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{"created":"2022-01-31T15:49:46.464415+00:00","id":"lit10277","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ebbinghaus, Hermann","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2: 335-336","fulltext":[{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Ein Mifsverst\u00e4ndnis.\nVon\nH. Ebbinghaus.\nIn meiner Abhandlung \u00fcber negative Empfindungswerte (s. diese Zeitschr. I, S. 464, Anm. 2) hatte ich beil\u00e4ufig eine kleine Bemerkung eingeschaltet \u00fcber das Verh\u00e4ltnis meiner Auffassung der in Betracht kommenden Dinge zu der von Wundt gegebenen Darstellung und dabei gleichzeitig in zwei Zeilen einer Vermutung Baum gegeben \u00fcber das Zustandekommen der W\u00fcNDTSchen Anschauung in ihrer neueren Formulierung. Hierauf hat Wundt k\u00fcrzlich einige Worte erwidert (Philos. Studien VI, S. 614 Anm.), zu denen ich materiell weiter nichts zu bemerken habe, die mich aber indirekt, durch die Art ihrer Begr\u00fcndung, einer solchen Fl\u00fcchtigkeit zeihen, dafs ich nochmal auf die Sache zur\u00fcckkommen mufs.\nDie Formulierungen des sog. WEBERSchen Gesetzes in der ersten und zweiten Auflage von Wundts Physiol. Psychologie unterscheiden sich in einer gewissen Beziehung voneinander, die hier nicht weiter interessiert. Was in der zweiten Auflage steht, steht in gewisser Weise auch schon in der ersten, wenn man diese n\u00e4mlich richtig interpretiert, aber das, worauf es wesentlich ankommt, ist erst in der zweiten deutlich herausgearbeitet. Ich hatte dies erw\u00e4hnt und war dann fortgefahren: \u201eDie Abweichung gegen die erste Auflage wird auf die Anregungen der TANNERYSchen Kontroverse (1878) zur\u00fcckzuf\u00fchren sein, an der sich ja Wundt beteiligte.\u201c Hierauf entgegnet Wundt: \u201eAber die TANNERYSche Abhandlung ist nicht 1878, sondern 1884 in der Eevue philos. erschienen, vier Jahre nach der zweiten Auflage meiner Physiol. Psychologie.\u201c\nOffenbar kann es also nichts Gedankenloseres geben, als meine Vermutung: ich lasse Wundt beeinflufst werden von etwas, was erst vier Jahre nach Erscheinen seines Buches publiziert worden ist. Man wird denken, ich h\u00e4tte mich vor der Niederschrift einer so haltlosen Konstruktion auch wohl etwas besser informieren k\u00f6nnen.\nIch m\u00f6chte nicht, dafs mir der Schein einer solchen Gedankenlosigkeit anhaften bliebe, und bitte daher den Leser, die eben citierten beiderseitigen Worte etwas genauer anzusehen.\nIch sage : \u201eDie Abweichung . . . wird auf die Anregungen der TANNERYSchen Kontroverse . . . zur\u00fcckzuf\u00fchren sein.\u201c Wundt antwortet : \u201eAber die TANNERYSche Abhandlung ist nicht 1878, sondern 1884 . . . erschienen.\u201c Aber ist denn eine Abhandlung eine Kontroverse? Zu einer solchen geh\u00f6rt doch eine Mehrheit von Abhandlungen oder dergl. Auch hat sich an die TANNERYSche Abhandlung vom Jahre 1884 weiter keine Kontroverse angekn\u00fcpft, soviel mir bekannt ist.\nIch sage ferner: \u201e . . . der TANNERYSchen Kontroverse . . ., an der sich ja Witndt beteiligte.\u201c Inwiefern war Wundt an der TANNERYSchen Abhandlung vom Jahre 1884 beteiligt? Er wird in ihr erw\u00e4hnt, freilich; aber wie sollte ich dazu kommen, das als eine Beteiligung zu bezeichnen ?","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nH. Ebbinghaus.