstens soll das Wort hier durchaus in dieser engeren Bedeutung verstanden werden. Um aber irgend einen Inhalt durch eine Zahl darstellen zu k\u00f6nnen, ist es nicht gen\u00fcgend, dafs man ihn in Bezug auf einen anderen als gleich oder ungleich beurteilen kann, auch noch nicht, dafs die beiden etwa das Verh\u00e4ltnis einer Steigerung oder ihres Gegenteils erkennen lassen. Man mufs vielmehr aufserdem noch angeben k\u00f6nnen, was in Bezug auf die Z\u00e4hlung als Einheit betrachtet werden soll und wie oft diese Einheit in dem betreffenden Inhalt enthalten ist. Der Inhalt mufs als Vielfaches, als Mul-tiplum eines anderen beurteilt werden k\u00f6nnen, um z\u00e4hlbar zu sein.\nIch betrachte es nun als einen durch die Diskussionen \u00fcber Empfindungsmessung ausgemachten Satz : wenn blofs zwei elementarste Empfindungen eines beliebigen Gebiets in irgend einer Hinsicht miteinander verglichen werden, so wird\n1 Worte Dangers: Grundlagen der Psychophysik, S. 51. Man darf nur, um im Folgenden nicht irre zu gehen, diese Definition nicht so mifsver-stehen, wie es Langer seihst begegnet. Ein positiver Wert mit einem gleich grofsen negativen additiv vereinigt ergiebt den Nullwert. Aber wenn jene beiden Werte wieder funktionell oder urs\u00e4chlich von anderen Werten abh\u00e4ngig sind, so liefert nicht, wie L. verlangt, die additive Vereinigung dieser letzteren notwendig auch den Wert 0. Bereits Eechner hat gegen Langer ein treffendes Beispiel geltend gemacht (In Sachen d. Psychoph., S. 38). Der Cosinus eines Winkels ist gleich dem seines Nebenwinkels, nur mit entgegengesetztem Vorzeichen. Die beiden Cosinus sind, also in Bezug zu einander positive und negative Grofsen, es ist cos a -j- cos (180 \u2014 a) = 0. Aber wenn ich zuerst die beiden Winkel addiere, so ist der Cosinus dieser Summe durchaus nicht mehr gleich 0, sondern gleich \u2014 1.","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Uber negative Empfindungswerte.\n323\nniemals die eine als ein Vielfaches der anderen empfunden. Die beiden Empfindungen k\u00f6nnen als gleich oder als verschieden beurteilt werden. Wenn aber letzteres der Fall ist, so ist einfach die eine anders als die andere, aber sie ist, lediglich f\u00fcr den unmittelbaren Eindruck, kein Mehrfaches der anderen, sie enth\u00e4lt nicht die andere und aufserdem sonst noch etwas in sich. Eine blaue Fl\u00e4che ist anders als eine gr\u00fcne, aber sie hat, lediglich mit R\u00fccksicht auf ihre Farbe, nichts von einem Doppelten oder Dreifachen der gr\u00fcnen an sich, und so ist eine hellgraue Fl\u00e4che einfach anders als eine dunkelgraue, aber kein Multiplum dieser. Ein tiefer Ton klingt anders als ein hoher Ton und in \u00e4hnlicher Weise ein lauter Ton anders als ein leiser. Ganz entsprechend verh\u00e4lt es sich mit allen anderen Elementarempfindungen, mit Ger\u00fcchen, Temperaturen, Druckempfindungen, sog. Muskelempfindungen u. s. w.\nFreilich scheint es sich in einer Hinsicht anders zu verhalten, n\u00e4mlich in Bezug auf die sogenannte St\u00e4rke der Empfindungen. Man bezeichnet doch ganz allgemein die Helligkeit einer Flamme oder einer Fl\u00e4che als das 10- oder 12-fache einer anderen Helligkeit und k\u00f6nnte, wie es scheint, ganz ebenso zwanglos einen lauten Ton als das Doppelte oder Dreifache eines leisen Tones bezeichnen. Aber was hier vorliegt, ist durchaus nicht mehr eine unmittelbare Empfindung oder unmittelbare Beurteilung von Empfindungen, sondern beruht auf der Hineintragung von Erfahrungen. Wir k\u00f6nnen es allerdings erleben und erleben es alle Tage, dafs das Zustandekommen eines Helleren oder Lauteren auf einer Vervielf\u00e4ltigung eben derjenigen physikalischen Dinge oder Vorg\u00e4nge beruht, die bei geringerer Anzahl den Eindruck des Dunkleren oder Leiseren hervorrufen. Um von einer Fl\u00e4che einen Eindruck gr\u00f6fserer Helligkeit zu haben, kann man die Anzahl der sie beleuchtenden Gasflammen vermehren, um einen Ton zu verst\u00e4rken, vervielf\u00e4ltigt man die Anzahl der ihn hervorbringenden Instrumente. Solche Erfahrungen in Bezug auf die Ursachen der Empfindung tragen wir in deren unmittelbare Anschauung hinein und glauben das Z\u00e4hlbare, das den einen allerdings anhaftet, auch ohne weiteres in den anderen zu haben. Es ist psychologisch schwierig, hiervon loszukommen, wie es ja auch schwierig ist, einem grasgr\u00fcnen Apfel nicht sofort anzusehen, dafs er sauer ist. Aber wenn man die doch immerhin","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nH. Ebbinghaus.