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Lehrbuch der Physiologie des Menschen

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{"created":"2022-01-31T14:16:27.368896+00:00","id":"lit1297","links":{},"metadata":{"contributors":[{"name":"Ludwig, Carl","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Heidelberg: C. F. Winter","fulltext":[{"file":"a0005.txt","language":"de","ocr_de":"LEHRBUCH\nDER\nPHYSIOLOGIE DES\nVON\nC. LUDWIG,\nIN Z\u00dcRICH.\nERSTER BAND.\nPHYSIOLOGIE DER ATOME, DER AGGREGATZUST\u00c4NDE, DER NERVEN\nUND MUSKELN.\nHEIDELBERG.\nAKADEMISCHE\nVERLAGSHANDLUNG VON C. F, W I N T E R.\n1852.","page":0},{"file":"a0006.txt","language":"de","ocr_de":"Druck von TI. L.\nRronnor in Frankfurt a. M.","page":0},{"file":"a0007.txt","language":"de","ocr_de":"DEN FREUNDEN\nE. BR\u00dcCKE, E. DU BOIS-REYM\u00d6YD, 1\nIN WIEN\nIN BERLIN\n. HELMHOLTZ\nIN K\u00d6NIGSBERG\nGEWIDMET.","page":0},{"file":"a0009.txt","language":"de","ocr_de":"LEHRBUCH\nDER\nPHYSIOLOGIE DES MENSCHEN.","page":0},{"file":"p0001introduction.txt","language":"de","ocr_de":"f\nEinleitung.\nAufgabe, Die wissenschaftliche Physiologie hat die Aufgabe die Leistungen des Thierleibes festzustellen und sie aus den elementaren Bedingungen desselben mit Nothwendigkeit herzuleiten.\nNahebei alle Leistungen, welche von irgend einem tbierischen Wesen ausgehen, so mannigfaltig sie nach ihrer specifischen Erscheinung, nach ihrer r\u00e4umlichen Verbreitung, nach ihrem absoluten Werth und nach der Zeit in der sie vor sich gehen, ausfallen, sind doch darin \u00fcbereinstimmend, dass zu ihrer Erzielung jedesmal eine gr\u00f6ssere Zahl von Bedingungen zusammengreift.\nUnterwirft man in der That von diesem Gesichtspunkt aus die scheinbar einfachste Lebens\u00e4usseruug, z.B, die Beugung eines Fingergliedes der Untersuchung, so gewahrt man bald dass der Anstoss zur Bewegung nicht vom Finger, sondern von einem mit ihm durch die Sehne in Verbindung stehenden Muskel ausgeht; indem sich die Aufmerksamkeit auf diesen wendet, gewahrt dieselbe, dass die von ihm ausgehende Leistung resultirt aus der Wirkung vieler gleichartiger Gebilde, der sogenannten Muskelr\u00f6hren; eine genaue Zergliederung zerspaltet diese wiederum in die verschiedenartigsten Bestandtheile und gelangt dadurch dahin den Muskelcylinder als^usammen-ordnung von tr\u00e4gen mit leicht ver\u00e4nderlichen Bestandteilen aufzufassen; in diesen letztem entdeckt sie darauf Theilchen von endlicher aber ausserordentlich geringer Gr\u00f6sse, durch deren wechselnde Anziehungen die Bewegungen im Muskel erzeugt werden; aber auch diese kleinsten Theilchen sind wieder zerlegbar in chemische Atome, electrische Fl\u00fcssigkeit und Licht\u00e4ther, Wesen, welche endlich den zerlegenden Mitteln, \u00fcber die die Wissenschaft heute gebietet, unbesiegbaren Widerstand leisten. Da wir aber die Bewegung nicht unmittelbar an den Muskelmolekeln, und nicht einmal an der Muskelscheide, den Sehnen, dem Periost, sondern an dem Finger beobachten, so ist mit obiger Betrachtung nur eine Seite unserer Erscheinung zergliedert, n\u00e4mlich diejenige, welche die Ursache der Bewegung \u00fcberhaupt enth\u00e4lt. Denn indem sich die Bewegung auf prim\u00e4re und seeund\u00e4re Scheide, Sehnen, Knochen u. s. w. \u00fcbertr\u00e4gt, erf\u00e4hrt sie Widerst\u00e4nde, die von der Steifigkeit, Elasticit\u00e4t, Form u. s. w. dieser Theile abh\u00e4ngig sind; alle diese Erscheinungen sind aber selbst wieder Folge sehr complicirter Veranstaltungen, die ebenfalls erst s\u00e4mmtlich in ihre Elemente zerlegt werden m\u00fcssen, wenn die Aufl\u00f6sung jener Lebens\u00e4usserimg vollendet sein soll.\nLudwig, Physiolog. I.\n1","page":0},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nEinleitung.\nElementare Bedingungen. So oft nun eine Zergliederung der leistungserzeugenden Einrichtungen des thierischen K\u00f6rpers geschah, so oft stiess man schliesslich auf eine begrenzte Zahl chemischer Atome, die Gegenwart des Licht (W\u00e4rme)- Aethers und diejenige der electrischen Fl\u00fcssigkeiten. Dieser Erfahrung entsprechend zieht man den Schluss, dass alle vom thierischen K\u00f6rper ausgehenden Erscheinungen eine Folge der einfachen Anziehungen und Abstossungen sein m\u00f6chten, welche an jenen elementaren Wesen bei einem Zusammentreffen derselben beobachtet werden* Diese Folgerung wird unumst\u00f6sslfch, wenn es gelingt mit mathematischer Sch\u00e4rfe nachzuweisen, es seien die erw\u00e4hnten elementaren Bedingungen nach Richtung, Zeit und Masse im thierischen K\u00f6rper derartig geordnet, dass aus ihren Gegenwirkungen mitNothwen-digkeit alle Leistungen des lebenden und todten Organismus herfliessen.\nDie vorliegende Auffassung ist wie allbekannt nicht die hergebrachte, sie ist diejenige unter den neuern, welche man als eine besondere gegen\u00fcber der vitalen mit dem Namen der physikalischen bezeichnet. \u2014 Diese Anschauung verlangt in Uebereinstimmung mit dem Causalgesetz, an das wir uns halten m\u00fcssen, wrenn wir \u00fcberhaupt denken wollen, dass ein Ding die Ursachen seiner Wirkungen in sich enthalte, und in Uebereinstimmung mit den so oft ber\u00fchrten Grunds\u00e4tzen der Erfahrungslehren, dass man nur die mittel- oder unmittelbar nachgewiesenen Existenzen mit in das Fundament der Schl\u00fcsse aufnehme. Sie verwirft darum die Berechtigung zur Annahme hypothetischer Grundwesen, wie besondere Nerven-Lebens\u00e4ther n. s. w., u. s. w. ; sie wird sich aber niemals str\u00e4uben einer neuen, bisher nicht bekannten Fundamentalbedingung Eingang in den Kreis der Betrachtung zu gestatten, wenn diese als eine in Wirklichkeit bestehende erwiesen ist. \u2014 Die Verteidigung dieser Grunds\u00e4tze siehe m einer ebenso gedankenreichen als edelgeformten Betrachtungbei du Bois, thierische Electricit\u00e4t 1. Bd. Vorrede.\nVielfachheit der Leistungen durch die gegebenen elementaren Bedingungen. Wenn sich nun auch nicht durch Erf\u00fcllung der obigen Forderung die Nothwendigkeit der physikalischen Auffassung darthun l\u00e4sst, so l\u00e4sst sich wenigstens zeigen dass die Mittel, welche sie als die Gr\u00fcnde des Lebens ansieht, vielfach und wirksam wie sie sind, weitaus gen\u00fcgen, um den Reichthum der Lebenserscheinungen bedingen zu k\u00f6nnen.\n1) Leistungen der formlosen Elemente. \u2014 Verm\u00f6ge der zwischen gleichartigen und ungleichartigen Atomen bestehenden Anziehung kommt es zur Bildung von Massen; je nach der Innigkeit mit der in diesen die Atome aneinander haften stellen sie ein Baumaterial vor, verschieden an Dichtigkeit, Festigkeit und Elastizit\u00e4t. \u2014 Den von den Atomen ausgehenden Anziehungen folgen aber auch der Licht\u00e4ther und die Electrizit\u00e4ten; die Verschiedenheit der Massenvervvandt-schaft zu den letztem Fluiden stellt sich dar in dem spezifischen elec-tromotorischen und electrischen Leitungsverm\u00f6gen. Die Beziehung dei Masse zum Licht\u00e4ther offenbart sich aber durch die Besonderheit dei Farbe, des BrechungsVerm\u00f6gens, der Durchsichtigkeit, der W\u00e4rmeleitung, Erscheinungen welche theils auf eine ver\u00e4nderte Dichtigkeit des","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\n3\nLicht\u00e4thers innerhalb des von der Masse umschlossenen Raumes, theils aber auf eine verschiedene Beweglichkeit der Atome unter dem Einfluss der Aetherschwingung^ hindeuten. \u2014 Die zwischen den ungleichartigen Atomen bestehende Anziehung f\u00fchrt zur chemischen Verbindung. Selbst zwischen einer geringen Zahl von Elementen kann die Menge der verschiedenen m\u00f6glichen Verbindungen sehr gross sein,\nweil es zul\u00e4ssig ist, dass sich nicht allein das Atom des einen Elements mit dem Atom des andern verbindet, sondern dass sich auch 1 Atom mit einer Gruppe von solchen (einem complizirten Atom) und Gruppen mit Gruppen verbinden k\u00f6nnen. \u2014 Nun sind wie nat\u00fcrlich die Verbindungen verschiedener Atomzahlen in ihren Eigenschaften abweichend von einander, darum sind aber nicht die Verbindungen gleicher Atomzah-\nlen gleichartig geeigenschaftet; denn auf die Entwicklung jener ist auch die Richtung, welche die Anziehungen innerhalb der complizirten Atome besitzen, von Einfluss. Erinnert man sich nun noch, dass die Menge der gebundenen W\u00e4rme und vielleicht auch der gebundenen Electrizit\u00e4ten einen wesentlichen Theil an der Erzeugung der Eigenschaften nimmt, so ergibt sich dass schon Verbindungen derselben Elemente bei unver\u00e4nderter Atomzahl eine Schaar ganz verschiedener\nK\u00f6rper darzustellen verm\u00f6gen, um wie viel gr\u00f6sser werden also die m\u00f6glichen Mannigfaltigkeiten sein, die durch die Verbindung gleicher Elemente von verschiedener Atomzahl oder gar die Verbindungen verschiedener Elemente bei stets wechselnder Atomzahl erreichbar sind.\nDie Mannigfaltigkeit der Erscheinungsweise chemischer Verbindungen, so unendlich sie nun auch ist, kann nach einer Richtung hin unter zwei Kategorieen zusammengefasst werden, von denen die eine alle diejenigen complizirten Atome umfasst, w\u2019elche unter gegebenen Bedingungen keine Verwandtschaften zu andern Verbindungen oder Elementen besitzen, w\u00e4hrend in der zweiten die mit Verwandtschaft begabten enthalten sind. \u2014 Die Bedeutung dieser Ein-theilung wird durch folgendes einleuchtend. Betrachtet man ganz allgemein die chemische Verwandtschaft mit R\u00fccksicht auf die sie erzeugende chemische Zusammensetzung der Stoffe, so ist leicht zu erkennen, dass weder die Zahl, noch die Art der Atome oder die Menge der in die Verbindung tretenden latenten W\u00e4rme u. s. w. die Verwandtschaft bestimmt; denn die auf die verschiedenste Art zusammengesetzten Verbindungen besitzen gegen gleiche Stoffe unter gleichen Bedingungen dieselben Verwandtschaften und umgekehrt. \u2014 Diese Thatsachen, obwohl sie in ihrem innersten Zusammenhang noch nicht begriffen sind, zwingen wenigstens zu der Annahme, dass die Verwandtschaft keine absolute Eigenschaft der Atome, sondern eine abgeleitete Funktion sei. Indem wir uns nun eines mathematischen Bildes bedienen um uns den Vorgang zu verdeutlichen wie durch die in einer Verbindung aufeinander wirkenden Einzelanziehungen die Verwandtschaft\n*\tCi\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung. ,\n4\nzu Stande komme, behaupten wir, es sei die Verwandtschaft resultirend aus den mit gewissen Richtungen und St\u00e4rken zur Gegenwirkung kommenden Componenten. Dieser Ausdruck passt namentlich insofern mit voller Uebereinstimmung auf die aus der Atomverkn\u00fcpfung hervorgegangene Verwandtschaft, als hier wie dort aus den mannigfachsten Einzelkr\u00e4ften dieselben, und umgekehrt aus denselben Einzelkr\u00e4ften die verschiedensten Gesammtwirkungen, erwachsen, je nach der Ordnung in der die ersteren zusammentreten. Diesem Bilde gem\u00e4ss w\u00fcrden die indifferenten Stoffe solche sein, deren als Verwandtschaft aufzufassende Resultirende Null w\u00e4re, w\u00e4hrend die Resultirende der mit Verwandtschaft begabten einen endlichen Werth bes\u00e4sse.\nWir wenden nun unsere Aufmerksamkeit auf die letzten Stoffe ; hier begegnen wir sogleich der Erfahrung dass, so mannigfache Modificationen die Verwandtschaft auch erf\u00e4hrt, dennoch gewisse, allgemeine Aeusserungen derselben wiederkehren, die wir unter den Namen der S\u00e4uren und Basen u. s. w. u. s. w. zusammenfassen. Nach den so eben aufgestellten Begriffen der Verwandtschaft kann es nicht, auffallen, dass durch Combination derselben Elemente sowohl S\u00e4uren als Basen u. s. w. erzeugbar sind, aber \u00fcberraschend wirkt es, in welchem ausgedehnten Maasstab es namentlich dem C, H, und 0 theils f\u00fcr sich, theils in Verbindung mit Stickstoff und einigen der negativen Metalle (Arsenik, Antimon, Wismuth u. s. w.) gelingt, ganze Reihen von Verbindungen, die einer der erw\u00e4hnten Gruppen angeh\u00f6rig sind, zu bilden, so dass die aus ihnen hervorgehenden Combinationen eine reiche chemische Welt f\u00fcr sich bilden. \u2014 Die Wissenschaft kann noch keine Rechenschaft dar\u00fcber geben, durch welche Besonderheit gerade jene Elemente diese Bef\u00e4higung erhielten, und ebensowenig wie die gegenseitigen Anziehungen der Atome gestaltet sein m\u00fcssen, dass ihre-Verbindung der einen oder andern verwandtschaftlichen Gruppe angeh\u00f6re. Empirisch scheint nur fest zu stehen, dass complexe Atome die Rolle der Elemente anzunehmen im Stande sind, so dass es immer m\u00f6glich wird in einer Verbindung die Elemente durch diese Complexe zu ersetzen, und demnach durch immer h\u00f6here und h\u00f6here Complikation der elementevertretenden Stoffe verwandtschaftlich gleichwerthige K\u00f6rper zu erzeugen. So \u00fcbernimmt, wie zuerst L\u00f6wig in einer meisterhaften Untersuchung erwiesen hat, das Methyl und Aethyl die Rolle des H,und bildet dann zu 2, 3, 4 Atom wie derH mit Antimon, Wismuth u. s. w. Verbindungen, die analog den gleichen Verbindungen des H mit N zu Ammonium, zu Basen werden, und sich in ihren Verwandtschaftserscheinungen von Ammonium und Kali durchaus nicht mehr unterscheiden lassen; dasselbe findet sich in den von Hoffmann in so ausgezeichneter Weise verfolgten Wurz\u2019schen Stoffen, welche die dem NH, NH2, NH3, NH4 entsprechenden Aethyl, und Methyl u. s. w. Verbindungen darstellen. Gleichgiltig wie die Verwandtschaften m\u00f6glich und erreicht sind, ihre","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\t5\nFolgen fur die im thierischen K\u00f6rper erscheinenden Prozesse sind von fundamentaler Wichtigkeit, um sie \u00fcbersehen zu k\u00f6nnen, scheiden wir\nsie in chemische und dynamische.\nA.\tChemische Folgen. Diese sind von wesentlich verschiedener Bedeutung, je nachdem die St\u00e4rke der Verwandtschaft zwischen den sich gegen\u00fcbertretenden Stoffen gen\u00fcgt oder nicht gen\u00fcgt, um eine Aenderung in der atomistischen Gruppirung einzuleiten. Im letztem Falle sehen wir als einen Ausdruck der bestehenden Anziehung die Adh\u00e4sion an, die in einer besondern Gestalt zur L\u00f6sung wird; als den der bestehenden Abstossung abei^ die deprimirende Capillarit\u00e4t, die Niederschl\u00e4ge u. s. w. Leitet nun aber die Verwandtschaft eine Um\u00e4nderung in der atomistischen Constitution ein, so werden durch die hierbei obwaltenden Anziehungen entweder die beiden Stoffe ohne vorg\u00e4ngige Zerlegung nach st\u00f6chiometrischen Verh\u00e4ltnissen verbunden; oder es vereinigen sich alle oder einzelne ihrer constituirenden Theile nach vorausgegangener Zerlegung der complizirten Verbindung; oder endlich es zerfallen die mit Verwandtschaft begabten Stoffe in andere Gruppen, ohne dass diese Neubildungen Verbindungen unter einander eingehen. \u2014 Wenn man diese vielfachen M\u00f6glichkeiten \u00fcbersieht, so wird es begreiflich, dass in dem Thierleib, welcher so zahlreiche und complizirte Atome enth\u00e4lt, nicht allein unter den Umst\u00e4nden, welche \u00fcberhaupt eine chemische Bewegung gestatten, eine fast ins Unendliche gehende Zahl von Umsetzungen erscheinen muss, bis zwischen allen Stoffen das chemische Gleichgewicht hergestellt ist, sondern dass auch mit ganz einfachen Ver\u00e4nderungen, wie z. B. in den quantitativen Verh\u00e4ltnissen der anwesenden Stoffe, oder je nach der zeitlichen Reihenfolge, in der die einzelnen Gegenwirkungen eintreten, die zwischen dem Beginn und dem Ende der m\u00f6glichen Zersetzungen liegenden Glieder sehr mannigfaltige von einander ganz abweichende werden k\u00f6nnen.\nB.\tDynamische Folgen. Hierunter begreifen wir die \u00fcber die Ber\u00fchrungsstellen von Atomen hinauswirkenden Anziehungen und Ab-stossungen, welche in Folge der Umsetzung und Verbindung chemischer Stoffe zum Vorschein kommen. Durch diese in gr\u00f6sserer Entfernung ausge\u00fcbten Wirkungen, werden die angezogenen und abgestos-senen Massen in Bewegungen versetzt, Bewegungen, welche sich auf andere urspr\u00fcnglich inditferente Stoffe \u00fcbertragen k\u00f6nnen. Als Ursache dieser Anziehungen sehen wir im thierischen K\u00f6rper erfahrungsge-\nm\u00e4ss die W\u00e4rme und die Electrizit\u00e4ten an.\n\\\na. W\u00e4rme. Mit diesem Worte bezeichnet man wie es scheint sehr verschiedene Dinge, a) Die freie, \u00fcbertragbare W\u00e4rme; diese besteht entweder als strahlende W\u00e4rme, die wir bekanntlich als eine Wellenbewegung des sogenannten Licht\u00e4thers aufzufassen gezwungen sind, oder als geleitete W\u00e4rme, welche wahrscheinlich","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nEinleitung.\nI\nin nichts anderm, a\u00efs einer eigent\u00fcmlichen Bewegung der w\u00e4gbaren Masse besteht, die von dem Licht\u00e4ther auf diese \u00fcber^eg-angen ist. \u2014 \u00df) Die gebundene W\u00e4rme; eine gr\u00f6ssere Reihe von spezifischen Zust\u00e4nden der Masse, wie namentlich der fl\u00fcssige und gasf\u00f6rmige Aggregatzustand, die metallischen Eigenschaften, zahlreiche atomisti-sche Verbindungen u. s. w. entstehen nur unter der Beihilfe der W\u00e4rme, und zwar in der Art, dass wenn ein Stoff aus irgend welchem andern (dem festen, dem oxydirten u. s. w.) in einen der bezeichne-ten (den fl\u00fcssigen, den metallischen u. s. w.) Zust\u00e4nde \u00fcbergef\u00fchrt werden soll, jedesmal eine ganz bestimmte Meng\u00ea von freier W\u00e4rme zum Verschwinden gebracht wird. Diese Stoffe entwickeln nun, wenn sie aus dem letzten Zustande wieder in den erstem zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, abermals die W\u00e4rmemenge, welche sie beim Eintritt in denselben zum Verschwinden gebracht hatten. Da diese Stoffe demnach je nach Umst\u00e4nden W\u00e4rme entwickeln und vernichten, so huldigte man der Vorstellung, es m\u00f6gte diese W\u00e4rme als ein besonderer Stof! im gebundenen Zustande in ihnen vorhanden sein. Seit man nun aber den scharfen Beweis daf\u00fcr gef\u00fchrt hat, dass die freie W\u00e4rme weder im geleiteten noch im strahlenden Zustande einem besonderen Stoffe ihren Ursprung verdankt, ist jene Annahme verwerflich. Zur Erl\u00e4uterung der, unter dem Namen der latenten W\u00e4rme, zusammengestellten Thatsachen bleiben demgem\u00e4ss nur zwei Vorstellungen \u00fcbrig; nach der einen wird die Bewegung, welche wir W\u00e4rme nennen, benutzt, um verwandtschaftliche Kr\u00e4fte, welche gewisse Atome zusammenbinden zu \u00fcberwinden; die durch diese Widerst\u00e4nde vernichtete Be-wegung w\u00fcrde aber wieder zum Vorschein kommen, wenn jene getrennten Stoffe von Neuem ihren verwandtschaftlichen Strebungen Folge geben, so dass der Akt der Verbindung jener Atome mit besonderer Bewegung verkn\u00fcpft w\u00e4re. \u2014 Nach der andern Vorstellung wird die gebundene W\u00e4rme als eine zwischen oder innerhalb der Atome befindliche Bewegung aufgefasst. Diese Bewegung w\u00fcrde den Stoffen durch die zum Verschwinden gebrachte W\u00e4rme mitgetheilt; aus dieser Bewegung tr\u00e4ten die Stoffe wieder in die Buhe ein, wenn sie ihre latente W\u00e4rme durch einen Eingang in eine neue Verbindung abg\u00e4ben. Ob diese oder jene Annahme die richtige, oder gar ausschliesslich die richtige sei, ist noch nicht entschieden worden. \u2014 Gleichgiltig aber wie diese Alternative entschieden werden mag, so viel steht fest, dass die w\u00e4rmeentwickelnden Umsetzungen immer nur in Folge von w\u00e4rmevernichtenden stattfinden k\u00f6nnen und dass niemals bei der ersten Umsetzung mehr W\u00e4rme entwickelt wird, als bei der zweiten verloren gegangen war.