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{"created":"2022-01-31T15:48:40.398200+00:00","id":"lit10281","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ebbinghaus, Herm.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9: 161-205","fulltext":[{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"(Tber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\nVon\nHerm. Ebbinghaus.\nUnter dem Titel \u201eIdeen \u00fcber eine beschreibende und zergliedernde Psy chologieu 1 hat W. Dil they k\u00fcrzlich einige prinzipielle Fragen dieser Wissenschaft aufger\u00fchrt. Der Umfang seiner Abhandlung ist nicht gering und ihre Lekt\u00fcre nicht leicht; da sie zudem an einer Stelle erschienen ist, wo man nach einem h\u00fcbschen Wort \u201elediglich die Sternenschrift der zu entdeckenden Geheimnisse\u201c entziffert zu finden erwartet, so scheint es mir angemessen, ihr mit einiger Aufmerksamkeit entgegenzukommen. Ich versuche daher im folgenden die DiLTHEYschen Gedanken in etwas kompakterer Form darzustellen, namentlich aber ihre etwaige Tragweite etwas n\u00e4her zu beleuchten.\nI.\nDie herrschende Psychologie folgt nach der Meinung Diltheys einem falschen Ideal. Sie will eine erkl\u00e4rende Wissenschaft sein, nach dem Vorbild etwa der Physik und Chemie, d. h. sie will die Erscheinungen ihres Gebietes \u201evermittelst einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen\u201c einem grofsen allumfassenden Kausalzusammenhang unterordnen.\nDieses Zwiefache, eine geringe Zahl eindeutig bestimmter Elemente und die Tendenz der Ableitung, der Konstruktion aller \u00fcbrigen auffindbaren seelischen Thatsachen, sind nach Dilthey ihre charakteristischen Z\u00fcge. Die Elemente, die dabei\n1 Sitzgs.-Ber. d. Bert Akad. d. Wiss. vom 20. Dezbr. 1894. Ausgegeben am 31. Jan. 1895. 99 S. (Ick zitiere nach den Seitenzahlen des Sonderdruckes. Diejenigen der Sitzungsberichte ergeben sich durch Addition von 1308.)\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie IX.\t11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nHerrn. Ebbinghaus.\ndem ganzen Geb\u00e4ude zu Grunde gelegt werden, sind die Empfindungen, Vorstellungen, Lust- und Unlustgef\u00fchle, nebst den Prozessen der Assoziation, Apperzeption, Verschmelzung, aufserdem aber auch die Annahme unbewufster Vorstellungen, sowie die allgemeine Voraussetzung strenger Kausalit\u00e4t des seelischen Geschehens \u201enach dem Prinzip: causa aequat effectum\u201c. Das H\u00fclfsmittel der Erkl\u00e4rung bilden Hypothesen und Hypothesenverbindungen \u00fcber das Verh\u00e4ltnis jener Elemente zu einander und \u00fcber ihr Ineinandergreifen. Besonders klare Repr\u00e4sentanten der Richtung sind die sogenannten Assoziationspsychologen: die beiden Mill, Spencer, Taine; auch Herbart wird ihnen zugerechnet. Neuerdings ist die \u00c4hnlichkeit zwischen dem Verfahren dieser erkl\u00e4renden Psychologie und der Naturwissenschaft dadurch noch gr\u00f6fser geworden, \u201edafs das Experiment jetzt, dank einem bemerkenswerten Fortschritt, das H\u00fclfsmittel der Psychologie auf vielen ihrer Gebiete geworden ist\u201c. \u201eWenn irgend einer der Versuche gelungen w\u00e4re, quantitative Bestimmungen nicht nur in den Aufsenwerken . . ., sondern in ihrem Inneren selber zur Anwendung zu bringen\u201c, so w\u00fcrde jene \u00c4hnlichkeit abermals zunehmen. (S. 1, 18, 20, 21.)\nIndes diese ganze \u00dcbertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf die Psychologie gilt Dilthey als irrig; sie ist ihm eine unberechtigte Ausdehnung von Begriffen und Ver-fahrungsweisen, die an ihrer Stelle Grofses leisten, auf ein Gebiet, f\u00fcr dessen Eigenart sie in keiner Weise passen. Sein Hauptargument hierf\u00fcr ist dieses.\nDie Thatsachen der Aufsenwelt, mit denen es die Naturwissenschaft zu thun hat, sind unserer Wahrnehmung als einzelne und zusammenhanglose gegeben. Eine Verbindung kommt in sie nur hinein, indem wir sie schaffen, dadurch also, dafs wir die f\u00fcr die unmittelbare Beobachtung bestehenden L\u00fccken durch unsere Schl\u00fcsse erg\u00e4nzen und durch unsere Hypothesen das blofs nebeneinander und nacheinander Gegebene zu zusammenh\u00e4ngenden Einheiten verkn\u00fcpfen. So beruht die Einheit des Objekts, die wir denken, auf einer von innen stammenden Synthese der Sinnesempfindungen. Namentlich aber bringen wir den Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen und die wichtige Vorstellung der quantitativen und qualitativen Gleichheit zwischen beiden erst durch unsere","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"163\n\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\ngeistige Aktivit\u00e4t in die \u00e4ufseren Dinge hinein. Hier sind also verkn\u00fcpfende und erkl\u00e4rende Hypothesen bere\u00e7htigte und notwendige H\u00fclfsmittel des erkennenden Verfahrens.\nGanz anders dagegen ist uns geistiges Lehen gegeben. Der Zusammenhang der Thatsachen, der bei der Aufsenwelt nachtr\u00e4glich hergestellt und den Sinneserregungen untergelegt werden mufs, liegt hier \u201eals ein urspr\u00fcnglich gegebener \u00fcberall zu Grunde\u201c. Verbindung des Mannigfaltigen zu einer Einheit, Zusammenhang von Teilen in einem Ganzen kommt uns in der inneren Wahrnehmung unmittelbar zum Bewufst-sein, bildet das fundamentale und urspr\u00fcngliche Erlebnis. \u201eVollziehen wir . . . einen Denkakt, so ist in ihm eine unterscheidbare Mehrheit von inneren Thatsachen doch zugleich in der unteilbaren Einheit einer Funktion zusammengefafst. . . . Reflektieren wir gar auf die Selbigkeit, welche gleichzeitig mehrere innere Vorg\u00e4nge zusammenh\u00e4lt und das Nacheinander der Vorg\u00e4nge zur Einheit des Lebens zusammenfafst, so tritt hier noch erstaunlicher ein in der inneren Erfahrung als Erlebnis Gegebenes hervor, das doch mit den Vorg\u00e4ngen der Natur keine Vergleichbarkeit hat.........Einen weiteren Zu-\nsammenhang erleben wir, wenn etwa von den Pr\u00e4missen aus in uns ein Schlufssatz entsteht: hier hegt ein Zusammenhang vor, der von den Ursachen zu den Wirkungen f\u00fchrt: auch dieser Zusammenhang stammt von innen, ist im Erlebnis als Realit\u00e4t gegeben.\u201c\nDie Selbigkeit, \u201ewelche das Gleichzeitige und Successive der einzelnen Lebensvorg\u00e4nge zusammenh\u00e4lt\u201c, ist einiger-mafsen dunkel, vermutlich ist das Selbstbewufstsein gemeint; jedenfalls aber ist der allgemeine Gedanke klar: im Denken, Schliefsen und anderen inneren Erfahrungen werden Einheit und Kausalit\u00e4t, Zusammenhang und Erwirken unmittelbar innerlich erfafst und erlebt. Erst von hier aus werden sie dann auf die \u00e4ufsere Natur \u00fcbertragen; \u201ealler Zusammenhang, den unser Wahrnehmen sieht und unser Denken setzt, ist der eigenen inneren Lebendigkeit entnommen\u201c. Der lebendige Zusammenhang der Seele wird somit nicht, wie der der Aufsenwelt, \u201eallm\u00e4hlich versuchend gewonnen. Er ist das Leben, das vor allem Erkennen da ist\u201c. \u201eDie Psychologie bedarf also keiner durch Schl\u00fcsse gewonnenen untergelegten Begriffe, um \u00fcberhaupt einen durchgreifenden Zusammenhang unter den\n11*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nHerrn. Ebbinghaus.\ngrofsen Gruppen der seelisch.en Thatsachen herzusteilen.\u201c Gewisse L\u00fccken des Gegebenen m\u00fcssen allerdings durch uns ausgef\u00fcllt werden, aber das ist nach der Meinung Diltheys in durchaus anderer Weise m\u00f6glich, als durch die Konstruktionen der erkl\u00e4renden Psychologie.\nZugleich ist dieser \u201edurch die innere Erfahrung .... als ein lebendiger, freier und geschichtlicher\u201c gegebene Zusammenhang der einzige, der uns zug\u00e4nglich ist ; wir k\u00f6nnen nicht durch unsere Konstruktionen etwa noch einen anderen, dahinter gelegenen zu erreichen hoffen. \u201eWir k\u00f6nnen nun nicht einen Zusammenhang machen, aufserhalb dieses, der uns gegeben ist. Hinter denselben, wie er in der inneren Erfahrung selbst gegeben ist, kann die Wissenschaft von diesem Seelenleben nicht zur\u00fcckgehen. Das Bewufstsein kann nicht hinter sich selber kommen.\u201c . . . \u201eDas Denken kann nicht hinter seine eigene Wirklichkeit, hinter die Wirklichkeit, in welcher es entsteht, zur\u00fcckgehen.\u201c Will man es versuchen, so kann der als hinterwirklich konstruierte Zusammenhang \u201enur aus den Teilinhalten zusammengesetzt sein, die in dieser Wirklichkeit selber Vorkommen\u201c. \u201eVon dieser Abstraktion f\u00fchrt aber dann nat\u00fcrlich kein berechtigtes Denkmittel zur lebendigen Wirklichkeit des seelischen Zusammenhanges zur\u00fcck. . . . Diese Konstruktion des im Leben Gegebenen durch ein ihm Untergelegtes kann unser Wissen vom lebendigen Zusammenhang nicht erg\u00e4nzen wollen.\u201c (S. 5, 32, 55 ff.)\nDieser ersten und wichtigsten Erw\u00e4gung gegen die erkl\u00e4rende Psychologie steht eine andere zur Seite. Hypothesen, deren sie sich doch zu ihren Ableitungen und Konstruktionen bedienen mufs, k\u00f6nnen auf psychologischem Gebiete nach der Meinung Diltheys \u00fcberhaupt nicht die Bedeutung haben, die ihnen f\u00fcr das naturwissenschaftliche Erkennen zukommt. Die Thatsachen n\u00e4mlich \u201ek\u00f6nnen im Gebiete des Seelenlebens nicht zu der genauen Bestimmtheit erhoben werden, welche zu der Erprobung einer Theorie durch Vergleichung ihrer Konsequenzen mit solchen Thatsachen erforderlich ist. So ist an keinem entscheidenden Punkte die Ausschliefsung anderer Hypothesen und die Bewahrheitung der \u00fcbrig bleibenden Hypothese gelungen\u201c. Vielmehr treten jeder Hypothesen Verbindung ein Dutzend andere gegen\u00fcber, aus denen man ziemlich gleich gut oder schlecht das zu Erkl\u00e4rende ableiten kann. \u201eSo sind wir,","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 m\nUber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n165\nwenn wir eine volle Kausalerkenntnis hersteilen wollen, in einen Nebel von Hypothesen gebannt, f\u00fcr welche die M\u00f6glichkeit ihrer Erprobung an den psychischen Thatsachen gar nicht in Aussicht steht.\u201c \u201eEine Hypothese solcher Art ist die Lehre von dem Parallelismus der Nervenvorg\u00e4nge und der geistigen Vorg\u00e4nge. . . . Eine solche Hypothese ist die Zur\u00fcckf\u00fchrung aller Bewufstseinserscheinungen auf atomartig vorgestellte Elemente, welche in gesetzlichen Verh\u00e4ltnissen aufeinander wirken. Eine solche Hypothese ist die mit dem Anspruch der Kausalerkl\u00e4rung auftretende Konstruktion aller seelischen Erscheinungen durch die beiden Klassen der Empfindungen und der Gef\u00fchle, wodurch dann das ... so m\u00e4chtig auftretende Wollen zu einem sekund\u00e4ren Schein wird. . . . Durch blofse Hypothesen wird aus psychischen Elementen und den Prozessen zwischen ihnen das Selbstbewufstsein abgeleitet. Nur Hypothesen besitzen wir \u00fcber die verursachenden Vorg\u00e4nge, durch welche der erworbene, seelische Zusammenhang best\u00e4ndig unsere bewufsten Prozesse des Schliefsens und Wollens so m\u00e4chtig und r\u00e4tselhaft beeinfiufst. Hypothesen, \u00fcberall nur Hypothesen!\u201c Die Kritik gewinnt ordentlich Schwung, wo sie sich anschickt, diese trostlose Unsicherheit der irregeleiteten Psychologie darzustellen. \u201eEin Kampf aller gegen alle tobt auf ihrem Gebiete, nicht minder heftig, als auf dem Felde der Metaphysik. Noch ist nirgend am fernsten Horizonte etwas sichtbar, was diesen Kampf zu entscheiden die Kraft haben m\u00f6chte\u201c .... und niemand kann sagen, \u201eob jemals dieser Kampf der Hypothesen in der erkl\u00e4renden Psychologie endigen wird, und wann das geschehen mag\u201c.\nVon der Einf\u00fchrung des Experiments und der Messung hat man Grofses gehofft. Die erkl\u00e4rende Seelenlehre schien die zur Verifizierung ihrer Hypothesen erforderliche feste Grundlage in experimentell gesicherten und zahlenm\u00e4fsig bestimmten gesetzlichen Verh\u00e4ltnissen gewinnen zu k\u00f6nnen. \u201eAber in dieser entscheidenden Situation trat nun das Gegenteil von dem ein, was die Enthusiasten der experimentellen Methode erwartet hatten.\u201c Auf den Grenzgebieten des Seelenlebens haben jene beiden H\u00fclfsmittel \u201esich der Hypothesenbildung in \u00e4hnlicher Weise dienstbar erwiesen, als dieses im Naturerkennen der Fall ist. In den zentralen Gebieten der Psychologie ist hiervon nichts zu bemerken.\u201c \u201eZur Erkenntnis von Gesetzen","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nHerrn. Ebbinghaus.\nauf dem innerpsychisehen Gebiete hat [der Versuch] schlechterdings nicht gef\u00fchrt.\u201c Hier hat er sich nur f\u00fcr die Herstellung genauer Beschreibungen als h\u00f6chst n\u00fctzlich erwiesen. Dagegen die Hoffnungen auf Unterst\u00fctzung der Ableitungen und Konstruktionen, welche die erkl\u00e4rende Psychologie auf ihn setzte, hat er bisher get\u00e4uscht.\t/\nAllemeuestens haben nun diese Einsichten \u2014 nach Dilthey \u2014 zu einem vollst\u00e4ndigen Bankerott und zu einer prinzipiellen Aufl\u00f6sung der erkl\u00e4renden Psychologie gef\u00fchrt. Der eine, M\u00fcnsterberg-, will die rein psychologisch nicht erkl\u00e4rbaren Verbindungsgesetze und Verbindungen der einzelnen psychischen Inhalte durch Aufzeigung der physiologischen Zwischenglieder ersetzen, d. h. er will da, wo es mit den beabsichtigten Erkl\u00e4rungen nicht mehr geht, auf ein anderes Gebiet \u00fcberspringen. Der andere, \"Wundt, erkennt an, dafs es auf geistigem Gebiete eine sch\u00f6pferische Synthese gebe, d. h. dafs aus den Wechselwirkungen psychischer Elemente Verbindungen hervorgehen k\u00f6nnen mit ganz neuen, in jenen Elementen noch nicht enthaltenen Eigenschaften, Verbindungen also, die nicht mehr eigentlich aus ihren Ursachen in durchsichtiger Weise abgeleitet und konstruiert werden k\u00f6nnen. (S. 4\u20147, 27\u201430.)\nDiesen beiden unterscheidenden Eigent\u00fcmlichkeiten ihres Gegenstandes also, dem unmittelbaren Gegebensein des seelischen Zusammenhanges in der inneren Erfahrung und der notwendigen Unsicherheit aller psychologischen Hypothesen, hat die erkl\u00e4rende Psychologie keine Rechnung getragen. Verm\u00f6ge ihrer historischen Beziehungen zu der konstruktiven Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts ist sie sozusagen blindlings den Analogien der naturwissenschaftlichen Methodenlehre gefolgt. Kein Wunder, dafs sie auf dem falschen Wege nicht, wie ihr Vorbild, zu grofsen Resultaten gelangt ist. In zwiefacher Hinsicht findet Dilthey, dafs sie eigentlich nichts geleistet oder vielmehr geradezu nachteilige Folgen hervorgebracht habe.