\nm\u00f6gliche Losl\u00f6sung von den Nebengedanken vollzieht, dann wird es klar, dafs, wie der blofse Gesichtseindruck eines Apfels nichts von S\u00e4ure an sich hat, so auch der blofse Eindruck einer Helligkeit nichts von der Mehrheit von Kerzen besitzt, auf deren Vorhandensein er allerdings vielfach beruht, und dafs der Eindruck einer gr\u00f6fseren Helligkeit lediglich etwas Anderes ist als der einer geringeren. Dafs wir einer \u00e4hnlichen T\u00e4uschung in Bezug auf die Farbent\u00f6ne und Tonh\u00f6hen nicht unterliegen, sondern in dieser Hinsicht ohne weiteres sicher sind, die Verschiedenheiten nicht als Multipla beurteilen zu k\u00f6nnen, liegt lediglich daran, dafs uns hier die auf die Ursachen bez\u00fcglichen Nebenerfahrungen fehlen. St\u00e4nden uns aber \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit dieser Verschiedenheiten von der Schwingungsfrequenz ebenso leichte und allt\u00e4gliche Erfahrungen zu Gebote, wie \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit der Empfindungsst\u00e4rke von der Anzahl der \u00e4ufseren Ursachen, so k\u00f6nnte es gar nicht fehlen, dafs wir in den hohen T\u00f6nen und den blauen Farbenschattierungen etwas Schnelleres zu empfinden meinen w\u00fcrden als in den \u00fcbrigen.\nAbgesehen von Nebenerfahrungen und rein an und f\u00fcr sich beurteilt sind also zwei einfache Empfindungen in keiner Hinsicht ein Vielfaches voneinander ; es kann daher auch nicht die eine in der Einheit der anderen irgendwie ausgez\u00e4hlt werden.1\n1 Man pflegt die obige Behauptung vielfach so auszusprechen: Alle sog. Intensit\u00e4tsunterschiede der Empfindungen sind eigentlich Unterschiede der Qualit\u00e4t. Ich vermeide diese Formulierung absichtlich, weil die in sie eingehenden Termini nicht ganz eindeutig sind und eine Diskussion in ihnen daher leicht zu Verwirrung oder zu einem blofsen Wortstreit f\u00fchrt. T\u00f6ne und Ger\u00e4usche z. B. unterscheiden sich in zwiefacher Weise voneinander, in Bezug auf hoch und tief und in Bezug auf laut und leise. Man bezeichnet jenes als ihre Qualit\u00e4t, dieses als ihre Intensit\u00e4t. In beiden Beziehungen besteht nun die einfache That-sache, dafs ein Ton an und f\u00fcr sich, verglichen mit einem anderen nicht als Multiplum beurteilt werden kann. Man formuliere dies \u201edie Intensit\u00e4tsunterschiede der T\u00f6ne sind eigentlich als Qualit\u00e4tsunterschiede aufzufassen\u201c, so entsteht sofort folgendes Plaidoyer. A.: Wie kann man nur der Behauptung, dafs Intensit\u00e4ten eigentlich Qualit\u00e4ten seien, \u00fcberhaupt einen Sinn abgewinnen? Beides sind doch wohl auseinanderzuhaltende, v\u00f6llig heterogene Grundeigent\u00fcmlichkeiten der Empfindung, die freilich nicht getrennt voneinander Vorkommen, aber deshalb doch nicht miteinander identifiziert werden d\u00fcrfen. B. : Wie kann man nur","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Uber negative Empfindungswerte.\n325\nMan hat bekanntlich ungez\u00e4hlte Male und mit Emphase aus diesem Satze die Folgerung gezogen, dafs es mit einer Messung der Empfindungen nichts sei und nichts sein k\u00f6nne, denn wenn man die Empfindungen als solche nicht z\u00e4hlend miteinander vergleichen kann, wie kann man sie messen? Eine andere Konsequenz, welche die gl\u00fccklich halb gekl\u00e4rte Sachlage aufs neue zu verwirren droht, hat neuerdings M\u00fcnsterberg1 aus demselben Satze abgeleitet, dafs n\u00e4mlich die den Empfindungen an sich allerdings abgehende Mefsbarkeit in begleitenden Muskelempfindungen zu suchen sei. Dafs beide Folgerungen irrig sind, und wo die Empfindungsz\u00e4hlung bezw. -messung eigentlich zu suchen ist, dar\u00fcber orientiere ich zun\u00e4chst an einem besonders einfachen zu ihr geh\u00f6rigen Falle, n\u00e4mlich an der r\u00e4umlichen Messung.