\nDer thierische K\u00f6rper setzt sich nun vorzugsweise aus w\u00e4rme-tragenden Stoffen zusammen, und die Umsetzungen, welche diese Stoffe erleiden (meist Oxydationen), sind w\u00e4rmeentwickeJnde. \u2014 Die","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\nT\nFolgen dieser W\u00e4rmeentwicklung k\u00f6nnen sehr eingreifend werden. Zun\u00e4chst ist die gebildete W\u00e4rme verm\u00f6gend sich in sichtbare Be-weo-un\u00ab' umzusetzen und dadurch als Triebkraft von mechanischen Apparaten wirksam zu sein. Diese Umsetzung geschieht, so weit unsere Einsichten reichen, im thierischen K\u00f6rper nicht, wohl aber d\u00fcrfte es oft Vorkommen, dass sich eine sichtbare Bewegung (Reibung u. s. w.) in W\u00e4rme verwandelt. \u2014 Weiterhin aber wird die entwickelte W\u00e4rme von Bedeutung als eine verwandtschafterzeugende Bedingung, indem unter ihrem Einfluss Sauerstoffverbindungen, G\u00e4hrun-gen u. s. w. erscheinen, die ohne sie nicht stattfinden w\u00fcrden.\nb. Electrizit\u00e4ten. Die electrischen Erscheinungen leiten wir in Uebereinstimmung mit allen bekannten Thatsachen von dem Vorhandensein zweier besonderer gewichtlosen Fl\u00fcssigkeiten ab, welche sowohl zu einander als auch zu den w\u00e4gbaren Stoffen mit Verwandtschaften begabt sind. Diese Fl\u00fcssigkeiten erscheinen entweder neutral, d. h. in einer so innigen gegenseitigen Durchdringung, dass nirgends eine r\u00e4umliche Trennung der beiden verschiedenen Electrizit\u00e4ten nachgewiesen werden kann, oder getrennt, d. h. in einer solchen Lagerung, dass die positive und negative Fl\u00fcssigkeit auf r\u00e4umlich geschiedenen Orten Vorkommen. In diesem letzteren, in getrenntem Zustande, in dem die Electrizit\u00e4ten entweder ruhig (gespannt) oder bewegt auftreten, sind sie zugleich einzig und allein verm\u00f6gend, den w\u00e4gbaren Stoffen Bewegung mitzutheilen. \u2014 Damit die ruhige Elec-trizit\u00e4t Bewegung einzuleiten verm\u00f6gend sei, muss sie auf irgend welchem electrisch isolirten w\u00e4gbaren Stoff angeh\u00e4uft sein, und ihr in einer bestimmten Entfernung die gleiche oder entgegengesetzte, unter gleichen Bedingungen befindliche Electrizit\u00e4t gen\u00e4hert werden. Indem \u00abich dann die gespannten Electrizit\u00e4ten zu n\u00e4hern oder zu entfernen streben, ziehen sie ihre materielle Lagerst\u00e4tten mit sich. F\u00fcr diese Art von bewegender Wirkung finden sich die Bedingungen im thierischen K\u00f6rper so selten und auch da nur an Orten von so untergeordneter Wichtigkeit (z. B. den trocknen Haaren), dass wir unbedenklich dieselben ausser Acht lassen k\u00f6nnen. Von einem ganz andern Gewicht f\u00fcr den Physiologen sind dagegen die in Bewegung begriffenen getrennten electrischen Fl\u00fcssigkeiten oder die sogenannten Str\u00f6me. Ihren Quellen nach sind dieselben bekanntlich Thermo-, Induktions- und Hydroelectrische Str\u00f6me. Von allen diesen sind f\u00fcr unsere Zwecke nur die letzteren, die galvanischen oder hydroelectrischen von Bedeutung. \u2014 Galvanische Str\u00f6me entstehen nun bekanntlich wenn eine Einrichtung gegeben ist wie sieFig. 1 schematisch darstellt, in welcher zwei electromotorisch wirksame Stoffe A und B mit dem einen ihrer Enden bei Sin Ber\u00fchrung sind, w\u00e4hrend sie mit ihren andern in eine zusammenh\u00e4ngende, unter dem Einfluss der Electrizit\u00e4t chemisch zerlegbare Fl\u00fcssigkeit tauchen. Die Ursache des in einer solchen Veranstaltung kreisenden Stromes","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nEinleitung.\nkann verschiedentlich aufgefasst werden. Der strenge Contactelectriker erkl\u00e4rt sich den Hergang folgendermassen : Bei der Ber\u00fchrung\nzweier electromotorischer Stoffe wird erfalirungsgem\u00e4ss ein Theil der innerhalb derselben neutral vorhandenen Eiectricit\u00e4ten zerlegt; diese Zerlegung geht an der Ber\u00fchrungsstelle der Electromotoren vor sich; von diesem Ort, der sog. electromotorischen Scheidewand, str\u00f6men nun die freien Electrizi-t\u00e4ten \u00fcber die leitenden Electromotoren in der Art, dass der eine derselben mit positiver, der andere mit negativer Electrizit\u00e4t \u00fcberzogen ist; von diesen Electromotoren dringen die Electrizit\u00e4ten in die Fl\u00fcssigkeit und durch diese hindurch sich durchkreuzend zu den gegen\u00fcberstehenden freien Enden derElectricit\u00e4tsvertheiler (i,5),wo sie sich gegenseitig neutralisiren, um dann von Neuem an der electromotorischen Scheidungsstelle zerlegt zu werden. Die Bedeutung, welche der Contactelectriker der Fl\u00fcssigkeit zus.chreibt, ruht demnach darin, dass sie leitet, ohne zugleich an der Ber\u00fchrungsstelle mit den Electromotoren die Electrizit\u00e4t in derselben Ordnung zu zerlegen, in der sie bei S zerf\u00e4llt wurde. Denn verhielte sich in der That die Fl\u00fcssigkeit negativ gegen B und positiv gegen A,*) so w\u00fcrden an den fl\u00fcssigen Ber\u00fchrungsstellen die eintretenden -f- und \u2014 Electrizit\u00e4ten zur\u00fcckgeworfen werden, verh\u00e4lt\nsich dagegen die Fl\u00fcssigkeit indifferent oder positiv gegen B und negativ gegen A, so wird der Strom m\u00f6glich, indem nun von der Fl\u00fcssigkeitsgrenze aus A mit positiver und B mit negativer Electrizit\u00e4t \u00fcberzogen wird. Obwohl diese Hypothese nicht allein die M\u00f6glichkeit der Entstehung einer Str\u00f6mung vollkommen erl\u00e4utert, sondern sich auch den Thatsachen anschliesst, so ist sie dennoch verwerflich. Denn einmal vernachl\u00e4ssigt sie vollkommen die Erscheinung, dass nur dann eine Str\u00f6mung beobachtet wird, wenn innerhalb des fl\u00fcssigen Leiters eine chemische Zersetzung statt hat, und noch mehr, sie fusst auf dem Prinzip des ewigen Umlaufs, indem sie nicht angibt, woher die ausserordentlichen bewegenden Kr\u00e4fte genommen werden, welche dem Strome der Electrizit\u00e4ten eigen sind, resp. die Str\u00f6mung der Electrizit\u00e4ten veranlassen. \u2014 Die Erw\u00e4gung dass diese, dem electrischen\n*) das heisst \u00fcberz\u00f6gen sich in Folge der Ber\u00fchrung B mit positiver und die Fl\u00fcssigkeit mit negativer Electrizit\u00e4t u. s. w.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung,\n9\nStrome eigent\u00fcmlichen bewegenden Kr\u00e4fte nicht ohne Vernichtung anderer bewegungserzeugender entstanden sein k\u00f6nnten, f\u00fchrt* zu der Annahme, es m\u00f6chte die eine oder die andere der bei dem galvanischen Strome vorgehenden chemischen Umsetzungen die gesuchte Kraftquelle sein, so dass in Uebereinstimmung mit der Erfahrung kein Strom ohne Zersetzung bestehen k\u00f6nne.*) \u2014 Ueberlegen wir nun, welche Art von Wirkungen von Seiten der chemischen Umsetzung zur Einleitung des Stromes verwendbar ist, so kann diese keine andere sein als diejenige, welche unter andern Umst\u00e4nden W\u00e4rme erzeugt. Der tats\u00e4chliche Beweis f\u00fcr diese Art von Erhaltung, resp. Einleitung des electrischen Stromes durch die chemische Umsetzung w\u00fcrde gegeben sein 1) wenn dargethan ist, dass die Electrizit\u00e4ten und die W\u00e4rme in einer solchen Beziehung zu einander stehen, dass sie sich gegenseitig anzuregen im Stande sind, mit andern Worten, dass durch die W\u00e4rmeschwingung die Bewegung der electrischen Fl\u00fcssigkeit und umgekehrt durch den electrischen Strom W\u00e4rmeschwingungen erzeugt werden k\u00f6nnten. Die Erfahrung entscheidet bekanntlich f\u00fcr diese Annahme. \u2014 2) Nur solche chemische Umsez-zungen d\u00fcrften einen electrischen Strom erzeugen, welche W\u00e4rme au& dem latenten in den freien Zustand zu f\u00fchren verm\u00f6gend w\u00e4ren. Zur Entscheidung dieses Satzes sind noch keine Versuche angestellt, doch sprechen wenigstens die bekannten Thatsachen nicht gegen diese Annahme. 3) Die durch den electrischen Strom im Maximum erzeugbare W\u00e4rme m\u00fcsste genau so gross sein als diejenige, welche durch die in der Fl\u00fcssigkeit vor sich gehenden Zersetzungen ohne Einleitung eines Stromes direct frei gemacht werden k\u00f6nnten. 4) Wenn der electrische Strom W\u00e4rme entwickelt, so muss er endlich, unter Annahme der Richtigkeit unserer Voraussetzungen, einen der gebildeten W\u00e4rmemenge proportionalen Verlust an Bewegung erleiden, eine Annahme, die insofern in Uebereinstimmung mit den Thatsachen ist, als die stromhemmenden Umst\u00e4nde (der Leitungswiderstand) die w\u00e4rmeentwicklenden Bedingungen des Stromes darstellen.\nDie Art und Weise, auf welche der einmal entwickelte Strom eine Bewegung materieller TheiJchen einleiten kann, ist bekanntlich ausserordentlich mannigfaltig; er ist bef\u00e4higt in seinem Gang durch Fl\u00fcssigkeiten in diesen eine Ortsbewegung zu bewirken (electrische Diffusion), zwei von einem Strome durchflossene Leiter k\u00f6nnen sich an-ziehen und abstossen, ein Strom vermag ferner durch Verrtheilung des Magnetismus, durch Entwicklung von W\u00e4rme oder Gasarten mit latenter W\u00e4rme in den von ihm durchflossenen Leitern u. s. w. Bewegungen materieller Massen einzuleiten.\n*) Helmholtz, die Erhaltung der Kraft. Berlin 184T, p. 37 u. f.","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nEinleitung.\n2)\tLe is tun g en d e r F o rm, in welche die gewichtigen und gewichtlos en Stoffe gebracht sind. \u2014 Zu den bis dahin dargestellten, die Leistungen der thierischen K\u00f6rper bedingenden Elementen tritt als eine besondere Bestimmung nun noch die Form hinzu. Die Bedeutung derselben liegt nicht darin, Bewegungen irgend welcher Art zu erzeugen. Die Allgemeingiltigkeit dieser Behauptung leuchtet sogleich ein, wenn man erw\u00e4gt, dass die Form nichts anders ist, als die aus irgend welchen Anziehungen einer Substanz hervorgehende Lagerung der Theilchen. \u2014 Die Form kann demgem\u00e4ss nur darin von Wichtigkeit werden, dass sie die Richtung und die zeitliche Erscheinung der Bewegungen, welche auf sie treffen, oder welche in der von ihr umschlossenen Substanz erzeugt werden, \u00e4ndert. Die Wahrheit dieses Satzes kann durch die Betrachtung einer jeglichen Leistung der thierischen K\u00f6rper, insoferne sich Formen an ihrer Erzeugung betheiligen, dargethan werden ; wir erinnern hier nur an die eigent\u00fcmlichen Ver\u00e4nderungen, welche in der Wirkung der Muskelkraft durch die Biegungen der Gelenkfl\u00e4chen und die L\u00e4nge der Knochen, die jene in Bewegung setzen, hervorgerufen werden; an die Ver\u00e4nderungen, welche die Lichtstrahlen in ihrem Gang durch die eigenth\u00fcmlichen Kr\u00fcmmungen der xAugenmedien erleiden, an die besondere Verbreitung der Nervenkr\u00e4fte innerhalb der Nervenr\u00f6hre u. s. w. \u2014 Demgem\u00e4ss kann der Werth der Form, mag man denselben auch noch so hoch anschlagen, immer nur von untergeordneter Bedeutung sein im Vergleich zu den bewegungserzeugenden Bedingungen des thierischen K\u00f6rpers.\n3)\tLeistungen der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse f\u00fcr die im thierischen K\u00f6rper vorgehenden Prozesse. \u2014 Das in besondere Formen geschlossene System von Elementen, welches wir den thierischen K\u00f6rper nennen, steht nicht isolirt, sondern es ist auch der in die Ferne wirkenden Anziehung und Abstossung unterworfen, welche von einer Reihe dasselbe umgebender Stoffe ausgehen. Demgem\u00e4ss werden die anziehenden und abstossenden Wirkungen, welche die elementaren Bedingungen des K\u00f6rpers aufeinander \u00fcben, nicht die einzigen Componenten sein, aus denen die Leistungen des thierischen K\u00f6rpers hervorgehen. Wie ersichtlich, wird die W\u00e4rme der Atmosph\u00e4re, der W\u00e4rmeleitungswiderstandderKleidungu. s. w. von Einfluss sein auf die Summe der W\u00e4rme imThierleib; die Intensit\u00e4t der Schwere andern Orte, an welchem der Thierk\u00f6rper sich befindet, wird zum Theil die Dichtigkeit der in ihm enthaltenen Stoffe bestimmen u. s. w. Durch diese Wechselwirkung, einerseits zwischen den tellurischen und siderischen und anderseits zwischen den physiologischen Bedingungen werden begreiflich zahllose Folgen erzeugt, und es wird demnach die Einsicht in die Herg\u00e4nge des thierischen K\u00f6rpers erst eine vollkommene sein, wenn die Angabe gemacht werden kann, welche \u00e4ussere Ein-","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\n11\nfl\u00fcsse sich auf die im thierischen K\u00f6rper selbst vorhandenen Anziehungen in jedem Augenblicke geltend machen.\nFolgerungen aus diesen Betrachtungen f\u00fcr die das Thier bezeichnenden Herg\u00e4nge. \u2014 Als eine Folge der bisher erw\u00e4hnten elementaren Leistungen ergibt sich sogleich, dass das einzelne Thier eine ungemeine Mannigfaltigkeit in den von ihm ausgehenden Erscheinungen bieten muss; ferner dass das Thier ein Gebilde darstellt, in dem scheinbar auf selbstst\u00e4ndige Weise Kr\u00e4fte entwickelt werden, dass diese Kraftentwicklung aber nur so lange und in dem Umfange m\u00f6glich, in welchem die chemische Umsetzung innerhalb desselben geschieht; ferner, dass mit der Gr\u00f6sse des Stoffumsatzes und der in das Thier ein- und ausgef\u00fchrten Stoffmassen die F\u00e4higkeit zur Kraftentwicklung sinken (Erm\u00fcdung) und steigen (Erholung) muss; ferner, dass jede innerhalb des K\u00f6rpers entstehende neue Bewegung oder Anziehung, oder eine jode ausserhalb desselben stehende, aber auf ihn wirksame nicht eine einfache, sondern eine mannigfach complicirte Ver\u00e4nderung des thierischen Organismus erzeugt; ferner dass die einzelnen Bestandteile des Thierleibs in einer nur bedingten Abh\u00e4ngigkeit von einander bestehen u. s. w.\nDiese zahlreichen, leicht noch weiter zu vermehrenden Ueberein-stimmungen, welche sich ohne alle H\u00fclfss\u00e4tze zwischen den Folgerungen aus unseren Pr\u00e4missen und den wirklichen Erscheinungen des Thierlebens finden, erwecken von vornherein ein um so g\u00fcnstigeres Vorurteil f\u00fcr die Richtigkeit derselben, als man in der That durch keine andere der bisher angewendeten Betrachtungsweisen auch nur entfernt etwas Sehnliches zu leisten vermag. Dieses bestimmt uns denn nun auch, die physikalische Anschauungsweise in voller Strenge zur Anwendung zu bringen.\nAllgemeinste Aufgaben der physiologischen Untersuchung. \u2014 Unter Voraussetzung der Richtigkeit vorstehender Betrachtungen, lassen sich nun folgende allgemeine Aufgaben im Bereich der Physiologie f\u00fcr m\u00f6glich erkl\u00e4ren.\n1) Man bestrebt sich den thierischen K\u00f6rper in seine Bestandteile zu zerlegen,'und sucht diese letzteren, abgesehen von ihren Leistungen innerhalb des thierischen Organismus, durch m\u00f6glichst scharfe Kennzeichen irgend welcher Art von allen andern zu scheiden. \u2014 Diese wichtige und fundamentale Arbeit \u00fcbernimmt f\u00fcr die Stoffe die Chemie, f\u00fcr die Formen die Anatomie; die erstere bedient sich zur sichern Bezeichnung ihrer Objecte des Atomgewichts und daneben der hervorragendsten Verwandtschafts\u00e4usserungen zu den gew\u00f6hnlichen Reagentien, der Crystallform und des spez. Gewichts. \u2014 Die Anatomie m\u00fcsste diesen Anspr\u00fcchen gem\u00e4ss ihre Formen durch Angabe der constanten und wo m\u00f6glich mathematisch ausdr\u00fcckbaren Verh\u00e4ltnisse","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung\u00ab.\n\\\nbezeichnen; leider begn\u00fcgt sie sich ohne jede Anstrengung zum Bessern vorzuschreiten, mit sehr wenig bestimmten Charakteristiken und zum Theil mit ganz gedankenlosen Messungen.\n2)\tMan bestrebt sich, die von mehr oder weniger complicirten Apparaten ausgehenden Leistungen ihrem absoluten Werth nach zu messen, ohne R\u00fccksicht auf die Art und Weise, wie diese Resultirende sich aus dem ihr zu Grunde liegenden Prozesse erzeugt. \u2014 Zu diesen Betrachtungen geh\u00f6rt z, B. die Bestimmung des Blutdrucks, der Geschwindigkeit der Nervenleitung, die Bestimmung der Menge der Athmungsluft, u. s. w. Mag die Erf\u00fcllung dieses Bestrebens im einzelnen Falle sich noch so schwierig darstellen, und die gemessene Leistung auch von den wichtigsten Organen ausgehen und wichtigster Art sein, das Resultat wird immer nur von einem gr\u00f6sseren statistischen und von einem \u00ab\u2022erinneren wissenschaftlichen Werth sein; den letzteren erh\u00e4lt es nur dadurch, dass es den Beobachtern Fingerzeige zur wahren physiologischen Untersuchung gew\u00e4hrt.\n3)\tMan bestrebt sich, irgend eine Leistung als eine Funktion der sie erzeugenden Bedingungen aufzufassen; diese Aufgabe ist als die h\u00f6chste der physiologischen Forschungen anzusehen. Ganz allgemein kann man sich zweier Wege bedienen, um der durch sie gebotenen Anforderung zu gen\u00fcgen, a) Entweder man combinlrt theoretisch (durch den mathematisch-physikalischen Calk\u00fcl) oder praktisch (durch den physikalisch-chemischen Versuch) eine gewisse Summe von Bedingungen von bekannten und von den im Organismus vorhandenen angen\u00e4herten Eigent\u00fcmlichkeiten und vergleicht die durch sie hervorgebrachten Wirkungen mit den in der Natur erzeugten. Diese direkte Methode ist diejenige, welche sogleich zu den gr\u00f6ssten Aufschl\u00fcssen f\u00fchrt ; aber sie ist nur selten anwendbar. Sie ist aber schon mit Erfolg in Anwendung gebracht worden, z. B. als k\u00fcnstliche Verdauung, als Stromlauf in elastischen R\u00f6hren, als besondere electrische Combination u. s. w. Zur Aufhellung des Verdauungsprozesses, des Blutlaufes, der Muskelwirkungen u. s. w. b) Wenn dieser Weg nicht anwendbar ist, f\u00fchrt ein anderer, meist nicht minder schwieriger zum Ziele; er l\u00e4uft darauf hinaus, die an irgend welchem Prozesse sich betheiligenden Bedingungen, gleichgiltig ob sie s\u00e4mmtlich bekannt oder nicht bekannt sind, in Gruppen zu spalten, von denen die einen constant erhalten, die anderen in messbarer Weise ver\u00e4ndert werden, zu Zeiten, in denen man die Werthe der aus dem Prozess hervorgehenden Leistungen misst. Diese allgemeine Methode gibt unter den gemachten Voraussetzungen Aufschluss \u00fcber den Antheil, den eine (die variable) Bedingung an der Erzielung der Gesammtleistung hat, ohne dass sie aber, wie die vorher erw\u00e4hnte uns zugleich belehrte, durch welche eigenth\u00fcmiiche Wirkung auf die","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\n13\nanderen Bedingungen die variable dieses Gesaimntresultat erzeugen hilft. \u2014 Diese Methode gew\u00e4hrt der Untersuchung einen geradezu unbegrenzten Spielraum und die durch sie erlangten Aufkl\u00e4rungen sind immer werthvoll, vorausgesetzt, dass man die verlangten Forderungen m\u00f6glich machen kann ; als eine Anwendung derselben darf man es aber nat\u00fcrlich nicht betrachten, wenn man, wie es von wenig denkenden Beobachtern nur zu h\u00e4ufig geschieht, eine Bedingung variirt, w\u00e4hrend man sich nicht der Constanz der \u00fcbrigen versichert hat.\u2014 Die Behauptung, dass jede durch dieses Mittel gewonnene Aufkl\u00e4rung werthvoll sei, schliesst begreiflich die andere nicht aus, dass eine Gradation des Werthes innerhalb ihrer Resultate bestehe. Mit R\u00fccksicht auf diesen Satz darf ausgesprochen werden, dass die Untersuchung um so allgemein g\u00fcltigere und wahre Aufschl\u00fcsse erzielende Fr\u00fcchte\nbringen wird, je mehr elementare Bedingungen eines Prozesses sie variabel zu machen im Stande ist.