\nErstens vermochte sie mit ihrem Streben nach Durchsichtigkeit und Rationalit\u00e4t gar nicht dem gesamten Inhalt des Seelenlebens gerecht zu werden. Denn diesem geh\u00f6ren Thatsachen an, \u201ederen H\u00e4rte bisher keine \u00fcberzeugende Zergliederung aufzul\u00f6sen vermocht hat\u201c. \u201eSolche sind innerhalb","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n167\nunseres Gef\u00fchls- und Trieblebens das Streben nach Erhaltung und Erweiterung unseres Selbst, innerhalb unseres Erkennens der Charakter von Notwendigkeit in gewissen S\u00e4tzen und in dem Umkreis unserer Willenshandlungen das Sollen oder die absolut im Bewufstsein auftretenden Normen.\u201c \u201eW:ie . .. Kant unwidersprechlich gezeigt hat, .... entstehen auch innerhalb der gegebenen Wirklichkeit, wenn sie in allen ihren Bestandteilen und ihrem ganzen Zusammenh\u00e4nge als durchsichtig f\u00fcr den Verstand aufgezeigt werden soll, Widerspr\u00fcche, Antinomien .... Dies ist zun\u00e4chst darin begr\u00fcndet, dafs unser Welt-bewufstsein so gut wie unser Selbstbewufstsein aus der Lebendigkeit unseres Selbst entsprungen ist; diese aber ist mehr als Batio. Davon sind die Begriffe der Einheit, Selbigkeit, Substanz, Kausalit\u00e4t Beweise. Andere Antinomien sind darin gegr\u00fcndet, dafs Thatsachen von verschiedener Provenienz nicht aufeinander zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen. Hiervon ist das Verh\u00e4ltnis der stetigen Baum-, Zeit- und Bewegungsgr\u00f6fsen zur Zahl der Beweis.\u201c Verm\u00f6ge der geringen Zahl ihrer Elemente also und verm\u00f6ge ihrer konstruktiven Tendenz bleibt die erkl\u00e4rende Psychologie hinter der ganzen m\u00e4chtigen Wirklichkeit des Seelenlebens zur\u00fcck, sie liefert es nur mit verst\u00fcmmeltem Inhalt. (S. 18 u. 58.)\nDamit h\u00e4ngt dann das Zweite eng zusammen: das sind die betr\u00fcbenden Folgen f\u00fcr die \u00fcbrigen Geisteswissenschaften. Geschichte, Beligionswissenschaft, Bechtslehre, Staats- und Volkswirtschaftslehre u. s. w., sie alle haben es mit eigenartigen Zuspitzungen des geistigen Lebens zu thun. Sie bed\u00fcrfen aber f\u00fcr ihre Sonderzwecke zun\u00e4chst einer Kenntnis des allgemeinen lebendigen Zusammenhanges der Menschenseele, denn nur aus diesem k\u00f6nnen die verwickelten Bildungen verstanden werden, mit denen sie sich befassen. Sie bed\u00fcrfen also einer Psychologie, die ihnen eine feste, allgemein g\u00fcltige Grundlage f\u00fcr ihre eigenen Begriffe und S\u00e4tze giebt. Was k\u00f6nnen sie indes von einer Wissenschaft erwarten, wie die erkl\u00e4rende Psychologie, die einerseits die ganze Beichhaltigkeit der Menschennatur gar nicht zu umspannen vermag, und die andererseits sich durchaus in streitigen Hypothesen bewegt? Acceptieren sie die zu eng gefafsten Grundbegriffe, so geraten sie in die Irre, wie z. B. die Bechtslehre durch den Determinismus im Strafrecht. Acceptieren sie die hypothetischen","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nHerrn. Ebbinghaus.\nKonstruktionen, so werden sie mit kineingezogen in die Strudel von Unsicherheit und Skeptizismus. Die Folge ist, dafs sich in weiten Kreisen bei den Vertretern der Geisteswissenschaften die Tendenz zeigt, psychologische Grundlegungen g\u00e4nzlich auszuscheiden und, nur gest\u00fctzt auf die zweideutige und subjektive Psychologie des Lebens, ihre Aufgabe zu l\u00f6sen. Aber freilich, geholfen ist damit nicht. Um der Charybdis der Irreleitung und der Unsicherheit zu entfliehen, geraten sie auf die Scylla einer \u00f6den Empirie.\nJa, mehr als das, die erkl\u00e4rende Psychologie ist f\u00fcr die Geisteswissenschaften geradezu eine Gefahr. Durch ihre Angliederung an die Physiologie vermittelst der Lehre vom psychophysischen Parallelismus gewinnt sie das Gepr\u00e4ge \u201eeines verfeinerten Materialismus\u201c. Offenbar ist sie damit so gerichtet, dafs n\u00e4here Erl\u00e4uterungen \u00fcberfl\u00fcssig erscheinen.\nDilthey f\u00fcgt daher nur noch andeutend hinzu: \u201eDie ganze\n\u2022 \u2022\nweitere Entwickelung hat gezeigt, wie in politischer \u00d6konomie, Kriminalrecht, Staatslehre dieser verschleierte Materialismus der erkl\u00e4renden Psychologie . . . zersetzend gewirkt hat.\u201c (S. 7, 18, 24 u. 53.)\nIn Summa : die erkl\u00e4rende Psychologie verfehlt verm\u00f6ge der Irrungen ihrer Methode v\u00f6llig die L\u00f6sung der grofsen Aufgaben, die von einer Psychologie verlangt werden und zu denen sie berufen ist. Wie ist dem nun abzuhelfen? \u201eAus allen dargelegten Schwierigkeiten,\u201c antwortet Dilthey, \u201ekann uns allein die Ausbildung einer Wissenschaft befreien, welche ich, gegen\u00fcber der erkl\u00e4renden oder konstruktiven Psychologie, als beschreibende und zergliedernde bezeichnen will. Ich verstehe unter beschreibender Psychologie die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichf\u00f6rmig auftretenden Bestandteile und Zusammenh\u00e4nge, wie sie in einem einzigen Zusammenh\u00e4nge verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist.\u201c Um der oben dargelegten wesentlichen Eigenart der seelischen Thatsachen gerecht zu werden, soll diese Psychologie also von dem urspr\u00fcnglich gegebenen Zusammenh\u00e4nge des Seelenlebens ausgehen und diesen beschreiben und analysieren, aber nicht aus elementaren Vorg\u00e4ngen ableiten. Sie \u201emufs den umgekehrten Weg einschlagen, als den die Vertreter der Konstruktions-","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\nLber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n169\nmethode gegangen sind\u201c. Die anderen Forderungen an sie ergeben sieb aus den \u00fcbrigen oben ger\u00fcgten M\u00e4ngeln: unbedingte Sicherheit und Umspannung des gesamten unver-st\u00fcmmelten Seelenlebens. \u201eDie volle Wirklichkeit des Seelenlebens mufs zur Darstellung und thunlichst zur Analysis gelangen, und diese Beschreibung und Analysis mufs den h\u00f6chsten erreichbaren Grad von Sicherheit haben.\u201c \u201eIhren Gegenstand mufs der entwickelte Mensch und das fertige vollst\u00e4ndige Seelenleben bilden\u201c, und \u201ejeder von ihr benutzte Zusammenhang [mufs] durch innere Wahrnehmung eindeutig verifiziert werden\u201c k\u00f6nnen. Indem sie diesen Forderungen gen\u00fcgt, wird sie von selbst auch der letzten und h\u00f6chsten gerecht werden, n\u00e4mlich die Mittel f\u00fcr eine allgemeing\u00fcltige Erkenntnis des den Geisteswissenschaften zu Grunde liegenden Zusammenhanges zu geben. (S. 14 u. 30.)\nDas konkrete Verfahren, dessen sich diese beschreibende Psychologie bedient, wird von Dilthey folgendermafsen geschildert. Sie geht aus von dem unmittelbar gegebenen Zusammenh\u00e4nge des Seelenlebens. Was von diesem in das Bewufstsein f\u00e4llt, wechselt. Aber indem die einzelnen Glieder wechseln, tritt allm\u00e4hlich die immer wiederkehrende Form ihrer Verbindung, die Art, wie sie Zusammenh\u00e4ngen, mit immer gr\u00f6fserer Klarheit hervor, und schliefslich resultiert durch diesen Prozefs \u201emit allgemeing\u00fcltiger Gewifsheit .... ein Bewufstsein von dem Zusammenh\u00e4nge aller dieser Glieder\u201c. Gleichzeitig sind wir bef\u00e4higt zu isolierender Heraushebung des Einzelnen. Die einzelnen Vorg\u00e4nge sind zwar miteinander verbunden und fliefsen rasch dahin. Allein wir verm\u00f6gen sie doch in Wahrnehmung und Erinnerung einigermafsen festzuhalten und ihrer Eigent\u00fcmlichkeiten inne zu werden. Indem wir so die allgemeinen Formen des Zusammenhanges durch Verallgemeinerung und die einzelnen Inhalte durch isolierende Abstraktion erfassen, erkennen wir gleichzeitig in ihnen Gleichheiten, Verschiedenheiten und deren etwaige Grade, und gewinnen somit nach oben hin, induzierend, umfassendere Gleichf\u00f6rmigkeiten und nach unten hin, analysierend, auseinandertretende Glieder. Da aber die Auffassung des Ein*-zelnen aus dem Erlebnis des Ganzen entsteht, so bleibt sie auch mit ihm verbunden. \u201eDer einzelne Vorgang ist von der ganzen Totalit\u00e4t des Seelenlebens im Erlebnis getragen, und","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nHerrn. Ebbinghaus.\nder Zusammenhang, in welchem er in sich und mit dem Ganzen des Seelenlebens steht, geh\u00f6rt der unmittelbaren Erfahrung an.\u201c \u201eAlles psychologische Denken beh\u00e4lt diesen Grundzug, dafs das Auffassen des Ganzen die Interpretation des Einzelnen erm\u00f6glicht und bestimmt.\u201c \u201eAn der lebendigen Totalit\u00e4t des Bewufstseins, an dem Zusammenh\u00e4nge seiner Funktionen, an der durch Abstraktion gefundenen Einsicht von den allgemein g\u00fcltigen Formen und Verbindungen dieses Zusammenhanges besitzt die Analysis den Hintergrund aller ihrer Operationen.\u201c\nDabei soll die beschreibende Psychologie von allen erdenklichen H\u00fclfsmitteln, die zur F\u00f6rderung ihrer Zwecke geeignet sind, ausgiebigen Gebrauch machen. Namentlich des Experimentes soll sie sich als eines unentbehrlichen Instrumentes \u201ef\u00fcr die Herstellung einer genauen Beschreibung innerer psychischer Vorg\u00e4nge\u201c bedienen; aufserdem soll sie \u00fcberall vergleichende Psychologie, Entwickelungsgeschichte, Analysis der geschichtlichen Produkte des Geisteslebens u. s. w. hinzuziehen. Zugleich sollen ihr auch hypothetische Erg\u00e4nzungen des mittelbar zu Beobachtenden gestattet sein. Die innere Erfahrung l\u00e4fst stellenweise im Stich, wie Dilthet zugesteht, z. B. \u201ein der Beproduktion oder in der Beeinflussung bewulster Prozesse von dem unserem Bewufstsein entzogenen erworbenen seelischen Zusammenh\u00e4nge aus\u201c. In solchen F\u00e4llen sind selbstverst\u00e4ndlich erg\u00e4nzende Schl\u00fcsse n\u00f6tig, die sich \u00fcber das Gegebene hinaus auch auf das Nichtgegebene erstrecken. Aber die Sicherheit des Ganzen darf dadurch nicht leiden. Die Psychologie mufs auch \u201edie Beschreibung und Zergliederung des Verlaufes solcher Vorg\u00e4nge der grofsen kausalen Gliederung des Ganzen unterordnen, welche von den inneren Erfahrungen aus festgestellt werden kann\u201c. Die Hypothese darf nicht un-erl\u00e4fsliche Grundlage sein und gleichsam in die Fundamente des Baues eingemauert werden, sondern sie ist recht bescheiden einzuf\u00fcgen. (S. 2, 6, 19, 33\u201437, 41.)\nBis hierher wird man vielleicht das von Delthet geforderte Verfahren in sich verst\u00e4ndlich und mit der vorher auseinandergesetzten Kritik \u00fcbereinstimmend finden. Wer es aber aus der DiLTHETschen Arbeit selbst kennen zu lernen sucht, wird zweifellos durch eine Unklarheit gest\u00f6rt werden, die sich durch seine Darstellung hindurchzieht. Das ist das Verh\u00e4ltnis der beschreibenden zu der erkl\u00e4renden Psychologie.","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n171\nDilthey f\u00f6lirt den Begriff seiner Wissenschaft ein, indem er an die Sonderung von rationaler und empirischer Psychologie hei Ohr. Wolf erinnert, sowie an die Nebeneinanderstellung einer erkl\u00e4renden und beschreibenden Psychologie bei Th. Waitz. Nun wollte dieser letztere beschreibende Psychologie als eine Art Vorstufe der erkl\u00e4renden. Jene liefert ein kritisch gesichtetes, sorgf\u00e4ltigbeobachtetes, angemessen geordnetes Material, mit dem diese dann arbeitet, um nun erst eigentliche Wissenschaft daraus zu machen. An einigen Stellen sieht es aus, als ob Dilthey etwas \u00c4hnliches, eine Art Erg\u00e4nzung der beschreibenden Psychologie durch die erkl\u00e4rende im Sinne h\u00e4tte. \u201eDiese [n\u00e4mlich die erkl\u00e4rende Psychologie] erhielte in der beschreibenden ein festes deskriptives Ger\u00fcst, eine bestimmte Terminologie, genaue Analysen und ein wichtiges H\u00fclfsmittel der Kontrolle f\u00fcr ihre hypothetischen Erkl\u00e4rungen.\u201c\t(15.)\n\u201e\u00dcberall zeigt sich hier an der Zergliederung der Intelligenz, was wir als ein allgemeines Verh\u00e4ltnis aufgestellt haben, wie an den letzten Enden der Analyse sich die beschreibende und die erkl\u00e4rende Psychologie begegnen.\u201c (46.) Die beschreibende Psychologie \u201ekann die Hypothesen, zu denen die erkl\u00e4rende Psychologie in Bezug auf die einzelnen Erscheinungsgruppen gelangt, in sich aufnehmen; aber indem sie dieselben an den Thatsachen mifst und den Grad ihrer Plausibilit\u00e4t bestimmt, ohne sie als Konstruktionsmomente zu verwerten, beeintr\u00e4chtigt die Aufnahme derselben nicht ihre eigene Allgemeing\u00fcltigkeit\u201c. (37.) Die beschreibende Psychologie meint es anscheinend gar nicht so schlimm; sie will die erkl\u00e4rende Psychologie nicht beseitigen, sondern empfiehlt sich den Liebhabern dieser letzteren nur als eine sehr wichtige Grundlage ihres Thuns.\nIndes das kann die eigentliche Meinung doch auch wieder nicht sein; es widerspricht der vorher an der erkl\u00e4renden Psychologie ge\u00fcbten Kritik. Das Erk\u00e4ren und Konstruieren in der Psychologie, so haben wir geh\u00f6rt, beruht auf einer Verkennung der Art, wie die seelischen Thatsachen gegeben sind. Der Zusammenhang des Seelenlebens, auch der Zusammenhang des Erwirkens offenbart sich hier in der unmittelbaren inneren Erfahrung; ihn erst durch hypothetische Konstruktionen her-stellen zu wollen, ist unn\u00f6tig und unm\u00f6glich. Selbst das nicht unmittelbar zu Erlebende kann und mufs ohne solche Konstruktionen hinzuerg\u00e4nzt werden. Psychologische Hypothesen,","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nHerrn. Ebbinghaus.\nso haben wir ferner geh\u00f6rt, k\u00f6nnen, wieder verm\u00f6ge der Eigenart der seelischen Thatsachen, niemals ausschliefsend verifiziert werden; noch nirgend ist am fernsten Horizonte etwas sichtbar, was ihren aussichtslosen Kampf zu entscheiden verm\u00f6chte. Ist dem so, dann ist die erkl\u00e4rende Psychologie abgethan. Was kann sie uns \u00fcberhaupt noch Verlockendes bieten? Die beschreibende Psychologie, im Sinne Diltheys vollendet gedacht, liefert alles, dessen wir bed\u00fcrfen: den gesamten Zusammenhang des Seelenlebens mit der vollen Sicherheit des unmittelbaren Erlebnisses; auch die Annahmen zur Erg\u00e4nzung des nicht direkt Gegebenen sind hier v\u00f6llig sicher. Was ein \u00dcbergang zu den unsicheren und unm\u00f6glichen Konstruktionen der erkl\u00e4renden Psychologie da noch f\u00f6rdern soll, ist nicht ersichtlich; es w\u00e4re prinzipiell ein v\u00f6llig \u00fcberfl\u00fcssiges Appendix.