\nDie r\u00e4umlichen Bestimmungen bilden wie Farben, T\u00f6neu.s.w. ein eigent\u00fcmliches Empfindungsgebiet und nichts anderes. Auch f\u00fcr dieses G-ebiet aber hat durchaus der oben formulierte allgemeine Satz G\u00fcltigkeit, dafs je 2 Elementarempfindungen zwar als gleich und verschieden, aber nicht als Vielfache voneinander beurteilt werden k\u00f6nnen. Die psychischen Elemente der Baum-empfindung oder Baumanschauung sind die Orte. Zwei Orte nun k\u00f6nnen als gleich, d. h. als gleichgelegen empfunden werden (z. B. bei successive!\u2019 Betrachtung oder Betastung) oder\nden einfachen Sinn der Behauptung, dafs Intensit\u00e4ten Qualit\u00e4ten seien, \u00fcberhaupt verkennen? Die sogenannten Intensit\u00e4tsverschiedenheiten der Empfindungen pflegt man aufzufassen als solche, die einer quantitativen Bestimmung zug\u00e4nglich sind, bei den Qualit\u00e4tsverschiedenheiten giebt jedermann zu, dafs hiervon keine Bede sein k\u00f6nne. Nun ist aber diese Auseinanderhaltung der beiden Arten von Verschiedenheiten irrig. Wenn man absieht von Erfahrungen bez\u00fcglich der \u00e4ufseren Beize, so sind bei Intensit\u00e4ten Qualit\u00e4tsbestimmungen ebenso unm\u00f6glich, wie bei Qualit\u00e4ten; Empfindungen k\u00f6nnen immer nur als gleich oder verschieden beurteilt werden, nicht aber als ein Vielfaches. Und eben das ist der Sinn des Satzes, dafs Intensit\u00e4ten im Grunde auch Qualit\u00e4ten seien. (Als Beleg solcher Diskussionen diene M\u00fcnsterberg: Beitr\u00e4ge z. experiment. Psychol., H. 3, S. 5\u201410. Ebda. S. 3 auch die litterarischen Verweise). Nat\u00fcrlich haben A. und B. beide recht; sie gebrauchen eben die allgemeinen Termini in etwas verschiedenem Sinne. Dafs ihre Er\u00f6rterung \u00fcberfl\u00fcssig sei, kann man auf dem Boden dieser Termini nicht eigentlich sagen, aber dafs sie f\u00f6rderlich sei, doch gewifs auch nicht.\n1 Beitr\u00e4ge z. experim. Psychologie, Heft 3.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nH. Ebbinghaus.\naber als ungleich. Die Ungleichheit kann in mehreren Beziehungen oder Arten stattfinden; ein Ort z. B. kann oben liegen, ein anderer unten, ein Ort rechts, ein anderer links, einer vorn, der andere hinten. Auch k\u00f6nnen mehrere Arten der Ungleichheit gleichzeitig bestehen, indem z. B. ein Ort rechts oben von einem anderen liegt. Niemals aber enth\u00e4lt die Ungleichheit zweier Orte, wenn blofs diese an und f\u00fcr sich beurteilt werden, etwas Vielfaches und Z\u00e4hlbares; der eine Ort wird anders empfunden als der andere, das ist alles. Oben sein ist etwas ganz anderes als unten sein (worin anders, das empfindet jeder in unmittelbarer Anschauung), es ist aber nicht ein Doppeltes oder \u00fcberhaupt irgend ein Vielfaches von unten sein; ein Ort rechts von einem anderen sieht anders aus als eben dieser andere, der da links von jenem liegt, aber keiner ist ein Multiplum des anderen. Freilich k\u00f6nnen auch hier Nebenerfahrungen stattfinden, durch deren Hineintragung der Anschein numerischer Verschiedenheiten entsteht. Ein Ort oben kann mit einer langen Stange in Verbindung stehen, durch sie gest\u00fctzt werden u. dergl., ein Ort unten mit einer kurzen Stange; ein Ort rechts kann durch wenige Bewegungen erreichbar sein, ein Ort links erst durch sehr viele u. s. w. Aber wenn man absieht von solchen allerdings z\u00e4hl-und mefsbaren Nebenbestimmungen und lediglich die Orte als solche betrachtet, so haben ihre Verschiedenheiten nichts Quantitatives an sich und sind nichts Vielfaches voneinander.