\nPlan des Vortrags der Physiologie. Die Erfahrungen leh-rerf, dass die in dem thierischen K\u00f6rper eintretenden chemischen Elemente gr\u00f6sstentheils sich zu sog. zusammengesetzten Atomen vereinigen; diese Verbindungen erster Ordnung treten dann zu solchen zweiter und h\u00f6herer Ordnungen zusammen, so dass die von den chemischen Eigenschaften der K\u00f6rperbestandtheile erzielten Lebensfunctionen nicht von einem unmittelbaren Aufeinanderwirken der Elemente herr\u00fchren, sondern bedingt sind durch die Resultirenden aus den complizirten Verbindungen. Diese chemischen Verbindungen treten im festen und fl\u00fcssigen Zustande zur Bildung von mikroskopischen Formen zusammen; eine Zahl von solchen gleich-oder ungleichartigen Formen bildet mehr oder weniger innig zusammengelagerte von einander r\u00e4umlich gesonderte Gruppen, sogenannte secund\u00e4re Formen oder Organe; mehrere solcher Organe stehen darauf wieder theils der r\u00e4umlichen, theils der funktionellen Anordnung als Organgruppen in Beziehung, aus deren Zusammenordnung endlich der sog. Organismus erw\u00e4chst.\nDiese Erfahrungen bezeichnen der Darstellung den Weg, welchen sie einzuschlagen hat, um zu einer Einsicht in die physiologischen Vorg\u00e4nge zu f\u00fchren. Sie verlangen, dass man zuerst die Beziehungen darstelle, welche die als chemische Einheit in den K\u00f6rper tretenden Stoffe zu einander besitzen, dann weiche resultirende Wirkungen aus ihrer Combination entstehen u. s. w., mit einem Worte, eine vom relativ Einfachen zum immer weiter Verwickelten aufsteigende Darstellung.\nDer hier vorgezeichnete Plan ist in den folgenden Mittheilungen insoweit befolgt, als er nach dem Umfange der der Wissenschaft ange-li\u00f6rigen Thatsachen nicht zu leeren Schematismen und zu Dunkelheiten f\u00fchrt. In diesem Sinne ist dem vorliegenden Bande als erster Theil die","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nEinleitung.\nPhysiologie der Atome und Aggregatzust\u00e4nde einverleibt, und hierauf die Physiologie der Nervenr\u00f6hren und des Ganglienk\u00f6rpers und der aus ihm vorzugsweise hervorgehenden Combinationen, dargestellt, dann ist die Lehre vom Muskelelemente und der durch ihre Zusammenwirkung gebildeten Organe er\u00f6rtert worden.","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Erster Abschnitt.\nPhysiologie der Atome.\nNachdem die organische Chemie die w\u00e4gbare Masse des Thierleibs als eine Zusammenh\u00e4ufung atomistischer Individuen erkannt hat, ist es der Physiologie zugewiesen zu ermitteln, welche Funktionen jedes der mehr oder weniger complizirten Atome im thierischen K\u00f6rper \u00fcbernimmt. Diese Aufgabe wird als gel\u00f6sst anzusehen sein, wenn die Anordnung der Elemente innerhalb des complizirten Atoms, die Menge seiner latenten W\u00e4rme und die Verwandtschafts\u00e4usserungen bekannt sind, welche jedes einzelne Atom gegen alle \u00fcbrigen im thierischen K\u00f6rper enthaltenen unter den dort gegebenen Bedingungen zeigt.\na) Anordnung der Atome. Rationelle Formel. Die chemischen Verbindungen k\u00f6nnen bekanntlich unter der Einwirkung des Lichts und der W\u00e4rme, der Eleetrizit\u00e4t und anderer chemischen Reagentien zerf\u00e4llt werden. Als Producte dieser Zerf\u00e4llung treten nun aber meist nicht die Elemente, sondern Stotfe auf, welche selbst wieder mehr oder weniger zahlreiche Atome enthalten. Aus diesem Umstande schliesst der Chemiker, es m\u00f6chte eine solche complicirte Verbindung nicht aus der unmittelbaren Vereinigung der Elemente, sondern aus einer Verbindung schon selbst zusammengesetzter Molek\u00fcle bestehen. Mechanisch ausgedr\u00fcckt w\u00fcrde dieses heissen, dass innerhalb einer complicirten Verbindung nicht jedes elementare Atom das andere mit gleicher St\u00e4rke anzieht, sondern dass eine gewisse Zahl derselben eine kr\u00e4ftigere Anziehung zu einander \u00e4ussernd innig geschlossene Atomgruppen bilden, deren Einzelanziehungen sich zur Erzeugung einer nach aussen wirkenden Resultirenden vereinigen. Eine jede dieser Atomgruppen w\u00fcrde nun als ein Ganzes auf irgend welche andere anziehend wirken. Da die Verbindung leichter in Gruppen als die Gruppe in ihre Elemente zerf\u00e4llt, so k\u00f6nnte man noch den n\u00e4her bestimmenden Zusatz beif\u00fcgen, dass die zwischen den Bestandteilen der Gruppe wirksamen Anziehungen kr\u00e4ftiger w\u00e4ren als diejenigen zwischen den Gruppen. Man kann sich das so eben vorgetragene Theorem durch ein Bild verst\u00e4ndlich machen, wenn man sich die elementaren Atome als Punkte denkt und sich die St\u00e4rke ihrer gegenseitigen Anziehung durch die r\u00e4umliche N\u00e4herung der Punkte darstellt, wie es die beistehende\n\u2022 \u2022\nFigur eines sechszehnatomigen Stoffes erl\u00e4utert ;;\t. \u2014 Obwohl nun die\n\u2022 \u2022\n\u2022\nWissenschaft noch weit davon entfernt ist angeben zu k\u00f6nnen, was f\u00fcr besondere Herg\u00e4nge den Thatsachen, die man unter dem Wrort Atomanordnung zusammenfasst, zu Grunde liegen, so steht doch fest, dass in einer j eden complicirten Verbindung eine gewisse Zahl von Atomen zil einander in einer innigeren Beziehung stehen als zu allen \u00fcbrigen.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"Aufgabe der Physiologie der Atome.\n16\nDie Thatsachen zwingen aber nun zu der weitern Annahme, dass die Anordnung der Atome innerhalb eines complicirten Stoffes keine absolute, sondern eine mit den Umst\u00e4nden wechselnde sein m\u00fcsse; denn ein und derselbe K\u00f6rper liefert unter verschiedenen Einfl\u00fcssen verschiedene Zerf\u00e4llungsprodukte. Diese dem Thatbestand gem\u00e4sse Erweiterung des oben gegebenen die Atomlagerung bestimmenden Begriffs schliesst bei genauerer Betrachtung eine theoretische Nothwendigkeit in sich. Denn da wir das Bestehen eines complicirten Atoms als Folge der in ihm wirksamen Anziehung ansehen, so muss, wenn ein neuer wirksamer Einfluss zu dem bisher vorhandenen hinzutritt, eine Ver\u00e4nderung in den bisher bestandenen Anziehungen geschehen. Indem wir noch einmal unser obiges Bild zur Erl\u00e4uterung benutzen, wollen\nwir voraussetzen, es wandle sich durch die Gegenwart irgend eines zersetzenden\n\u2022\t\u2022\n\u2022 \u2022\t\u2022 *\nEinflusses die Form ;; in\tum, indem z. B. ein neu hinzutre-\n\u2022 \u2022\t\u2022\u2022\n\u2022\ntendes chemisches Reagens besondere Verwandtschaft zu 2 Atomgruppen (der rechten und der mittlern) bes\u00e4sse. Die Folge dieser ver\u00e4nderten Stellung w\u00fcrde offenbar darin bestehen, dass die drei \u00fcbrigen Atomgruppen (linke, obere und untere) von dem Druck der Anziehung der beiden andern befreit ihrer eigenen Folge geben k\u00f6nnten.\nDas Schwankende, welches in den bis dahin gemachten theoretischen Angaben liegt, k\u00f6nnte Veranlassung sein, von streng wissenschaftlichem Standpunkte aus ihren Werth \u00fcberhaupt in Frage zu stellen; indem wir die Berechtigung hierzu nicht bestreiten, m\u00fcssen wir dagegen mit um so ernsterer Betonung auf die praktische Bedeutung jener Thatsachen hurweisen. Denn es ergibt sich aus ihnen, dass weder durch die absolute Zahl und die Qualit\u00e4t der in eine Verbindung getretenen elementaren Atome noch durch die Zersetzung, welche ein complicirtes Atom unter dieser oder jener beliebigen Bedingung erleiden kann, alle die Folgen bestimmt sind, welche durch die Anwesenheit einer Verbindung m\u00f6glich werden, sondern dass zur vollkommenen Charakteristik dieser Folgen noch gegeben sein muss, welche Zersetzung der Atom-complex unter ganz bestimmten Bedingungen erleidet; oder um in der Sprache der Chemiker zu reden: dem Physiologen ist es nothwendig zu wissen, wie die rationelle Formel der complexen chemischen Atome beschaffen sei, w\u00e4hrend sich dieselben im thierischen K\u00f6rper aufhalten.\nb)\tDa wir die aus dem latenten Zustand hervortretende VT\u00e4rme als eine der wesentlichsten Ursachen der physiologisch mechanischen Kraftentwicklung ansehen, so bedarf es keiner Erl\u00e4uterung, dass wir einen Werth darauf legen m\u00fcssen, zu erfahren, wie betr\u00e4chtlich die latente W\u00e4rme der in den thierischen K\u00f6rper eintretenden und ihn verlassenden Stoffe sei.\nc)\tEndlich scheint es auch selbstverst\u00e4ndlich, dass dem Physiologen vorzugsweise daran gelegen sein muss, die Verwandtschaftserscheinungen zu kennen, welche sich entwickeln, wenn die im thierischen K\u00f6rper vorhandenen Stoffe unter den daselbst gegebenen Bedingungen Zusammentreffen.\nDie L\u00f6sung der Aufgabe ist von der Wissenschaft noch nicht erreicht; denn wir kennen noch nicht einmal alle complexe Atome, welche die gewichtigen Massen des thierischen K\u00f6rpers ausmachen, wie wir daraus schliessen, dass ihre Zahl durch die Entdeckungen der Chemiker sich j\u00e4hrlich mehrt; unter den durch ihre Eigenschaften als specifische Atomcomplexe festgestellten, gibt es ferner eine nicht unbetr\u00e4chtliche Zahl, deren empirische Formel (das Atomgewicht) noch unbekannt ist; die Atomlagerung derer, von denen die empirische Formel bekannt ist, liegt endlich meist ganz im Dunklen. \u2014 Die","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Sauerstoff.\n17\nlatente W\u00e4rme der Verbindungen ist noch gar nicht bestimmt, und zur Aufhellung der wichtigsten Verwandtschafts\u00e4usserungen ist noch wenig geschehen.\n1. Sauerstoffgas. Der gasf\u00f6rmige Sauerstoff findet sich innerhalb des thierischen Organismus entweder in andern freien Luftarten, oder mit diesen in Fl\u00fcssigkeiten diffundirt. Sein Vorkommen ist sehr verbreitet.\nDie Funktionen, die er im lebenden Thier leistet, \u00fcbt er vermittelst seiner lebhaften Verwandtschaften aus, die er zu den or^a-nisch-chemischen Atomen des thierischen K\u00f6rpers besitzt. Diese Verwandtschaften bedingen es, dass die urspr\u00fcnglich sauerstoffarmen Bestandtheile der thierischen Organe in sauerstoffreiche \u00fcbergef\u00fchrt werden. Die bemerkenswertheste Folge dieser Art von chemischen Prozessen besteht darin, dass durch dieselben eine Menge Spannkr\u00e4fte in freie (lebendige) Kr\u00e4fte verwandelt werden, welche auf verschiedene Art die Bewegungserscheinungen des Lebens be-dingen.\nC\nIn Ber\u00fccksichtigung der Thatsache, dass unsre Nahrungsmittel aus sauerstoffarmen, unsre Aussonderungsprodukte aus sauerstoffreichen Atomen bestehen, hat man den chemischen Vorgang innerhalb des thierischen Organismus einen Verbrennungsprozess genannt Dieser Ausdruck ist unverf\u00e4nglich, sowie man festh\u00e4lt, dass diese Verbrennung von ganz besonderer Artist. Die Besonderheiten derselben liegen darin, dass 1) zu ihrer Einleitung keine hohe Temperaturn\u00f6thig ist. Die r\u00e4thselhafte Erscheinung, dass innerhalb des rhierk\u00f6rpers bei niederen Temperaturen die schwerverbrenn-lichsten Stoffe in C02, HOu.s.w. umgesetzt werden, ist der L\u00f6sung n\u00e4her-ger\u00fcckt durch die wichtige Entdeckung von Sch\u00f6nbein wonach das 0 in zwei sog. allotropischen Modificationen vorkommt; die eine derselben, welche Sch\u00f6nbein den erregten Sauerstoff nennt, hat so energische Verwandtschaften, dass sie bei jeder Temperatur \u00fcberall Oxydationen einleitet. Wenn, wie man vermuthen darf, erregter 0 im thierischen K\u00f6rper vorkommt, so w\u00fcrde der Grund einer Verbrennung bei niederer Temperatur klar vorliegen. \u2014 2.) Die Verbrennung im thierischen K\u00f6rper zeichnet sich vor der bei hohen Temperaturen auch dadurch aus, dass die durch sie gelieferten Produkte andere sind. Bekanntlich zerfallen Eiweiss, Fette, u. s. w. bei der Einwirkung des 0 unter Einfluss hoher Temperaturen nicht sogleich in C02 ; HO; NH3 u. s. w., sondern vorerst in Brenzprodukte, welche dann erst vollkommen verbrennen. Die Endprodukte der Verbrennung sind nun innerhalb und ausserhalb des thierischen K\u00f6rpers dieselben, aber die Zwischenprodukte sind verschieden, wie schon daraus hervorgeht, dass man die erw\u00e4hnten Brenzstoffe im Organismus nicht findet.\nDie gr\u00f6sste Uebereinstimmung zwischen beiden Verbrennungsweisen zeigt sich dagegen darin, dass auf beiden Wegen gleichviel W\u00e4rme entwickelt wird. Wir k\u00f6nnen dieses mit Sicherheit daraus schliessen, weil die Verbrennungsprodukte des thierischen K\u00f6rpers gerade soviel und sowenig latente W\u00e4rme enthalten als die der Flamme. Dass diese \"W\u00e4rme, welche innerhalb des thierischen K\u00f6rpers, aus den latenten in den freien Zustand \u00fcbergef\u00fchrt wurde, als bewegungserzeugendes Mittel gebraucht wird, leuchtet recht ein, wenn man erf\u00e4hrt dass die Nerven und Muskelfunktionen der Beih\u00fclfe des 0 n\u00f6thig haben.\nDas Sauerstoffgas wird als solches aus der atmosph\u00e4rischen Luft in den Thierk\u00f6rper eingef\u00fchrt.\nLudwig, Physiologie I.\n2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\tStichgas, Wasserstoffgas, Wasser.\n2.\tStickgas ist in allen mit Luft und Fl\u00fcssigkeit erf\u00fcllten R\u00e4umen des thieriseiien K\u00f6rpers. Seine physiologische Bedeutung ist unbekannt. Es wird theils aus der Atmosph\u00e4re aufgenommen, zum Theil scheint es durch Zersetzung stickstoffhaltiger Gewebsbestandtheiie gebildet zu werden. Siehe die Lehre von der Athmung.\n3.\tund 4. Wasserstoffgas und Kohlen was s erstoffgas(?) kommen im Darmkanal vor. Beide Gasarten, von denen namentlich die letzte noch genauer bestimmt werden muss, sind Zersetzungsprodukte der Nahrungsmittel. Ueber ihre physiologische Bedeutung ist nichts bekannt.\n5.\tWasser. Die Bedeutung, welche diese im menschlichen Organismus so verbreitete Fl\u00fcssigkeit f\u00fcr das Leben gewinnt, erh\u00e4lt sie, so weit bekannt, durch folgende Eigenschaften : a) Das Wasser ist L\u00f6sungsmittel sehr vieler Bestandlheile des Thierk\u00f6rpers und als solches das Mittel, die Bewegung vieler Atome durch den thierischen K\u00f6rper m\u00f6glich zu machen, ohne die Hilfe der in der Ferne wirkenden Anziehung (s. Diffussion), und die Verbindungen respective Umsetzungen der Atome zu erleichtern, b) Das Wasser ist Imbibitionsstoff; vermittelst seiner Adh\u00e4sion zu den meisten und wesentlichsten festen Bestandtheilen des Thierleibes, \u00fcberzieht es dieselben an ihrer Oberfl\u00e4che mit einer feinen Schichte, und insofern diese Substanzen von feinen Oeffnungen und R\u00f6hren (Poren) durchbohrt sind, dringt es auch in das Innere derselben; in Folge dessen werden die Gewebe f\u00fcr die in Wasser l\u00f6slichen Substanzen durchg\u00e4ngig ; ferner ver\u00e4ndert sich hiermit das specifische Gewicht, die Elasticit\u00e4t, die Durchsichtigkeit und die electrische Leitungsf\u00e4higkeit der Gewebe, c) Sein Dampf bedarf zu seiner Entstehung \u2014 welche bekanntlich so lange geschieht, als der das Wasser umgebende Luftraum nicht schon mit Wassergas ges\u00e4ttigt ist \u2014 betr\u00e4chtlicher Mengen von W\u00e4rme, die in den sogenannten latenten Zustand \u00fcbergef\u00fchrt werden. Durch die Gegenwart des Wassers, respective durch die Verdunstung desselben, wie sie in der Haut, den Lungen u. s. w. fortw\u00e4hrend geschieht, wird dem thierischen K\u00f6rper ununterbrochen W\u00e4rme entzogen; das Wasser ist demnach ein Abk\u00fchlungsmittel, und insoferne es vermittelst beson-derer Apparate bald mehr bald weniger abk\u00fchlt, ein W\u00e4rmeregulator. -\nNicht unwahrscheinlich, aber noch nnerwiesen ist es, dass das Wasser auch durch seine chemischen Eigenschaften Dienste leistet, sei es als Hydrat und Basiswasser, oder indem sich die dasselbe constituirenden einfachen Atome (II u. 0) an mancherlei Zersetzungen organischer Stoffe betlieiligen.\nDas Wasser wird zum grossem Theil mit den Nahrungsmitteln aufgenommen, zum kleineren bildet es sich bei dem stetigen langsamen Verbrennungsprozesse der wasserstoffhaltigen Verbindungen unserer Gewebe im lebenden Zustand.\n6.\tKohlens\u00e4ure und ihre Salze,","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Kohlens\u00e4ure, Kohlens\u00e4ure Salze.\n19\nA.\tDie freie Kohlens\u00e4ure ist in den, im thierischen K\u00f6rper enthaltenen Luftarten und in den meisten Fl\u00fcssigkeiten desselben dif-fundirt. Ob in allen Fl\u00fcssigkeiten, aus denen C02 durch Anwendung von physikalischen Mitteln (Verminderung des Luftdruckes, Erw\u00e4rmung u. s. w.) in Gasform entfernt werden kann, die C02 nur diffun-dirt oder in ehern. Verbindungen enthalten ist, steht noch dahin.\nSie unterst\u00fctzt das Leben durch ihr Verm\u00f6gen, sich in dem Wasser des Organismus leicht aufzul\u00f6sen und durch ihre F\u00e4higkeit in der Atmosph\u00e4re zu verdunsten.\nSie wird zum kleinsten Theil in den Organismus mit den Nahrungsmitteln eingef\u00fchrt, zum gr\u00f6ssten Theil in ihm durch die langsame Verbrennung kohlenstoffhaltiger Bestandteile gebildet.\nB.\tKohlens\u00e4ure Natronsalze. Nach den im thierischen K\u00f6rper gegebenen Bedingungen, d\u00fcrften alle drei Verbindungen der C02 mit NaO in ihm Vorkommen. Denn da sich h\u00e4ufig mit C02 ges\u00e4ttigte\nR\u00e4ume finden, so muss sich in diesen das etwa vorhandene NaO C02 und 2NaO 3 C02 in NaO 2 C02 umwandeln; da dieses aber dann wieder in eine fast kohlens\u00e4urefreie Atmosph\u00e4re gelangt, so wird dasselbe in 2 NaO 3 C02 zur\u00fcckgewandelt. NaO C02 wird sich aber bilden, wennC02 mit dreibasisch-phosphorsaurem Natron in Ber\u00fchrung kommt.\nDiese Salze greifen nachweislich in den Lebensprozess ein: a) durch ihr Verhalten gegen C02; indem innerhalb einer Atmosph\u00e4re dieser S\u00e4ure sich das anderthalb und einfach kohlensaure Natron in doppelt kohlensaures umwandelt, und das doppelt kohlensaure innerhalb anderer Gasarten einen Theil seiner C02 verliert, sind sie geeignet die C02 aus den mit dieser Luftart geschw\u00e4ngerten Geweben in die \u00e4ussere Luft \u00fcberzuf\u00fchren, ein Hergang, welcher bei der Athmung genauer verfolgt werden wird, b) Durch die Einwirkung auf die Eiweissk\u00f6rper bewerkstelligen sie die allm\u00e4lige Umsetzung derselben, namentlich bedingen sie, dass das Eiweiss, das in der Blutfl\u00fcssigkeit ge-l\u00f6sst ist, (unter Abscheidung von Schwefel und Ammoniak?) in ein dem sogenannten Protein \u00e4hnliches Produkt umgesetzt wird; die alkalisch reagirenden einfach und anderthalbfach kohlensauren Natronsalze wirken \u00e4hnlich aber milder als das kaustische Natron, c) Ferner liefert es das Material zur Bindung der im thierischen K\u00f6rper entstehenden oder in ihn gebrachten organischen oder mineralischen S\u00e4uren; die ersteren (milchsauren, essigsauren etc.) Salze werden unter dem Einfluss der im Organismus vorhandenen Oxydationsmittel in kohlensaure Salze umgebildet d) Ferner erh\u00e4lt seine Gegenwart mehrere wichtige eiweissartige K\u00f6rper, namentlich Faserstoff und K\u00e4sestoif in L\u00f6sung.\nDie kohlensauren Natronsalze werden theils mit den Nahrungsmitteln eingef\u00fchrt, zum \u00fcberwiegenden Theil aber aus Salzen des Natrons mit einer organ. S\u00e4ure gebildet.\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nChlorverbindungen.\nC.\tKohlens\u00e4ure Kalkerde findet sich krysfallinisch im Labyrinth als sogenannte Geh\u00f6rsteine; dann amorph in den Knochen, Harn, Speichel, Darmkanal. Dieses in den thierischen Fl\u00fcssigkeiten schwer l\u00f6sliche Salz scheint innerhalb der Knochen dem phosphorsauren Kalk \u00e4hnliche Funktionen zu haben; im Uebrigen liegt seine Bedeutung im Dunkeln.\nD.\tKohlens\u00e4ure Magnesia. Man kennt ihr Vorkommen, nicht aber ihre Bedeutung.\n7. Chlor Verbindungen.\nA.