\nOffenbar liegt hier eine Unklarheit vor. Die beschreibende Psychologie will wohl dasselbe, wie die erkl\u00e4rende Psychologie, vielleicht aus einem Gef\u00fchl daf\u00fcr, dafs dergleichen gewollt werden mufs. Aber sie will auch wieder nicht dasselbe, da sie ja eben etwas prinzipiell Anderes und Besseres will. Wie sich weiterhin zeigen wird, sitzt der Schaden dieser Unklarheit tiefer; einstweilen sei unser Bericht kurz zu Ende gebracht.\nDie bisher dargelegten allgemeinen Er\u00f6rterungen bilden zusammengenommen etwa die H\u00e4lfte der DiLTHEYschen Abhandlung. Die andere H\u00e4lfte ist konkreten Darstellungen gewidmet; sie enth\u00e4lt eine allgemeine Inhaltsskizze der beschreibenden und zergliedernden Psychologie und drei etwas ausgef\u00fchrtere Skizzen von einigen ihrer Hauptkapitel. Eine solche konkrete Behandlung des Gegenstandes h\u00e4tte eigentlich zur Hauptsache gemacht werden m\u00fcssen, um den DiLTHEYschen Ideen Nachdruck zu verschaffen; sie m\u00fcfste im Mittelpunkte des Ganzen stehen und die theoretischen Auseinandersetzungen nur als eine Art Einleitung neben sich haben. Allgemeine Diskussionen \u00fcber M\u00f6glichkeiten und Unm\u00f6glichkeiten von Methoden erzielen nicht leicht ein positives Ergebnis. Wo sie Altes beseitigen wollen, stofsen sie auf Widerstand, wo Neues empfehlen, wecken sie Zweifel. Selbst Leser, die von den Schw\u00e4chen und Irrt\u00fcmern des Alten vollkommen \u00fcberzeugt werden, \u00fcbersehen nicht, ob sich das Neue im Kampfe mit den harten Thatsachen nun besser bew\u00e4hren werde, und reservieren","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Uber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n173\nsich. Ein einziges durchschlagendes, wahrhaft neues und f\u00f6rderndes Resultat der neuen Methode, und ihre Bache ist\nBedauerlicherweise inauguriert Dilthey die beschreibende Psychologie nicht in dieser Weise. Er will offenbar von vornherein zu viel. Statt ein einzelnes schwieriges Problem durch sorgf\u00e4ltigste Beschreibungen und gl\u00e4nzende Analysen in seinen Weiten und Tiefen zu erfassen und f\u00fcr jedermann \u00fcberzeugend zu zeigen, wie hier sein Verfahren die bisher vergeblich erstrebte Klarheit bringt, umspannt er gleich den ganzen Rahmen seiner Wissenschaft. Dadurch erhalten wir sehr viel Rahmen, aber leider wenig F\u00fcllung. Immer nur \u00e4ufserste Allgemeinheiten, wieder und wieder wiederholt, wo man endlich anschauliches Detail erwartet, und dazu dann Andeutungen \u00fcber Untersuchungen, die nun an dieser Stelle alle noch der Erledigung harren, Hinweise auf Materialien, die nun von da und daher noch herangezogen werden m\u00fcfsten, u. dergl. Wohl gelungen und anregend sind Dinge, die mit dem Gegenst\u00e4nde in minder engem Zusammenh\u00e4nge stehen: literarhistorische und philosophie - historische Perspektiven. Das eigentlich Psychologische dagegen bietet nirgend etwas Neues von einigem Belang. Stellenweise gar (z. B. in dem \u00fcber Entwickelung und Individuum Gesagten) laufen erschreckliche Trivialit\u00e4ten mit unter, die dem Fernerstehenden wohl nur deshalb nicht ohne weiteres als solche erkenntlich sind, weil das Ganze in eine schwere, mehr ringende und andeutende, als einfach gebende Sprache gekleidet ist.\nIm einzelnen h\u00f6ren wir, um darauf noch einen Moment einzugehen, dafs die beschreibende Psychologie zwei Teile haben soll: einen allgemeinen und einen besonderen. Der letztere befafst sich mit den drei grofsen, qualitativ ungleichartigen \u201eGliedern des Seelenlebens\u201c, n\u00e4mlich der Intelligenz (umfassend Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erkenntnisse), dem Trieb- und Gef\u00fchlsleben und den Willenshandlungen. Der allgemeine Teil hat es zun\u00e4chst mit Beschreibungen und Benennungen zu thun, um eine \u00fcbereinstimmende Terminologie der Psychologen herbeizuf\u00fchren, und behandelt dann drei wichtige allgemeine Zusammenh\u00e4nge, n\u00e4mlich die Einheit der seelischen Beth\u00e4tigungen im Dienste der Erlangung von Befriedigung und Gl\u00fcck (von Dilthey als Strukturzusammenhang","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nHerrn. Ebbinghaus.\nbezeichnet), ferner den Zusammenhang der Entwickelung des Seelenlebens, endlich die Einwirkung des erworbenen seelischen Zusammenhanges (des gew\u00f6hnlich sog. Unbewufsten) auf jeden einzelnen Bewufstseinsakt. Strukturzusammenhang und Entwickelung werden dann je in einem besonderen Kapitel ein-gehender er\u00f6rtert. Uber die Beziehungen des bewufsten zu dem unbewufsten Seelenleben empfangen wir nur gelegentlich n\u00e4here Aufkl\u00e4rung; an Stelle einer weiteren Ausf\u00fchrung dieses Verh\u00e4ltnisses erscheint als Schlufs der ganzen Abhandlung ein Kapitel \u00fcber Wesen und Bedeutung der Individualit\u00e4t, das in\ndem allgemeinen Schema nicht vorgesehen war. Es f\u00e4llt gegen \u2022 \u2022\ndas \u00dcbrige entschieden ab ; das Wichtigste von diesen konkreten Darstellungen sind die beiden Kapitel \u00fcber Strukturzusammenhang und Entwickelung, jedes etwa ein Dutzend Seiten f\u00fcllend.\nDie verschiedenartigen seelischen Vorg\u00e4nge, so erfahren wir in ihnen, die Vorg\u00e4nge des Vorstellens, E\u00fchlens, Wollens, die das Bewufstsein jederzeit irgendwie erf\u00fcllen, stehen nicht einfach nebeneinander, sondern bilden ein Ganzes. \u201eEin B\u00fcndel von Trieben und Gef\u00fchlen, das ist das Zentrum unserer seelischen Struktur\u201c, und die von aufsen erzeugten Wahrnehmungen und Vorstellungen rufen nun vermittelst des Gef\u00fchlsanteils, der ihnen von jenem Zentrum aus zu teil wird, Wollungen und Handlungen hervor, die auf Befriedigung der Triebe, Erreichen und Erhalten von Lust, auf Lebenserf\u00fcllung und Steigerung des Daseins gerichtet sind. Von innen gesehen bildet das Individuum mit allen seinen seelischen Beth\u00e4tigungen geradeso eine Einheit im Dienste eines grofsen Zweckes, wie von aufsen gesehen der Organismus sich als eine zweckm\u00e4fsige Veranstaltung zur Erhaltung seiner selbst und der Gattung darstellt. Indem nun das seelische Individuum zeitlich dahinlebt, wird jener in ihm bestehende Zweckzusammenhang beeinflufst durch die Entwickelung des K\u00f6rpers, durch die physische und durch die geistige Umgebung, j Aus dieser Ein-^ Wirkung geht die Entwickelung der Seele hervor. Da das treibende Prinzip in ihr der einheitliche Strukturzusammenhang ist, so ist auch sie selbst eine einheitliche und zweckvolle; ihre wesentlichsten Eigent\u00fcmlichkeiten sind gesteigerte Vollkommenheit der Anpassung des Individuums an seine Lebensbedingungen und zunehmende Differenzierung, das eine durch das andere. Eine Keihe von Phasen wird dabei durchlaufen,","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Uber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n175\nJugend, Mannesalter u. s. w. In ihrer Gesamtheit bilden sie eine aufsteigende Reihe von Yerwirkliehungen jenes einheitlichen Zweckes; gleichwohl aber hat jede Phase in sich ihren selbst\u00e4ndigen Wert und darf nicht blofs als Vorstufe oder Mittel der sp\u00e4terkommenden betrachtet werden.\nSoweit Dilthey. Ich wende mich nun zu einigen kritischen Betrachtungen.\nII.\nDafs die erste Form der modernen wissenschaftlichen Psychologie, die sog. Assoziationspsychologie, nicht gleich mit allen w\u00fcnschenswerten Vollkommenheiten in die Welt trat, sondern an gewissen fundamentalen M\u00e4ngeln litt, ist gewifs. Man kann diese auf zwei Wurzeln zur\u00fcckf\u00fchren: sie traute ihren Kr\u00e4ften in der theoretischen Bew\u00e4ltigung psychischer Thatsachen zu viel zu, und sie folgte zu sehr physikalischchemischen Analogien. Beides ist begreiflich. Der Fortschritt, den sie selbst machte gegen\u00fcber dem in Geltung Befindlichen, gegen\u00fcber den unehrlichen Demonstrationen, den sterilen Distinktionen und dem ganzen kindlichen Anthropomorphismus der psychologischen Betrachtung \u00fcberhaupt, war ein so ungeheurer, dafs der allbezwingenden Kraft der an vielen Stellen so gl\u00fccklich gehandhabten neuen Prinzipien nichts mehr spotten zu k\u00f6nnen schien. Und wo andererseits h\u00e4tte sie sich mit einer konkreten Anschauung von dem Verfahren echter und fruchtbarer Wissenschaft erf\u00fcllen sollen, als an der Physik und Chemie, da eine nennenswerte Biologie noch nicht ausgebildet war? Jedoch begreiflich oder nicht begreiflich, die M\u00e4ngel sind jedenfalls vorhanden. Sie bestehen, nicht aus-schliefslich, aber wesentlich, in der ungen\u00fcgenden W\u00fcrdigung der eigent\u00fcmlichen Einheiten oder Ganzheiten, wenn der Ausdruck gestattet ist, zu denen innerhalb des Seelenlebens das unterscheidbare Viele zusammengefafst und vereinigt erscheint.\nDas Bewufstsein eines Akkords ist etwas anderes, als das Bewufstsein zweier T\u00f6ne. Allerdings enth\u00e4lt es auch die beiden T\u00f6ne in sich, aber nicht nur sie, sondern noch etwas dazu, n\u00e4mlich \u00eaben das Bewufstsein eines Ganzen, dessen Teile sie bilden. Der Eindruck einer Verschiedenheit zweier Farben besteht nicht blofs in dem Nebeneinandersein dieser Farben-","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nHerrn. Ebbinghaus.\nempfindungen. Ich kann unter Umst\u00e4nden mit vollkommener Deutlichkeit zwei Farben sehen, ohne mir gerade ihrer Verschiedenheit bewufst zu werden. Wo auch dies geschieht, ist noch etwas mehr vorhanden, eine eigent\u00fcmliche Zusammenfassung jener beiden zu einem Ganzen, bei der doch ihre Selbstst\u00e4ndigkeit nicht aufgehoben wird. Das sind Einheiten sozusagen geringsten Umfanges; die Anschauungen von Daum, Zeit, Bewegung und Anderes geh\u00f6ren hierher.\nH\nUber ihnen erheben sich umfassendere Einheiten, an denen ich vor\u00fcbergehe, so die Einheit des Sinnes in einem Satze, den ich durch eine Mehrheit von aufeinanderfolgenden Worten zum Bewufstsein bringe, sowie die ber\u00fchmte Einheit des Ichs und die Einheit des Bewufstseins.\nZu oberst endlich kann man von einer alles umfassenden Einheit des Seelenlebens reden, die allerdings nicht als solche in das Bewufstsein f\u00e4llt, aber doch mit Sicherheit als objektiv vorhanden erschlossen werden kann. Das ist die Einheit des Zweckes, dem das ganze seelische Getriebe mit allen seinen Einzelbildungen und Einzelregungen dient (die eben erw\u00e4hnte Einheit der Struktur bei Dilthey): Erhaltung und freie Be-th\u00e4tigung der gesamten geistigen Eigenart, Verwirklichung und Aneignung dessen, was ihr zusagt, Abstofsung und Verh\u00fctung dessen, was ihr widrig ist.\nH\u00e4tte die Assoziationspsychologie sich an biologischen Analogien orientiert, so w\u00e4re ihr der Blick f\u00fcr diese Dinge geradezu gesch\u00e4rft worden. Denn in dem lebendigen Organismus verh\u00e4lt es sich ganz \u00e4hnlich. Ein Muskel besteht aus einer Menge von Fasern. Aber es ist nicht blofs die Mehrheit dieser Fasern, die ihn charakterisiert, sondern zugleich die Form, die Anordnung, die jene zusammenh\u00e4lt, und er ist unbeschadet jener Vielheit doch zugleich ein einheitliches Gebilde. Das Leben eines Organismus besteht in einer Vielheit von Prozessen, cirkulatorischen, respiratorischen, sekretorischen u. s. w. Aber diese verlaufen nicht einfach nebeneinander, wie etwa das Spiel des Herdfeuers, der Wasserleitung und Gasleitung in einer K\u00fcche, sondern in jedem Moment und ununterbrochen greifen sie alle ineinander, jeder Vorgang der einen Sph\u00e4re klingt irgendwie wieder in allen anderen, sie bilden ein innig verbundenes Ganzes, unbeschadet wiederum ihrer Vielheit. Endlich haben wir auch hier die allumfassende Einheit eines","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Uber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n177\nh\u00f6chsten Zweckes: Erhaltung des individuellen Lebens und Erhaltung der Art, das ist sichtlich das letzte Ziel, das alle Organe und das ganze Spiel ihrer Funktionen beherrscht.\nAllein nun wurde jene Assoziationspsychologie nicht von biologischen, sondern von physikalisch-chemischen Anschauungen geleitet. Aggregat und chemische Verbindung waren daher die naheliegenden Kategorien, mit denen sie den psychischen Einheitsbildungen gegen\u00fcber operierte und von denen beherrscht sie sie, im Vollbewufstsein ihres K\u00f6nnens, assoziativ zu konstruieren unternahm. So machte sie gleichsam r\u00e4umliche Anschauung aus der Assoziation von Muskelempfindungen mit Farben- oder Tasteindr\u00fccken; die Wahrnehmung einer Verschiedenheit identifizierte sie schlechtweg mit dem blofsen Zugleichsein verschiedener Empfindungen ; das Ich war ihr ein B\u00fcndel von Vorstellungen und Gef\u00fchlen, weiter nichts. Kein Zweifel, dafs damit den Thatsachen mehr oder minder grofse Gewalt angethan wurde.\nIn einem lebhaften Gef\u00fchl f\u00fcr diese Gewaltth\u00e4tigkeiten an den seelischen Einheiten und in der Reaktion gegen sie wurzelt die Polemik Diltheys; sie ist somit in ihrem allgemeinen Charakter eine durchaus berechtigte Regung. Freilich eine etwas versp\u00e4tete Regung, wenn man den gegenw\u00e4rtigen Stand der Psychologie in Betracht zieht. Denn wer unter denen, die sich eingehender mit psychologischen Dingen befassen, sollte sich wohl \u00fcber jene M\u00e4ngel der Assoziationspsychologie noch im unklaren befinden? Sieht man,ab von der Revolution, die durch die Einf\u00fchrung von Experiment und Messung begonnen hat, und die ihre tiefergreifenden Folgen erst allm\u00e4hlich entfalten kann, so besteht ja doch die Entwickelung der Psychologie in den letzten 40\u201450 Jahren wesentlich in der Arbeit an der Beseitigung jener M\u00e4ngel. In dem Eintreten f\u00fcr die eben erw\u00e4hnten Einheiten niederster Ordnung besteht das Wesen der verschiedenen nativistischen Theorien. Solche Dinge, zeigen sie, wie r\u00e4umliches Ausgedehntsein, zeitliches Dauern, Bewegung, Verschiedenheit, Zahl, sind nicht assoziative Aggregate, noch eine Art chemischer Verbindungen, sondern eigenartige, in ihrer primitivsten Gestalt ganz urspr\u00fcngliche seelische Inhalte, die freilich mehrere andere Inhalte in sich befassen und vereinigen k\u00f6nnen, aber deshalb nicht einfach aus diesen zusammengesetzt sind. Die energische Hervorhebung\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie IX.