\nWann und wodurch wird denn nun also das R\u00e4umliche numerisch bestimmbar? Dadurch, wie allbekannt, dafs nicht mehr blofs zwei, sondern mindestens drei Raumelemente mit einander verglichen werden. Zwei Orte sind blofs \u00fcbereinstimmend oder nicht \u00fcbereinstimmend in ihrer Lage, sonst nichts. Werden aber drei in Betracht gezogen, so k\u00f6nnen die zwischen ihnen bestehenden Ortsverschiedenheiten, die Distanzen, verglichen werden und diese sind nicht mehr nur gleich und ungleich, sondern sie sind auch gr\u00f6fser und kleiner in Bezug zu einander und namentlich k\u00f6nnen sie als Vielfache voneinander beurteilt werden. Von 2 Punkten a und b liegt einfach der eine oben, der andere unten. Bei drei Punkten a, b und c aber kann a verglichen mit c mehr oder weniger oben, h\u00f6her oder tiefer liegen als b verglichen mit c;","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Uber negative Empfindungswerte.\n327\ndie Ortsverschiedenheit a/c1 kann ebenso grofs, gr\u00f6fser oder kleiner sein als die Ortsverschiedenbeit b/c. Ist eine beliebige Ortsverschiedenheit b/c erstens ebenso grofs wie die Ortsverschiedenheit a/b und zweitens eine Verschiedenheit derselben Art wie a/b (d. h. in gew\u00f6hnlicher Ausdrucksweise : liegen die Orte b und c in derselben Eichtung in Bezug zu einander wie die Orte a und b), dann ist die Distanz a/c das Doppelte der Distanz a/b (oder b/c)] sie enth\u00e4lt die letztere zweimal in sich; ausgez\u00e4hlt oder gemessen in der Einheit a/b (bezw. b/c) hat sie den Zahlwert 2. Analog verh\u00e4lt es sich mit gr\u00f6fseren Zahlwerten. \u00dcberall aber, wo B\u00e4umliches mit Zahl- und Mafs-bestimmungen auftritt, beruhen diese in solcher Weise auf einer Vergleichung nicht der Elemente des Baumhohen, der Orte, sondern der zwischen ihnen bestehenden Verschiedenheiten, auf einer Vergleichung der Distanzen; es geh\u00f6ren also zu einer numerischen Baumbestimmung nicht zwei, sondern mindestens drei (im allgemeinen aber 4) Orte. Ob diese bei der Zahlenangabe ausdr\u00fccklich genannt sind oder nicht, ist gleichg\u00fcltig; hinzugedacht sind sie allemal; ohne die, mindestens implizierte, Bezugnahme auf sie hat die Zahlenangabe keinen Sinn. Ein Berg ist 1800 m hoch, heifst: ein Ort auf dem Gipfel des Berges und ein beliebiger Ort auf dem Meeresniveau haben, blofs mit B\u00fccksicht auf das Oben-unten beurteilt, eine solche Lageverschiedenheit voneinander, dafs sich zwischen beiden 1799 andere Orte angeben lassen, welche s\u00e4mtlich, jeder von seinem Nachbar und wieder blofs mit B\u00fccksicht auf das Oben-unten, eben die Distanz haben, die man konventionell als ein Meter bezeichnet.\nIch sage nun: ganz dieselbe Art von Mefsbarkeit, die f\u00fcr das r\u00e4umliche Empfindungsgebiet besteht, besteht (im Prinzip) auch f\u00fcr alle \u00fcbrigen Empfindungs-\n1 Der Vertikalstrich bedeutet ein blofses Trennungszeichen der Buchstabensymbole und ist absichtlich gew\u00e4hlt, um jeden irreleitenden Gedanken an Verwandtes, aber nicht hierher Geh\u00f6riges auszuschliefsen. Die Ortsverschiedenheit oder Distanz a/b ist weder aufzufassen als Differenz (denn eine Differenz besteht nur zwischen Zahlen, die blofsen Orte a und b aber sind nichts Z\u00e4hlbares), noch ist sie identisch mit der Strecke ab im geometrischen Sinne, d. h. mit dem Inbegriff der s\u00e4mtlichen Orte, die in der Richtung b zwischen a und b liegen. Sie ist hlofse Punktdistanz und als solche etwas sui generis, dessen man unmittelbar inne wird, wenn man die beiden Punkte ansieht oder betastet.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nH. Ebbinghaus.\ngebiete; diejenige Mefsbarkeit von Empfindungen aber, deren Fehlen man so oft als etwas Besonderes der Farben, T\u00f6ne, Ger\u00fcche u. s. w. hervorhebt, besteht auch f\u00fcr das R\u00e4umliche nicht. Sucht und versucht man die Empfindungsmessung nur da und auf solche Weise, wie ihre M\u00f6glichkeit f\u00fcr das R\u00e4umliche seit undenklichen Zeiten vor Aller Augen liegt, so wird man sie auch finden. Wenn man sie freilich anderswo gesucht und dann nicht gefunden hat, so soll man sich nicht wundem ; man hat eben Unsinniges gesucht und damit nur konstatieren k\u00f6nnen, dafs eine von schiefen Gesichtspunkten angefafste Sache allerdings nicht geht.