\tChlorwasserstoff. Seine Gegenwart im Magensaft, fr\u00fcher behauptet und geleugnet, wird neuerlichst wieder von C. Schmidt angenommen. \u2014 Die physiologische Wichtigkeit der Salzs\u00e4ure ist bedingt durch ihr Verm\u00f6gen einige in Wasser unl\u00f6sliche Eiweiss- und LeimstofFe in L\u00f6sung zu versetzen.\nAuf welchem Wege sie aus ihren Salzen im Magen frei gemacht wird ist unbekannt.\nB.\tAlkalische Chlorsalze. Alle w\u00e4sserigen thierischen Fl\u00fcssigkeiten enthalten diese Salze, und zwar kommt \u00fcberall ein Gemenge von Kochsalz und Chlorkalium vor, ausgenommen in den S\u00e4ften, welche in dem Muskelprimitivb\u00fcndel und dem Blutk\u00f6rperchen eingeschlossen sind. In diesen beiden Fl\u00fcssigkeiten soll nur Chlorkalium aber kein Chlornatrium aufgel\u00f6st sein. Der Gehalt an alkalischen Chlorsalzen in den normalen S\u00e4ften \u00fcbersteigt niemals 0,5 Prozent; in gros-seren Mengen scheinen diese Salze \u00fcberall giftig zu wirken.\nDie grosse Verbreitung und die, im Vergleich zu andern l\u00f6slichen Salzbestandtheilen, grossen Mengen der im Thierleib vorkommenden alkalischen Chlorsalze machen es wahrscheinlich, dass sie wichtige Funktionen erf\u00fcllen. Die Besonderheiten derselben lassen sich aber nur vermuthungsweise angeben.\nMan h\u00e4lt sie f\u00fcr wichtig: a) als Imbibitionsstoffe; wegen ihrer L\u00f6slichkeit und Diffussionsf\u00e4higkeit in das alle Gewebe durchdringende Wasser, gelangen sie selbst in alle Gewrebe. Sie bedingen hier, wie es nach sp\u00e4ter zu erw\u00e4hnenden Versuchen wahrscheinlich ist, einen h\u00f6heren Elastizit\u00e4tscoefFizient der Gewebe, und \u00fcben durch Verengerung der Poren zugleich einen Einfluss auf die Art und die Geschwindigkeit der Diffussion anderer im Wasser aufgel\u00f6ster Bestandtheile der thierischen Fl\u00fcssigkeiten. \u2014 b) Sie sollen die L\u00f6slichkeit einzelner ThierstofFe im Wasser modifi-ziren, indem sie entweder dieselbe unterst\u00fctzen, wie die des Caseins, was sich in Kochsalzwrasser aufl\u00f6st, und des Faserstoffs dessen Gerinnung durch Kochsalzl\u00f6sung verhindert wird, oder indem sie die Aufl\u00f6sung hemmen wie die desBlutrotks, das sich in der Blutfl\u00fcssigkeit bei starker Verd\u00fcnnung mit Wasser aufl\u00f6st. \u2014 c) Sie sollen einzelne chemische Umsetzungen erleichtern oder hemmen. So vermuthet man namentlich wegen des grossen Kochsalzgehaltes im Speichel und Magensaft, dass dasselbe die durch die Verdauungss\u00e4fte erzielte Umwandlung der mit der Nahrung auf-genommenen Nahrungss\u00e4ftebeg\u00fcnstige (?) und zugleich eine bis zur F\u00e4ulniss schreitende Zersetzung desselben verhindere. Aus demselben Grund, dem betr\u00e4chtlichen Gehalt der Fl\u00fcssigkeiten des Knorpels, des Krebses und des Eiters an Kochsalz vermuthet man, dass es eine wesentliche Rolle in den zur Zellenbildung n\u00f6thigen che-","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Phosphorsaure Salze.\n21\nmischen Vorg\u00e4ngen \u00fcbernehme; selbst wenn diese Vermuthung begr\u00fcndet ist, so liegt immer noch die Hypothese offen, dass das NaCl nur sehr indirekt hierbei th\u00e4-tig sei. Die alkalischen Chlorsalze werden mit den Nahrungsmitteln aufgenommen.\nC. Erdige Chlorsalze. Unter den Bestandteilen des tierischen K\u00f6rpers findet sich Chlorkalciura (Speichel und Magensaft) ; ferner vermutet man auch im Magensaft die Gegenwart des Chlormagnesiums. Ob mit Recht ist zweifelhaft. \u2014 Die Bedeutung beider Stoffe fur das Thier ist unbekannt.\nS. Fluorkalcium ist ein Bestandtheil des Zahnschmelzes und der Knochen; seiner grossen H\u00e4rte wegen h\u00e4lt man es an diesen Orten f\u00fcr bedeutungsvoll.\n9. Phosp h\u00f6r saure Salze.\nIn einzelnen F\u00e4llen soll im Organismus freie Phosphors\u00e4ure vorgekommen sein; mit Olein und Glycerin gepaart, ist sie ein Bestandtheil des Hirns.\nA.\tPhosphorsaure Alkalien. Von den mehrfachen Verbindungen der Phosphors\u00e4ure mit Kali und Natron findet sich in fast allen tierischen S\u00e4ften 2 NaO HO Ph05 und 2 KO HO Ph05 aufgel\u00f6st; in einzelnen, unter Umst\u00e4nden wahrscheinlich auch 3 NaO Ph05 und 3 KO Ph05.\nDiese Salzl\u00f6sungen sind durch ihre alkalischen Eigenschaften, ferner durch die F\u00e4higkeit Kohlens\u00e4ure in grossen Mengen zu absof-biren, Harns\u00e4ure und Casein in L\u00f6sung zu erhalten, nachweislich f\u00fcr das Leben wertvoll. Ihr h\u00e4ufiges Vorkommen, namentlich aber ihre Anh\u00e4ufung in einzelnen Theilen, wie in den Muskeln, in den Blutk\u00f6rperchen, deuten noch auf besondere Funktionen, die sich aus ihren bekannten Eigenschaften noch nicht ableiten lassen.\nDie phosphorsauren Kalien sind teils Nahrungsmittel, teils bilden sie sich w\u00e4hrend der Oxydation der aus eiweissartigen Stoffen gebildeten Organe ; der Phosphor derselben wandelt sich in Phosphors\u00e4ure um, welche aus dem vorhandenen kohlensauren Natron die C02 austreibt.\nB.\tPhosphorsaure Erden. Von diesen finden sich namentlich phosphorsaure Kalkerde und Magnesia.\nDie im Menschen vorkommende phosphor sau re Kalkerde ist nach der Formel 3 CaO Ph05 (Heintz) zusammengesetzt; sie kommt in den Knochen, Z\u00e4hnen, eiweiss- und leimartigen Stoffen und dem Harne vor. Durch ihre Verbindung mit den eiweissartigen Stoffen (Eiweiss, Faserstoff, K\u00e4sestoff etc.) die in Alkalien l\u00f6slich ist, wird sie im tierischen K\u00f6rper verbreitet.\nMit Colla geht sie wahrscheinlich eine unl\u00f6sliche Verbindung ein; ausserdem incrustirt sie einige andere gewebsbildende Stoffe; diese merkw\u00fcrdige, noch nicht hinreichend verfolgte Eigenschaft gibt dem Organismus die M\u00f6glichkeit an die Hand, so feste Substanzen wie Knochen und Z\u00e4hne zu bilden.","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nSchwefels\u00e4ure, Oxals\u00e4ure.\nDie phosphorsaure Magnesia ist wahrscheinlich von gleicher chemischer Constitution und derselben physiologischen Bedeutung wie die Kalkerde.\nBeide Salze werden mit den Nahrungsmitteln aufgenommen.\nPhosphorsaures Eisenoxyd von der Formel 3 Fe203 Ph05 soll sich in den Muskeln, Haaren etc. finden?\n10.\tSchwefels\u00e4ure Alkalien kommen vorzugsweise im Koih und Harn vor; die im Harn erscheinende S03 ist als ein Oxydationsprodukt des in leimartigen und eiweissartigen Substanzen enthaltenen Schwefels anzusehen; das kohlensaure Natron oder Kali bindet dieselbe. Ihre Bedeutung scheint von untergeordneter Wichtigkeit.\n11.\tKiesels\u00e4ure. In geringer Menge in den Knochen, Z\u00e4hnen (?), Haaren, Blut, Galle, Speichel, Harn des Menschen; ob und welchen Einfluss sie auf den Lebensprozess \u00fcbt ist unbekannt.\n12.\tDie 0 xyde und Salze einiger Metalle, wie des Eisens, Kupfers, Bleis, Mangans u. s. w. kommen im Organismus unzweifelhaft vor; die Art ihres Vorkommens und die Wichtigkeit ihrer Gegenwart liegen noch im Dunkeln.\n13.\tAmmoniaksalze. Kohlensaueres Ammoniak findet sich im Blut, Harn und Koth; es darf wohl als Umsetzungsprodukt der wesentlichsten Organbestandtheile betrachtet werden, das in den Lungen abdunstet und durch den Urin m\u00f6glichst rasch entfernt wird.\n14.\tSchwefelcyansalze. Schwefelcyankalium im Speichel und Schwefelcyanammonium im Harn nach Senfgenuss. Das Vorkommen d\u00fcrfte vielleicht von Interesse werden, als ein Fingerzeig f\u00fcr besondere, an den bezeichnten Orten vor sich gehende Zersetzungen ; ob die Stoffe von hervorragender physiologischer Bedeutung sind, ist unbekannt.\n15.\tOxalsaurer Kalk. In geringen Mengen im Harn, nach Genuss von vegetabilischen oxals\u00e4urehaltigen Nahrungsmitteln und kohlens\u00e4urereichen Getr\u00e4nken , in dem Gallenblasen - und Uterusschleim. \u2014 Man vermuthet, dass die Oxals\u00e4ure ein Produkt des, im thierischen Organismus so verbreiteten, Oxydationsprozesses sei; \u00fcber den Stoff, aus dem es gebildet werde, l\u00e4sst sich nichts angeben.\n16.\tS\u00e4uren von der empirischen Formel C2 u H (2n\u2014i) 03 ; HO.\nIn den S\u00e4ften und Geweben der Menschen sind aus dieser grossen Reihe folgende Glieder nachgewiesen :\na.\tC2 H 03 ; H 0 = Ameisens\u00e4ure.\nb.\tC4 H3 03 ; H 0 = Essigs\u00e4ure.\nc.\tC6 H5 \u00d63; HO = Propions\u00e4ure.\nd.\tC8 H7 03; HO = Butters\u00e4ure.\ne.\tC12Hn 03; HO = Caprons\u00e4ure.\nf.\tC16 B15 03 ; HO = Caprvls\u00e4ure.\ng.\tC32 H31 03 ; II 0 = Palmitins\u00e4ure.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"S\u00e4uren mit der Formel C2n II ( \u00bb\u201e _ i ) 03, HO.\n23\nh- C34I\u00cf33 03; HO i. CggHgjOgjHO = Stearophans\u00e4ure. (?)\nDiese S\u00e4uren erkl\u00e4rt man f\u00fcr Glieder einer nat\u00fcrlichen Gruppe wegen der Analogie in der Zusammensetzung, ferner wegen der sehr \u00e4hnlichen Zersetzungserscheihungen, die sie bieten, und endlich weil sich in den physikalischen und chemischen Eigent\u00fcmlichkeiten einzelner Verbindungen die allm\u00e4ligstenUeberg\u00e4ngezeigen, wenn man vergleichend von den hohem zu den niedern Gliedern unserer Reihe herabsteigt.\nDie A n a 10 gi e ln der Zusammensetzung springt sogleich in die Augen, wenn man die Bruchst\u00fccke der mitgetheilten Reihe mit den \u00fcbrigen noch bekannten Gliedern vervollst\u00e4ndigt; man sieht da sogleich, dass sich jedes h\u00f6here vom n\u00e4chstvorhergehenden durch C2 II2 unterscheidet. \u2014 Von den Z ers etzungsers cheinungen besprechen wir hier nur einige der bekannten, welche der Physiologe besonders zu be-\nMargarins\u00e4ure.\nr\u00fccksichtigen hat, sie sind insofern in allen Gliedern gleichartig, als l.)die Kalisalze unserer S\u00e4uren auf elektrolytischem Wege unter Aufnahme von 0 nach Kolbe ganz allgemein zerlegt werden in 2(C 02) und (C2n H2n 4- 1) so z. B. die Essigs\u00e4ure (C4 H3 03) in 2(C 02) und C,2 H3 ; 2) durch Oxydation bei niederen Temperaturen und in Gegenwart faulender Substanzen geht ein beliebiges Glied unserer Reihe jedesmal in das folgende unter Bildung von 2 Atom Kohlens\u00e4ure und 2 Atom Wasser \u00fcber. In einer Formel ausgedr\u00fckt zerf\u00e4llt also C2aH(2n-.i) 03;H0 unter Aufnahme von 06 in C(2n \u2014 2) H(on - 3) 03 ; HO in 2 C02 und 2 HO ; 3) durch anhaltendes Einleiten von Chlor in ein Glied der Gruppe w\u00e4hrend seines fl\u00fcssigen Zustandes wird der Wasserstoff desselben ailm\u00e4lig verdr\u00e4ngt und durch Chlor ersetzt. Bevor die vollkommene Verdr\u00e4ngung des Wasserstoffs erreicht ist, bilden sich Zwischenprodukte, in denen jedesmal ein Aequivalent Wasserstoff durch ein Aequivalent Chlor vertreten ist. Die Zersetzung wird durch folgende Gleichung ausgedr\u00fcckt: C2n H(2n \u2014 1) 03;H0 geht durch C2\u201e H(2n _ 2) CI 03;H0 schliesslich in C2n Cl(2n _ 1) 03;HO \u00fcber; so z. B. verwandelt\nsich Essigs\u00e4ure = C4 H3 03 ; HO in C4 jjj| 03 HO; dann in C4jj\u00efj 03;HO endlich\nC4 Cl3 03; HO = Chloressigs\u00e4ure. \u2014 So sehr die physikalischen Eigenschaften des ersten und letzten Gliedes unserer Reihe von einander abweichen, so nahestehend sind diejenigen zweier unmittelbar aufeinander folgenden* So liegt z. B. der Siedepunkt der h\u00f6chsten Glieder der Reihe bei dem Normalbarometerstand so hoch, dass er ohne Zersetzung nicht erreicht werden kann, von da ab nimmt er f\u00fcr jedes Glied um 18,4\u00b0 C ab (Kopp), bis endlich die Essigs\u00e4ure fr\u00fcher als das Wasser kocht. Die h\u00f6chsten Glieder tragen in Bezug auf ihre Adh\u00e4sions- und L\u00f6sungsverh\u00e4ltnisse die Charaktere der Fette, w\u00e4hrend die niederen Glieder in jedem Verh\u00e4ltniss mit Wasser mengbar S\u00dc14. Die h\u00f6heren Glieder sind geruchlos, die niederen riechen sehr intensiv und die einander nahestehenden Glieder in dem ihittleren Abschnitte der Reihe zeigen sehr \u00e4hnliche Ger\u00fcche u. s. w. \u2014\nDiese Thatsachen insgesammt und namentlich aber, dass die niedern Glieder wiederholt (C2 H2) aufnehmen k\u00f6nnen, ohne ihren Charakter als S\u00e4uren einzub\u00fcssen, dass man ohne Aenderung ihrer S\u00e4ttigungscapazi-t\u00e4t CI statt des H in sie einf\u00fchren kann, bestimmen nach unsern jetzigen Begriffen die Annahme, dass die vorliegenden K\u00f6rper gepaarte S\u00e4uren sind. Ueber die Natur der S\u00e4ure und des Paarlings bestehen Differenzen in den Ansichten der Chemiker. Nach L\u00f6wig*) besteht der Paar-\n*) Grundriss der organischen Chemie. Braunschweig 185:1, p. 35.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nStearophaus\u00e4ure, Margarins\u00e4ure.\nling aus fortlaufend eintretenden (C2 H2) 1, 2 ... n und die S\u00e4ure aus Ameisens\u00e4ure C2 H 03; HO, so dass die Reihe das Ansehen\nC2 H 03 ; H 0 = Ameisens\u00e4ure,\n(C2 H2) C2 H 03 ; H 0 = Essigs\u00e4ure,\n2 (C2 H2) C2 H 03 ; H 0 = Propions\u00e4ure, und\n16 (C2 H2) C2;H 03; HO = Margarins\u00e4ure annehmen w\u00fcrde. \u2014 Kolbe*) h\u00e4lt den Paarling des ersten Gliedes (der Ameisens\u00e4ure) f\u00fcr H, zu dem in den hohem Gliedern noch C2 H2 hinzutritt; das S\u00e4ureradikal, welches nach ihm aus C2 besteht, ist durch 03 oxydirt, jedoch so, dass diese Kohlenstoff- und Sauerstoffatome nicht in der Art der Verbindung sich finden, wie sie in der Oxals\u00e4ure Vorkommen. Demnach w\u00fcrde unsere Reihe geschrieben werden m\u00fcssen\nH C2 03;H0 \u2014 Ameisens\u00e4ure,\n(C2 H3) C2 03; HO .= Essigs\u00e4ure,\n\u2022 \u2022\u2022\u2022\u2022\u2022\u2022 + \u2022\u2022\u2022*\n(32^33) C2 03;H0 = Margarins\u00e4ure, wobei die Klammer \u00fcber dem Paarling und C2 die besondere Stellung von C2 zu dem Paarling im Gegensatz zu 03 andeuten soll.\nDie Gr\u00fcnde, welche Kolb e **) f\u00fcr seine Ansicht geltend macht, bestehen in den schon besprochenen Zersetzungs-Erscheinungen unter dem Einfluss des elektrischen Stromes, und ferner darin, dass man die Cyanverbindungen des Methyls, AethyJs, Amyls u. s. w. mit Leichtigkeit in Essigs\u00e4ure, Propions\u00e4ure u. s. w. umwandeln kann, indem man statt des N durch Einwirkung von KO, 03 substituirt so dass:\n(C2 H3) C2 N = Methylcyaniir in (C2 H3)C2 03 = Essigs\u00e4ure;\n(C4 H5) C2 N = Aethylcyan\u00fcr in (C4 H5)C2 03 \u2014 Propions\u00e4ure 11. s. w. \u00fcbergef\u00fchrt wird.\nVon den physiologisch wichtigen Gliedern unserer Reihe erscheint hier erw\u00e4hnenswerth:\nA.\tStearophans\u00e4ure (?) im Menschenfett mit Lipyloxyd als Stearophanin (Heintz***).\nB.\tMargarins\u00e4ur e kommt im freien Zustand, mit Kali und Natron (als Seife) und mit Lipyloxyd (als Margarin) verbunden, vor; \u2014 sie erscheint crystaliinisch, oder h\u00e4ufiger in fl\u00fcssiger Form, entweder als Seife in Wasser, oder als Margarin in andern fl\u00fcssigen Fetten gel\u00f6st.\nIhre Bedeutung, so weit sie bekannt, erh\u00e4lt sie 1) durch ihre besonderen Adh\u00e4sions Verwandtschaften, wor\u00fcber bei den neutralen Fetten das Weitere, 2) durch die F\u00e4higkeit, sich bei niederen Temperaturen mit Sauerstoff zu verbinden, hiebei W\u00e4rme zu entwickeln und die Endprodukte C 02 und H 0 zu bilden, welche in dem Lebensprozesse\n*) Annalen der Chemie v. Liebig. 76. Bd. 1.\n**) Liebig's Annalen LXV.\n***) Pharmazeut. Centralblatt 1851. 645.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Palmitin- Capryl- Capron- Butters\u00e4nre.\n25\nerst, wenn sie im Uebermaass vorhanden, st\u00f6rend eingreifen, und sich so leicht aus dem thierischen K\u00f6rper entfernen lassen, 3) durch ihre Eigenschaft, ein schlechter W\u00e4rmeleiter zu sein.\nDer besondere Gang der Zersetzung den die im thierischen K\u00f6rper vorhandene Margarins\u00e4ure einschl\u00e4gt, um schliesslich zu C02 und HO zu werden, ist nicht bekannt; wir wissen nur, dass diese Oxydation geschehen muss, weil wir trotz der grossen Mengen von Margarins\u00e4ure, die wir t\u00e4glich mit unserer Nahrung gemessen, und aus dieser in das Blut aufnehmen, keine Spuren als solche (Speichel?) der Aussenwelt zurftckgeben, und dennoch die Fettmenge im thierischen K\u00f6rper nicht zunimmt. \u2014 Die Yermuthung, dass die Magarins\u00e4ure durch eine besondere Art von G\u00e4hrung allm\u00e4lig durch immer wiederholte Entziehung von C2 H2 bis auf HC2 03 ; HO zur\u00fcckgef\u00fchrt werde, wird erst dann bewiesen sein, wenn noch die bisher vermissten Zwischenstufen von der Palmitins\u00e4ure bis zur Capryls\u00e4ure nachgewiesen w\u00e4ren. Die Beobachtung von Heintz *), dass im thierischen Organismus Bernsteins\u00e4ure C4H203; HO vorkomme, erlaubt die Hypothese, dass die Margarins\u00e4ure auch noch durch eine andere Reihe von Zersetzungsprodukten in C02 und HO \u00fcbergehen k\u00f6nne, n\u00e4mlich durch die Reihe der Oxydationsprodukte, welche mit Fetts\u00e4ure beginnen und mit Bernsteins\u00e4ure schliessen. \u2014 Die bei der Verbrennung unserer S\u00e4ure entwickelte W\u00e4rme ist noch nicht untersucht. \u2014 Die grosse Verbreitung der Margarin-s\u00e4ure und ihre Theilnahme an der Bildung selbst der wichtigsten Organbestandtheile wie jener des Nervenmarks lassen vermuthen, dass sie mit den im Text gemachten Angaben nur in sehr l\u00fcckenhafter Weise gew\u00fcrdigt sei.\nSie wird in den Organismus als solche eingef\u00fchrt, und wahrscheinlich auch aus der mit der Nahrung genossenen Stearin- und Stearophan-s\u00e4ure gebildet. Wir vermuthen dieses, weil erstens Stearins\u00e4ure so leicht in Margarins\u00e4ure \u00fcbergeht, und dann weil wir die genossene Stearins\u00e4ure nirgends im menschlichen K\u00f6rper antreffen.\nZur Erl\u00e4uterung des Uebergangs der Stearins\u00e4ure in Margarins\u00e4ure, gibt es zwei Hypothesen. Nach der einen derselben, welche die Stearins\u00e4ure identisch in der Zusammensetzung mit Margarins\u00e4ure sein l\u00e4sst, **) erfolgt der Uebergang durch einfache Umlagerung; nach der andern dagegen, welche die Stearins\u00e4ure als aus C68H66 05 2H0 (Bromeis) bestehen l\u00e4sst, zerf\u00e4llt 1 Atom, dieser S\u00e4ure unter Aufnahme von 1 Atom Sauerstoff in 2 Atom Margarins\u00e4ure.\nC.\tPalmitin s\u00e4ure im Palmitin des Menschenfeites. (Heintz.)\nD.\tE. Capryl- und Capron s\u00e4ure (R edtenbacher) ; beide S\u00e4uren vermuthet man in den Fetten der Milch, im Schweiss (wegen des Geruchs). \u2014 Ueber ihre Bedeutung nichts bekannt. \u2014 Ihr Ursprung kann nach bekannten chemischen Thatsachen m\u00f6glicher Weise ein sehr vielfacher sein; denn sie entstehen beim Faulen der Fette, namentlich der Margarin- und Oels\u00e4ure, bei rascher Oxydation der letzteren, ferner durch Oxydation der eiweissartigen Stoffe.\nF. Butt er s\u00e4ure. Im Harn, wahrscheinlich in den Fetten der Milch, im Schweiss (?), Magensaft (?), Fette des Bluts(?). Ihrer Gegenwart verdankt die fl\u00fcssige Absonderung mancher Hautstellen (Ge-schlechtstheile, F\u00fcsse etc.) einen eigenth\u00fcmlichen Geruch.\n*) Poggendorf Annalen LXXX. 114.\n**} Laurent u. Gerhardt. Liebigs Annal. LXXII.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nPropion-, Essig-, Ameisen-, Oels\u00e4ure.\nDie Quellen ihrer Abstammung k\u00f6nnen m\u00f6glicher Weise noch mannigfaltiger als diejenigen der Capryl- und Caprons\u00e4ure sein, da sie sich aus diesen und dann auch noch bei der G\u00e4hrung milchsaurer Salze bildet, und unter den F\u00e4ulnissprodukten des Leims und der eiweissartigen K\u00f6rper erscheint.\nG.\tPropion(Metaceton)-S \u00e4ure. Im Schweisse (Lehmann). Ihre Bedeutung dunkel. F\u00fcr ihren Ursprung sind vielfache M\u00f6glichkeiten gegeben, da sie aus Butters\u00e4ure, Glycerin etc. entstehen kann.\nH.