\t12","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nHerrn. Ebbinghaus.\njener umfassendsten seelischen Einheit, der Einheit des Zweckes, bestehend in fundamentalen Wollungen, ist ein Hauptgedanke Schopenhauers, der f\u00fcr die Psychologie von erheblicher Bedeutung geworden ist. Derselbe Gedanke, in biologischem Gew\u00e4nde, erscheint bei H. Spencer ; neuerdings bildet er innerhalb mancher unhaltbarer Einzelausf\u00fchrungen den gesunden und echten Kern der W\u00fcNDTschen Apperzeptionslehre. Die sozusagen mittleren Einheiten aber, die Einheit des Ichs, die Einheit des Bewufstseins, sind zu keiner Zeit von der B\u00fcndeltheorie der Assoziationspsychologen ganz verdunkelt worden, da man ihrer zu den bekannten Folgerungen auf wahrhaft substantielle und einfache Seelen immer bedurfte.\nMan wird sagen, dafs diese Bewegung zur besseren W\u00fcrdigung der psychischen Einheiten innerhalb des sonstigen Rahmens der Assoziationspsychologie noch keineswegs abgeschlossen sei. Das ist sie freilich nicht. Der eine neigt st\u00e4rker zu nati vis tischen, der andere st\u00e4rker zu empiristischen Anschauungen ; es kann sogar bei ein und demselben Forscher das eine in gewisser Hinsicht und das andere in anderer Hinsicht der Fall sein. Bei Wundt z. B. fristet neben dem Apper-zeptionsprozefs, der da keineswegs ein Resultat von Assoziationen sein soll, sondern in der letzten Anlage des Bewufstseins seine Wurzeln hat, noch die den Anschauungen Th. Browns und der beiden Mill entstammende Kategorie der chemischen Verbindung ein einsames Dasein. Aber nicht abgeschlossen ist doch etwas anderes, als noch nicht begonnen. Und bei Dilthey sieht es aus, als ob eine solche Arbeit noch gar nicht begonnen h\u00e4tte, oder doch h\u00f6chstens in allerj\u00fcngster Zeit. Sigwart und James, von denen er selbst in der That vielfach abh\u00e4ngt, nennt er neben sich als Verfechter \u00e4hnlicher Anschauungen. Aber im ganzen mufs der Fernerstehende den Eindruck gewinnen, als ob es sich hier nicht um l\u00e4ngst bekannte und erwogene Dinge, sondern um ganz neue Einsichten und Aufkl\u00e4rungen handelte, durch die nun mit einem Male eine totale Umwandlung der Psychologie bedingt w\u00fcrde. Das ist der erste Vorwurf, den ich der Darstellung Diltheys machen mufs: von der Arbeit, die in der Psychologie eben in der Richtung, auf die er selbst hinaus will, seit lange geschieht, nimmt er keine Notiz ; er zeichnet daher von der Psychologie der Gegenwart, der er die Wege weisen will, ein durchaus inad\u00e4quates Bild.","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"179\n\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\nin.\nVon gr\u00f6fserer Bedeutung indes ist ein zweiter Punkt. Ebensowenig, wie von der erkl\u00e4renden Psychologie der G-egenwart, liefert Dilthey von der der Vergangenheit eine ihrer Wirklichkeit zu irgend einer Zeit angemessene Darstellung. Er nennt als ihre Vertreter, wie billig, eine gr\u00f6fsere Anzahl von M\u00e4nnern, Deutsche, Engl\u00e4nder, Franzosen. Man sollte daher erwarten, dafs er in der Charakteristik, die er von dem Wollen dieser M\u00e4nner giebt, ihnen allen einiger-mafsen gleichm\u00e4fsig gerecht w\u00fcrde; dafs er also entweder nur die allen gemeinsamen Z\u00fcge ihres Thuns ber\u00fccksichtigte, oder aber, wenn er einmal die besonderen Eigent\u00fcmlichkeiten eines einzelnen verwertete, dann auch die prinzipiellen Abweichungen der anderen je nach dem Mafs ihrer Bedeutung w\u00fcrdigte und danach die einen so, die anderen anders beurteilte. Indes so geschieht es keineswegs, sondern, indem durchgehends von \u201eder\u201c erkl\u00e4renden Psychologie als einer im ganzen gleichartigen Erscheinung die Bede ist, werden zu ihrer n\u00e4heren Charakterisierung Merkmale benutzt, die g r of sen teils nur auf einen einzigen j en er Vertreter einigermafs en passen, n\u00e4mlich auf Herbart. Auf die zu jeder Zeit daneben existierende Assoziationspsychologie im engeren Sinne f\u00e4llt dadurch ein ganz schiefes Licht. Denn da nach der ganzen Haltung der Darstellung die gegebene Charakterisierung auf sie mitbezogen werden mufs, scheinen ihr Eigent\u00fcmlichkeiten zuzukommen, die sie gar nicht hat, w\u00e4hrend anderes, was f\u00fcr sie sehr wichtig ist, ungeb\u00fchrlich zur\u00fccktritt. Nun hat Herbart innerhalb Deutschlands gewifs seine Bedeutung gehabt. Aber seine metaphysischen Spitzfindigkeiten, seine unfundierten Fiktionen, seine Mythologeme haben ihm das Ausland stets verschlossen. Die englische Assoziationspsychologie dagegen ist international geworden. Aufserdem: wenn man die lebendige psychologische Forschung der G-egenwart im grofsen und weiten \u00fcberblickt, so wird man finden, dafs sie niemandem geistig ferner ger\u00fcckt ist, als eben Herbart. Von allen seinen spezifischen Eigent\u00fcmlichkeiten will sie nichts mehr wissen ; sofern er noch lebt, lebt er, weil er in mancher Hinsicht allerdings dasselbe will, wie die Assoziationspsychologen, und in anderer sich so hat umformen\n12*","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nHerrn. Ebbingbaus.\nlassen, dafs er jenen angegliedert werden kann. Ans der Vergangenheit der Psychologie gerade Herbart herauszugreifen, um etwas von aktueller Bedeutung zu sagen, erscheint somit im ganzen der Sache wenig angemessen. Geschieht es aber einmal, so mufs jedenfalls daf\u00fcr gesorgt sein, dafs die wesentlich nur auf Herbart passenden Z\u00fcge des Bildes auch nur auf ihn bezogen werden k\u00f6nnen. Sonst wird die Darstellung f\u00fcr den minder Unterrichteten irreleitend und die an sie gekn\u00fcpfte Kritik unbillig. Beides mufs ich von der DiLTHEYschen Arbeit behaupten.\nZum Belege f\u00fchre ich dreierlei an.\n\u2022 *\n\u00dcberall, wo Dilthey die erkl\u00e4rende Psychologie n\u00e4her charakterisiert, nennt er ganz allgemein als wesentliches Merkmal, dafs sie das Seelenleben aus einer \u201ebegrenzten Zahl von Elementen\u201c ableiten wolle. Ich weifs nicht, wer von den s\u00e4mtlichen Assoziationspsychologen sich in so unverst\u00e4ndiger Weise die H\u00e4nde gebunden haben sollte. Sie haben die gegebene Wirklichkeit des Seelenlebens auf die letzten in ihr unterscheidbaren Gebilde und die einfachsten darin waltenden Prozesse zur\u00fcckf\u00fchren wollen, aber ob die Zahl dieser Elemente begrenzt oder unbegrenzt, grofs oder klein sein m\u00fcsse, dar\u00fcber haben sie sich keine Vorschriften gemacht. Dar\u00fcber haben sie die That Sachen entscheiden lassen und sich dem in ihnen liegenden Zwange prinzipiell unterworfen: m\u00f6glichste Reduktion, aber \u201ewithout doing violence to facts\u201c, wie der j\u00fcngere Mill ausdr\u00fccklich sagt. Sie sind verfahren, wie wenn sie die Dilthey-sche Abhandlung gelesen h\u00e4tten, denn auch diese gebietet: \u201eMan gehe in dieser Zergliederung soweit als m\u00f6glich.\u201c (19.) Bei jener Betrachtung der Thatsachen haben sie nun freilich gefunden, dafs man im ganzen gar nicht so aufs er ordentlich viele letzte Elemente und letzte Prozesse anzusetzen brauche, iwie man nach dem unermefslichen Reichtum des entwickelten Seelenlebens vielleicht voraussetzen sollte. Sie sind dar\u00fcber sehr gl\u00fccklich gewesen, wie sich jede Wissenschaft, auch jede Geisteswissenschaft freut, wenn ihr eine Reduktion der Prinzipien gelingt. Aber eine besondere \u00c4ngstlichkeit um eine Begrenzung der Zahl dieser Prinzipien zeigen sie nicht. Stellenweise haben sie sie gegen die Tradition ganz betr\u00e4chtlich vermehrt; so in der Zerschlagung des grofsen Sammelgef\u00e4fses des","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"181\n\u00fcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\nf\u00fcnften Sinnes, aus dem sie eine Menge von Elementen in ihrem Sinne, wie Druckempfindungen, Temperaturempfindungen, Muskelempfindungen und zahlreiche Arten von Organempfindungen herausgezogen haben. Und man wird behaupten d\u00fcrfen: wenn der Zwang der Thatsachen dazu gef\u00fchrt haben sollte, zehnmal oder hundertmal soviel letzte Elemente des Seelenlebens anzusetzen, als ihnen nun wirklich erforderlich schien, so w\u00e4re an ihrer Wissenschaft prinzipiell nichts ge\u00e4ndert worden, nur h\u00e4tte sich die Durchf\u00fchrung ihrer Idee verwickelter und schwieriger gestaltet.\nAllgemein ausgedr\u00fcckt, besteht das Schiefe und Irreleitende der DiLTHEYschen Angabe darin, dafs in eine Charakteristik, die in allem \u00fcbrigen die Intention der Leute betrifft, ein Zug aufgenommen wird, der mit ihren Intentionen nichts zu thun hat, sondern einen rein \u00e4ufserlichen Effekt ihres Wollens bildet, und dafs dagegen der durchaus richtige Gedanke, dessen Durchf\u00fchrung eben zu jenem Effekt f\u00fchrte, keine Ber\u00fccksichtigung findet. B\u00fcckt man die Sache zurecht, so verschwindet sogleich ein St\u00fcck der DiLTHEYschen Kritik. Dilthey beklagt (s. ob. S. 166 u. 167), dafs die erkl\u00e4rende Psychologie, nat\u00fcrlich eben wegen der begrenzten Zahl ihrer Elemente, nicht dem ganzen Umfange des Seelenlebens gerecht geworden sei, dafs sie Thatsachen aufser acht gelassen habe, \u201ederen H\u00e4rte bisher keine \u00fcberzeugende Zergliederung aufzul\u00f6sen ver-mocht habe\u201c. Unter anderen Ubelst\u00e4nden soll auch diesem durch die Ausbildung seiner beschreibenden Psychologie abgeholfen werden. Die Antwort ist einfach. Sowie solche Thatsachen mit gen\u00fcgender Sicherheit aufgezeigt werden, sowie der Beweis geliefert wird, dafs man sie bisher irrt\u00fcmlich \u00fcbersehen oder irrt\u00fcmlich f\u00fcr ableitbar gehalten habe, geh\u00f6ren sie nach der eigenen Idee der Assoziationspsychologen zu ihren Elementen oder Grundthatsachen. Einer erst auszubildenden Wissenschaft f\u00fcr sie bedarf es nicht, die Wissenschaft besteht ; und was die neue Wissenschaft \u2014 nach Dilthey \u2014 hinsichtlich dieser Thatsachen wollen soll, eben das will die alte. Auf irgend eine Zahl ihrer Prinzipien ist sie in keiner Weise festgenagelt. Was die nativistischen Theorien hinsichtlich der Baum- und Zeitanschauung, hinsichtlich Bewegung, Ganzheit u. s. w. behaupten, findet zwanglos in ihrem Bahmen Platz. Dafs es Psychologen geben k\u00f6nnte, die, wie Dilthey, auch","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nHerrn. Ebbinghaus.\nden \u201eCharakter von Notwendigkeit in gewissen S\u00e4tzen und in dem Umkreis unserer Willenshandlungen das Sollen oder die absolut im Bewufstsein auftretenden Normen\u201c f\u00fcr irreduktible Dinge halten, ist mir \u00e4ufserst zweifelhaft, aber, selbst wenn es w\u00e4re, prinzipiell erw\u00fcchsen der erkl\u00e4renden Psychologie daraus keinerlei Schwierigkeiten.\nEine andere Verzeichnung ihres Bildes erblicke ich in Folgendem. Woher entnahmen die erkl\u00e4renden Psychologen, ihrer Intention nach, die Prinzipien, mit deren H\u00fclfe sie dann das \u00fcbrige Seelenleben zu begreifen suchten? Die DiLTHEYsehen Charakterisierungen sagen dar\u00fcber mehrfach nichts. An anderen Stellen lassen sie jene Elemente auf rein hypothetischen Annahmen oder auch auf deduktiven Ableitungen beruhen. \u201eDie beschreibende und zergliedernde Psychologie endigt mit Hypothesen, w\u00e4hrend die erkl\u00e4rende mit ihnen beginnt.\u201c (37). \u201eSo treten von neuem in die erkl\u00e4rende Psychologie deduktiv bestimmte Erkl\u00e4rungselemente ein.\u201c (23). Wieder an zwei anderen Stellen (20 und 21) steht, wie ich ausdr\u00fccklich hervorhebe, das hinsichtlich der Assoziationspsychologen Richtige, leider nur etwas beil\u00e4ufig. Aber es ziemt sich, dafs dieses Richtige nicht gelegentlich einmal, sondern recht an erster Stelle gesagt werde, denn es charakterisiert die Leute ganz ebensosehr, wie ihre Tendenz, zu erkl\u00e4ren und zu begreifen. Sie gewannen ihre Prinzipien aus der Beobachtung der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit, indem sie einerseits analysierend zu den letzten unterscheidbaren Elementen und andererseits induzierend zu allgemeinen Regeln ihres Zusammenhanges zu gelangen suchten. Mit anderen Worten, sie verfuhren zun\u00e4chst genau so, wie es Dilthey f\u00fcr seine in Gegensatz gegen sie gesetzte beschreibende Psychologie fordert ; sie \u00fcbten Beobachtung, Analyse, Induktion^\n\u201eAnalysis of the Phenomena of the Human Mind\u201c heilst die Psychologie des \u00e4lteren Mill, und der Verfasser wird doch auf den Titel wohl gesetzt haben, was ihm als wesentlich an seiner Arbeit erschien. Sein unmittelbarer Vorg\u00e4nger, Th. Brown, \u00e4ufsert sich: \u201eThe science of mind is in its most important respects a science of analysis or of a process which I have said to be virtually the same as analysis: and it is only as it is in this virtual sense analytical that any discovery, at least any important discovery, can be expected to be made in it.\u201c Den erkl\u00e4renden Teilen der SPENCERschen Psychologie geht ein","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie,\n183\nAbschnitt voraus : The Inductions of Psychology. Er ist nur kurz im. Vergleich zu dem Umfang des ganzen Werkes, aber nicht, weil der Autor etwa seine sachliche Bedeutung geringsch\u00e4tzte, sondern weil er hier, f\u00fcr seine gegenw\u00e4rtigen Zwecke, einer gr\u00f6fseren Ausf\u00fchrlichkeit nicht bedarf. Er will die fernere Tragweite der durch Beobachtung und Verallgemeinerung gewonnenen Prinzipien nach einer gewissen Richtung hin darthun; dazu gen\u00fcgt es, wenn er das Ergebnis seiner Analysen und Induktionen nur kurz vorlegt. Mit den biologischen Gesichtspunkten, von denen er sich leiten l\u00e4fst, verh\u00e4lt es sich ebenso. Vielleicht sind die zu Grunde liegenden Beobachtungen vielfach irrig, die Generali-sationen voreilig, vielleicht giebt auch die weitere Verwendung der Prinzipien zu Bedenken Anlafs; darum handelt es sich zun\u00e4chst nicht, sondern um die leitenden Gedanken der Methode. Diese aber stimmen \u00fcberein mit den von Dilthey als richtig behaupteten. Einzig Herbart ist es mit seinen n\u00e4chsten Anh\u00e4ngern, zu dem sich Dilthey in einem wirklichen und prinzipiellen Gegensatz befindet. Hier haben wir, zum Teil wenigstens, hypothetische Fiktionen der Elemente und deduktive Ableitungen aus metaphysischen Pr\u00e4missen, aber eben nur hier.