\nOffenbar sprechen wir von verschiedenen Dingen. Ich gestehe auch gleich, dafs ich durch eine Kleinigkeit Veranlassung dazu gegeben habe, dais Wundt mifsversteht, was ich meine, aber dafs gerade Wundt es mifs-verstehen w\u00fcrde, konnte ich doch auch wieder, wie man sogleich zugeben wird, kaum voraussehen.\nEs giebt zwei TANNERYSche Er\u00f6rterungen \u00fcber die Messung von Empfmdungswerten. Die eine von P. Tannery, aus dem Jahre 1884 in der Berne philosophique; von dieser spricht Wundt. Ohne ihr irgend zu nahe zu treten, darf ich sagen, dafs ihr f\u00fcr die prinzipiellen Fragen keine hervorragende Bedeutung zukommt ; sie ist zum gr\u00f6fseren Teil referierender Natur. Die andere Er\u00f6rterung r\u00fchrt her von J. Tannery; sie besteht aus zwei Briefen an den Herausgeber der Bevue scientifique, geschrieben im Jahre 1875. Die Briefe erschienen zuerst anonym, aber der Name ihres Verfassers ist seitdem l\u00e4ngst bekannt geworden; er steht u. a. auf der zweiten Seite eben der P. TANNERYSchen Abhandlung, die von Wundt erw\u00e4hnt wird. Diese Briefe haben nach meinem Daf\u00fcrhalten eine gewisse prinzipielle Bedeutung gewonnen, nicht direkt, aber indirekt. Sie haben als eine Art Ferment gewirkt f\u00fcr die begriffliche Kl\u00e4rung der Fragen der Empfindungsmessung, welche Fechner zuerst mit sicherem Instinkt f\u00fcr ein grofses Problem als l\u00f6sbar erkannt und gleich auch praktisch so gewaltig gef\u00f6rdert hatte, deren theoretische Zurechtlegung ihm aber seihst nicht klar und einwandfrei gelungen war. Der erste jener Briefe hat zun\u00e4chst eine Reihe von Entgegnungen hervorgerufen, die ebenfalls in der Bevue scientifique vom Jahre 1875 ver\u00f6ffentlicht sind. Sie r\u00fchren her von Ribot, Delboeuf und \u2014 eben von Wundt. Sein bez\u00fcglicher Brief ist datiert Unterstrafs bei Z\u00fcrich, den 6. April 1875. Die ganze Sammlung von Briefen ist seitdem von Delboeuf wieder ver\u00f6ffentlicht worden in seinen El\u00e9ments de Psychophysique g\u00e9n\u00e9rale et sp\u00e9ciale, Paris 1883 (S. 109\u2014144), und eben dieser Komplex von Meinungs\u00e4ufserungen ist das, was ich \u2014 kurz, aber wie mir schien unmifsverst\u00e4ndlich f\u00fcr den Eingeweihten \u2014 als TANNERYSche Kontroverse bezeichnete. Dafs gerade Wundt diese Bezeichnung doch mifsverstehen konnte, beweist in der That, dafs ihm die ganze Sache nicht soviel Eindruck gemacht hat, wie ich annahm, aber meine kleine Bemerkung stellt sich nun wohl nicht mehr als eine Fl\u00fcchtigkeit dar, sondern als eine ungemein naheliegende Vermutung.\nWie ich schon zugah, hin ich vielleicht seihst nicht ohne Schuld an dem Mifsverst\u00e4ndnis. Die Schuld besteht in der Jahreszahl. Ich setzte 1878 ; - besser w\u00e4re gewesen 1875, da in diesem Jahre die in den Briefen bestehende Kontroverse wirklich stattfand. Freilich hatte ich auch f\u00fcr 1878 meinen Grund. Erst in diesem Jahre fand n\u00e4mlich die Kontroverse einen gewissen Abschlufs durch eine Abhandlung Delboeufs (Revue philos. V), die wiederholt auf sie rekurriert und in die ganze Sache zuerst wirkliche Klarheit bringt. Die weitere Wirkung der Kontroverse datiert also in gewissem Sinne erst von hier, aber allerdings hat diese Zahl die Erinnerung Wundts mindestens nicht unterst\u00fctzen k\u00f6nnen.","page":336}],"identifier":"lit10277","issued":"1891","language":"de","pages":"335-336","startpages":"335","title":"Ein Missverst\u00e4ndnis","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:49:46.464421+00:00"}