\tEssigs\u00e4ure. Im Magensaft (?), der Fl\u00fcssigkeit des Fleisches^), im Blut der Branntweintrinker (?) und als essigsaures Eisenoxyd in der Milz. Unter den Bestandteilen des tierischen K\u00f6rpers entsteht sie aus Butters\u00e4ure, aus Taurin und aus Alkohol*).\nI.\tAmeisens\u00e4ure. ImSchweiss; im Blut nach Zuckergenuss (?); in der Fleischfl\u00fcssigkeit (?). \u2014 Entsteht durch Oxydationsprozesse aller organischen Thierstoffe.\nCapryl-, Capron-, Butter-, Propion-, Essig- und Ameisens\u00e4ure sollen vorzugsweise durch ihre Yerbrennungsf\u00e4higkeit und die dabei ent-\nwickelte W\u00e4rme dem tierischen K\u00f6rper bedeutungsvoll sein. Man vermutet, dass sie in dem Maasse, in welchem sie sich bilden, auch wieder zerst\u00f6rt werden, woraus es erkl\u00e4rlich wird, dass trotz der Bildung betr\u00e4chtlicher Mengen gleichzeitig nur geringe im Thierk\u00f6rper\nenthalten seien.\n17. Oels\u00e4ure. C36 H33 03 ; H 0.\nIhre Zersetzungserscheinungen lassen sich teilweise deuten,\nwenn man sich die Atome in ihr nach der Formel (C32 H32) C2 C2 H 03 ; HO (L\u00f6wig) geordnet denkt, wonach sie aus Margarins\u00e4ure mit dem eingeschobenen C2 Kern best\u00e4nde.\nDurch Behandlung mit Salpeters\u00e4ure geht sie n\u00e4mlich leicht in Margarins\u00e4ure,\n*\noder die Zersetzungsprodukte derselben (Fett- bis Bernsteins\u00e4ure) \u00fcber; durch F\u00e4ulniss und Oxydation mit rauchender Salpeters\u00e4ure liefert sie die S\u00e4ure der Gruppe C2nH(2n \u2014 1) 03 ; HO namentlich von dem Gliede C20 H19 03 ; HO (Caprins\u00e4ure) an.\nSie erscheint frei, oder mit NaO und KO (als Seife) oder mit Lipyioxyd (als Olein), verbunden andern Fetten beigemengt.\nIhre physiologische Bedeutung verdankt sie ausser den allen Fetten gemeinsamen Eigenschaften (mangelnde Adh\u00e4sion an Wasser, Oxydationsf\u00e4higkeit unter W\u00e4rmeentwicklung, schlechte W\u00e4rmeleitung) besonders noch ihrem fl\u00fcssigen Aggregatzustand, wodurch sie zum L\u00f6sungsmittel solcher Fette sich eignet, welche bei der Temperatur des menschlichen K\u00f6rpers fest sind.\nSie wird mit den Nahrungsmitteln in den K\u00f6rper gef\u00fchrt.\n*) Essigs\u00e4ure z\u00e4hlt auch zu den organischen K\u00f6rpern, welche durch Composition unorganischer gebildet werden k\u00f6nnen, indem das CI2 03 C2C13; HO die sogenannte Chlorkohlenosals\u00e4ure k\u00fcnstlich darstellbar ist, aus welcher durch Behandeln mit Kali und Wasser Essigs\u00e4ure erzeugt werden kann. fKolbe}.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Neutrale Fette.\n27\nAnhangsweise ist hier die von Gottlieb entdeckte oxydirte Gels\u00e4ure Cac IL* O.HO zu erw\u00e4hnen, in welche sich die gew\u00f6hnliche Oels\u00e4ure beim Stehen an der Luft umwandelt. In dieser muss eine andre Atomlagerung, als m der gew\u00f6hnlichen Oels\u00e4ure vorhanden sein, da sie andere Zersetzungsprodukte liefert; sie ist zugleich eine kr\u00e4ftigere S\u00e4ure als die Oels\u00e4ure; \u00fcber ihre weiteren Eigenschaften fehlen die Nachrichten, was um so mehr zu bedauern ist, als die Annahme gerechtfertigt erscheint, dass die im Thierleib vorkommende Oels\u00e4ure gr\u00f6sstentheils oxydirte sein d\u00fcrfte.\n18. Anthropins\u00e4ure (Heintz) C34H31 03;fI0?\nEine kry st alliais che Substanz; ihr Schmelzpunkt liegt bei 56\u00b0. Ihre Zersetzung noch nicht studirt. ~ Kommt im Antkropin des Menschenfettes vor. Ihre Analogie in der Zusammensetzung mit Oels\u00e4ure ist einleuchtend.\n19. Neutrale Fette. Von den bekannten neutralen Fetten kommen im menschlichen Organismus vorzugsweise zwei, das Mar garin und Olein in geringem Maasse, aber auch Stearophanin, Palmitin, Anthropin (Heintz) vor.\nDie Zahl und Lagerung der Atome in diesen Stoffen ist unbekannt; jedoch nicht ohne Grund darf man vermuthen, dass in ihnen die fetten S\u00e4uren Margarins\u00e4ure (im Margarin) und Oels\u00e4ure (im Olein) vorgebildet enthalten seien.\nBisher nimmt man an, dass diese neutralen Fette Verbindungen der entspre chenden fetten S\u00e4uren mit einem besonderen Atomcomplex C3H20 darstellen. Zu diesem Schluss berechtigt die Analogie mit Stearin. Wenn man diesen wie man glaubt rein darzustellenden Stoff mit Kali in Ber\u00fchrung bringt, so zerf\u00e4llt das Stearin\nin Stearins\u00e4ure, welche sich mit dem Kali verbindet, und in Oelsiiss, welches ausgeschieden wird. Addirt man aber das Gewicht des ausgeschiedenen Oelsiisses zu dem der mit dem Kali verbundenen S\u00e4ure, so findetman, dass diese Gewichts-Summe\ngr\u00f6sser ausf\u00e4llt, als die Schwere des zersetzten Stearins betr\u00e4gt; da nun keine Reaktion eintritt, welche auf eine Aufnahme anderer Stoffe schliessen liesse, so ist die Gewichtsvermehrung nur dadurch m\u00f6glich, dass von dem aus dem Stearin ausgeschiedenen K\u00f6rpern Wasser aufgenommen wurde. In der That gen\u00fcgt nun die Gewichtsvermehrung der Annahme, dass 2 Atome des K\u00f6rpers C3H20 \u2014 \u20ac6H402, 4 Atome Wasser aufnehmen, wodurch er sich in 1 Atom Oels\u00fcss \u2014 C6H806 umwandelt. Diese Erl\u00e4uterung trug man auch auf die durch KO vorgehende Zersetzung des Olein und Margarin u s. w., welche man bisher noch nicht rein darzustellen vermochte, \u00fcber. Der ganzen Betrachtung wurde aber durch die neuen Untersuchungen von \u00c4rz-\nbacher *) der Boden entzogen, indem er zeigte, dass die aus der Elementaranalyse verschiedener Stearinsorten gewonnenen Zahlen weder f\u00fcr die Formel [C68 H66 05. HO . C3 H2 0,] noch f\u00fcr[C34H33 03 . C3 H2 0.] passen, indem das Stearin aus Hammelstalg eine andere Zusammensetzung als das aus Ochsentalg besitzt. \u2014 Wenn durch neue Untersuchung die alte Ansicht aufrecht erhalten werden sollte, so w\u00fcrde man die neutralen Fette den Aetherarten vergleichen d\u00fcrfen, wie denn in der That die k\u00fcnstlich\ndargestellten Verbindungen der Fette mit Aether die gr\u00f6sste Aehnlichkeit mit neu-\ntralen Fetten besitzen.\nDie Eigenschaften, verm\u00f6ge deren die neutralen Fette den Lebens-process unterst\u00fctzen, sind sehr mannigfaltig.\na) Sie leiten katalytische Umsetzungen ein; ein im Thiere vorkommender G\u00e4hrungsprozess, die Umwandlung des Zuckers in Milch-\n*} Liebig\u2019s Annalen TO. \u2014 Laurent u, Gerhardt compt, rend, des travaux d. chim. 1849. 343.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nNeutrale Fette.\ns\u00e4ure, soll nach Lehmann nur unter gleichzeitiger Mitwirkung der Fette und eiweissartigen K\u00f6rper geschehen k\u00f6nnen; ebenso sollen sie durch ihre Gegenwart die Verdauung der eiweissartigen Stoffe im Magen unterst\u00fctzen.\nb)\tBei diesen Umsetzungen erleiden sie selbst eine Zerlegung in Glycerin (Oels\u00fcss) und die entsprechende Fetts\u00e4ure ; da diese beiden Stoffe aber nach Redtenbacher durch die Katalyse selbst allm\u00e4lig in C 02 und H 0 verwandelt werden, so liefern sie ein verbrennliches Material, das bei seiner Oxydation grosse Mengen von W\u00e4rme bildet.\nc)\tVon diesem Gesichtspunkt aus erscheint ihre chemische Indifferenz von Bedeutung ; hierdurch wird es n\u00e4mlich m\u00f6glich, grosse Massen von Fetten im Organismus ohne St\u00f6rung anderer, dem Leben nothwendiger chemischer Prozesse anzuh\u00e4ufen, Massen, die angesammeltem Brennmaterial zu vergleichen sind.\nd)\tVerm\u00f6ge der mangelnden Adh\u00e4sion an Wasser sind sie im Stande 1) Tropfen zu bilden, welche m\u00f6glicherweise die Zellenbildung unterst\u00fctzen (Ascherson), und 2) stellen sie Gewebe dar, welche an der Umsetzung und Diffussion in benachbarten w\u00e4sserigen Gebilden keinen Theil nehmen; sie leisten demgem\u00e4ss als constante Ventile, Druckvertheiler und dergl. wichtige Dienste.\ne)\tDa das leicht crystallisirende Margarin im Gemenge mit Olein sein Crystallisationsverm\u00f6gen einb\u00fcsst (Redtenbacher), so ist die Mischung beider Fette geeignet, an der Bildung mannigfach geformter Gewebe Theil zu nehmen.\nf)\tDa in den Seifen die Fette aufl\u00f6slich sind, und die Seifen wiederum im Wasser l\u00f6slich, so geben die Seifen ein Mittel ab, um den Durchtritt der Fette durch Membranen, die mit Wasser getr\u00e4nkt sind, zu erm\u00f6glichen.\ng)\tIhr geringes W\u00e4rmeleitungsverm\u00f6gen ist im Stande, die W\u00e4rmezerstreuung des thierischen K\u00f6rpers zu hindern, wenn die auf der Haut angebrachten W\u00e4rmeregulatoren (Schweissdr\u00fcsen, Horngebilde, glatte Hautmuskeln) nicht mehr hinreichen, die Ausgleichung der Temperaturdifferenzen zwischen dem thierischen K\u00f6rper und der Aussen-welt zu verhindern (Bergmann); bemerkenswerth ist darum die Ablagerung der Fette in den Unterhautzellgeweben und namentlich in den Fusssohlen.\nNach Angaben von Reisenden, welche Gelegenheit hatten Sektionen verstorbener Polarl\u00e4nder zu unternehmen, soll das einzige Fettlager derselben in dem panniculus adiposussein, eine Thatsache, mit welcher sich die Angabe vonE. H. Web er in Ueber-einstimmung findet, dass bei Seehunden alles Fett im Unterhautzellgewebe liege.\nh)\tWegen ihrer Adh\u00e4sion zu den Horngeweben, und ihrer F\u00e4higkeit, diesen Geweben durch ihr Eindringen in dieselben die Spr\u00f6digkeit zu nehmen, sind sie als Erhaltungsmittel der Haare angewendet. Da","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Oleophosphors\u00e4ure- Glycerin.\n29\nsie in der Luft nicht verdunsten, so'eignen sie sich vorzugsweise zur L\u00f6sung dieser Aufgabe.\nUnzweifelhaft sind mit diesen die Angaben \u00fcber ihre Funktionen nicht ersch\u00f6pft. Denn w^enn es auch zweifelhaft ist, ob sie durch ihr geringes spezifisches Gewicht als Ausf\u00fcllungsmassen der Knochen u. s. w^. bedeutend sind, so w eist doch ihre Betheiligung an der Gallenabsonderung, an dem Nervenmark u s. w. unzweifelhaft noch auf wichtige uns unbekannte Verrichtungen hin. \u2014\nDie Fette werden vom Menschen gr\u00f6sstentheils als solche aufgenommen; zum Theil d\u00fcrften sie auch aus andern Nahrungsmitteln gebildet werden. Ob aus Amvlon der Nahrung oder wachsartigen Be-standtheilen derselben ist noch ungewiss.\n20.\t01 e o p h o s p h o r s \u00e4 u r e ; (Fr e my). In Verbindung mit Kalien ein Bestandtheil des Hirns ; sie zerf\u00e4llt in Olein und Phosphors\u00e4ure, l\u00e4sst sich aber nicht k\u00fcnstlich durch Zusammenbringen beider darstellen.\n21.\tCholestearin; Bestandteile des Bluts, Galle, Eiters,Hirnfettes.\nDie Zusammensetzung des wasserfreien wird nach den Resultaten der Elementaranalyse am einfachsten ausgedr\u00fcckt durch C28 H24 0 die des aus Alkohol crystaliisirten nach Heintz*) durch C28 H24 0 + H 0.\nSeine Zersetzungen geben \u00fcber die Atomlagerung keinen Aufschluss. \u2014\nSeine physiologische Bedeutung und Entstehung sind unbekannt.\n\u2014\tJedenfalls muss es im tierischen K\u00f6rper entstehen, da es niemals als Bestandtheil der Pflanzen auftritt.\n22.\tLecithin (Gobley) eine phosphorhaltige fettartige Substanz, in den Fetten des Bluts und der Eier enthalten. In S\u00e4uren, Alkalien, Wasser und Alkohol zerf\u00e4llt es ohne Beihilfe der Luft in Oleins\u00e4ure, Margarins\u00e4ure, Phosphoglycerins\u00e4ure.\n23.\tCerebrin (Gobley) ; in den Blutfetten. Ein neutraler Stickstoff-und phosphorhaltiger fett\u00e4hnlicher K\u00f6rper, der im warmen Wasser aufquillt.\n24.\tGlycerin, Oels\u00fcss. C6H7 05;H0. Wir vermuthen, dass der freie Glycerin als Umsetzungsprodukt der fetten S\u00e4uren (bei der Verseifung und G\u00e4hrung derselben) im Thierk\u00f6rper vorkomme; ausserdem erscheint es nach Gobley in den Hirnfetten in der Glycerinphosphors\u00e4ure = Gl, Pho5 ; 2 H 0.\nSeine Zersetzungen sind mannigfaltig, durch G\u00e4hrung geht dasselbe in Propions\u00e4ure [(C4 H\u00c4) C2 H03 ; HO], durch Oxydation mit Chlor in Ameisens\u00e4ure, durch NO* in Oxals\u00e4ure, Kohlens\u00e4ure und Wasser, durch trockne Destillation in Acrolein \u00fcber.\n\u2014\tVon diesen Umsetzungen d\u00fcrfte nur die erste f\u00fcr den Physiologen von Bedeutung sein. \u2014\nGelangt mit den Fetten (als Lipyloxyd ?) in den Organismus; die Glycerinphosphors\u00e4ure auch als solche beim Genuss von Eidotter.\n25.\tZucker arten. Man beobachtet im thierischen Organismus den Milch-, Trauben- und Muskelzucker.\n*) Poggendorf Annalen LXXIX. 524.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"ao\nZuckerarten.\nA.\tMilchzucker = C12*Hi0O10; 2 Aq (im crystallinischen Zustand). Er findet sich*in der Frauenmilch.\nVon den sehr zahlreichen Umsetzuiigserscheinimgen, welche bekannt sind, d\u00fcrften, da sie noch zu keiner Vorstellung \u00fcber die Atomlagerung gef\u00fchrt haben, nur folgende f\u00fcr den Physiologen interessant sein. \u2014 Auf katalytischem Wege \u00e4ndert er sich unter dem Einfluss verd\u00fcnnter S03 in Traubenzucker um; bei Gegenwart von Casein, Fetten und Na0C02 geht er in Milchs\u00e4ure \u00fcber; durch gew\u00f6hnliche Hefe entwickelt sich allm\u00e4lig Alkoholg\u00e4hrung.\u2014Mit S03 und chromsaurem Kali erw\u00e4rmt bildet er das Aldehyd der Essigs\u00e4ure [(C2 H2) H C2 0; HO] und Ameisens\u00e4ure. Mit Kalkhydrat erw\u00e4rmt, bildet sich neben andern Produkten essigsaurer Kalk.\nMit den Nahrungsmitteln und namentlich der Milch wird er aufee-nommen. Sein Vorkommen in der Frauenmilch ist unabh\u00e4ngig von der Art der Nahrungsmittel, da ihn Bensch auch beim Genuss reiner Fleischspeisen vorfand. Er muss sich also aus andern Substanzen im Thierk\u00f6rper bilden k\u00f6nnen.\nB.\tTraubenzucker, Harnzucker \u2014 C12H12012 -j~ 2 aq. (cry-sfallisirt). Im Darmkanal w\u00e4hrend der Verdauung des Amylons; im Blut, vorz\u00fcglich im Blut der Lebervene; im Chylus; im Lebergewebe.\nIm Harn nach mehlhaltiger Nahrung ?\nUnter seinen zahlreichen Zersetzungen erregen Interesse: \u2014 1.)*) Hie G\u00e4h-rungen, und zwar a) Alkoholg\u00e4hrung. Ihre Produkte sind Aetbylalkohol, C02, Bernsteins\u00e4ure, Mannit? und zuweilen Amylalcohol; Bedingungen ihres Eintritts resp. ihrer Unterhaltung, bestehen in Gegenwart von 4 \u2014 10 Thl. aq., einer Temperatur von 4 \u2014 30\u00b0 R. und eines sogenannten Ferments, und im Momente des Eintritts, im Vorhandensein einer geringen Menge von 0. \u2014 Die Fermente sollten, wie man glaubte, nur dann wirksam sein, wenn sie in Form sogenannter Hefenpilze auftr\u00e4ten; durch Untersuchungen von Struve, Hopping, Mulder und Schmidt, Schleiden, Karsten ist das Gegentheil erwiesen. Sehr bemerkenswert!! ist es, dass durch sog. Gifte, Quecksilber, Arsenik, Kupfersalze, Klees\u00e4ure, schwefliche S\u00e4ure, Blaus\u00e4ure, kaustische Kalien die G\u00e4hrung unterbrochen wird. \u2014 b) S chief- j mige G\u00e4hrung. W\u00e4sserige Zuckerl\u00f6sung mit einer Abkochung von Alcoholhefe versetzt, entwickelt bei einer Temperatur von 24 \u2014 30\u00b0 R. H und Co2 im Verh\u00e4ltnisse von 1 : 2; es bleibt neben Milchs\u00e4ure ein schleimiger K\u00f6rper zur\u00fcck, der aus Mannit (C8 H9 08) und Gummi besteht. \u2014 c) M i 1 c h s \u00e4 u r e g \u00e4h r u n g bei gleichzeitiger Gegenwart von Eiweiss, K\u00e4sestoff, neutralen Fetten, und kohlensauren Alkalien setzt sich der Traubenzucker, in einer Temperatur von 15 \u201438\u00b0 C in Milchs\u00e4ure und Wasser und zu einem kleinen Th eil in Mannit um. \u2014 2.) Mit schmelzendem Kali behandelt, liefert er Essig-, Propion-, Ameisen-, Oxal-, Kohlens\u00e4ure und Wasserstoff.\u2014\nMit CI mischung erhitzt gibt er Chloral, Ameisens\u00e4ure und ein chlorhaltiges Oel.\ns\n4 Mit den Nahrungsmitteln wird er aufgenommen ; nachweislich bildet er sich aber auch unter dem Einfluss des Speichels und Pankreassaftes aus dem Amylon. Ausser diesen m\u00fcssen noch andere Quellen seiner Bildung vorhanden sein, da er nach Bernard in der Leber beobachtet wird, selbst wenn die Thiere weder Amylon noch Zucker gemessen,\nC.\tMuskelzucker**) Inosit = C12H12012 + 4 Aq (crystalli-\nsirt)\u2666 (Scherer.) In der Fl\u00fcssigkeit des Herzmuskels,\n\u2014 --- \u2022 - - -\n*) Liebig Art. G\u00e4hrnng im Hanclw\u00f6rtb. d. Chemie. III. Bd.\n**3 Scherer. Eine neue Zuckerart. Verhandlungen der physikalisch-medizinischen Gesellschaft 1 in Wiirzhurg. I. Bd. p. 51 u. Annalen d. Chemie. 1852. M\u00e4rzheft.\t!","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"' Milchs\u00e4ureliydrate.\nai\nVon seinen Zersetzungen ist nur bekannt, dass er nickt in die weingeistige, wolil aber in die milchsaure G\u00e4hrung \u00fcbergellt.\nSeine Quelle ist unbekannt.\nPhysiologische Bedeutung der Zuckerarten* \u2014 Bei ihrer Leichtl\u00f6slichkeit im Wasser und ihrer Neigung zur Crystallisation eignen sie sich nicht zur Gewebebildung. Sie k\u00f6nnen darum nur durch ihre Verwandtschaften das Leben unterst\u00fctzen; so weitbekannt leisten sie dieses vorzugsweise durch ihre n\u00e4heren und entfernteren Umsetzungsprodukte und namentlich durch ihre UmsetzunginMilchs\u00e4ure (siehe diese) und aus dieser in Butters\u00e4ure. Ob innerhalb des Organismus der Zucker auch in die hohen Glieder der C2nHC2n-i) 03; HO Gruppe \u00fcbergeht, steht noch dahin.\u2014Jedenfalls liefern die im Zucker enthaltenen C und H Atome schliesslich C02 und HO. Man kann dieses mit Sicherheit behaupten, weil kein ExcretionsorganZucker oder irgend ein anderes Zersetzungsprodukt desselben aus dem Organismus ausst\u00f6sst. Bei diesem Ueber-gang entwickeln sie eine betr\u00e4chtliche Menge von W\u00e4rme, die den thierischen Funktionen zu Gute kommt.\n26) Milchs\u00e4urehydrate. C6H505; HO.\nIm menschlichen K\u00f6rper erscheinen 2 Hydrate der Milchs\u00e4ure, die sich durch einen verschiedenen Crystallwassergehalt ihrer Salze unterscheiden: a Milchs\u00e4ure ist ein Bestandteil der Fl\u00fcssigkeit des angestrengten Muskels (Berzelius, du Bois-Reymond). bMilchs\u00e4ure dagegen, wahrscheinlich die, welche sich normal im Magensaft, als milchsaures Eisenoxyd in der Milz (Scherer) und in allen Absonderungen bei der Zuckerdyskrasie (Diabetes mellitus) findet.\nDie Atomlagerung in der b Milchs\u00e4ure ist nach Strecker wahrscheinlich (C4H402) C2H03 ; HO d. h. eine mit dem Aldehyd der Essigs\u00e4ure gepaarte Ameisens\u00e4ure. \u2014 Die Gr\u00fcnde, die hierf\u00fcr sprechen, liegen in der Erscheinung 1) dass milchsaures Kupferoxyd f\u00fcr sich de-stillirt, ausser einer neuen S\u00e4ure, Kohlenoxyd, Kohlens\u00e4ure und auch Aldehyd der Essigs\u00e4ure liefert; 2) dass die b Milchs\u00e4ure mit Chlor-mischung destillirt, Chloral (C4 Cl3 II02) d. h. ein Aldehyd liefert, in welchem 3 Atom H durch 3 Atom CI vertreten sind; 3) dass die b Milchs\u00e4ure mittelst salpetriger S\u00e4ure aus einem Stof!, dem Alanin^) (C6H7N04), gebildet werden kann, welcher aus Aldehyd und Blaus\u00e4ure, unter Aufnahme von 2 Atom Wasser, entsteht. \u2014 Aus dieser Annahme erl\u00e4utern sich freilich die physiologisch h\u00f6chst wichtigen Umsetzungen nicht, welche die Milchs\u00e4ure erleidet, wenn sie in ihren alkalischen Verbindungen mit K\u00e4sestoff einer Temperatur von 15\u201430\u00b0 R. ausgesetzt wird; in diesem Fall verwandelt sie sich n\u00e4mlich unter Entwicklung von C02 und H im Verh\u00e4ltniss von 2 : 3 in Butters\u00e4ure.\nVermittelst ihrer Eigenschaft, unter Beihilfe eines besonderen Fermentk\u00f6rpers, des Pepsins, die im Wasser unl\u00f6slichen eiweissartigen\n*) Strecker, Liebigs Annalen LXXV. 27.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nPhenyls\u00e4ure, Hippnrs\u00e4ure.