\nSoweit die von Dilthey unter erkl\u00e4render Psychologie immer mitverstandene Assoziationspsychologie in Frage kommt, gelangen wir also hier zu demselben Ergebnis, wie vorhin. Gewisse, thats\u00e4chlich vorhandene M\u00e4ngel der \u00e4lteren Psychologie f\u00fchrt Dilthey zur\u00fcck auf Vorurteile und irrige Methode. Um ihnen abzuhelfen, verlangt er etwas bisher angeblich nur Angedeutetes, aber noch nicht Ausgef\u00fchrtes, eine Art Reform der Wissenschaft. Allein was er nun selbst als Inhalt und Methode dieser auszubildenden Wissenschaft angiebt, geh\u00f6rt durchaus in den Rahmen der getadelten, nach den eigenen Ideen ihrer Vertreter, hinein und bildet durchaus die Prinzipien ihres eigenen Verfahrens. Sie wollen weiterhin noch mehr, als Dilthey zuzulassen geneigt ist, davon wird sogleich die Rede sein, zun\u00e4chst aber wollen sie ebendasselbe wie er. Sie haben bei der Durchf\u00fchrung dieses ihres Wollens in manchen St\u00fccken geirrt, das wurde ja von vornherein zugestanden. Aber nicht, weil sie sich in methodologischer Hinsicht gr\u00f6blich in der Irre befanden, wie es Dilthey darstellt, sondern weil der Besitz richtiger allgemeinster Gesichtspunkte und die Kenntnis","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nHerrn. Ebbinghaus.\nder richtigen allgemeinen Verfahrungsweisen hier so wenig wie anderswo schon die Erlangung wahrer Resultate verb\u00fcrgt. Und zur Korrektur ihrer Irrt\u00fcmer bedarf es nicht prinzipieller Reformen oder allgemeiner Reformpl\u00e4ne, sondern der einfachen Fortarbeit auf dem gesunden Boden, auf dem sie stehen.\nDie dritte Ausstellung, die ich zu machen habe, betrifft den Kausalbegriff, den Dilthey der erkl\u00e4renden Psychologie zuschreibt. Zu den Konstruktionselementen, mit denen er sie operieren l\u00e4fst, geh\u00f6rt auch \u201eder Kausalzusammenhang der seelischen Vorg\u00e4nge nach dem Prinzip: causa aequat effectum\u201c. (20.) Wie das zu verstehen ist, geht aus zwei weiteren Stellen hervor. An der einen (57) bemerkt er, das Natur erkenn en sei eine Wissenschaft geworden, \u201eals es im Gebiete der Bewegungsvorg\u00e4nge Gleichungen zwischen Ursachen und Effekten herstellte\u201c. In dem weiteren Zusammenh\u00e4nge ist dann noch mehrfach von Kausalgleichungen die Rede. An der anderen Stelle (75) folgert er als Resultat seiner eigenen Darlegung des seelischen Zusammenhanges: die Glieder seien darin so miteinander verbunden, \u201edafs nicht eines aus dem anderen nach dem Gesetz der in der \u00e4ufseren Natur herrschenden Kausalit\u00e4t, n\u00e4mlich dem Gesetz der quantitativen und qualitativen Gleichheit von Ursache und Wirkung, folgt. In Vorstellungen liegt\nkein zureichender Grund, \u00fcberzugehen in Gef\u00fchle;.........in\nden Gef\u00fchlen liegt kein zureichender Grund, sich umzusetzen in Willensprozesse\u201c. Offenbar ist die Meinung Dlltheys, die erkl\u00e4renden Psychologen betrachteten die Dinge, die sie als Ursachen und Wirkungen zu einander in Beziehung setzten, als etwas quantitativ und qualitativ Gleiches, sie glaubten, zeigen zu k\u00f6nnen, wie der Effekt seiner Beschaffenheit nach eigentlich gar nichts anderes sei, als die Ursache, und wie er, in der gleichen Einheit ausgemessen, auch der Gr\u00f6fse nach vollkommen mit dieser \u00fcbereinstimme, sie f\u00e4nden somit in dem Hervorgehen eines Effekts aus seinen Ursachen nichts weiter Verwunderliches, sondern einen ganz verst\u00e4ndlichen und durchsichtigen Vorgang. Aus der Physik ist diese Vorstellung jedermann gel\u00e4ufig; es ist die Hypothese einer mechanischen Konstruierbarkeit aller Vorg\u00e4nge der Aufsenwelt. Der gew\u00f6hnliche Mensch sieht W\u00e4rme sich umsetzen in die Bewegung eines Kolbens; ein qualitativ eigenartiges Agens verwandelt, metamorphosiert sich vor seinen Augen in ein","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"185\n\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\nqualitativ ganz andersartiges. Er kann die beiden Agentien\nin beliebigen Einheiten, die je ihrer Eigenart entsprechen,\nnumerisch bestimmen; vielleicht findet er so die \u00c4quivalenz\nder Werte, die die Umsetzungen beherrscht. Aber da die\nbeiden Glieder des Vorganges f\u00fcr ihn nichts Vergleichbares\nhaben, so besteht auch zwischen diesen \u00c4quivalenzzahlen kein\nverst\u00e4ndlicher Zusammenhang. .Nun belehrt ihn der\nPhysiker. Jene W\u00e4rme besteht in Wahrheit aus nichts als\nBewegungen kleinster Teilchen, die nur aus den und den\nGr\u00fcnden unsichtbar sind. Du hast also nicht mit einer quali-\n\u00bb\u00ab\ntativen Metamorphose zu thun, sondern nur mit einem \u00dcbergang einer gewissen Anordnung bewegter Teilchen in eine andere Anordnung, nicht mit einem B\u00e4tsel, sondern mit einer relativ verst\u00e4ndlichen Sache. Und wenn du nun ferner das beiderseits der Qualit\u00e4t nach Gleiche in der gleichen Einheit ausmifst und seinen Energiegehalt bestimmst, so findest du, dafs jene \u00c4quivalenzzahlen der Umsetzung einander v\u00f6llig gleich werden.\nEine derartige Vorstellung von dem Verh\u00e4ltnis der Ursachen zu den Wirkungen soll also nach Dilthey auch die erkl\u00e4renden Psychologen beherrschen. Vielleicht ist es in der That bei Herbart der Fall. Nicht explicite, aber implicite kann man solche Gedanken seiner Statik und Mechanik des Geistes zu Grunde liegend finden. Aber abgesehen von diesem rein fiktiven Komplex von Formeln und Gleichungen \u2014 der, beil\u00e4ufig bemerkt, l\u00e4ngst tot und begraben ist, gegen den sich selbst die Herbartianer \u00fcberwiegend ablehnend verhalten haben \u2014 abgesehen von dieser einzigen Ausnahme, frage ich mich vergeblich, auf wen die DiLTHEYsche Behauptung passen k\u00f6nnte; hinsichtlich der Assoziationspsychologen steht sie vollkommen in der Luft. Der Gedankengang, aus dem sie entstand, ist vermutlich dieser: die Wissenschaftlichkeit der Physik beruht auf der Vorstellung der mehrerw\u00e4hnten quantitativen und qualitativen Gleichheit von Ursachen und Wirkungen, die erkl\u00e4rende Psychologie folgt einem physikalischen Ideal von Wissenschaftlichkeit, also mufs sie auch diese Vorstellung haben. Gleich der erste Satz dieser Argumentation ist unrichtig. Die Naturforscher vertreten, vielleicht in ihrer Mehrzahl, die Hypothese einer mechanischen Erkl\u00e4rbarkeit der Aufsenwelt, aber die Wissenschaftlichkeit ihres Thuns f\u00e4ngt","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nHerrn. Ebbinghaus.\nnicht erst mit dieser Vorstellung an, sie ist ganz unabh\u00e4ngig davon. Man erinnere sich der Schriften E. Machs, der nicht m\u00fcde wird, diesen G-edanken auszuf\u00fchren. Mechanische Erkl\u00e4rung der Dinge ist kein notwendiges Bestandst\u00fcck einer echten und wahrhaft wissenschaftlichen Naturforschung, sondern, wenn sie gelingt, ist sie ein Opus supererogationis sozusagen. Aber wie dem f\u00fcr die Physik auch sein m\u00f6ge, die Psychologen erheben auf eine solche \u00fcb er verdienstliche Leistung keinerlei Anspruch. Es gen\u00fcgt, an das N\u00e4chstliegende, das Assoziationsgesetz, zu erinnern, um es einzusehen. Das Zusammensein zweier Empfindungen betrachten sie als Ursache davon, dafs sp\u00e4terhin eine Wiedererzeugung der einen Empfindung eine Vorstellung der anderen herbeif\u00fchrt. Aber von einem Enthaltensein der Wirkung in der Ursache und gar von einer quantitativen Gleichheit der beiden wird man nirgendwo etwas behauptet finden; ja, wie man den Vorgang auch auffassen m\u00f6ge, es ist kaum verst\u00e4ndlich, was mit einer solchen Behauptung gemeint sein k\u00f6nnte. Vielleicht ergeben sich sp\u00e4ter einmal sachliche Handhaben, dergleichen Gedanken nachzugehen. Dann wird es Zeit sein, ihre Unterlagen und ihre Fruchtbarkeit kritisch zu beleuchten. Aber einstweilen mufs es als unbillig bezeichnet werden, die Psychologie wegen des Mifslingens von etwas zu tadeln, was ihr nicht in den Sinn kommt, und ihr eine so triviale Sache als angeblich neue Einsicht vorzuhalten, wie dafs in den Gef\u00fchlen f\u00fcr unser Wissen kein zureichender Grund liegt, sich in, Willensprozesse umzusetzen.\nIV.\nDoch jetzt zu dem eigentlichen Kern der* Argumentationen Diltheys. Herbartianer und Assoziationspsychologen stimmen jedenfalls darin \u00fcberein, dafs sie mit H\u00fclfe der irgendwoher gewonnenen Prinzipien nun noch etwas weiteres wollen. Das \u00fcbrige Seelenleben, soweit es nicht ein Letztes und Urspr\u00fcngliches zu sein scheint, wollen sie wom\u00f6glich als ein gesetz-m\u00e4fsig Zustandegekommenes und als ein gesetzm\u00e4fsig Zusammenh\u00e4ngendes begreifen, sie wollen es erkl\u00e4ren.\nWeshalb sie das wollen, braucht hier nicht n\u00e4her er\u00f6rtert zu werden: um gewissen starken Bed\u00fcrfnissen unseres Denkens, popul\u00e4r ausgedr\u00fcckt, unserem Kausalit\u00e4tsbed\u00fcrfnis Befriedigung zu verschaffen. Und hiergegen wendet sich nun, wie wir","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\nUber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n187\nsahen, Dilthey. Die erkl\u00e4rende Psychologie verkennt die Eigenart des seelischen Thatbestandes. In diesem ist Zusammenhang, auch Kausalzusammenhang, das urspr\u00fcnglich Gegebene, er braucht daher nicht erst durch Erkl\u00e4rungen hergestellt zu werden. Selbst die etwaigen L\u00fccken des Gegebenen sind nicht durch Erkl\u00e4rungen und Konstruktionen, sondern auf andere Weise auszuf\u00fcllen.\nIn diesen L\u00fccken und ihrer Ausf\u00fcllung steckt der Kern der Frage; mit ihnen m\u00fcssen wir uns daher etwas n\u00e4her besch\u00e4ftigen. In den allgemeinen Ausf\u00fchrungen der DiLTHEYschen Arbeit sind sie zwar mehrfach erw\u00e4hnt, wie ja auch unser Bericht erkennen liefs, allein im ganzen treten sie doch in den Hintergrund. Der Nachdruck liegt darauf, dafs der Zusammenhang des Seelenlebens etwas Urspr\u00fcngliches sei, und es sieht aus, als ob mit Beschreibung und Analyse dieses unmittelbar Gegebenen die Aufgabe der Psychologie im wesentlichen zu l\u00f6sen w\u00e4re. In den Proben spezieller Ausf\u00fchrung dagegen, die den Schlufs der Arbeit bilden, verh\u00e4lt es sich nahezu umgekehrt. Beschreibung und Analyse des unmittelbar Gegebenen pr\u00e4ludieren, und die ganze Kraft des Autors nimmt sieh dann zusammen in verschiedenen Versuchen, das nicht direkt Gegebene aufzuhellen. Bei dem Herantreten an ihre konkrete Behandlung erzwingt sich eben die Sache ihr Hecht. Denn offenbar verh\u00e4lt es sich so : Zusammenh\u00e4nge und Einheiten sind zwar innerhalb des psychischen Lebens mannigfach urspr\u00fcnglich gegeben, und es ist von grofser Wichtigkeit, sie, wie alle anderen letzten Daten des Bewufstseins, in ihren Eigent\u00fcmlichkeiten richtig und deutlich zu erkennen. Aber die gr\u00f6fsten und wichtigsten Zusammenh\u00e4nge, die wir aus bestimmten Gr\u00fcnden f\u00fcr das Seelenleben als wirksam behaupten, liegen uns nicht direkt als letzte Thatsachen vor, sondern werden von uns erst hergestellt.\nIn welchem Zusammenh\u00e4nge stand der pl\u00f6tzlich in mir auftauchende Gedanke, heute nachmittag eine Kuderpartie zu unternehmen, mit anderen Gedanken, Wahrnehmungen u. s. w.? Warum kam mir gerade ein solcher Gedanke? warum gerade jetzt? Das kann ich bei gewissenhaftester Analyse meiner Bewufstseinslage kaum angeben, gleichwohl bin ich vollkommen \u00fcberzeugt, dafs jenes Wollen nicht aus nichts, sondern aus einem fest bestimmten Zusammenhang von Ursachen","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nHerrn. Ebbinghaus.\nentsprang. Der Zusammenhang der Entwickelung des geistigen Lehens von der Kindheit zum Mannesalter geh\u00f6rt eben hierher, desgleichen der fr\u00fcher (S. 176) schon ber\u00fchrte Zusammenhang eines einheitlichen Zweckes, der das gesamte geistige Leben umfassend beherrscht. Dilthey besch\u00e4ftigt sich, wie wir sahen (s. ob. S. 173 f.) in mehreren Kapiteln seiner Abhandlung mit diesen drei grofsen Zusammenh\u00e4ngen; es fragt sich, wie gelangt er dazu, von ihnen, die direkt in keiner Weise gegeben sind, also nicht einfach beschrieben und analysiert werden k\u00f6nnen, gleichwohl etwas auszusagen.\nDaf\u00fcr ist folgende Stelle charakteristisch (66 u. 67). Es handelt sich darum, den soeben genannten Zusammenhang des Zweckes im Seelenleben aufzukl\u00e4ren, die Einheit, die alles Denken und Wollen im Dienste der Erlangung gr\u00f6fster Befriedigung zusammenschliefst. \u201eEine Aufgabe von aufserordent-licher Schwierigkeit. Denn eben das, was zwischen diesen beiden Gliedern die Verbindung herstellt und ihren Lebenswert erst aufschliefst, bildet den dunkelsten Teil der ganzen Psychologie ...Das Leben selbst l\u00e4fst uns erst allm\u00e4hlich einiger-\nmafsen erraten, von welchen Kr\u00e4ften es unaufhaltsam vorw\u00e4rts getrieben wird.\u201c Dann beginnt die L\u00f6sung der Aufgabe: \u201eDurch alle Formen des tierischen Daseins geht ein Verh\u00e4ltnis zwischen Beiz und Bewegung. In diesem vollzieht sich die Anpassung der tierischen Lebenseinheit an ihre Umgebung. Ich sehe eine Eidechse die sonnenbestrahlte Mauer entlang gleiten und nun an der am st\u00e4rksten bestrahlten Stelle die Gliederchen strecken ; ein Laut von mir : und sie ist verschwunden. Durch die Eindr\u00fccke von Licht und W\u00e4rme wurde dies Spiel in ihr angeregt. Durch die Wahrnehmung, welche eine G-efahr anzeigt, wird es unterbrochen. Mit aufser-ordentlicher Geschwindigkeit reagiert hier auf die Wahrnehmung der Schutztrieb des waffenlosen Gesch\u00f6pfes durch zweck-m\u00e4fsige, von einem Reflexmechanismus unterst\u00fctzte Bewegungen. Eindruck, Reaktion und Reflexmechanismus sind also zweck-m\u00e4fsig verbunden.\u201c Diese Verbindung aber, wird dann weiter geschlossen, ist nur m\u00f6glich, wenn die durch \u00e4ufsere Reize geweckten Wahrnehmungen zugleich als etwas seelisch Wertvolles empfunden werden, wie es in den mit ihnen verbundenen Gef\u00fchlen geschieht. Es ist nun n\u00e4mlich jedesmal die Erreichung eines solchen Wertes, die Erlangung von Lust, \u201ewas","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"189\n\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\ndas Spiel unserer Wahrnehmungen und Gedanken mit unseren willk\u00fcrlichen Handlungen zu Einem Strukturzusammenhang verbindet\u201c.