\nAm deutlichsten ist dieses Verh\u00e4ltnis vielleicht, n\u00e4chst den Raumempfindungen, bei den Farben- und speziell den Helligkeitsempfindungen. Ich beschr\u00e4nke mich daher darauf, die Nutzanwendung des oben Ausgef\u00fchrten auf die letzteren zu machen. Wie zwei Orte, so sind auch zwei Helligkeiten, an und f\u00fcr sich betrachtet, lediglich gleich oder ungleich und weiter nichts. Mehrere Arten der Ungleichheit, wie bei den Orten, giebt es nicht, wenn man blofs Helligkeiten ins Auge fafst; diese bilden eine bestimmte Art der Verschiedenheiten, welche den Farben im allgemeinen zukommt. Alle Vorstellungen ferner von einer numerischen Gr\u00f6fse der Verschiedenheiten der isolierten Helligkeiten beruhen auf Hineintragung von Nebenerfahrungen, nicht auf unmittelbarer Beurteilung. Numerisch bestimmbar wird die Verschiedenheit von Helligkeiten f\u00fcr die unmittelbare Empfindung erst dann (in diesem Falle aber ist sie es auch immer), wenn ihrer nicht mehr zwei, sondern mindestens drei vorhanden sind und nicht mehr die einzelnen Helligkeiten, sondern die zwischen ihnen bestehenden Verschiedenheiten oder Distanzen verglichen werden, wenn die Art und Weise beurteilt wird, um einen gel\u00e4ufigen und treffenden Ausdruck zu gebrauchen, wie die einzelnen Helligkeiten gegen einander abstechen. Sind z. B. die vier Helligkeiten a, b, c und d gegeben, so kann man beurteilen, ob die Distanz je zweier von ihnen gr\u00f6fser oder kleiner ist als die Distanz je zweier anderen, d. h. ob, abgesehen von allen Nebenerfahrungen und rein an und f\u00fcr sich betrachtet, b st\u00e4rker oder schw\u00e4cher von a absticht als c von b oder d von c. Findet sich dann etwa, dafs die beiden Verschiedenheiten a/b und b/c einen gleichen Eindruck machen,","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"TJber negative Empfindmgswerte.\n329\ndafs also a und b sich ebenso sehr voneinander abheben, wie b und c, so w\u00fcfste ich nicht, wie man dieses Verh\u00e4ltnis anders ausdr\u00fccken sollte, als indem man sagte, die Distanz a/c ist das Doppelte von a/b (oder auch von b/c), c sticht doppelt so stark von a ab, wie b von a oder wie c von b. W\u00fcrden alle drei Distanzen a/b, b/c und c/d als gleich grofs beurteilt, so w\u00e4re a/d das Dreifache von jeder der aneinander schliefsenden und untereinander gleichen Teildistanzen. Durch Fortsetzung solcher Vergleichungen kann man offenbar jede beliebige Helligkeitsdistanz in jeder beliebigen Einheit ausz\u00e4hlen oder ausmessen, und f\u00fcr die rein subjektiven Helligkeitsempfindungen in Beziehung zu einander numerische Werte gewinnen, die je nach Umst\u00e4nden ganzzahlig oder auch gebrochen sein k\u00f6nnen.\nWas man so thut, ist prinzipiell genau dasselbe, was bei der r\u00e4umlichen Messung geschieht. \u201eEine gewisseRaumdistanz ist das Doppelte einer anderen\u201c heifst: es l\u00e4fst sich innerhalb der ersten Distanz ein Ort angeben, der aus ihr zwei aneinanderschliefsende und gleichgerichtete Teildistanzen macht, welche ihrerseits beide gleich der zweiten Distanz und also auch untereinander gleich sind. Und ganz konform ist eine Helligkeitsdistanz das Doppelte einer anderen, wenn sich innerhalb jener eine Helligkeit angeben l\u00e4fst, welche zwei untereinander und einer dritten gleiche kleinere Helligkeitsdistanzen abteilt. Zahlenwert also hat nicht die einzelne Helligkeit verglichen mit einer anderen, wenn blofs die Empfindungen und nicht die hier gar nicht in Betracht kommenden objektiven Ursachen beurteilt werden. Sondern Zahlwert haben, ganz wie bei den Orten, immer nur die Distanzen, die Abst\u00e4nde je zweier Helligkeiten in Bezug zu einander. Um die Helligkeiten a und b rein subjektiv numerisch mit einander zu