\nund leimgebenden Substanzen in l\u00f6sliche Modifikationen zu verwandeln, soll sie im Magensaft (Lehmann) wichtig werden. Ausserdem geh\u00f6rt sie zu den mannigfachen S\u00e4uren, deren kalische Salze im thierischen K\u00f6rper in kohlensaure umgewandelt werden k\u00f6nnen, ein Vorgang, durch den sie offenbar zur W\u00e4rmeerzeugung im lebenden Wesen beitr\u00e4gt.\nDie Milchs\u00e4ure wird theils mit den Nahrungsmitteln aufgenommen, theils aus ihnen, und namentlich aus den zuckerhaltigen, gebildet.\nF\u00fcr die Bildung der Milchs\u00e4ure beim G\u00e4hren des \u00e4pfelsauren Kalkes, unter Einfluss des Caseins, welche Kohl beobachtete (Pharmazeutisches Centralblatt 1851. I. Bd. p. 384) d\u00fcrften im menschlichen Organismus die Bedingungen fehlen.\n27.\tPhenyls\u00e4ure (Kreosot), C12H60;H0.\n28.\tTauryls\u00e4ure C14H8 0; HO.\n29.\tDamalurs\u00e4ure C14HU 03; HO.\n30.\tDamols\u00e4ure.\nDiese 4 S\u00e4uren sind von Staedeler *) im Harn in Spuren nachgewiesen. Eigenschaften, durch die sie physiologisch bedeutend w\u00fcrden sind nicht bekannt. Vorerst sind sie nur merkw\u00fcrdige Zersetzungsprodukte. Man vermuthet, dass die ersten beiden S\u00e4uren (Phenyl- und Tauryls\u00e4ure) aus salizinhaltigen Bestand-theilen der Nahrung, Damalur- und Damols\u00e4ure aber aus eiweissartigen Bestandteilen entstanden sein m\u00f6chten.\n31) Hippur s\u00e4ure. C18H8N05; HO. Sie ist spurwreise im Blut und ausserdem nach Genuss von Gemusse, Benzoe- und Zimmts\u00e4ure, im Harn aufgefunden.\nIhre Atomlagerung kann ausgedr\u00fcckt werden, entweder durch\n(C4H3NO2) C14H503; HO, d. h. durch Benzoes\u00e4ure, welche mit einer Atomgruppe gepaart ist, die sich durch 2 Atome aq. vom Glycocoll unterscheidet. Zu dieser Aufstellung wird man gef\u00fchrt, weil Hippurs\u00e4ure unter dem Einfluss mineralischer S\u00e4uren in Glycocoll und Benzoes\u00e4ure zerf\u00e4llt, und weil nach dem Genuss von Benzoes\u00e4ure ein der genossenen Menge entsprechendes Gewicht Hippurs\u00e4ure im Harn beobachtet wird; man ist geneigt anzunehmen, dass jene Benzoes\u00e4ure auf ihrem Wege durch den thierischen K\u00f6rper sich mit dem Atomcom-plex C4H3N02 verbunden habe, wTeil dieser schon im thierischen K\u00f6rper beobachtet ist; ausserdem entwickeln* noch zahlreiche Einfl\u00fcsse, z. B. trockne Destillation, Bleihyperoxyd , die F\u00e4ulniss aus ihr Benzoe-\nsaure. \u2014 Oder man kann in ihr die Atomstellung durch (NH2) C18H605 ; HO ausdr\u00fccken, da sie sich unter dem Einfluss von salpetriger S\u00e4ure (N03) in N, HO und C18H707; HO, \u00e4hnlich der sogenannten Amids\u00e4ure spaltet (Strecker).\nIhre physiologische Bedeutung ist unbekannt. Sie muss innerhalb des Thierk\u00f6rpers entstehen, da sie niemals als Nahrung genossen wird. Die Entdeckung, dass sie im Harn nach Aufnahme von Benzoe- und\nNachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu G\u00f6ttingen. 1850. \u2014 Lieb. Annalen 1850.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Glyco- Taurochols\u00e4ure.\n33\nZimmts\u00e4ure erscheint, verspricht f\u00fcr den StofFumsatz von grossem Interesse zu werden.\nBenzoes\u00e4ure, welche man fr\u00fcher als Harnbestandtheil annahm, ist ln diesem nur als Zersetzungsprodukt der Hippurs\u00e4ure anzusehen, da sie niemals im frischen, sondern nur im faulenden Harn vorkommt.\n32.\tGlycochols\u00e4ure (Chols\u00e4ure, Strecker). C^H^NO^ HO. Die Natronverbindung derselben ist ein wesentlicher Bestandtheil\nder Galle. Strecker betrachtet dieselbe als (C4H3N02) C48H3909;H0.\nDie Zersetzungserscheinungen, welche diese Vorstellung begr\u00fcnden, sind; durch kochendes Kali und F\u00e4ulniss zerf\u00e4llt unter Wasseraufnahme die Glycochols\u00e4ure in Giycocoll (C4H5N03) und Chols\u00e4ure (Cholals\u00e4ure von Strecker) C48H3909 ; HO. \u2014 Durch kochende Minerals\u00e4ure in Choloidins\u00e4ure C48H3909 (eine im freien Zustand wasserfreie S\u00e4ure) und Giycocoll.\nEine besondere Untersuchung \u00fcber ihre physiologischen Eigenschaften fehlt; die S\u00e4ure wird implizite bei der Galle erw\u00e4hnt werden; vollkommen unbekannt ist ihre Entstehung; die zahlreichen Hypothesen, welche man \u00fcber diese aufsteilte, sind vorerst noch haltlos.\n33.\tTaurochols\u00e4ure (Choleins\u00e4ure, Strecker). Ein Gallen-bestandtheih Obgleich diese S\u00e4ure nicht rein dargestellt ist, so l\u00e4sst sich doch behaupten, dass ihre Zusammensetzung durch C52H44NO]3S2 ;\nHO und ihre moleculare Constitution durch (C4H5N04S2) C48G3909;H0 ausgedr\u00fcckt werde.\nEntfernt man aus der crystallisirten Galle des Ochsen, die der menschlichen ziemlich gleichartig ist) m\u00f6glichst alle Glycochols\u00e4ure lind behandelt den schwefelhaltigen R\u00fcckstand mit KO oder S\u00e4uren, so zerf\u00e4llt er in Taurin (C4 H? N 06 S2), Giycocoll und Chols\u00e4ure ; dieser R\u00fcckstand besteht demnach aus Chols\u00e4ure, welche zum Theil mit einem dem Giycocoll, zum andern Theil mit einem dem Taurin \u00e4hnlichen Atomcomplex gepaart ist. Macht man nun die der Analogie mit der Glycochols\u00e4ure wegen wahrscheinliche Voraussetzung, dass in der Taurochols\u00e4ure ebenfalls Taurin weniger 2 Atom Wasser als Paarling der Chols\u00e4ure auftrete, bestimmt man dann den S-Gehalt des Gemenges, so kann man aus demselben den Gewichtsan-theil der hypothetischen Taurochols\u00e4ure berechnen, und hieraus den Wasserstoffgehalt des Gemenges; dieser hypothetische Wasserstoffgehalt kann dann durch eine direkte Bestimmung controllirt werden, eine Bestimmung, welche in der That die Schlusskette best\u00e4tigt hat.\nHier verdienen nun die secund\u00e4ren Umsetzungsprpdukte der Gallens\u00e4uren, n\u00e4mlich das Taurin, Glycin und die Chols\u00e4ure, noch eine kurze Betrachtung, weil dieselben \u2014 im Darmkanal \u2014 als Folge der Gallenumsetzung erscheinen und weil die Aufhellung der chemischen Constitution der Chols\u00e4ure nothwendige Bedingung f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss der Gallenbildung zu sein scheint.\na) Taurin, C4 H7 N 06 S2, zerf\u00e4llt durch G\u00e4hrung (in Gegenwart von Gallenschleim und doppelkohlensaurem Natron)*) und durch schmelzendes KO in Ammoniak, Essigs\u00e4ure und schwefelige S\u00e4ure. \u2014 Redtenbacher glaubt darum, das Taurin als ein schwefligsaures Aldehyd-Ammoniak ansehen zu d\u00fcrfen. Dieser K\u00f6rper hat\n*3 B\u00fcchner, lieber einige neue G\u00e4hrungs- und Verwesungserscheinungen. Liebigs Annalen LXXVIII.\nLudwig, Physiologie I.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nHarns\u00e4ure.\naber ganz andere Eigenschaften als das Taurin, und es m\u00fcssen darum in diesem die Atome doch anders enthalten sein als in jenem.\nb)\tGlycocoll C4 H5 N 04. Es zerf\u00e4llt durch G\u00e4hrung in Ammoniak und andere nicht n\u00e4her untersuchte Bestandteile, und ausserdem je nachflUmst\u00e4nden in so mannigfaltige von einander abweichende Produkte, dass sie noch zu keiner haltbaren Hypothese der Atomlagerung gef\u00fchrt haben.\nc)\tChols\u00e4ure C48 Il39 09;H0. Der Einwirkung der F\u00e4ulniss oder kochenden Minerals\u00e4uren ausgesetzt, verwandelt sie sich unter Abgabe von HO in harzartige Stoffe, als deren schliesslicher Dyslysin (C4g H36 06) angesehen wird. Die zwischen Chols\u00e4ure und Dyslysin in der Mitte liegenden Produkte sind noch nicht ermittelt. Demarcay und Strecker halten sie f\u00fcr Choloidin-,Beraelius und Mulder f\u00fcr Cholin- und Fellins\u00e4ure. \u2014 Diese harzartigen K\u00f6rper und namentlich die sogenannte Choloidins\u00e4ure gibt mit N05 gekocht nach Redtenbacher fl\u00fcchtige Fetts\u00e4uren On H(2n\u20140 0\u00ab; HO und eine gr\u00f6ssere Zahl anderer complizirter Produkte. Lehmann gibt an, auch die S\u00e4uren der Bernsteins\u00e4uregruppe mit Ausnahme der Sebacyls\u00e4ure\ndurch Destillation der Chols\u00e4ure erhalten zu haben. \u2014 Die aus diesen Thatsachen\n/~\\\ngeschehene Folgerung, dass die gegliederte Formel der Chols\u00e4ure (C12 H6 06) (C36 H33 03 ; HO sei, d. h. eine mit einem sogen. Kohlenhydrat gepaarte Oels\u00e4ure, ist so gewagt, dass sie durch die Angabe: Lebervenenblut enthalte weniger \u00f6lige Fette als das Pfortaderblut u. dergl. noch nicht einmal den Schein der Wahrscheinlichkeit annimmt.\n34. Harns\u00e4ure. C5HN202;H0 theils frei, vorzugsweise als harnsaures Natron und Ammoniak im Harn, Blut (Schweiss?) und nach Scher er #) im Milzextrakt.\nIhre bisher bekannt gewordenen Zersetzungen f\u00fchren noch auf keine Vorstellung der Atomlagerung in ihr.\nF\u00fcr den Physiologen ist es bemerkenswert!\u00bb, dass sie durch gelinde Oxydationsmittel in Atomgruppen zerf\u00e4llt werden kann, welche f\u00fcr sich wieder Bestandtheile des thierischen Organismus sind. So verwandelt sie sich mit Wasser und Bleisuperoxyd gekocht in Allan-toin, Harnstoff, Klees\u00e4ure, Kohlens\u00e4ure (Liebig und W\u00fchl er) oder in Allantoin, Allanturs\u00e4ure, Klees\u00e4ure, Kohlens\u00e4ure und Spuren von Harnstoff (Pelonze). \u2014 Aehnliches bewirkt \u00fcbermangansaures Kali (Gregory). \u2014 Durch chlorsaures Kali und Salzs\u00e4ure zerf\u00e4llt sie in Alloxan und Harnstoff (Schlieper). \u2014 Durch Kaliumeisencyanid und Kali in Allantoin und Kohlens\u00e4ure (Schlieper).\nIhre Neigung zur Crystallisation macht es ihr unm\u00f6glich Antheil an Gewebsbildungen zu nehmen; verm\u00f6ge der Schwerl\u00f6slichkeit der freien S\u00e4ure sowohl, als der sauren Salze (welche vorzugsweise Vorkommen), wird ihre Anh\u00e4ufung im thierischen K\u00f6rper gef\u00e4hrlich. \u2014 Man darf vermuthen, dass sie innerhalb des Blutes einen Umsetzungsprozess erleidet, zu dessen Produkten Harnstoff und Klees\u00e4ure zu z\u00e4hlen sind; nach dem Genuss von Harns\u00e4ure vermehrt sich nemlich der Gehalt des Urins an Harnstoff und Klees\u00e4ure.\n*) Liebig\u2019s Annalen ?3. p. 330.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Hypoxanthin, Harnstoff*.\n35\nDa Harns\u00e4ure kein Nahrungsbestandtheil ist, so muss sie im Thierleib gebildet werden. Wie ist unbekannt.\nAnhangsweise ist hier zu erw\u00e4hnen:\n35.\tHarnige s\u00e4ure C5 H2 N2 02. Zuweilen in Harnsteinen gefunden. Da man ihr Atomgewicht nicht aus Verbindungen bestimmt und ihre Zersetzungsprodukte nicht untersucht hat, so muss die Hypothese, welcher sie den Namen verdankt, noch als sehr unsicher betrachtet werden.\n36.\tHypoxanthin* **)) C5H2N20 (Scherer). In dem Herzmuskel und im Milzextract. Sein gleichzeitiges Vorkommen mit Harns\u00e4ure im Milzextrakt erscheint bei der Aehnlichkeit der Zusammensetzung beider sehr bedeutungsvoll.\n3T. Allantoin C4 Hs N, 03. Schlieper. In der Amnios- und Allantoisfl\u00fcs-sigkeit. Im Harn s\u00e4ugender Wiederk\u00e4uer. Ueber Bildung und rationelle Constitution fehlt eine Vorstellung.\n38.\tIno sin s\u00e4ure. C10 H6 N2 O10 ; HO (Liebig). In der Fl\u00fcssigkeit der Muskeln. Ueber Zersetzung, Bildung, Atomlagerung u. s. w. derselben ist nichts bekannt.\n39.\tCerebrins\u00e4ure. In 100 Theilen C66,7 H10,6 N2,3 Ph0,9 019,5 (Fremy). Die Prozentzahlen f\u00fchren zu keiner Formel. Sie ist ein Be-standtheil des Hirns.\n40.\tKreatin. C8H9N304 -j- 2 Aq. In der Fl\u00fcssigkeit angestrengter Muskeln und im Harn (Liebig).\nDurch Kochen in starken S\u00e4uren und durch F\u00e4ulniss in Kreatinin verwandelt. Mit Barytwasser gekocht in Sarcosin (C6H7N04) und Harnstoff umgesetzt.\nIst durch seine neutrale Eigenschaft ein unsch\u00e4dliches Umsez-zungsprodukt der Muskelsubstanz.\n41.\tKreatinin C8H7N302. In den Muskeln und dem Harn (Liebig). Aus seiner Chlorzinkverbindung abgeschieden, verwandelt es sich in Kreatin (Heintz). Ist ein Zersetzungsprodukt der Muskeln.\n42.\tHarnst off C2H4N202. Im Harn, Blut, humor aqueus bulbi.\nSeine Salzverbindungen und Umsetzungen f\u00fchren auf die An-\nn\u00e4hme, dass er eine gepaarte Ammoniakverbindung sei (C2HN02) NH3.\nDenn bei seiner Verbindung mit Sauerstoffs\u00e4uren nimmt er noch 1 Aeq. WTasser auf. Nach Wurtz*) gedingt es, Harnstoffe darzustellen, in welchen 1 oder 2 Atom Wasserstoff durch Aethyl, Amyl, Methyl etc. vertreten sind, wie dies auch beim Ammoniak geschieht. Ferner durch F\u00e4ulniss, verd\u00fcnnte S\u00e4uren und Alkalien geht er unter Wasseraufnahme in Kohlens\u00e4ure und Ammoniak \u00fcber.\nWegen seiner Leichtl\u00f6slichkeit eignet er sich nicht zum Gewebs-best\u00e4ndtheil. Er stellt das Produkt dar, durch welches vorzugsweise die Stickstoff haltigen Bestandtheile der Nahrungsmittel aus dem Thierk\u00f6rper wieder ausgeschieden werden. Unter diesem Gesichtspunkt erh\u00e4lt seine\nchemische Indifferenz gegen die wesentlichen Bestandtheile des Thier-\n\u2022*>\n*) Scherer, Liebigs Annalen 73. p. 328.\n**) Compt. rend. Tom. XXXIf. 414.\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nLienin, Farbstoffe.\nk\u00f6rpers und seine Zerfliessliehkeit eine besondere Bedeutung, indem diese Eigenschaft seine Anh\u00e4ufung in den Organen in gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen unm\u00f6glich, und, sollte sie auch einmal eintrelen, unsch\u00e4dlich macht. \u2014 Durch seine Eigenschaft, bei Gegenwart von Wasser und Fermenten in kohlensaures Ammoniak umgewandelt zu werden, bedingt er h\u00e4ufig einen Ammoniakgehalt des Urins.\nDer Harnstoff ist kein Nahrungsmittel ; er bildet sich nachweislich zu jeder Zeit in dem Thierk\u00f6rper und zwar besonders reichlich 1) nach Muskelanstrengungen, selbst wenn lange Zeit vorher keine Nahrungsmittel aufgenommen wurden; \u2014 2) nach Genuss von Fleischspeisen, Glycoeoll, Alloxantin, Thein, Harns\u00e4ure, auch ohne besondere Muskelanstrengungen.\n43.\tCystin C6 H6 N 04 S2. Im Harn. Seine physiologisch wichtigen Eigenschaften sind unbekannt.\n44.\tLienin. ln der Milz; dasselbe enth\u00e4lt in 100 Theilen C53,71\n^95^82 032.52 (Scherer*). Ausserdem ist von diesem Stoffe nichts bekannt.\n45.\tFarbstoffe. Keiner der thierischen Farbstoffe hat eine der Schwierigkeit des Gegenstandes entsprechende Untersuchung gefunden.\nA.\tHaematin. Man unterscheidet zwei Modifikationen, amorphes undcrystal-linisches. Das amorphe selbst ist entweder in Wasser l\u00f6sliches (nat\u00fcrliches) oder unl\u00f6sliches (Gmelin\u2019sches) H\u00e4matin. In wie weit beide identisch sind, l\u00e4sst sich nicht angeben, da das nat\u00fcrliche \u2014 wie es im Blute vorkommt \u2014 nicht rein dargestellt werden kann. Das amorphe unl\u00f6sliche H\u00e4matin, das man aus den Blutk\u00f6rperchen gewinnt, soll nach Mulder aus C44 H22 N3 06 Fe zusammengesetzt sein; er gr\u00fcndet seine Annahme auf die Zahlen der prozentischen Zusammensetzung und auf die sonderbare Zersetzungserscheinung, dass Schwefels\u00e4ure dem H\u00e4matin unter Wasserzersetzung das Eisen entzieht ohne dem \u00fcbrigen Atomcomplex auch nur die geringste Ver\u00e4nderung zuzuf\u00fcgen. 9\nDas crystallinische H\u00e4matin h\u00e4lt man entweder f\u00fcr Crystalle irgend welches Stoffes, die durch einen rothen amorphen Farbestoff verunreinigt sind, oder f\u00fcr wirkliche Farbstoffcrystalle; die Entscheidung w\u00fcrde nur durch die Analyse gegeben werden k\u00f6nnen. Leider ist sie, wegen der geringen Menge crystallinischer Substanz, welche man erhalten kann, nicht ausf\u00fchrbar; nach den Versuchen vonVircho w**) ist es aber wenigstens nicht mehr unwahrscheinlich, dass sie aus Farbstoffcrystallen besteht. Alle anderen Kenntnisse fehlen.\nB.\tPigmentum nigrum. Melanin. Erscheint ebenfalls amorph und cry-'stallinisch. Die verschiedenen Analysen, die \u00fcber diesen Stoff vorliegen, machen es wahrscheinlich, dass das, was Avir schwarzen Farbstoff nennen, ein Gemenge sehr verschiedener Substanzen ist. Die Analysen stimmen in keiner WTeise. (Siehe die Litteratur bei Virchow, patholog. Pigmente. Dessen Archiv p. 434 u. f.) lieber seine physiologische Bedeutung siehe bei der Spiegelung im Auge.\nC.\tGallenfarbstoff und zwar: a) Biliverdin nach Scherer in 100 Theilen C6\u00ee/4 H\u00ee;\u00ee Ne/\u00ce 018/2. Ausserdem b) Billfulvin***), c) Cholepyrrhinetc\nVerhandlungen der physikal.-medizinischen Gesellschaft in W\u00fcrzburg II. Bd. 298.\n**) Ueber pathologische Pigmente in Virchow\u2019s Archiv. 1. Bd.\nVirchow, L iebigs Annalen 78. Bd.","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Eiweissartige Stoffe.\n37\nD, Harnfarbstoff. Nach Scherer*) ein Gemenge verschiedener Stoffe.\n46. Ei weissartige Stoffe. Unter den Bestandteilen des menschlichen K\u00f6rpers finden sich aus dieser grossen Gruppe:\nA.\tEiweiss, Albumin.In 100Theiienenth\u00e4lt esC53,4 HT5l N15,6 022,3 Si^Ph\u00ab 3- \u2014 Die Gegenwart des Phosphors ist bestritten**). Mit ihm kommt meist phosphorsaurer Kalk zu 1,8 \u20142,51 pCt. verbunden vor. Man kennt drei isomere (?) Modificationen desselben. 1) Gerinnbares Eiweiss. Bestandteil der S\u00e4fte aller Organe, des Bluts, des Chylus, der Lymphe. Pankreasfl\u00fcssigkeit, des Samens und der Milch (?). \u2014 In allen andern Fl\u00fcssigkeiten h\u00e4ufig pathologisch. 2) Paralbumen (Scherer***) in der Fl\u00fcssigkeit hydropischer Ovarien. 3) Geronnenes Eiweiss; ist nur als Nahrungsmittel von Bedeutung; in unsern Organen und S\u00e4ften noch nicht beobachtet.\nB.\tFaserstoff. In 100 Theiien C52,6 H6,9 N15,5 023,6 \u00a71*04 Ph0.3, Enth\u00e4lt 0,7 \u2014 2,5 pCt. Asche aus phosphorsaurem und kohlensaurem Kalk. \u2014 Man unterscheidet an isomeren Modificationen: 1) fl\u00fcssigen Faserstoff; Bestandteil des lebenden Blutes und der Muskeln (?) ; 2) geronnenen Faserstoff und zwar a) rasch geronnenen, dieser selbst ist wieder verschieden in seinen Eigenschaften, je nachdem er aus den Venen, oder den Arterien genommen, oder der aus beiden im Gemenge genommene gekocht war; b) langsam gerinnenden, oder molekular gerinnenden Faserstoff.\nUeber die Formen, welche der geronnene Faserstoffannimmt, sind die Meinungen getheilt. l)Das z u s ammenh An gen dg e rinnende Fibrinf). Um die Entwicklung der bei dem Festwerden auftretenden Formen zu beobachten, l\u00e4sst man am besten nach E. H Weber einen mit einem Glaspl\u00e4ttchen bedeckten Blutstropfen an einem vor Ersch\u00fctterung und Verdunstung gesicherten Ort gerinnen Nach E. H. Weber sollen nun hier sogleich feine Fasern auftreten, welche ein Netz bilden ; nach Virchow dagegen gerinnt das Fibrin zuerst zu einer homogenen Membran, in der erst durch Faltung das Faseransehen entsteht. Nach He nie endlich heben sich aus dem urspr\u00fcnglich homogenen Gerinnsel Fasern hervor, welche einander in allen Richtungen durchkreuzen; sie mehren sich alim\u00e4lig so sehr, dass sie die homogene Grundsubstanz an Menge \u00fcberbieten und charakterisiren sich dann auf verschiedene Weise; die einen sind sehr fein, dehnbar, \u00e4stig und netzf\u00f6rmig verflochten; die andern breit, platt, am Ende in kurze steife St\u00fccke zersplittert, zuweilen fein wellenf\u00f6rmig, zuweilen der Lange nach gestreift. Die physikalischen Bedingungen der zusammenh\u00e4ngenden Gerinnung sind auch die des raschen Gerinnens, n\u00e4mlich Luftzutritt zu dem fl\u00fcssigen Faserstoff, Armuth der Faserstoffl\u00f6sung an neutralen und alkalischen Natron und Kalisalzen, Gegenwart eines schon geronnenen Faserstoffst\u00fcckes. \u2014 2) Molekular gerinnendes. Man unterscheidet hier a) die Faserstof fs cho lien von H. Nasse. NachD\u00f6derleiny-j-) enthalten diese Gebilde keinen\n*) Liebigs Annalen 57. Bd.\n**) Lieberk\u00fchn Poggend. Ann all. 86. Bd. 110.\n***) Sehe er er, pharmaz. Centralblatt 1852. p. 216.\nf) He nie, rationelle Pathologie II. Bd. p. 150. ff) Henle 1. c.