\nWas geschieht in diesem Verfahren? Die beschreibende Psychologie vermutet aus gewissen Gr\u00fcnden irgendwo einen Zusammenhang. Direkt gegeben ist dieser nicht; er l\u00e4fst sich nur einigermafsen \u201eerraten\u201c. Um richtig zu raten, orientiert sich die beschreibende Psychologie \u2014 am tierischen Dasein, an einer Eidechse. Nat\u00fcrlich ist das, was sie hier zu sehen bekommt, direkt nichts Psychisches; die an dem Tier zu beobachtenden Thatsachen sind Kombinationen von Bewegungen, weiter nichts. Indes diese Bewegungen lassen sich interpretieren. Ich habe an anderen Stellen, an mir selbst n\u00e4mlich, die Erfahrung gemacht, dafs sich \u00e4hnliche Bewegungen, wie sie jetzt die Eidechse zeigt, mit gewissen Eindr\u00fccken, Gef\u00fchlen, Strebungen verbanden. Diese anderswo wirklich erlebten Realit\u00e4ten trage ich jetzt gedanklich in die Eidechse hinein, ich vermute, dafs es sich bei ihr \u00e4hnlich verh\u00e4lt. Ich vollziehe diese \u00dcbertragung nicht etwa beliebig und willk\u00fcrlich, so dafs ich sie ebensogut auch unterlassen k\u00f6nnte, sondern sie dr\u00e4ngt sich mir auf, ich kann mich ihr kaum entziehen; immerhin l\u00e4fst sich ihre Richtigkeit nicht durch unmittelbare Erfahrung und mit absoluter Sicherheit konstatieren, es bleibt nur eine naheliegende Vermutung. Indem ich nun aber so verfahre, gewinnt das in die Eidechse hineingedachte geistige Leben Zusammenhang. Denn jene der unmittelbaren Beobachtung zug\u00e4nglichen \u00e4ufseren Bewegungen zeigen bei genauerem Zusehen augenscheinlich das, was ich, wieder aus gewissen Erfahrungen an mir selbst, als zweckm\u00e4fsig kenne, sie sind sichtlich in ihrer Gesamtheit der Verwirklichung eines bestimmten Resultates angepafst. Was aber von ihnen gilt, \u00fcbertr\u00e4gt sich nat\u00fcrlich sogleich auch auf die geistigen Realit\u00e4ten, die ich mit ihnen verbunden dachte; auch sie m\u00fcssen einem einheitlichen Zwecke dienen. Geistige Zweckm\u00e4fsigkeit aber, das weifs ich abermals aus meinen unmittelbaren Erlebnissen, besteht in der Erlangung von Lust im allgemeinsten Sinne. Und so habe ich mithin den gesuchten Zusammenhang zwischen Eindr\u00fccken und Willensakten aufgefunden: sie stehen insgesamt im Dienste eines einheitlichen Zweckes, der da ist Verwirklichung gr\u00f6fstm\u00f6glicher Befriedigung.","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nHerrn. Ebbinghaus.\nDenn das zun\u00e4chst an der Eidechse Gefundene kann nat\u00fcrlich nicht auf diese beschr\u00e4nkt bleiben; es \u00fcbertr\u00e4gt sich ohne weiteres auf alle Seelen, unter anderen auch auf meine eigene Seele. Ein solcher direkt nicht wahrnehmbarer tieferer Zusammenhang aller seelischen Beth\u00e4tigungen, so werde ich anzunehmen gedr\u00e4ngt, besteht auch hier, ganz \u00e4hnlich, wie ich es dort wahrscheinlich fand.\nDurch eine Anzahl mehr oder minder vermittelter und\nmm\nmehr oder minder naheliegender \u00dcbertragungen also von Inhalten und Beziehungen, die an gewissen Stellen des Seelenlebens unmittelbar und wahrhaft erlebt werden, an andere Stellen, wo sie nicht erlebt werden, gelangt die beschreibende Psychologie dazu, jene wichtigen L\u00fccken des Gegebenen auszuf\u00fcllen. Und wie ist die Richtigkeit dieses Verfahrens zu beurteilen? Nicht das mindeste ist dagegen einzuwenden; es ist in bester Ordnung. So in der That mufs man es anfangen, um die nicht gegebenen Zusammenh\u00e4nge aufzukl\u00e4ren. Auch der Zusammenhang eines Gedankens mit seinen unbewufst bleibenden n\u00e4chsten Ursachen, namentlich auch die Entwickelung des Seelenlebens, kann nur in solcher Weise durch\n\u2022 \u2022\nhineindeutende \u00dcbertragung des anderswo Erlebten erraten werden.\nIch frage nur mit grofser Verwunderung, worin unterscheidet sich denn dieses Verfahren im Prinzip von dem der erkl\u00e4renden Psychologen, oder doch, um Herbart wieder aus dem Spiele zu lassen, von dem der Assoziationspsychologen? Eben das wollen sie ja auch, und ebenso verfahren sie daher auch. Darin besteht doch das ihnen eigent\u00fcmliche Erkl\u00e4ren seinem Wesen nach, in der Erg\u00e4nzung von Erfahrungsl\u00fccken mit H\u00fclfe und nach Analogie des anderswo der gegebenen Wirklichkeit Entnommenen, zugleich mit dem Nebengedanken, nun durch die bekannten Eigenschaften des Hinzuerg\u00e4nzten die sonst r\u00e4tselhaften Eigenschaften des l\u00fcckenhaft Gegebenen verst\u00e4ndlich zu machen. Ob sie das Tiefensehen \u201eerkl\u00e4ren\u201c, oder das allm\u00e4hliche Zustandekommen zweckm\u00e4fsigen Wollen oder das Sprechenlernen der Kinder, \u00fcberall ist das die allgemeinste Charakteristik ihres Thuns. Indem sie sich an solchen Erkl\u00e4rungen versuchen, verfahren sie freilich so, wie Physik und Chemie, wie Dilthey hervorhebt. Aber doch nicht nur wie diese, sondern so, wie \u00fcberhaupt jede Wissenschaft aufser der","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"191\n\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\nMathematik, auch so, wie jede Geistes Wissenschaft. Wenn der Historiker eine thats\u00e4chlich angeordnete Mafsregel Napoleons durch Motive erkl\u00e4rt, von denen in seinen Quellen nichts berichtet wird, die aber nach seinen sonstigen Erfahrungen bei K\u00f6nigen und Feldherren vorzukommen pflegen, thut er prinzipiell ebendasselbe, was der Psychologe anstrebt.\nIn seinen allgemeinen Ausf\u00fchrungen verneint Dilthey die M\u00f6glichkeit solchen Thuns f\u00fcr die Psychologie (S. 56, s. ob. S. 164): \u201eDas Bewufstsein kann nicht hinter sich selber kommen.\u201c . . . \u201eWill es (n\u00e4mlich das Denken) hinter dieser letzten uns gegebenen Wirklichkeit einen rationalen Zusammenhang konstruieren, so kann dieser nur aus den Teilinhalten zusammengesetzt sein, die in dieser Wirklichkeit selber Vorkommen.\u201c Eine solche Konstruktion indes, wird weiterhin behauptet, bleibt dann der lebendigen Wirklichkeit des Seelenlebens fern. Indem aber derselbe Dilthey eine konkrete Darstellung der Dinge zu liefern unternimmt, thut er der Sache nach genau das, was er vorher bek\u00e4mpft hatte: er f\u00fchrt das Bewufstsein unbedenklich hinter sich selbst zur\u00fcck und konstruiert aus Teilinhalten, die der Wirklichkeit entnommen sind, einen Zusammenhang, der zugestand enermafsen als solcher in dieser Wirklichkeit nicht vorkommt, der nur \u201eerraten\u201c werden kann. Nat\u00fcrlich fehlt ihm auch jener eben erw\u00e4hnte Nebengedanke nicht, durch das Hinzukonstruierte das unmittelbar Gegebene fafsbar zu machen, durch die Einsicht z. B. in den Strukturzusammenhang das sonstige Verst\u00e4ndnis des Seelenlebens zu f\u00f6rdern, und somit verf\u00e4hrt er der Sache nach ganz wie die erkl\u00e4renden Assoziationspsychologen.\nDafs sich dieses Verh\u00e4ltnis seinem Bewufstsein entzieht und er etwas v\u00f6llig anderes zu thun glaubt, als jene, liegt, soviel ich sehe, an zwei Umst\u00e4nden. Einmal daran, dafs die, wie oben erw\u00e4hnt, im Grunde nur auf Herbabt einigermafsen passende Polemik ohne weiteres verallgemeinert ist. Dilthey , ist sich bewufst, anders zu verfahren, als jener. Er entnimmt die Teilinhalte, mit denen er einen gesuchten Zusammenhang herstellt, die Erkl\u00e4rungsmittel also anders ausgedr\u00fcckt, nicht metaphysischen Postulaten und fiktiven Hypothesen, sondern der unmittelbaren Erfahrung. Dieser Gegensatz verallgemeinert sich ihm, und er glaubt, anders zu verfahren, als die erkl\u00e4rende Psychologie \u00fcberhaupt, w\u00e4hrend zu den Assoziationspsychologen","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nHerrn. Ebbinghaus.\ndoch gar kein Gegensatz bestellt. Dazu aber kommt ein\nanderer Irrtum : Dilthey h\u00e4lt die der Wirklichkeit entnommenen\n\u2022\u2022\nTeilinhalte und den daraus durch hypothetische \u00dcbertragungen gewonnenen Zusammenhang (die Erkl\u00e4rungsmittel und den Erkl\u00e4rungsgegenstand) nicht scharf genug auseinander. Wo er an seine Erg\u00e4nzungsprobleme herantritt, sagt er \u00fcberall ausdr\u00fccklich, dafs hier die unmittelbare Erfahrung, das direkte Erlebnis fehle; wir h\u00f6rten (s. ob. S. 188), wie eindringlich er die Schwierigkeiten schildert, den dunklen Zweckzusammenhang des Seelenlebens aufzukl\u00e4ren. Indem er nun seinerseits die Erg\u00e4nzung giebt, betont er unabl\u00e4ssig und mit Hecht, dafs alle hierbei verwandten Begriffe, Vorg\u00e4nge u. s. w. der lebendigen inneren Erfahrung entnommen seien. Dann aber springt er mit einem Male, als ob das ein legitimes Ergebnis dieses eben Betonten w\u00e4re, zu der Behauptung, dafs auch der aufgefundene Zusammenhang lebendige Erfahrung und nicht nur Vermutung sei, und indem er diese Behauptung nachher festh\u00e4lt, ist er \u00fcberzeugt, in den [Resultaten seiner Erg\u00e4nzungen etwas ganz Andersartiges zu besitzen, als andere in den ihrigen. Sehr deutlich zeigt sich dieser Gang S. 68. \u201eDas ist nun f\u00fcr das Studium dieses seelischen Strukturzusammenhanges das Entscheidende: die \u00dcberg\u00e4nge eines Zustandes in den anderen, das Erwirken, das vom einen zum anderen f\u00fchrt, fallen in die innere Erfahrung. Der Strukturzusammenhang wird erlebt.\u201c . . . . \u201eAn solchen oder anderen konkreten Zusammenh\u00e4ngen werden wir einzelne \u00dcberg\u00e4nge, einzelnes Erwirken inne, jetzt eine Verkn\u00fcpfung, dann eine andere, diese inneren Erfahrungen wiederholen sich, bald diese, bald jene innere Verbindung wird im Erleben wiederholt, bis dann der ganze Strukturzusammenhang in unserem inneren Bewufst-sein zu einer gesicherten Erfahrung geworden ist.\u201c Und vier Seiten sp\u00e4ter die erneute Fixierung des Besultates: \u201eUnd zwar wird diese Verbindung so ungleichartiger Vorg\u00e4nge zu einer Einheit nicht durch Schl\u00fcsse festgestellt, sondern sie ist die lebendigste Erfahrung, deren wir \u00fcberhaupt f\u00e4hig sind.\u201c Offenbar besteht in diesem Gedankengange ein grofser und unerlaubter Sprung. Die \u00dcberg\u00e4nge eines Zustandes in den anderen und alle m\u00f6glichen Einzelerlebnisse m\u00f6gen in die innere Erfahrung fallen; der Strukturzusammenhang selbst wird nicht erlebt; er ist nicht lebendigste Erfahrung;","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n193\nDilthey selbst hat ja vorher zugestanden, dafs er das Dunkelste der ganzen Psychologie sei. Vorstellungen und Wollungen, Lust und Unlust, Einheit, Zweckm\u00e4fsigkeit, Wirksamkeit, das alles sind wahrhafte und wirkliche innere Erlebnisse. Aber dafs nun das gesamte Vorstellen und Wollen dem einheitlichen Zwecke der Bewirkung gr\u00f6fster Lust dient, dieser eigenartige Zusammenhang jener Erlebnisse findet sich als solcher niemals in der inneren Wahrnehmung; er wird erraten, r\u00fcckw\u00e4rts erschlossen, hinzukonstruiert, oder wie man es nennen will. Wir haben die besten Gr\u00fcnde f\u00fcr die Richtigkeit des R\u00fcckschlusses in dem gegenw\u00e4rtigen Falle, so dafs er sich uns als durchaus zwingend darstellt. Darum ist es doch sehr notwendig, zwischen dem Zwange einer wohlbegr\u00fcndeten Annahme und dem Zwange einer unmittelbar erlebten Thatsache zu unterscheiden. Und Dilthey liefert uns nun in seinen Erg\u00e4nzungen des Gegebenen, trotz aller gegenteiligen Versicherungen, nicht unmittelbare und lebendige Erfahrungen, sondern R\u00fcckschl\u00fcsse und hinzugedachte Konstruktionen, kurz Erkl\u00e4rungen, ganz wie die \u00fcbrigen Psychologen auch. Daran ist schlechterdings nichts zu \u00e4ndern.\nBegreiflich, dafs die Gleichheit des Verfahrens auch mehrfach Gleichheit der Resultate mit sich f\u00fchrt. Dilthey wird schwerlich der Meinung sein, dafs die von ihm blofs-gelegte \u201eStruktur\u201c des Seelenlebens den erkl\u00e4renden Psychologen etwas irgendwie Neues sei. Vielleicht ist er in der That der Meinung, in einer anderen Erg\u00e4nzung des Gegebenen von ihnen zu differieren, n\u00e4mlich hinsichtlich der unbewufsten Vorstellungen; aber der Sache nach wiederholt er auch hier nur, was den von ihm Angegriffenen \u00fcberaus gel\u00e4ufig ist. In dem grofsen Hypothesenverzeichnis der erkl\u00e4renden Psychologie (s. ob. S. 165) werden an letzter Stelle ihre Vermutungen getadelt \u00fcber die Beziehungen zwischen dem Bewufstsein und dem erworbenen seelischen Zusammenhang. An einer sp\u00e4teren Stelle (S. 41) erfahren wir aufs neue, dafs jede Entscheidung dar\u00fcber, ob das unbewufst Gewordene \u201epsychisch, physisch oder psychophysisch sei\u201c, Hypothese ist, und dafs mithin \u201evon unbewufsten Vorstellungen, von physiologischen Spuren ohne \u00c4quivalente\u201c \u201eganz abzusehen\u201c ist. Wenige Seiten sp\u00e4ter dagegen- (52) werden wir verm\u00f6ge \u201esorgf\u00e4ltiger Analyse der einzelnen Willenshandlungen\u201c viel positiver\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie IX.\t13","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nHerrn. Ebbinghaus.\nbelehrt. \u201eIn jedem von den Kulturbeziehungen getragenen Bewufstsein\u201c durchkreuzen einander \u201everschiedene Zweckzusammenh\u00e4nge\u201c. Sie k\u00f6nnen niemals gleichzeitig im Bewufst-sein sein. Jeder von ihnen braucht, um zu wirken, gar nicht im Bewufstsein zu sein. Aber sie sind nicht hinzugedachte fiktive Essenzen. Sie sind \u201epsychische Wirklichkeiten\u201c. Also psychische Wirklichkeiten, die nicht im Bewufstsein sind, aber doch in diesem wirken! Ja, was ist denn eigentlich mit un-bewufsten Vorstellungen, von denen nach Dilthey ganz abgesehen werden sollte, anderes gemeint? Das ist doch eben die Behauptung ihrer Vertreter, sofern sie nicht in die Physiologie abschweifen, dafs dergleichen Dinge zur Erg\u00e4nzung des Gegebenen und zu seinem Verst\u00e4ndnis hinzugedacht werden m\u00fcssen. Es besteht keine Spur von Unterschied zwischen ihnen und Dilthey, nur das Wort fehlt bei diesem und dazu die Klarheit, dafs er hinterher genau das behauptet, was er vorher angegriffen hat. Die verp\u00f6nte Entscheidung aber, ob das Unbewufste psychisch oder physisch oder sonstwie zu denken sei, trifft Dilthey selbst dahin, dafs es psychische Realit\u00e4t habe.