vergleichen, ist immer eine dritte Helligkeit c erforderlich, auf die jene beiden bezogen werden, in Bezug auf welche der Abstand oder das Abstechen von a und b beurteilt wird. Ob diese zum Vergleich unbedingt n\u00f6tige Helligkeit c ausdr\u00fccklich genannt ist oder nicht, ist gleichg\u00fcltig. Hinzugedacht mufs sie sein, sonst hat die Zahlenangabe keinen Sinn. Man kann aber f\u00fcr sie, ganz ebenso wie bei H\u00f6henangaben, Temperaturbestimmungen u. dergl., ein f\u00fcr allemal eine konventionelle Festsetzung treffen, so dafs sie dann bei den einzelnen Zahlenangaben nicht immer ausdr\u00fccklich genannt zu werden braucht, obwohl sie immer mit gemeint sein mufs.","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nH, Ebbinghaus.\nMan k\u00f6nnte z. B. sagen, alle subjektiven Helligkeitsangaben sollen auf diejenige Helligkeit als Ausgangspunkt bezogen werden, welche man empfindet, wenn man nach der Betrachtung des diffusen Wolkenhimmels in einen m\u00f6glichst lichtlosen Raum blickt.1 Denkt man sich einen solchen konventionellen Nullpunkt h0 hinzu, dann gewinnen auch Zahlenangaben, in denen blofs von zwei Helligkeiten die Rede ist, als reine Empfindungswerte einen Sinn. Ein Grau hl0 ist zehnmal so hell als ein anderes h1 heifst dann : zwischen h10 und jenem willk\u00fcrlichen Nullpunkt h0 lassen sich neun andere Grau angeben, von denen je zwei aufeinanderfolgende stets ebenso stark gegeneinander abstechen wie \\ von h0.\nDie \u00dcbertragung auf andere Empfindungsgebiete, namentlich auf die besonders wichtige Tonwelt, liegt auf der Hand. \u00dcberall kann man das unmittelbar Empfundene z\u00e4hlen und messen, ganz wie auf dem Gebiete der Raumempfindungen, aber \u00fcberall, wieder ganz wie bei dem R\u00e4umlichen, nicht schon die isolierten Elemente, sondern erst die Gr\u00f6fse der zwischen ihnen bestehenden Verschiedenheiten.\nAlles das, wie mehrfach betont, prinzipiell. Praktisch freilich bestehen grofse und stellenweise ungeheure Verschiedenheiten zwischen der r\u00e4umlichen und jeder anderen Art der Empfindungsmessung, die das Verkennen der prinzipiellen Verwandtschaft wieder begreiflich und entschuldbar machen. Die r\u00e4umliche Empfindungsmessung ist f\u00fcr das t\u00e4gliche Leben von aufserordentlicher Bedeutung und wird daher unendlich h\u00e4ufig ge\u00fcbt; sie wird gleichzeitig durch eine besondere Eigent\u00fcmlichkeit der Natur, n\u00e4mlich durch die M\u00f6glichkeit, r\u00e4umliche Distanzen aufeinanderzu legen, zu einer besonders leichten und genauen Sache. Die sonstigen Empfindungsmessungen dagegen spielen im t\u00e4glichen Leben eine geringere, teilweise gar keine Rolle; sie sind also teils gar nicht, teils nur unvoll-\n1 Man wolle die obige Bestimmung blots als Beispiel betrachten und nicht daran herumm\u00e4keln. Erstens w\u00e4re sie f\u00fcr genaueste Zwecke bei weitem noch nicht genau genug und bed\u00fcrfte mannigfacher Zus\u00e4tze, und zweitens ist es fraglich, ob sie gerade praktisch bequem sein w\u00fcrde. Aber in anderen F\u00e4llen ist das nicht anders. Das Meeresniveau z. B,, auf welches wir unsere Bergh\u00f6hen beziehen, ist erstens etwas stetig Fluktuierendes, so dafs noch genauere Bestimmungen n\u00f6tig sind, welche H\u00f6he eigentlich gemeint ist, und kann zweitens im Inneren des Landes auch immer erst durch mannigfache Vermittelungen festgestellt werden.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n331\nkommen ge\u00fcbt, und sie werden ferner, wieder durch besondere Eigent\u00fcmlichkeiten der Natur, zu relativ schwierigen und ungenauen Operationen. Aber diese Unterschiede des praktisch Brauchbaren und Unbrauchbaren, des in der Ausf\u00fchrung Leichten und Schwierigen, haben f\u00fcr die Wissenschaft nur sekund\u00e4re Bedeutung. F\u00fcr das Eindringen in die Struktur sozusagen des Empfindungslebens kommt es durchaus auf die prinzipiellen Verh\u00e4ltnisse an.