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nEiweissartige Stoffe*\nFaserstoff, da sie nicht faulen. Heber die Bedingung ihres Entstehens fehlen noch weitere Nachrichten, wenn man der freilich unwahrscheinlichen Angabe von Bruch*) nicht huldigen will, dass sie nichts anderes als Epitheliumsschupp en darstellen, durch welche der unvorsichtige Beobachter das beobachtete Blut verunreinigt. b) Aber auch unzweifelhafter Faserstoff gerinnt oft in feinen K\u00f6rnchen. Die Bedingung dieser Erscheinung ist nicht allseitig bekannt; man weiss nur, dass Zuk-ker, kohlensaures Natron, Salpeterl\u00f6sung, welche die Geschwindigkeit der Gerinnung verlangsamen, auch die Bildung molekiil\u00e4rer Gerinnungsformen beg\u00fcnstigen.\nOb der geronnene Faserstoff ein Bestandteil des normalen Organismus bildet, ist nicht bekannt; in pathologischen Zust\u00e4nden findet er sich nachvveisslich zwar h\u00e4ufig, wahrscheinlich \u00e4ber nur vor\u00fcbergehend vor.\n\u20ac. Proteinbioxyd. In 100 Theilen = C53,5 HT,2N14,5 0 u. S24,7. Mit 4 bis 9 pCt. Asche. Man unterscheidet eine in Wasser l\u00f6sliche und eine in Wasser unl\u00f6sliche Modifikation. Das l\u00f6sliche Proteinbioxyd ist ein Bestandteil der Blutextractivstoffe.\nD.\tPr o t ein tri t oxyd. In 100 Theilen = C5in H6,6 N15j0 0(und S ?)26,6 nach Mulder im Blut, Eiter und pathologischen Exudatfl\u00fcssigkeiten. Kann auch durch Kochen aus dem Faserstoff dargestellt werden. Die Angabe von Mulder, dass durch Einleiten von Chlor in Eiweiss und nachfolgende Neutralisation mit Ammoniak ebenfalls Proteintritoxyd erzeugt werden k\u00f6nne, scheint durch Mill on widerlegt zu sein.\nE.\tGlobulin und Crystallin. In 100 Theilen = C54,5 II6.9 N16.5 O20*9 Sl52. Soll den Inhalt (?) der Blutk\u00f6rperchen und der Linsenfasern darstellen. Man kennt wiederum eine l\u00f6sliche und eine unl\u00f6sliche Modifikation.\nF.\tCasein. In 100 Theilen = C53,8 H75l N15,6 022,6 Sll0. Enth\u00e4lt 4 \u2014 6 pCt. 3 CaO, Ph05. In der Milch, in der Fl\u00fcssigkeit der glatten Muskelfasern an den Venen- und Arterienh\u00e4uten, im Blut.\nG.\tPyin. In 100 Theilen \u2014 C54,8 ^752^15\u20193 ^22\u20195* ^tich Scherer im Eiter.\nDie Zusammensetzung s\u00e4mmtlicher Eiweissstoffe l\u00e4sst sich, wie Liebig wiederholt geltend gemacht hat, vorerst nur durch die Prozentzahlen nicht aber durch das Atomgewicht ausdr\u00fccken und zwar darum nicht, weil 1) kein Anhaltspunkt f\u00fcr die Berechnung des Atomgewichts aus den Prozentzahlen vorliegt; w\u00e4hlt man bei der Berechnung die einfachste Voraussetzung, die n\u00e4mlich, dass sich der (Phosphor und) Schwefel mit s\u00e4mmtlichen Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen in Verbindung findet, so f\u00fchrt eine Abweichung in den Hunderttheilen der Prozente des Schwefels schon zu Aenderungen von mehreren ganzen Zahlen in den Wasserstoffatomen ; es kann also unm\u00f6glich auf dieses Rechnungsresultat Werth gelegt werden, da die Fehlergrenzen bei der Schwefelbestimmung schon in den Zehntheilen eines Prozents liegen. \u2014 2) Bildet ein eiweissartiger Stoff keine atomistische Verbindung, welche rein darzustellen w\u00e4re. Stellte aber in der That, wie Mulder behaup-\n*) Bruch in Henle\u2019s Zeitschrift 9. Bd.","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Eiweissartige Stoffe.\n89\nlet, die Proteinschvvefels\u00e4ure einen solchen K\u00f6rper dar, so wurde den-noch die aus ihm abgeleitete Formel jetzt unbrauchbar sein, seitdem man erfahren, dass das Protein selbst noch S enth\u00e4lt, welches Mulder als der Schwefels\u00e4ure angeh\u00f6rig betrachtet hat.\nNoch weniger geeignet zur Berechnung des Aequivalentgewichtes erscheint die von Mulder beschriebene Verbindung des Proteins mit CI 03; es entstehen hier bei l\u00e4ngerer Einleitung komplizirte Zersetzungen, und bei k\u00fcrzer dauernder fehlt vde es scheint, ein Mittel, um den Zeitpunkt zu bestimmen, wann 1 oder 2 Atom CI 03 mit Protein verbunden sind.\nDie Gr\u00fcnde, die uns bestimmen, so vielerlei e\u00e4weissartige K\u00f6rper anzunehmen, d\u00fcrften nicht \u00fcberall stichhaltig sein. Denn 1) bietet eine Abweichung in der prozentischen Zusammensetzung so lange keine besondere B\u00fcrgschaft f\u00fcr eine Verschiedenheit, als uns jedes Mittel fehlt, die Reinheit der analysirfen Stoffe zu erweisen. Zudem fallen die Abweichungen zweier Analysen sogenannter verschiedener Stoffe nicht gr\u00f6sser aus als die zweier Analysen desselben Stoffes *). 2) Sind die Abweichungen in den Eigenschaften h\u00e4ufig unbestimmt o-enu\u00ab\\ und oft ist nicht zu ermitteln, ob eine Reactionserscheinung von einer spezifischen Atomgruppe oder der gleichzeitigen Gegenwart oder Abwesenheit anderer nur beigemengter Stoffe herr\u00fchrt. Derselbe Einwurf d\u00fcrfte auf die von Schmidt**) zur Nach Weisung der Identit\u00e4t benutzte Bestimmung des spezifischen Gewichtes anwendbar sein. Demgem\u00e4ss kann nun auch die Atomlagerung nicht angegeben werden, und noch weniger, in welchen Beziehungen die,Atomlagerung in dem einen Eiweissk\u00f6rper zu der in einem anderen steht.\nZersetzungserscheinungen von Casein, Fibrin und Albumin. Durch Behandlung mit einer Kalisolution bei einer Temperatur von 50\u201460\u00b0 C. entwickelt sich Ammoniak und in L\u00f6sung bleibt Schwefelkalium und ein K\u00f6rper, der noch die wesentlichen Eigenschaften der eiweissartigen Stoffe zeigt (Protein von Mulder in l00Theilen = <\"55,0 H7,0 Nim 023,0 Sr,3). Hierauf st\u00fctzt Mulder die Annahme, dass Eiweiss eine Verbindung von Protein mit Sulfamid sei, eine Annahme, die durch nichts gerechtfertigt ist. Die Beobachtung ist aber insofern wichtig, als sie zeigt, dass die eiweissartigen Substanzen den Schwefel in zwei Formen gebunden enthalten, von denen die eine Portion durch gew\u00f6hnliche Reagentien abscheidbar ist. w\u00e4hrend die zweite in verdeckter Form mit den \u00fcbrigen Bestandtheilen verbunden bleibt; und insofern, als aus ihr hervorgeht, \u00bbdass ohne wesentliche Ver\u00e4nderung der Eigenschaften ein S und N haltiger K\u00f6rper aus den eiweissartigen Substanzen entfernt werden kann.\nBeim Eintr\u00e4gen der eiweissartigen Stoffe in Kali, das in seinem Krystall wasser schmilzt, bildet sich unter Entwicklung von Ammoniak und Wasserstoff Leucin \u2014 Cl2 H13 N04, Tyrosin***) \u2014 C16 H9 N05 (Lieb ig) und ausserdem eine geringe Menge eines schmierigen Syrups, der verbrannt nach verkohlenden eiweissartigen Stoffen riecht. \u2014\n*) Dieses f\u00e4llt besonders auf, wenn man die Zahlen der genauen Analytiker Cahours, Mul der, Scher er, Liebig, Dumas u. s. w. vergleicht.\nLiebigs Annalen 61. Bd. 156.\n**+) De la Rue gibt das Tyrosin nach der Formel C18HU N06 zusammengesetzt an.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"Eiweissartige Stoffe*\nDurch coucentrirte Salzs\u00e4ure oder verd\u00fcnnte Schwefels\u00e4ure zerfallen die eiweissartigen K\u00f6rper beim Kochen in Leucin, Tyrosin, einen dritten kristallinischen (der wegen geringer Menge noch nicht aualysirt ist), und einen braunen flok-kigen K\u00f6rper (Humus von Mulder) und einen s\u00fcssen (aber nicht g\u00e4hrungsf\u00e4higen) schwefelhaltigen, wahrscheinlich sickstofffreien Syrup. \u2014\nDurch Einleiten von CI in Fibrin oder Eiweissl\u00f6sung erh\u00e4lt man zuerst eine Verbindung der unver\u00e4nderten Stoffe mit chloriger S\u00e4ure; l\u00e4sst man anhaltend das Chlor bei gew\u00f6hnlicher Temperatur mehrere Tage lang einwirken, so erh\u00e4lt man Salmiak und in Verbindung mit chloriger S\u00e4ure einen K\u00f6rper, aus dem KO keinen Schwefel mehr ausscheidet (Protein?) Uebergiesst man diese letzte Verbindung mit Ammoniak, so erh\u00e4lt man unter N Entwicklung und Salmial^biidung einen Stoff den Mulder Trioxyprotein nennt; nach Millon zeigt er die f\u00fcr eiweissartige Stoffe charakteristische rothe Reaktion auf eine L\u00f6sung von Hg in Salpeters\u00e4ure nicht mehr. \u2014 Eiweiss und Faserstoff mit Salpeters\u00e4ure digerirt verwandelt sich unter Bildung von Stickgas, Stickoxydgas, salpetersaurem Ammoniak, Zuckers\u00e4ure, und Oxals\u00e4ure in die Muldersche Xanthoproteins\u00e4ure *).\nDurch Einwirkung von Braunstein oder chromsaurem Kali und Schwefels\u00e4ure auf Casein und Eiweiss, bilden sich die Aldehyde der Essigs\u00e4ure, der Propions\u00e4ure, der Butters\u00e4ure, Bittermandel\u00f6l, ferner Ameisen-, Essig-, Propion-, Butter-, Baldrian-, Capron- und Benzoes\u00e4ure, Ammoniak und in Gegenwart \u00fcbersch\u00fcssiger Schwefels\u00e4ure Formo- (Blaus\u00e4ure) und Valeronitril und ein schweres Oel \u2014 Von diesen Zersetzungsprodukten lieferten Casein und Albumin weniger Aldehyd der Essigs\u00e4ure, und weniger Essigs\u00e4ure und Ameisens\u00e4ure als Fibrin; Albumin weniger Aldehyd der Butters\u00e4ure, weniger Butters\u00e4ure und Valerians\u00e4ure als Casein und Fibrin; und Fibrin wreniger Bittermandel\u00f6l als Casein und Albumin. Diese Zersetzungsprodukte werden wohl s\u00e4mmtlich secund\u00e4re sein, wie wir vermuthen, weil Leucin mit Schwefels\u00e4ure destillirt in Valeronitril aus Kohlens\u00e4ure zerf\u00e4llt.\nDie Eiweissstoffe erleiden noch eine besondere Umsetzung durch F\u00e4ulniss. Dieser Akt der sogenannten Selbstzersetzung (der keineswegs den thieriscken Stoffen allein eigenth\u00fcmlich ist,) tritt weder bei allen Modifikationen der eiweissartigen K\u00f6rper in gleicher Weise noch unter allen Bedingungen auf. \u2014 Am leichtesten scheint er in den ehveissartigen K\u00f6rpern zu erscheinen, welche unmittelbar aus dem lebenden Thiere genommen sind; zu seinem Bestehen ist die Gegenwart von Wasser und eine Temperatur von 0\u00b0 bis -j-40\u00b0 C. nothwendig. Ob er ohne Gegenwart von Luft eingeleitet werden kann, ist Gegenstand des Streites, ** ***)) einmal eingeleitet, schreitet er auch nach Luftabschluss weiter fort. \u2014 Anwesenheit von concentrirter Salzl\u00f6sung, verd\u00fcnnte L\u00f6sungen von Metallsalzen, Schwefel-, Salz-, Salpeters\u00e4ure, viele organischen S\u00e4uren z. B. Phenyls\u00e4ure (Kreosot), Blaus\u00e4ure (?) concentrirte Zucker- und Alkoholl\u00f6sungen etc., verhindern den Eintritt und hemmen das Weiterschreiten der Zersetzung. \u2014 F\u00fcr sich bei Luftzutritt der Zersetzung \u00fcberlassen zerfallen Faserstoff, Eiweiss und reiner K\u00e4se 1.) in eine intensiv riechende krystallinische Substanz, 2.) in ein saures Oel, 3.) in Leucin, 4) in einem syrupartigen Stoff, der durch CIH und S03 in Tyrosin und den braunen Stoff zerf\u00e4llt, welcher auch bei direkter Behandlung der Eiwciss-stoffe mit S\u00e4uren entsteht, 5.) Kohlens\u00e4ure, 6.) Schwefelwasserstoff. Diese Produkte werden bei weiterschreitender Zersetzung noch zerlegt; so zerf\u00e4llt unter andern Leucin in Ammoniak- und Baldrians\u00e4ure und diese wieder in Butters\u00e4ure u. s. w. \u2014 Die Umsetzungsprodukte der F\u00e4ulniss sollen nach Blondeau vollkommen andere werden, wenn die F\u00e4ulniss \u2014 wie im Rocheforter K\u00e4se \u2014 bei Gegenwart von Pe^ ni eil! um glaucum vor sich geht; es soll sich hier der K\u00e4se in Fett umwandeln*\u2019*) (?)\n*) Eigenth\u00fcmliche Theorien \u00fcber diese S\u00e4ure siehe bei van 5. Deel.\nd. Pant in scheikondfge Onderz.\n**) Helmholtz in M\u00fcll er\u2019s Archiv 1843. \u2014 Struve u. D\u00f6pping. Petersburger akademische B\u00fclletins VI. 145.\n***) Blondeau Journ. de pharmac. XII.","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Eiweissartige Stoffe.\n41\nDie Versuche von Liebig und Bopp \u00fcber die Zersetzungen unter dem Einfluss von S\u00e4uren, schmelzendem Kali und F\u00e4ulniss, und diejenigen von Guckelberger \u00fcber den Einfluss oxydirender Substanzen machen es wahrscheinlich, dass in den Eiweissstoffen Atomgruppen enthalten seien, die indie Classe der S\u00e4uren C2\u201e Ufa\u00ab-! ) 03 : HO und in die Leuciugruppe geh\u00f6ren. Die durch diese Arbeit um ein gutes Theil gef\u00f6rderte Aufgabe eine scharfe Vorstellung von den atomistischen Verh\u00e4ltnissen der Eiweissstoffe zu erlangen, wird aber wie begreiflich erst gel\u00f6sst sein, wenn man dasAequivalentgewicht derEiweisse, alle prim\u00e4ren Zersetzungsprodukte, das gegenseitige Mengenverh\u00e4ltniss und die Lagerung der Atome dieser letzteren selbst kennt.\nDie Eiweissstoffe, welche man vorzugsweise die Tr\u00e4ger des Lebens- nennt, rechtfertigen diesen Namen. Denn\n1. In ihrer Zusammensetzung aus einer sehr grossen Zahl von f\u00fcnf oder sechs Atomarten (C, H, N, 0, S, Ph,) liegen die Mittel zum Entstehen sehr vielfacher Zersetzungsprozesse und Zersetzungsprodukte. - Die Prozesse, durch welche die Eiweissstoffe im thierischen Leben zersetzt werden, sind noch sehr wenig bekannt ; wir vermuthen, dass neben andern Wegen der Umwandlung auch derjenige der sogenannten Selbstzersetzung und derjenige, welcher durch Alkalien eingeleitet wird, in Anwendung gebracht ist. Diese Yermuthung gr\u00fcndet sich darauf, dass die Bedingungen zu diesen beiden Umsetzungsarten im thierischen K\u00f6rper gegeben sind; diese Bedingungen m\u00fcssen aber in manchen St\u00fccken von denen abweichen, unter welchen wir k\u00fcnstlich die sogenannte Selbstzersetzung sowohl als die Zersetzung durch Alkalien her-vorrufen. weil es (bis jetzt wenigstens) nicht gelingt, dieselben Umsetzungsprodukte (Leucin, Tyrosin etc.) im Thierk\u00f6rper zu finden, die man ausserhalb beobachtet. \u2014 Die Bestandteile des thierischen K\u00f6rpers. welche wir theils mit Sicherheit, theils mit Wahrscheinlichkeit als Zersetzungsprodukte der mit der Nahrung genossenen Eiweissstoffe ansehen, sind : Isomere Modifikationen der urspr\u00fcnglich aufgenom-meuen Eiweissstoffe, die Hornsubstanz, das elastische Gewebe, Mucin, Pepsin, Chondrigen Collagen, Tauro- und Glyco-Chols\u00e4ure, Lienin, Kreatin, Kreatinin , Harnstoff, Hypoxanthin, Harm'ge und Harns\u00e4ure, Hippurs\u00e4ure, C02, HO. Offenbar enth\u00e4lt aber diese Reihe nur einen Theil der in Wirklichkeit im lebenden S\u00e4ugethier vorkommenden. \u2014\u25a0 Diese Umsetzungen sind nun nicht allein dadurch von Wichtigkeit, dass die mannigfaltigen neugebildeten Stoffe durch ihre physikalischen und chemischen Eigenth\u00fcmlichkeiten in den Lebensprozess eingreifen, und dadurch, dass durch den Umsetzungsprozess latente Kr\u00e4fte in freie\n\u00fcbergef\u00fchrt werden, sondern vorz\u00fcglich auch durch den Umstand, dass die Zersetzungen der Eiweissstoffe sich auf aridere zersetzungsf\u00e4hige K\u00f6rper \u00fcbertragen, eine Uebertragung, die unter dem Namen Katalyse, G\u00e4hrung, Erregung ber\u00fchmt geworden ist. Diese Prozesse verlangen zu ihrem Bestehen eine bestimmte Temperatur, die Gegenwart des Wassers und unter Lmst\u00e4nden die des Sauerstoffs. Die Umsetzunsen, welche die Eiweisstoffe durch G\u00e4hiung im menscli-","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nEiweissartige Stoffe.\nlichen K\u00f6rper einleiten, sind so weit bekannt: die Umwandlung einer Modifikation eines Eiweissstofies in eine andere; die der St\u00e4rke in Dextrin und Traubenzucker; die des Traubenzuckers in Milchs\u00e4ure; die der milchsauren Salze in Kohlens\u00e4ure, Wasserstoffgas und Butters\u00e4ure (D\u00fcnn- und Dickdarm),; die der neutralen Fette in Glycerin und Fetts\u00e4uren; die der Gallens\u00e4ure in Taurin, Glycocoll, Chol- und Cho-loidins\u00e4ure; die des Harnstoffs in kohlensaures Ammoniak, und endlich die vieler organischer S\u00e4uren*) in Kohlens\u00e4ure und Wasser. Zur Einleitung eines jeden dieser mannigfaltigen Prozesse ist es Bedingung, dass ein ganz besonderer eiweissartiger Stoff, der noch dazu in ganz besonderer Zersetzung begriffen ist, vorhanden sei , wie C. Schmidt**) gezeigt hat. Denn das Ferment, welches Zucker zersetzte, konnte keine Harnstoffg\u00e4hrung veranlassen u. s. w. Das Ferment wird, wie es den Stoff, mit dem es in Ber\u00fchrung gebracht ist, um\u00e4ndert, so auch durch diesen in seinem Umsetzungsprozess modifi-zirt, wie daraus hervorgeht, dass stark in F\u00e4ulniss \u00fcbergegangene Massen, in Zuckerl\u00f6sung gebracht, ihren fauligen Geruch verlieren, wenn sie Alkoholg\u00e4hrung einleiten. Ausserdem geh\u00f6ren zur Unterhaltung der G\u00e4hrung noch Alkalien, vorausgesetzt, dass durch eine in dem Prozesse gebildete S\u00e4ure die G\u00e4hrung gest\u00f6rt wird. Da die obige Aufz\u00e4hlung zeigt, dass einzelne G\u00e4hrungen nur in Zerlegungen bestehen, andere aber mit Sauerstoffaufnahme verbunden sind, so ist einleuchtend, dass die letztem nicht ohne Gegenwart von Sauerstoff geschehen k\u00f6nnen, w\u00e4hrend die ersteren keines solchen Stoffes bed\u00fcrfen. \u2014 Die auffallende Erscheinung, dass durch die Zerf\u00e4llung einer Atomgruppe eine andere ver\u00e4ndert werden kann, ohne dass die Be-\nstandtheile beider Atomgruppen Verbindungen eingehen, und die noch\n*\u00a3\u2022\nmerkw\u00fcrdigere, dass durch eine beschr\u00e4nkte Masse des Fermentes eine so grosse Masse des g\u00e4hrenden K\u00f6rpers zersetzt werden kann, d\u00fcrfte bei der Verschiedenheit der Prozesse schwerlich auf einen Erkl\u00e4rungsgrund zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen.\nAusser den ira Text erw\u00e4hnten G\u00e4hrungen, werden mit einiger Wahrscheinlichkeit als gegenw\u00e4rtig noch vorausgesetzt: die Umwandlung des Glycerins in Propions\u00e4ure, der Oels\u00e4ure in die niederen Glieder der C n H (2n-i) 03; HOgruppe; des Traubenzuckers in Alkohol (wegen der Gegeirwart der G\u00e4hrungspilze im Darmkanal, Mitscherlich); des Taurins in Schwefels\u00e4ure, Ammoniak und Essigs\u00e4ure.\nUnter den Hypothesen, wrelche zur Erl\u00e4uterung der G\u00e4hrungserscheinungen ersonnen sind, schliessensich die von Bunsen und Sch\u00f6nbein gegebenen, denThat-sachen am besten an, und widersprechen nicht den mechanischen Prinzipien. Die erstere von beiden erl\u00e4utert vorzugsweise die einfachen Umsetzungen, die andere aber die mit der Umsetzung verbundene Oxydation. Bunsen schliesst folgender-massen :\n*) B\u00fcchner, Ueber einige^neue G\u00e4hrungs- und Verwesungserscheinungen. Liebigs Annalen 78. Bd.\nCharakteristik der epid. Cholera. 58 u. f.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Eiweissartige Stoffe*\n43\nDie in einer Verbindung befindlichen Atome haben erfahrungsgem\u00e4ss sehr selten oder vielleicht niemals ihre Verwandtschaften so ges\u00e4ttigt, dass sie auf einen anderen mit ihr in Ber\u00fchrung gebrachten chemisch verschiedenen Atomcomplex gar keine Anziehung mehr \u00fcbten. Diese Gegenwirkung kann zu einer wirklichen Vereinigung einzelner oder aller constituirenden Theile beider Verbindungen oder nur zu\neiner Spannung der Atome innerhalb derselben f\u00fchren. Diese Spannung kann aber in einer oder beiden Atomgruppen eine St\u00f6rung ihres Gleichgewichts, oder auch ein Zerfallen derselben bewerkstelligen. Zerf\u00e4llt nun eine der beiden vorhandenen Verbindungen vorzugsweise leicht, und sind ihre Spaltungsprodukte von der Art, dass sie nicht selbst wieder eine besondere Spannung in den vorhandenen unzerselzten Atomgruppen hervorrufen, so wird die erstere (die fermentirende) Atomgruppe wieder frei, und es kann demnach derselbe Stoff mit einer neuen Menge der anderen Verbindung den Prozess von Neuem beginnen u. s. f \u2014 Diese Hypothese erkl\u00e4rt zugleich warum eine gewisse Zeit zur Bewerkstelligung der Zersetzung gr\u00f6sserer Massen geh\u00f6rt, und warum f\u00fcr besondere G\u00e4hrungsprozesse besondere Fermente nothwendig sind. \u2014 Nach S ch\u00f6nbein wirkt zu den verbrennenden G\u00e4hrungen (Verwesungen) vorzugsweise der erregte Sauerstoff mit, der sich, wie schon fr\u00fcher einmal erw\u00e4hnt, durch seine energischen Verwandtschaften vor dem gew\u00f6hnlichen auszeichnet Der gew\u00f6hnliche Sauerstoff wandelt sich in den erregten um, wenn er vom Sonnenlicht bestrahlt wird 5 ferner wenn er sich in der N\u00e4he lebhafter Oxydationsprozesse (Verbrennung des Phosphors etc.) findet und endlich, was f\u00fcr uns besonders wichtig, wenn er in einer gr\u00f6sseren Reihe organischer K\u00f6rper diffundirt ist, wie z. B. Terpentin\u00f6l, Oels\u00e4ure u. s. w. Dieser in den organischen Stoffen nur aufgel\u00f6ste (aber chemisch nicht gebundene)Sauerstoff, kann auf andere oxydable K\u00f6rper \u00fcbertragen w erden und dort Verbrennung einleiten, w\u00e4hrend zugleich der erregende Stoff von Neuem gew \u00f6hnliches Sauerstoffgas absorbirt und in den erregten Zustand versetzt. Auf diese Weise k\u00f6nnen auch hier durch kleine Mengen von Fermenten, ungeheure\nQuantit\u00e4ten anderer Stoffe umgew^andelt werden.