\nAber nun sind doch die Annahmen der erkl\u00e4renden Psychologie unsichere Hypothesen, w\u00e4hrend die Erg\u00e4nzungen Diltheys ganz sicher sein sollten. Das ist freilich seine Meinung, aber eine Meinung, die wieder durchaus in einer Selbstt\u00e4uschung befangen ist. Die DiLTHEYschen Erg\u00e4nzungen der Erfahrungsl\u00fccken sind genau soviel und sowenig hypothetisch, wie die entsprechenden Annahmen der anderen Psychologen; auch in diesem wichtigen Punkte besteht nicht der mindeste Unterschied. Die Ausf\u00fcllung jener L\u00fccken mufs \u201eerraten\u201c werden, so sahen wir wiederholt. Aber wo geraten wird, kann auch falsch geraten werden; ein Privilegium des Richtigratens hat niemand. Man kann die gefundene L\u00f6sung vielleicht st\u00fctzen durch empirische Verifikation ihrer Konsequenzen, dann wird sie unter Umst\u00e4nden sehr glaubhaft, aber die Sicherheit des unmittelbaren Erlebnisses erlangt sie niemals. Sie bleibt dauernd hypothetisch ; jederzeit sind Beobachtungen m\u00f6glich, die da lehren, dafs es sich in Wahrheit ganz anders verh\u00e4lt. Von der besonderen Sicherheit also, die Dilthey seinen Aufstellungen vindiziert, wolle man sich nicht gefangen nehmen lassen; sie ist ein Ausflufs der subjektiven Zuversicht,","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\nUber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n195\ndie auch sonst wohl die Menschen zu ihren eigenen Meinungen und deren Gr\u00fcnden zu haben pflegen; objektive Berechtigung hat sie nicht.\nSeltsame Polemik somit, alles in allem genommen. Die Psychologie geht in die Irre, behauptet Dilthey, denn sie liefert hypothetische Erkl\u00e4rungen und Konstruktionen des Zusammenhanges der psychischen Dinge hinter dem Gegebenen. Das entspricht nicht der Natur dieser Dinge, ist unn\u00f6tig und unm\u00f6glich. An ihrer Stelle ist eine Psychologie auszubilden, die beschreibt, zergliedert, verallgemeinert, Konstruktionen des Hinterwirklichen aber sorgf\u00e4ltig vermeidet. Allein auf jeder Seite dieses Gegensatzes ist ein Glied unbeachtet geblieben. Die erkl\u00e4rende Psychologie erkl\u00e4rt und konstruiert nicht nur etwa aus blofsen hypothetischen Annahmen heraus, sondern in der \u00fcberwiegenden Mehrzahl ihrer Vertreter in der Vergangenheit und in der Gesamtheit ihrer selbst\u00e4ndigen Vertreter in der Gegenwart bereitet sie sich die Mittel f\u00fcr ihre Erkl\u00e4rungen erst durch das sorgf\u00e4ltigste Studium des Gegebenen. Sie \u00fcbt seit langem eben das Verfahren, das Dilthey ihr als empfehlenswert vorh\u00e4lt, und zwar nicht etwa nur beil\u00e4ufig und gelegentlich, sondern mit dem vollen Bewusstsein, dafs es die Unterlage ihres ganzen Thuns bildet. Und die beschreibende Psychologie andererseits begn\u00fcgt sich nicht mit dem Beschreiben, Zergliedern und Verallgemeinern des Gegebenen, sondern sie erkennt an, dafs das Gegebene klaffende L\u00fccken aufweist, deren Ausf\u00fcllung dringende Bed\u00fcrfnisse unseres Denkens gebieten. Indem sie aber die Ausf\u00fcllung unternimmt, verf\u00e4hrt sie ganz wie die erkl\u00e4rende Psychologie: sie legt sich das Unerfahrbare zurecht mit H\u00fclfe und nach Analogie des der Erfahrung Gebotenen, sie konstruiert hypothetische Zusammenh\u00e4nge, die der unmittelbaren Erfahrung ganz entr\u00fcckt sind. F\u00fcgt man auf jeder Seite des Gegensatzes das noch dahingeh\u00f6rige Glied hinzu, so resultiert beiderseits v\u00f6llige Gleichheit: die einen thun und wollen, was der andere empfiehlt und thut, und \u2014 die DiLTHEYsche Polemik erweist sich als durchaus gegenstandslos. Ein sachlicher Gegensatz hinsichtlich der Prinzipien des Verfahrens besteht gar nicht; nur der Schein eines Gegensatzes ist vorhanden. Und wodurch kommt es zu diesem Schein ? Ich mufs zu meinem Bedauern sagen, lediglich dadurch, dafs sich der Autor \u00fcber die Dinge nach beiden Seiten\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"396\nHerrn. Ebbinghaus.\nhin im unklaren befindet, im unklaren \u00fcber das fremde Wollen und im unklaren \u00fcber das eigene Thun.1\nY.\nIn den Prinzipien des Verfahrens, sagte ich vorhin, bestehe zwischen der erkl\u00e4renden Psychologie und der Psychologie Diltheys keinerlei wirklicher, sondern nur ein scheinbarer Gegensatz. Damit ist nicht geleugnet, dafs in der Ausf\u00fchrung eine etwaige DiLTHEYsehe Psychologie in mancher Hinsicht ein anderes Gesicht zeigen w\u00fcrde, als die Mehrzahl anderer Psychologien. Namentlich in einer Beziehung w\u00fcrde ein Unterschied bestehen, durch den wir zugleich zu dem zweiten DiLTHEYschen Gegengrunde gegen die erkl\u00e4rende Psychologie hin\u00fcb er gef\u00fchrt werden, zu der Er\u00f6rterung ihrer Unsicherheit.\nDie DiLTHEYschen Erg\u00e4nzungen der Erfahrungsl\u00fccken sind der Natur der Sache nach da, wo sie versucht werden, ganz\n1 Dafs die Unklarheit im grofsen von mannigfachen Unklarheiten im kleinen begleitet wird, ist begreiflich. Ich kann nicht umhin, eine besonders charakteristische dieser Kleinigkeiten beil\u00e4ufig hervorzuheben. Dilthey bespricht die H\u00fclfsmittel der beschreibenden Psychologie und bemerkt abschliefsend (S. 62), dafs der Versuch entscheiden m\u00fcsse, ob ihre Aufgabe mit diesen Mitteln gel\u00f6st werden k\u00f6nne. Dann fahrt er fort; \u201eViele einzelne Zusammenh\u00e4nge hat die psychische Analyse ganz sicher hergestellt. Wir k\u00f6nnen sehr wohl den Vorg\u00e4ngen nachgehen, welche von einer \u00e4ufseren Einwirkung bis zur Entstehung eines Wahrnehmungsbildes f\u00fchren; wir k\u00f6nnen die Umformung desselben in eine erinnerte Vorstellung verfolgen\u201c u. s. w. Man \u00fcberlese die beiden Behauptungen von unserem K\u00f6nnen mit Aufmerksamkeit, und man wird in der gr\u00f6fsten Verlegenheit sein, anzugeben, was gemeint ist. Die Vorg\u00e4nge zwischen der \u00e4ufseren Einwirkung und \u2014 wohlgemerkt \u2014 der Entstehung eines Wahrnehmungsbildes, sowie die Umformung dieses Wahrnehmungsbildes in eine Erinnerung, das sind ganz sichergestellte Dinge! Und diese Sicherstellungen sind \u2014 abermals wohlgemerkt \u2014 Errungenschaften der beschreibenden Psychologie, der psychischen Analyse ! Wenn Dilthey das direkte Gegenteil gesagt h\u00e4tte, dafs n\u00e4mlich die beiden erw\u00e4hnten Vorg\u00e4nge in allem Wesentlichen \u00fcberaus dunkel sind, obschon sich hie und da einiges sp\u00e4rliche Licht \u00fcber sie ergossen hat, dafs ferner ihre Aufhellung mit psychischer Analyse nichts zu thun hat, sondern zum Teil vielleicht von psychologischer Hypothesenbildung erwartet werden kann, zum weitaus gr\u00f6fseren Teil aber Sache der Physiologie ist, so h\u00e4tte er eine jedermann bekannte Wahrheit ausgesprochen. Die gegenw\u00e4rtige Formulierung zeigt nur, wie sehr sich ihm selbst einfache Dinge verschoben haben.","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n197\nebenso hypothetisch, wie die Konstruktionen der Erkl\u00e4rungspsychologen. Allein zweifellos hat Dilthey durchg\u00e4ngig die Tendenz, mit solchen Hypothesen zur\u00fcckhaltender zu sein, als jene. Er will vorsichtiger sein, als sie, zun\u00e4chst nur genau beschreiben, die verschiedenen Formen des Seins und Geschehens zu sondern bestrebt sein, \u201edie m\u00f6glichen Hypothesen jedoch recht bescheiden einf\u00fcgen\u201c. So vertritt er zwar z. B. die Annahme unbewufster und doch wahrhaft geistiger [Realit\u00e4ten hinter dem Bewufstsein, aber ob f\u00fcr dieses unbewufst Geistige auch die Assoziationsgesetze uneingeschr\u00e4nkt gelten, oder ob es ein freies Aufsteigen von Vorstellungen ohne jede Vermittelung von Assoziationen giebt, will er nicht entscheiden (S. 40). Er konstruiert die der direkten Erfahrung unzug\u00e4ngliche Entwickelung des Seelenlebens durch eine Kette hypothetischer \u00dcbertragungen, aber diese geistige Entwickelung in einen Zusammenhang zu bringen mit der Entwickelung der organischen Welt, erscheint ihm gar zu problematisch (S. 85). Namentlich hinsichtlich des grofsen Problems der Beziehungen zwischen geistigen und nerv\u00f6sen Vorg\u00e4ngen w\u00fcrde Dilthey sich augenscheinlich einer bestimmten Stellungnahme enthalten. Der Theorie des sog. psychologischen Parallelismus h\u00e4ngt er offenbar nicht an; da aber die sonstigen Theorien \u00fcber dieses Verh\u00e4ltnis f\u00fcr unsere gegenw\u00e4rtige Einsicht noch hypothetischer sind, als jene, w\u00fcrde er sich ihnen wohl auch nicht anschliefsen. Die Unsicherheiten der erkl\u00e4renden Psychologie bilden eben eins seiner Hauptargumente gegen sie, und die beschreibende Psychologie hat daher ihre Existenzberechtigung wesentlich durch die grofse Sicherheit ihrer Aufstellungen zu erweisen. Es fragt sich, inwiefern jener Angriff begr\u00fcndet ist, und inwiefern dieses Streben gelingt.\nDafs die beschreibende Psychologie keineswegs ganz ohne Hypothesen ist, wurde mehrfach hervorgehoben. Abgesehen von denen, die Dilthey ihr mit Bewufstsein als solche recht bescheiden einf\u00fcgen will, besteht der Inhalt der drei Kapitel ihres allgemeinen Teiles aus grofsen hypothetischen Konstruktionen. Die Resultate dieser Konstruktionen haben nichtsdestoweniger f\u00fcr ihn beinahe die Sicherheit unmittelbarer Erfahrungserlebnisse, und damit ist ohne weiteres erwiesen,\ndafs seine allgemeine Klage \u00fcber die Unsicherheit psycho-\n\u2022 \u2022\nlogischer Hypothesen auf rhetorischer \u00dcbertreibung beruht.","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nHerrn. Ebbinghaus.\nManche von ihnen lassen sich so plausibel machen und sind so gut in ihren Konsequenzen verifizierbar, wie gute naturwissenschaftliche Hypothesen auch. Und dafs die M\u00f6glichkeit exakter Verifikationen durch Experiment und Messung eine ungeheure Steigerung erfahren hat, bedarf f\u00fcr den Unbefangenen keines Wortes.\nIndes zahlreiches Unsichere, f\u00fcr absehbare Zeit nicht zu Entscheidende, bleibt zweifellos. Und indem nun die beschreibende Psychologie sich in vielen schwierigeren Fragen einer Antwort enth\u00e4lt, wird sie ebensoviele Unsicherheiten los, gewinnt sie an Sicherheit, wenn man so will. Allein, ob das so schlechthin als ein Gewinn proklamiert werden kann, als ein Gewinn, der seines Preises wert ist? Ich mufs die Frage entschieden verneinen. Vorsicht und Bescheidenheit sind vortreffliche Beth\u00e4tigungen in der Welt und der Wissenschaft, es ist h\u00f6chst notwendig, dafs sie gesch\u00e4tzt und gepflegt werden; aber unter Umst\u00e4nden gilt es Wagemut und K\u00fchnheit, sonst stagnieren die Dinge. Die DARwiNsche Entwickelungshypothese war, mit Sicherheitsmafsen gemessen, eine \u00e4ufserst fragw\u00fcrdige Sache; sie ist es noch bis auf diesen Tag, denn wo sind die empirischen Verifikationen, die sie durchschlagend beweisen und andere M\u00f6glichkeiten zwingend beseitigen? Aber will man die ungeheure F\u00f6rderung, die sie der Biologie, die sie fast allen Wissenschaften gebracht hat, aus diesen herausstreichen? Oder ihren Vertretern empfehlen, doch nicht so st\u00fcrmisch und ungeberdig zu sein, sondern recht bescheiden von ihrer Vermutung zu reden? Sorgf\u00e4ltige Beschreibung und Sonderung haben ihre St\u00e4tte in der Wissenschaft, aber die k\u00fchn das Unbeschriebene \u00fcberspringende und mit Energie und Enthusiasmus den Zweiflern und \u00c4ngstlichen entgegengehaltene Hypothese hat die ihrige auch; sie ist die befruchtende und treibende Kraft, ohne die jene ersten in der Regel zu sterilem und ziellosem Thun herabsinken. Das gilt f\u00fcr die Psychologie, die mit der Erg\u00e4nzung klaffender Erfahrungsl\u00fccken zu thun hat, ganz ebenso, wie f\u00fcr alle anderen Wissenschaften. Fernhaltung der Unsicherheit um jeden Preis bedeutet auch f\u00fcr sie Fernhaltung des Lebens und der treibenden Momente des Fortschrittes. Ja, diesem positiven Verluste steht im Grunde ein positiver Gewinn \u00fcberhaupt nicht gegen\u00fcber. Denn was ist doch eigentlich gewonnen, welches Mehr erlangt der Mensch, wenn","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n199\ner die tiefergehenden Fragen, die sich ihm aufdr\u00e4ngen, nicht auch nur vermutungsweise beantwortet, sondern sich ihnen entzieht?\nAber nun soll man doch Hypothesen nicht mit unzul\u00e4nglichen Mitteln konstruieren, sondern sich erst eine gen\u00fcgend breite Unterlage thats\u00e4chlichen Materials zu verschaffen suchen. Das ist ganz meine Meinung. Aber ich meine auch, das sei nur die eine Seite der Sache. Denn wie erfahre ich, ob die Mittel zulangen oder nicht, und wie bringe ich heraus, wo sie etwa noch der Erg\u00e4nzung bed\u00fcrfen, und wo ich also suchen mufs, um nicht ziellos herumzutappen? Doch nicht anders, als indem ich den Versuch einer zusammenh\u00e4ngenden Konstruktion der Dinge wirklich unternehme. F\u00e4ngt man die Sache nicht mit den jeweilig verf\u00fcgbaren Mitteln einmal an und versucht sie nach nennenswerten Bereicherungen der Mittel immer wieder aufs neue, so kommt man sicherlich nie dazu, sie mit zureichenden Mitteln jemals zu vollenden.\nUnz\u00e4hlige solcher Versuche hat der einzelne f\u00fcr sich abzumachen. Er probiert und verwirft, probiert einmal wieder und verwirft abermals. Denn freilich soll er nicht jeden windigen Einfall, gest\u00fctzt vielleicht durch einige saloppe Versuche, gleich vor das Publikum bringen. Aber unter Umst\u00e4nden kommt er wohl einmal zu einem Punkte, wo er f\u00fcr sich mit einer Konstruktion dauernd im reinen ist. Dann geh\u00f6rt die Sache zu weiterer Beurteilung vor die Gesamtheit. Und wenn diese nun zu einer endg\u00fcltigen Entscheidung nicht sogleich in der Lage ist, weder im Sinne r\u00fcckhaltloser Zustimmung, noch im Sinne r\u00fcckhaltloser Verwerfung, dann ist die Wissenschaft um eine unsichere Hypothese reicher geworden. Und waren gar mehrere einzelne zu jener standhaltenden subjektiven Zuversicht gelangt, so giebt es auch wohl mehrere Hypothesen hinsichtlich desselben Probl\u00e8mes, die miteinander im Widerspruche stehen. Vielleicht lassen sie f\u00fcr lange Zeit eine M\u00f6glichkeit der Entscheidung nicht erkennen, dennoch aber wird man ihnen w\u00e4hrend dieser Zeit nicht dadurch gerecht, dafs man sie, um nur nicht schwankenden Boden zu betreten, einfach beiseite schiebt. Denn diese Dinge sind nicht Symptome eines unrichtigen Verfahrens und einer tieferen Reformbed\u00fcrftigkeit, sondern vielmehr einer gesunden und normalen Entwickelung, die im weiteren Fortschreiten eben durch die Beachtung des Zweifelhaften allm\u00e4hlich auch das Sichere gebiert.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nHerrn. Ebbinghaus.