\nAufserdem ist \u00fcbrigens die Bestimmung von Empfindungsdistanzen keineswegs in dem Grade schwierig und unsicher, wie man dies gelegentlich behauptet findet. Wenigstens nicht f\u00fcr Helligkeitsdistanzen, \u00fcber die ich Erfahrungen besitze. Nat\u00fcrlich darf man sich nicht mit den bez\u00fcglichen Fragen an vorwiegend abstrakt besch\u00e4ftigte Gelehrte wenden. Die allen Menschen verliehene Anschauung kann freilich auch ihnen nicht abgehen, allein sie ist erstens nicht ausgebildet und ist zweitens meist durch physikalische oder auch durch erkenntnistheoretische Nebengedanken getr\u00fcbt. Aber man frage Zeichen-und Malsch\u00fcler, Verk\u00e4ufer in Stickwaren- und Stoffgesch\u00e4ften, kurz Leute, die mit Farben zu thun haben, von objektiven Helligkeiten und Atherwellen nichts wissen und namentlich noch nicht a priori \u00fcberzeugt sind, dafs es das, was sie sehen, eigentlich nicht geben kann, und man wird finden, dafs ihnen die rein subjektive Beurteilung gleicher und ungleicher Grade des Abstechens der Farben und Helligkeiten voneinander etwas durchaus Gel\u00e4ufiges ist. Auch Studenten sind brauchbar. Die Bestimmung gleicher Helligkeitsdistanzen durch die vox populi gewissermafsen eines Auditoriums ist ein ganz sicheres V orlesungsexp eriment.\nMit dem Bisherigen w\u00e4re nun endlich die oben (S.322) gestellte Frage beantwortet: was sind positive Empfindungswerte? Sie sind, lautet die Antwort, auf allen \u00fcbrigen Empfindungsgebieten eben das, was sie bei den Raumempfindungen sind, n\u00e4mlich Empfindungsdistanzen oder Distanzempfindungen zwischen je zwei Empfindungselementen des betreffenden Gebiets. Von anderen Zahlwerten der Empfindung zu sprechen hat gar keinen Sinn.\nDamit ist aber auch sofort die weitere Frage klar, auf die wir ja hinauswollten, was n\u00e4mlich negative Empfindungswerte sind und allein sein k\u00f6nnen. Negative Werte sind all-\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie.\t22","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nH. Ebbinghaus.\ngemein solche, die mit gleich grofsen positiven additiv vereinigt, diese annullieren. Etwas anderes negativ zu nennen, hat wiederum gar keinen Sinn. Es sei nun gegeben ein Empfindungswert ejem) dieser werde vermehrt um den Wert cm/e\u201e ; es resultiert die Empfindung ejen. Jetzt entsteht die Frage : Durch Zuf\u00fcgung welcher weiteren Empfindung wird der Effekt des Zuwachses ejen wieder aufgehoben? welchen Empfindungswert mufs ich zu e0/e\u201e hinzuthun, um die Ausgangsempfindung ejem wiederherzustellen? Offenbar ist die erforderliche Zuthat als ejem zu bezeichnen, d. h. ich mufs von en aus denselben Schritt zur\u00fcckthun, den ich von em aus vorw\u00e4rts that. Die Empfindungsdistanzen ejen und ejem, die zwar zwischen denselben Elementen bestehen, aber in gegens\u00e4tzlicher Richtung, sind Werte, die sich ganz wie positive und negative Gr\u00f6fsen zu einander verhalten. Handelt es sich z. B. um Helligkeiten und ist en heller als em, so ist ejea die Empfindung der Aufhellung, die ich habe, wenn ich nach dem Anschauen von em zu en fortschreite, und ganz entsprechend umgekehrt ejem die Empfindung der Verdunkelung, mit der ich die R\u00fcckkehr von en zu em erlebe. Die Helligkeiten sind in beiden F\u00e4llen dieselben, auch die Gr\u00f6fse des zwischen ihnen bestehenden Gegensatzes, aber die Art dieses Gegensatzes ist eine zwiefach verschiedene, und diese Verschiedenheiten haben genau die Eigent\u00fcmlichkeit positiver und negativer Werte : additiv vereinigt annullieren sie sich. Negative Empfindungswerte also, so ist zu sagen, sind, ganz wie positive, Empfindungen einer Distanz, einer Verschiedenheit, zwischen irgendwelchen Elementarempfindungen, nur ist die Richtung dieser Distanz in entgegengesetzter Richtung von derjenigen zu rechnen, die man f\u00fcr die positiven Empfindungswerte gew\u00e4hlt hat.\nDas beruht alles nicht auf besonderen Annahmen oder Konventionen, sondern ist eine einfache und ganz unausweichliche Konsequenz der Art, wie wir nun einmal empfinden. Numerischen Wert haben f\u00fcr uns nicht die Elementarem-pfindungen an sich, sondern die zwischen ihnen bestehenden Distanzen. Jede Distanz aber hat ihrer Natur nach zwei Richtungen, die unmittelbar als etwas Verschiedenartiges empfunden werden. Ein Sprung nun von dem einen Ende der Distanz zu dem anderen in einer Richtung und dazu derselbe Sprung in umgekehrter Richtung, das hat denselben Effekt,","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindung sw erte.\n333\nals ob gar kein Sprung stattgefunden h\u00e4tte, d. h. beide Spr\u00fcnge bezw. Richtungen verhalten sich v\u00f6llig wie positive und negative Gr\u00f6fsen zu einander. In welcher Richtung man die Distanzempfindung als positiv und in welcher als negativ bezeichnet, ist nat\u00fcrlich irrelevant ; die Bezeichnungen haben ihren Sinn nur in wechselseitiger Beziehung zu einander. Betrachtet man z. B. den Eindruck einer weifsen Spitze auf schwarzem Grunde als etwas Positives, dann ist der Eindruck desselben Spitzenmusters in Schwarz auf weifsem Grunde das entsprechende Negative und umgekehrt. Aufsteigende Tonfolgen und absteigende Tonfolgen, Morgend\u00e4mmerung und Abendd\u00e4mmerung, Crescendo und Decrescendo sind andere Beispiele solcher corre-laten Empfindungswerte.\nGanz wie von hypothetischen Annahmen, so ist die richtige Bestimmung der negativen Empfindungswerte aber ferner auch v\u00f6llig unabh\u00e4ngig von irgend welchen Beziehungen, in denen die Empfindungen sonst noch stehen, wie z. B. von der in dem WEBERschen Gesetz ausgesprochenen Beziehung, an die hier vor allem zu denken ist. Wenn die als \u00e4ufsere Ursachen der Empfindungen auf den Organismus einwirkenden Energien verst\u00e4rkt werden, so wachsen auch die Empfindungswerte (in dem mehrfach dargelegten Sinne), und zwar in einer eigent\u00fcmlich verlangsamten, hinter der Proportionalit\u00e4t zur\u00fcckbleibenden Weise. Streckenweise geschieht ihre Zunahme ann\u00e4hernd proportional den Logarithmen der \u00e4ufseren Reize. Aber ob sie so oder anders geschieht, ist f\u00fcr das Wesen der negativen Empfindungswerte v\u00f6llig gleichg\u00fcltig. Sie w\u00fcrden bleiben, was sie sind, auch wenn die Abh\u00e4ngigkeit der Empfindungen von den \u00e4ufseren Reizen eine ganz andere w\u00e4re. Ihre Existenz h\u00e4ngt ja gar nicht wesentlich davon ab, dafs die Empfindungen \u00e4ufsere Ursachen haben, sondern lediglich davon, dafs die, einerlei wie zu st\u00e4nde kommenden Empfindungen an und f\u00fcr sich nicht als Gr\u00f6fsen beurteilt werden k\u00f6nnen. Diese That-sache aber w\u00fcrde sich, so viel zu \u00fcbersehen, mit allen m\u00f6glichen Beziehungen zwischen den Empfindungswerten und den St\u00e4rken der \u00e4ufseren Reize gleich gut vertragen.\nMan mufs sich also ganz und gar von der Vorstellung freimachen, als ob die negativen Empfindungswerte etwas w\u00e4ren, was besonders enge Beziehungen zu Fechners logarithmischer Formel h\u00e4tte. Sie stecken freilich in dieser und k\u00f6nnen aus\n22*","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nH. Ebbinghaus.\nihr herausinterpretierfc werden; aber sie m\u00fcssen ebensogut in jeder beliebigen anderen Formel darinstecken, in der von E mp fin dungs wert en die Rede ist. Denn Empfindungswerte sind eben ihrer Natur nach Gr\u00f6fsen, die f\u00fcr jeden absoluten Wert sowohl positiv wie negativ sein k\u00f6nnen, und eine Em-pfindungsmafsformel, die dem nicht Rechnung tr\u00fcge, die nicht in solchem Sinne interpretiert werden k\u00f6nnte, w\u00e4re eine falsche Formel.\nWie sich die Interpretation in konkreten F\u00e4llen gestaltet, will ich weiterhin zeigen. Zuvor werfe ich noch einen Blick auf die FECHNEKSche Auffassung der Sache.\n(Schlufs im n\u00e4chsten Heft.)","page":334}],"identifier":"lit10276","issued":"1890","language":"de","pages":"320-334","startpages":"320","title":"\u00dcber negative Empfindungswerte: I und II","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:55:56.741229+00:00"}