\nIeh betone noch einmal, dafs der Psychologie hinsichtlich der Erg\u00e4nzung der Erfahrungsl\u00fccken durchaus keine anderen Verfahrungsweisen zur Verf\u00fcgung stehen, als allen anderen Wissenschaften, und frage, wie steht es denn anderswo mit der Sicherheit? z. B. in der ihr so vielfach \u00e4hnlichen Physiologie? Statt runder und kategorischer Antworten, wie wir sie freilich wohl haben m\u00f6chten, auch hier \u00fcberall widerstreitende Hypothesen. Hypothesen \u00fcber Vererbung, Hypothesen \u00fcber Zeugung, \u00fcber Ern\u00e4hrung, Nervenprozefs, Eettresorption, Herzinnervation u. s. w. u. s. w. Hypothesen im grofsen, Hypothesen im kleinen, und die meisten auch hier, ohne dafs man absehen kann, wann und woher des R\u00e4tsels L\u00f6sung wohl kommen mag. Aber niemand nimmt daran Anstofs, die Physiologie bl\u00fcht und gedeiht, und so ist es auch f\u00fcr die Psychologie ein schiefes Verlangen, dafs sie von ihren Hypothesen gereinigt werden m\u00fcsse.\nDazu kommt nun aber noch ein weiteres Moment, das trotz seiner Wichtigkeit f\u00fcr die Sicherheit psychologischen Wissens von Dilthey nicht einmal erw\u00e4hnt wird. Die Unsicherheiten der Psychologie beginnen gar nicht erst mit ihren Erkl\u00e4rungen und hypothetischen Konstruktionen, sondern bereits mit der einfachen Feststellung des Thatbestandes. Eben das Beschreiben und Zergliedern, das bei Dilthey gleichsam von der Garantie allgemeing\u00fcltiger Gewifsheit der Resultate getragen erscheint, bringt schon Zweifel und widerstreitende Resultate in F\u00fclle mit sich. Die gewissenhafteste Befragung der inneren Erfahrung liefert gleichwohl dem einen dieses, dem anderen ein anderes Ergebnis; und trotz vielfacher und sorgf\u00e4ltiger Nachpr\u00fcfung gelingt es oft nicht, die Sache zu zweifelsfreier Klarheit zu bringen. Unter Umst\u00e4nden kann erst von einer einleuchtenden Hypothese aus die Entscheidung einer reinen Thatsachenfrage gewonnen werden; man wird das als richtigste Charakterisierung eines Thatbestandes ansehen, was auch im \u00fcbrigen in einen zu vermutenden Zusammenhang der Dinge am besten hineinpafst. Zu durchg\u00e4ngiger Sicherheit ist also die Psychologie selbst bei Vermeidung aller Hypothesen auf keine Weise zu erheben; auch einer blofs beschreibenden Psychologie ist sie nicht beschieden.\nWas ist z. B. Aufmerksamkeit? Eine starke Erhebung von","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Uber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n201\nVorstellungen \u00fcber die Bewufstseinsschwelle, sagt Fechner. Nach Stumpe ist sie ein Gef\u00fchl, n\u00e4her bestimmt ein Lustgef\u00fchl am Bemerken eines Inhalts. Nach Wundt vielmehr ein inneres Wollen; der primitive Willensakt, der bei den gew\u00f6hnlich sogen, \u00e4ufseren Willenshandlungen stets vorausgesetzt wird. Dilthey, der wiederholt die erkl\u00e4renden Psychologen tadelt wegen der eindeutigen Bestimmtheit ihrer Elemente, giebt, vielleicht mit R\u00fccksicht hierauf, eine zweideutige Charakterisierung. Auf S. 39 und 74 nennt er, wie Fechner, Aufmerksamkeit eine \u201everst\u00e4rkte Bewufstseinserregungu, auf S. 66, wie Wundt, \u201eein willentliches Verhalten\u201c. Aber welche von diesen eindeutigen und zweideutigen Bestimmungen ist denn nun die richtige ? Das auszumachen, ist nicht Sache hypothetischer Ableitungen und Konstruktionen, sondern der einfachen Beachtung des jedermann bekannten inneren Erlebnisses. Dennoch solche Verschiedenheit und Unsicherheit der Antworten! Oder was ist ein Willensakt? Eine eigenartige, nicht weiter analysierbare psychische Realit\u00e4t neben Empfindungen, Vorstellungen und Gef\u00fchlen, oder nur eine eigenartige Kombination dieser Elemente? Die Frage appelliert lediglich an die unmittelbare innere Erfahrung und deren Analyse, aber eine einstimmige Antwort hat sie noch keineswegs gefunden.\nDurchmustert man unter diesem Gesichtspunkte die von Dilthey der erkl\u00e4renden Psychologie an verschiedenen Stellen vorgehaltenen Hypothesen, so wird man erstaunt sein, wie ihre Zahl zusammenschrumpft. Das oben (S. 165) erw\u00e4hnte grofse Verzeichnis z. B. enth\u00e4lt f\u00fcnf bestimmte Hypothesen. Die letzte von diesen, betreffend das Verh\u00e4ltnis des Bewufsten zu dem Unbewufsten, bleibt billig aufser Betracht, da Dilthey hier, wie gezeigt, selbst eine bestimmte Ansicht vertritt und damit das hypothetische Vermuten in dieser Sache als berechtigt anerkennt. Die vorangehenden beiden, No. 3 und 4, Wesen des Wollens und des Selbstbewufstseins, geh\u00f6ren durchaus nicht hierher. Es sind eben gar nicht Unsicherheiten des Erkl\u00e4rens und Ableitens, um die es sich hier handelt, sondern der Beobachtung und der Analyse. Was findest Du in Dir, wenn Du Dein Wollen oder Dein Selbstbewufstsein sorgf\u00e4ltig beobachtest und zergliederst? Das ist die Frage. Bleiben also aus dem ganzen Kataloge nur die Hypothesen 1 und 2, psychophysischer Parallelismus und atomistisch-mechanische Kon-","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nHerrn. Ebbinghaus.\nstruktion des Seelenlebens, von denen noch dazu 1 zur H\u00e4lfte der Physiologie angeh\u00f6rt und von dieser der Psychologie aufgedr\u00e4ngt wird. Der \u201eHebel von Hypothesen\u201c, wie Dllthey es nennt, in den die Psychologie verm\u00f6ge ihrer Tendenz, die Dinge zu erkl\u00e4ren und zu verstehen, gebannt sein soll, ist an sich nicht so dicht. Wenn es nur m\u00f6glich w\u00e4re, sie von allen anderen Nebeln frei zu halten!\nDie Haltlosigkeit der DiLTHEYschen Polemik auch in dieser Hinsicht mufs somit einleuchten. Wo es sich nicht blofs um das einfache Registrieren und Beschreiben eines unmittelbar Gregebenen handelt \u2014 und auch die DiLTHEYsche Psychologie steckt sich erheblich h\u00f6here Ziele \u2014, da sind konstruierende Hypothesen mit ihren Unsicherheiten und unter Umst\u00e4nden mit ihrem Widerstreit schlechterdings nicht zu vermeiden; aufserdem aber ist in der Psychologie bereits die blofse Gewinnung und Charakterisierung des als gegeben anzuerkennenden Thatbestandes durchweg mit Zweifeln und Unsicherheiten besetzt.\nWie oben gleich zu Eingang der Kritik anerkannt wurde, bildet die eigentliche Grundlage der DiLTHEYschen \u201eIdeen\u201c ein berechtigter Gedanke, die lebhafte Reaktion gegen die mangelhafte Behandlung der psychischen Einheitsbildungen seitens der \u00e4lteren Psychologie. W\u00e4re dieser Gedanke in den Mittelpunkt des Ganzen ger\u00fcckt worden und nach den verschiedenen Seiten, die er bietet, konkret durchgef\u00fchrt, so h\u00e4tte die Psychologie durch einen, wenn auch nicht gerade in den Grundgedanken neuen, so doch durch seine Zusammenfassung f\u00f6rderlichen Beitrag in ihrer gegenw\u00e4rtigen Arbeit gest\u00e4rkt werden k\u00f6nnen. Indes Dllthey sucht die Sache recht tief, an der Wurzel zu fassen und hat sich hierin g\u00e4nzlich vergriffen. Er f\u00fchrt jene M\u00e4ngel auf fundamentale methodologische Irrt\u00fcmer zur\u00fcck, insbesondere auf das Erkl\u00e4rungsbed\u00fcrfnis der Psychologen, und indem er nun hiergegen vorgeht, setzt er seinen Angriff von vornherein in einer v\u00f6llig schiefen Richtung an. Methodologische Irrungen sind dagewesen, gewifs; aber sie sind nie zu allgemeinerer Geltung durchgedrungen, und sie d\u00fcrfen gegenw\u00e4rtig als durchaus \u00fcberwunden gelten. Das Verfahren der Psychologie in seinen allgemeinen Z\u00fcgen ist in bester Ordnung. Der DiLTHEYsche Angriff verl\u00e4uft somit begreiflicherweise als ein Stofs in die Luft; eine Kette von schiefen Darstellungen, Unklarheiten, Unbilligkeiten bringt er, nicht neue und erspriefs-","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"203\n\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\nliehe Resultate. Was empfohlen wird, ist den Psychologen bestens bekannt und wird allseitig ge\u00fcbt. Was getadelt wird, wird entweder von niemandem erstrebt, oder beruht auf Forderungen der Sache, die sich gegen den Willen des Autors auch bei seiner eigenen Behandlung ihr Recht erzwingen. F\u00fcr die in den Dingen darin Stehenden ist ein solcher Angriff ohne grofsen Belang. Indes bei den der Psychologie Fernerstehenden kann er leicht unbestimmte falsche Vorstellungen von ihr erwecken, vielleicht auch die an sie Herantretenden vor\u00fcbergehend in die Irre leiten, und um beides wom\u00f6glich zu verh\u00fcten, schien mir eine etwas eingehendere Kritik wohl gerechtfertigt.\nVielleicht ist zum Schlufs noch ein Wort gestattet \u00fcber die von Dilthey behaupteten \u201eaufs er ordentlich nachteiligen Folgenu der Herrschaft der erkl\u00e4renden Psychologie f\u00fcr die Entwickelung der Geisteswissenschaften. Die Unsicherheit der psychologischen Hypothesen teilt sich diesen, da sie einer psychologischen Grundlegung bed\u00fcrfen, nach Dilthey notwendig mit und tr\u00e4gt auch in sie Streitigkeiten ohne Aussicht auf Entscheidung hinein. Folgen sie gar den einseitigen Theorien einzelner Psychologen, so entstehen Irrungen, wie die Geschichtschreibung Buckles, die deterministische Richtung des Strafrechtes, der Materialismus der National\u00f6konomie u. s. w. \u201eDaher ist in weiten Kreisen die gegenw\u00e4rtige Tendenz\u201c dieser Wissenschaften, \u201epsychologische Grundlegungen g\u00e4nzlich auszuscheiden\u201c, womit sie aber freilich sachlich auch nicht gebessert sind, sondern einer \u00f6den Empirie verfallen.\nOb mit der letzten Behauptung, von einer gegenw\u00e4rtig weit verbreiteten Abneigung gegen psychologische Grundlegungen, die Zeichen der Zeit richtig gedeutet sind, will ich dahingestellt sein lassen. Man kann in Hinblick auf manche Erscheinungen auch der Ansicht sein, dafs das, was Dilthey als gegenw\u00e4rtige Tendenz bezeichnet, vielmehr der Vergangenheit angeh\u00f6re, und dafs f\u00fcr die Gegenwart eher eine zunehmende Ann\u00e4herung von Sozial Wissenschaft, Religionswissenschaft u. s. w. an die Psychologie charakteristisch sei. Indes sei dem, wie ihm wolle, jedenfalls mufs man fragen, mit welchem Rechte denn die Geisteswissenschaften von der Psychologie, die sie in Anspruch nehmen, etwas Andersartiges verlangen sollen, als sie selbst zu bieten im st\u00e4nde sind. Ist etwa der Mensch, mit dem Geschichte, Staatswissenschaft, National-","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nHerrn. Ebbinghaus.\n\u00d6konomie zu thun haben, ein anderer, als der Mensch der Psychologie? Oder sind die Erscheinungen des individuellen Seelenlebens so viel einfacher und durchsichtiger, als diejenigen der menschlichen Gemeinschaft? In manchen Dingen vielleicht, aber in anderen ist doch auch die Meinung Platos berechtigt, dafs in den sozialen Institutionen mit Lapidarschrift geschrieben sei, was die Einzelseele nur in kleinen Buchstaben und von weitem erkennen lasse. Wie steht es denn nun mit der Sicherheit der Erkl\u00e4rungen und der Ausschliefslichkeit der Hypothesen in den Geist es Wissenschaften? Offenbar ganz ebenso, wie in der von Dilthey getadelten Psychologie; die Gleichheit der menschlichen Seele, deren Beth\u00e4tigungen nach verschiedenen Richtungen hin sie untersuchen, bedingt auch eine durchg\u00e4ngige Gleichartigkeit des wissenschaftlichen Charakters. Dafs nun also eine Geisteswissenschaft, die allgemein-psychologische Analysen, S\u00e4tze, Theorien zur F\u00f6rderung ihrer Zwecke heranzieht, in diesen nicht lauter ausgemachte Wahrheiten, sondern zum Teil dem Zweifel und der Ab\u00e4nderung unterliegende Dinge besitzt, ist freilich richtig, und es ist notwendig, dafs sie sich dessen bewufst sei. Aber etwas besonders Betr\u00fcbendes oder Nachteiliges f\u00fcr jene Wissenschaften finde ich darin gar nicht; sie behalten damit nur den Charakter, den sie auch sonst schon haben und den sie der Natur der Sache nach allein haben k\u00f6nnen. Und ihren Vertretern, meine ich, m\u00fcfste jemand, der die Psychologie wegen ihrer Unsicherheit und ihrer Theorien tadelt und an deren Stelle etwas ganz Sicheres zu setzen verspricht, eher verd\u00e4chtig als willkommen erscheinen. Nach der Kenntnis des menschlichen Seelenlebens, die sie von ihrer eigenen Besch\u00e4ftigung her bereits besitzen, m\u00fcssen sie jenen Tadel und die ihnen selbst zugedachte verbesserte Unterst\u00fctzung so beurteilen k\u00f6nnen, wie oben geschehen.\nInwiefern sodann die einseitige Ausschlachtung einzelner psychologischer S\u00e4tze durch Buckle, Marx, Lombroso u, s. w. gegen die Psychologie und ihre Theorien im ganzen zeugen soll, ist mir vollends unverst\u00e4ndlich. Ist die Elektrizit\u00e4tslehre der Physik zu tadeln, weil die Physiologen zeitweilig mit einer elektrischen Theorie der Nervenerregung in die Irre gingen? Dafs Unvollkommenheit und Unfertigkeit des Wissens, zumal im Dienste von Parteiinteressen, unter Umst\u00e4nden Irrungen hervorrufen, ist bekannt. Aber wer wird deshalb jenem Wissen","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie.\n205\ndie Schuld beimessen, das allerdings Ursache des Schadens ward, und etwa die Ausbildung von Anschauungen und Theorien, die vielleicht einmal mifsbraucht werden k\u00f6nnen, lieber zu unterlassen empfehlen? Steht denn nicht ein anderes und w\u00fcrdigeres Mittel der Abh\u00fclfe zur Verf\u00fcgung? Man fahre auf dem eingeschlagenen Wege doch nur fort, bereichere und vervollkommne das Wissen durch seine Erweiterung und Vertiefung, und Irrt\u00fcmer und Mifsbr\u00e4uche schwinden von selbst.\nEtwas anderes wird sich wohl auch den Geisteswissenschaften nicht empfehlen lassen, sofern sie Beziehungen zur Psychologie haben. Nicht jeder von ihren Vertretern braucht, nach der besonderen Sichtung seines Thuns innerhalb eines umfassenderen Gebietes, jener nahe zu treten. Aber wer es zu thun Veranlassung hat, thue es ganz und voll und unbek\u00fcmmert um die Schlagworte von Interessenk\u00e4mpfen. Dann ist nicht zu besorgen, dafs er von so einfachen Dingen, wie dem psychologischen Determinismus, nachteilige Wirkungen versp\u00fcre, noch auch, dafs ihm die Theorie des psychophysischen Parallelismus zu einer \u201eGefahr\u201c werde.","page":205}],"identifier":"lit10281","issued":"1896","language":"de","pages":"161-205","startpages":"161","title":"\u00dcber erkl\u00e4rende und beschreibende Psychologie","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:48:40.398206+00:00"}