\nDie sehr ber\u00fchmte Liebig\u2019sche Hypothese steht, wue ich sie auffasse, so sehr in Widerspruch mit den Elementen der Mechanik, dass ich ein Missverst\u00e4ndnis derselben von meiner Seite f\u00fcrchte; ich muss desshalb den Leser auf den Artikel G\u00e4h-rung des chemischen Handw\u00f6rterbuchs verweisen.\nEine besonders complizirte aber sehr wuchtige, die G\u00e4hrung betreffende That-sache, ist von C. S chmidt *) entdeckt worden, welcher beobachtete, dass in einem g\u00e4hrenden Gemenge von Harnstoff und Zuckerl\u00f6sung, der erstere so lange vor Zersetzung gesch\u00fctzt blieb, als noch nicht aller Zucker umgewandelt wrar.\nDie Temperatur, welche f\u00fcr die Erhaltung des organischen Lebens die geeignete ist, ist zugleich die Temperatur, welche der katalytische Umsetzungsprozess zu seiner Unterhaltung bedarf; die Stoffe, welche den Lebensprozessen ein Ziel setzen, die Gifte, sind es auch, welche die G\u00e4hrungen unterdr\u00fccken. Beide Thatsachen machen es wahr* scheinlich, dass die Katalyse im Organismus noch viel ausgebreiteter th\u00e4tig ist, als wir glauben; es d\u00fcrfte leicht dahin kommen, dass die physiologische Chemie ein Theil der katalytischen w\u00fcrde.\n2. Von den andern f\u00fcr den Organismus wichtigen chemischen Eigenschaften der Eiweissstoffe ist hervorzuheben a) dass einige Modifikationen derselben eine ausserordentliche chemische Indifferenz gegen die im lebenden Thier vorkommenden Stoffe besitzen, wodurch\nLiebigs Annalen Bd. 61. p. 168.","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"/\n44\nEiweissartige Stoffe.\nes m\u00f6glich wird, dass sie als Beh\u00e4lter und Filtra f\u00fcr Fl\u00fcssigkeiten dienen k\u00f6nnen, welche mit \u00fcbrigens kr\u00e4ftigen Verwandtschaften begabt sind; b) dass andere Modifikationen dagegen Verbindungen eingehen k\u00f6nnen mit Salzen, S\u00e4uren und Basen. Diese Verbindungen sind mannigfach benutzt. Hierher geh\u00f6rt dasAlbuminnafron, eine Substanz, die im Blut, Speichel u. s. w. vorkommt; ihre physiologische Bedeutung ist unbekannt. Ferner geh\u00f6rt hierher wahrscheinlich die sogenannte Pepsinchlorwasserstoffs\u00e4ure (von C* Schmidt*); weiterhin die Ver-\n.7\nbindungen des Albumins und vorz\u00fcglich des Caseins mit phosphorsaurer Kalkerde, durch welche dieser wichtige Inkrustationsstoff in alkalis chen^Fl\u00fcssigkeiten l\u00f6slich gemacht ist.\n3) Die physikalischen Eigenschaften, welche den Gliedern der Eiweissgruppe den Rang im Organismus vor allen Thierstoffen sichern, sind :\na)\tIhre F\u00e4higkeit, den festen mit dem fl\u00fcssigen oder umgekehrt den fl\u00fcssigen mit dem festen Aggregatzustand sehr leicht wechseln zu k\u00f6nnen. Durch scheinbar wenig bedeutende Einfl\u00fcsse wandelt sich eine l\u00f6sliche Modifikation in eine vollkommen unl\u00f6sliche um; so zum Beispiel gerinnt der Faserstoff an der Luft, das gel\u00f6ste Casein bei Ber\u00fchrung mit Laabmagen, das l\u00f6sliche Eiweiss wenn es von fl\u00fcssigen Fetten begrenzt wird, das l\u00f6sliche Proteinbioxyd wenn es einmal eingetrocknet war; und umgekehrt verwandelt sich der feste Faserstoff beim Stehen an der Luft in einen l\u00f6slichen Eiweissk\u00f6rper u. s. w. Diese merkw\u00fcrdige Erscheinung, macht mit geringen Mitteln die Verdauung fester Eiweissk\u00f6rper, die Bildung der Gewebe aus dem fl\u00fcssigen Blut u, s. w. m\u00f6glich.\nAusserhalb des Thierk\u00f6rpers tritt die Erscheinung nicht minder \u00fcberraschend auf, wie die Gerinnung des Eiweisses durch Erhitzen und durch Sch\u00fctteln mit Phenyls\u00e4ure (Creosot) und Alkohol, zeigt. Die Einwirkung des Creosots und des Alkohols ist besonders dadurch merkw\u00fcrdig, dass beide Stoffe keine Verbindung mit dem niedergeschlagenen (und unl\u00f6sslich gewordenen) Eiweiss eingehen.\nb)\tDie Eiweissstoffe treten beim Uebergang in den festen Zustand, so weit unumst\u00f6ssliche chemische Erfahrungen reichen, immer amorphf niemals crystallinisch auf. Aus diesem Grunde eignen sich dieselben zur Bildung von sehr verschieden geformten Gewebselementen; w\u00e4ren die Eiweissstoffe mit Crystallisationsbestreben oder (anders ausgedr\u00fcckt) mit Richtkr\u00e4ften begabt, wTelche die gegenseitige Lagerung der kleinsten Theilchen bestimmten, so w\u00fcrden sich der Bildung jeder andern Form als der durch die Crystallisationsrichtung vorgeschriebenen Widerst\u00e4nde entgegensetzen. Die Schwierigkeit der ersten Bildung von R\u00f6hren, Kugelschalen etc. aus demselben Stoff w\u00fcrde sich aber nicht allein mehren, es w\u00fcrde zugleich noch die Gefahr vorliegen, dass\n*) Liebigs Annalen 61. Band. Siehe hier\u00fcber die Magenverdauung.","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Eiweissartige Stoffe.\n45\ndie einmal gebildeten Formen leicht wieder in krystallinische Fragmente zerfielen\u00bb\nOb der Mangel an Krystallisationsf\u00e4higkeit den Eiweissstoffen unter allen Umst\u00e4nden zukommt d. li. eine sogenannte Grundeigenschaft derselben ist, oder nur unter \u00e4hnlichen als die sind, in welchen wir sie im thierischen K\u00f6rper antreffen, muss so lange zweifelhaft bleiben, als nicht ausgedehntere Versuche zur Herstellung des kristallinischen Zustandes vorliegen. So weit bekannt, zeigt kein Stoff unter allen Umst\u00e4nden beim \u00fcebertritt in den festen Zustand krystallinisches Gef\u00fcge _ Die Analogie erlaubt also den Schluss, dass auch die Eiweissstoffe unter andern Bedingungen krystallisiren werden. F\u00fcr diese Behauptung sprechen auch die von Reichert4*) und Lehmann44*) beobachteten Krystalle, die, m\u00f6gen sie bestehen woraus sie wollen, jedenfalls aus Substanzen gebildet sind, welche mit den Eiweissk\u00f6rpern sehr viele Eigenschaften tkeilen.\nc) Die im festen Aggregatzustande befindlichen Eiweissstoffe haben zum Wasser und vielen w\u00e4sserigen L\u00f6sungen (und zum Theil auch zu Fetten) eine grosse Adh\u00e4sionsverwandtschaft. Diese Verwandtschaft ist so betr\u00e4chtlich, dass die vollkommen trockenen Stoffe das Wassergas der Atmosph\u00e4re mit grosser Begierde an sich ziehen und in sich condensiren. In w\u00e4sserige Fl\u00fcssigkeiten gelegt, nehmen sie l\u00e4ngere Zeit (oft mehrere Tagelang) hindurch, unter allm\u00e4liger Volumzunahme Wasser bis zu einem endlichen Maximum auf, die ersten Mengen mit gr\u00f6sserer und die darauffolgenden mit einer geringeren Geschwindigkeit. Diese Erscheinung bezeichnet man mit dem Namen der Quellung oder Imbibition. Durch einige mehr beil\u00e4ufig-}*) als absichtlich unternommene Untersuchungen weiss man, dass das Maximum der aufgenommenen Fl\u00fcssigkeit theils abh\u00e4ngig ist von Besonderheit der Eiweissstoffe, als da sind die Temperatur, der sie beim Trocknen ausgesetzt waren, die Zeitdauer, w\u00e4hrend welcher sie sich im trockenen Zustand befanden u. s. w., theils von der Natur der Fl\u00fcssigkeit und der in ihr aufgel\u00f6sten Stoffe, und der Temperatur derselben u. s. w. (siehe Diffusion der tropfbaren Fl\u00fcssigkeiten).\nDurch diese Fl\u00fcssigkeitsaufnahme erhalten die festen Eiweissstoffe einige f\u00fcr den thierischen Haushalt sehr wesentliche Ver\u00e4nderungen ihrer Eigenschaften. Zuerst gelingt es hierdurch, mit einer geringen Menge von fester Substanz ein sehr volumin\u00f6ses Gewebe darzustellen, wie ohne Weiteres erhellt. Zweitens tritt durch die Wasseraufnahme eine Ver\u00e4nderung in der Coh\u00e4sion ein; nach Werthei raff) ist die Coh\u00e4sion um so geringer, je mehr Wasser aufgenommen wurde. Drittens ver\u00e4ndert sich der Elastizit\u00e4tscoeffizient und zugleich die ganze Beschaffenheit der Elastizit\u00e4t. Im vollkommen trockenen Zustand sind die Eiweissstoffe mit einem sehr grossen Ela-\n\u00c9I* \u25a0 I *\u25a0\u00bb<\u25a0 .\t^\t\u25a0 \u2014 \u2014i\u2014\u2014 '\t\u25a0\t*\n*) Wenn man den Begriff Krystallisatiou nicht so weit wie Frankenhein ausdehnt; dann ist aber auch Eiweiss krystallinisch. Krystallisatiou u. Amorphie. Breslau 1852.\n**) M\u00fcllers Archiv 1849.\n***) Lehmann, Pharmazeut. Centralhlatt 1852. N. 226.\nf) Chevreul. Annales de chimie et de physique XIX. (1821). Liebig, Untersuchungen \u00fcber einige Ursachen der S\u00e4ftebewegung. 1848. p. 8 u. f. ff) Annales de chimie XXL (1847). p. 358.","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nEiweissartige Stoffe.\nstizif\u00e4fscoeffizienten begabt, d. h. sie dehnen sich, wenn grosse Gewichte an ihnen h\u00e4ngen, nur um einen kleinen Bruchtheil ihrer L\u00e4nge aus; zugleich besteht f\u00fcr sie das auch bei unorganischen Stoffen g\u00fctige Gesetz, dass innerhalb gewisser Grenzen die Ausdehnung direkt proportional den angeh\u00e4ngten Gewichten w\u00e4chst (Wertheim). Im feuchten Zustand dagegen ist ihr Elastizit\u00e4tscoeffizient ein niedriger und zugleich ein f\u00fcr verschiedene Belastungen variabler. In dieser letzten Beziehung steht fest, dass gleich grosse Gewichte einen um so geringem Zuwachs der L\u00e4nge erzeugen, je betr\u00e4chtlicher schon die vorher angeh\u00e4ngten Gewichte (oder Spannungen) gewesen waren, oder mit andern Worten, es setzte der feuchte eiweissartige Stoff den ersten Ausdehnungen geringem Widerstand entgegen als den sp\u00e4teren. Wertheim gibt an, dass das Gesetz, nach welchem der Elastizit\u00e4tscoeffizient ver\u00e4nderlich sei, durch eine Hyperbel dargestellt werden k\u00f6nne. Wie der Augenschein lehrt, \u00e4ndert sich auch der absolute Werth des Elastizit\u00e4tscoeffizienten, wenn das in den Eiweissstoff eingedrungene Wasser Salze aufgel\u00f6st enth\u00e4lt; so ist z. B. Faserstoff, der sich mit Kochsalzaufi\u00f6sung impr\u00e4gnirt hat, schwieriger ausdehn-bar als der mit reinem Wasser durchdrungene und leichter ausdehnbar als der trockene.\nZum Verst\u00e4ndniss des Ausdrucks Elastizit\u00e4tscoeffizient, Gesetz seines Wechsels u. s. w., diene folgendes: Unter den verschiedenen Arten sogenannter Elastizit\u00e4ten hat man in der Physiologie bisher nur das Augenmerk gerichtet auf die sogenannte Zugelastizit\u00e4t, welche gemessen wird durch die lineare Ausdehnung, die in einer festen Masse ein momentan wirkender, nach Gewichten zu sch\u00e4tzender Zug erzeugt Der schematische Versuch zur Bestimmung dieser Art von Elastizit\u00e4t gestaltet sich, wie Jedermann gel\u00e4ufig, der Art, dass man, nachdem man eine Masse von bekanntem Querschnitt und bekannter L\u00e4nge an ihrem einen (dem obern) Ende aufgeh\u00e4ngt und das andere frei schwebende Ende mit Gewichten beschwert hat, beobachtet welche successive Verl\u00e4ngerung mit successiv steigender Gewichtsvermehrung eintritt. Um die bei Versuchen mit Stoffen von verschiedenartigen Dimensio-\nJf\nFig\n2.\nnen gefundenen Verh\u00e4ltnisse zwischen Gewichts- und L\u00e4ngenzuwachs untereinander vergleichbar zu machen, hat man zun\u00e4chst die zu vergleichenden Massen auf ein und denselben Querschnitt, auf die Querschnittseinheit, zu reduziren, was durch die\ngew\u00f6hnliche Proportionsrechnung geschieht, bei deren Ansatz man die Verl\u00e4ngerungen gleich langer St\u00fccke durch gleich grosse Gewichte den Querschnitten umgekehrt proportional setzt. Dann aber m\u00fcssen auch die L\u00e4ngen auf die Einheit der L\u00e4nge reduzirt, und die Zuw\u00e4chse derselben als Bruehtheile dieser L\u00e4ngeneinheit dargestellt werden. Das Verfahren hierbei ist folgendes: Gesetzt es seien in beistehender Figur 2. auf die Ordinate y die L\u00e4ngen und auf die Abszisse x die Gewichte aufgetragen und es bedeute oll die urspr\u00fcngliche L\u00e4nge als kein Gewicht an der Masse zog, olu diejenige als 1 Gewicht, olin als das doppelte des ersten Gewichts olw als das Dreifache des urspr\u00fcnglichen Gewichts ange-","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Eiweissarttee Stoffe.\n47\nFigur 3.\nti\n4/\t\t\n\t\t\n\t\t\ny\nr\nh\u00e4ngt war, so ist offenbar ol11\u2014ol1 der L\u00e4ngenzuwachs, den ol durch Anh\u00e4ngen von 1 Gewicht, olxu\u2014o\u00a311 der Zuwachs, den ol11 durch Vermehrung des ersten Gewichts auf seinen doppelten Werth erfahren u. s. w. Mit dem Werthe dieses beobachteten L\u00e4ngenzuwachses dividirt man nun in die mittlere Gesammtl\u00e4nge vor und nach der Ausdehnung um den proportionalen Zuwachs zu erfahren; so z. B. ist l\"\u2014ll / ab \\\n' l/TiT/Ti I \u00b0der-~- 1 der proportionale Zuwachs als das Gewicht \\g angeh\u00e4ngt\nworden war. Mit diesen proportionalen Zuwachsen l\u00e4sst sich nun abermals eine Curve bilden. Denn tr\u00e4gt man ihre den bestimmten Gewichten entsprechende Werthe V, l11, iul, auf eine Ordinate y (in Fig. 3) und die zu ihnen geh\u00f6rigen Gewichte \\g,\n2g, 3g auf die Abszisse x, so stellt die Linie oc, welche die Schnittpunkte der Coordinaten o, a, b, c, verbindet nun offenbar den Fortlaufenden Zuwachs der Verl\u00e4ngerung dar, welcher zum Vorschein kommt, wrenn die L\u00e4ngeneinheit allm\u00e4lig mit steigenden Gewichten von o bis zum Werthe 3g beschwert wird.\u2014 Diese Linie dient nun zur Charakteristik der elastischen Eigenth\u00fcmlichkeiten verschiedener Stoffe. Zuerst erkennt man aus ihr das Verh\u00e4ltniss der x absoluten Werthe der Elastizit\u00e4t, wenn man entweder bei gleichbleibendem Gewicht (oder der Einheit des Gewichts) den verschiedenen Werth der Verl\u00e4ngerung (Ausdehnbar-keitsmass) oder bei gleichbieibendem Zuwachs ( die Einheit des Zuwachses ) die hierzu n\u00f6thigen verschiedenen Gewichte vergleicht. \u2014 An unserer Figur\nl\tg\nausgedr\u00fcckt w\u00fcrde also das Ausdehnbarkeitsmass \u2014 unddasElastizit\u00e4tsmass\nbedeuten, w o jedesmal der Divisor eine willk\u00fcrliche aber in den verglichenen F\u00e4llen gleiche Einheit bedeutet. \u2014 Zweitens gibt aber diese Linie auch unmittelbar dar\u00fcber Aufschluss, ob an ein und derselben Substanz bei allm\u00e4hliger Steigerung der Ge-\ng\tl\nWichte der Quotient \u2022\u2014 oder \u2014 constant bleibe oder w echsele; die Erfahrung lehrt\nn\u00e4mlich, dass entweder unsere Linie eine gerade wie Fig. 3, oder eine\tge-\nll\tl11\nkr\u00fcmmte wie in Fig 4 sei; im ersten Fall sind wie bekannt der Quotient -\u2014 ; ~\n$\t0\nu. s. f. gleiclrwerthig, d. h. es w \u00e4chst direkt proportional mit der Gewichtsvermekrung der L\u00e4ngezuwachs, im andern Fall sind diese Quotienten dagegen ver\u00e4nderlich. \u2014 Wie sich noch von selbst versteht, l\u00e4sst sich bei fortlaufender direkter Proportionalit\u00e4t die ganze auf Zugelastizit\u00e4t bez\u00fcgliche Erscheinungsreihe durch Angaben des absoluten Werthes des Quotienten des sogenannten Elastizit\u00e4ts-\u00a3 co effizient en feststellen; im andern Fall muss dagegen entweder neben dem absoluten W'erth eines Ouotienten noch das Gesetz der fortlaufenden Ver-\u00e4nderlichkeit dieses Elastizit\u00e4tscoeffizienten gegeben sein, oder w^enn dieses wie meistentheils nicht m\u00f6glich, angegeben werden, welchen Werth der Quotient mit der Ver\u00e4nderung des Gewichts annimmt, d. h. wie gross der durch die Gewichtseinheit erzeugte L\u00e4ngenzirwachs sei, wenn vorher schon entweder 0, oder 1, 2, 3u. s.w. Gewichtseinheiten angeh\u00e4ngt waren.\n(Die Berechnung des Elastizit\u00e4tscoeffizienten f\u00fcr unseren besondern Fall siehe bei Wer th he im am angezogenen Orte p. 391).\nFig. 4.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nEiweissartige Stoffe.\nViertens. Die Durchtr\u00e4nkung der Eiweissstoffe mit Wasser macht es m\u00f6glich, dass andere w\u00e4sserige L\u00f6sungen durch eine und dieselbe feste Masse bald hindurchdringen k\u00f6nnen, bald an derselben f\u00fcr ihre Weiterverbreilung einen undurchdringlichen Widerstand finden. Sie dringen hindurch, insofern sie sich in Folge chemischer Anziehungen in dem eingesogenen Wasser verbreiten, w\u00e4hrend sie nicht durchzudringen verm\u00f6gen, wenn sie mittelst mechanischer Gewalt die eingesogene Fl\u00fcssigkeit verdr\u00e4ngen wollen (Filtration). Wir werden bei der Diffusion hierauf noch zur\u00fcckkommen. \u2014 F\u00fcnftens. Vollkommen trockene Eiweisstoffe sind unf\u00e4hig, electrischen Str\u00f6men den Durchgang zu gestatten; durch ihre Durchtr\u00e4nkung mit Wasser erhalten sie die Leitungsf\u00e4higkeit, und zwar steigt dieselbe mit der Menge des eingesogenen Wassers, indem dieses letztere allein den Durchtritt der Electricit\u00e4t vermittelt *). \u2014 Endlich sechstens ist verm\u00f6ge der Durchtr\u00e4nkung der Durchgang der Lichtstrahlen durch die Eiweissstoffe wesentlich modifizirt; auf diesen Punkt, der noch genauerer Untersuchung bedarf, macht uns die Thatsache aufmerksam, dass ein Stoff beim Trocknen, ein anderer aber erst beim Durchfeuchten und umgekehrt durchsichtig wird.\nd) Die Eiweissstoffe sind endlich auch schlechte W\u00e4rmeleiter; leider fehlt uns aber \u00fcber ihr Verhalten gegen W\u00e4rme jede gr\u00fcndliche Untersuchung; ihre Funktion, die sie in ihrer Eigenschaft als W\u00e4rmeleiter \u00fcbernehmen, werden wir sp\u00e4ter besprechen.\nDer Nachweiss, dass wir die eiweissartigen Stoffe mit den Nahrungsmitteln aufnehmen, geh\u00f6rt zu den Entdeckungen, welche einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Wissenschaft bezeichnen. Dieses ausserordentliche Verdienst geb\u00fchrt Mulder.\n47. Mucin, Schleimstoff enth\u00e4lt in 100 Theilen nach Scherer C52,4H7,0N12,8 027,8. Schwefel konnte (durch KO?) nicht nachgewiesen werden. Mit 4 pCt. alkalischer und phosphorsauren Kalk haltender Asche verbunden. Seine Fundorte sind die Mundfl\u00fcssigkeif, Darmfl\u00fcssigkeit, Sekret des Uterus und der Scheide, in der Synovia, der Galle, dem Pankreassaft (?), der Fl\u00fcssigkeit der Unterkieferdr\u00fcse, dem Barn und nach Virchow in zahlreichen pathologischen Gebilden.\nDieser K\u00f6rper z\u00e4hlt vorzugsweise zu den katalytisirenden ; in Verbindung mit Speichel dient er als Ferment f\u00fcr Umwandlung des Amy-lons in Zucker; ferner f\u00fcr die Verwandlung des Harnstoffs in kohlensaures Ammoniak, f\u00fcr die Gaileng\u00e4hrung und die Verwandlung der neutralen Fette in Glycerin und Fetts\u00e4uren. \u2014 Ausserdem zeichnet er sich durch seine Schl\u00fcpfrigkeit und Klebrigkeit aus. Verm\u00f6ge dieser Eigenschaft unterst\u00fctzt er das Niedergehen des Speisebissens durch\n0 Ed. Weher qu\u00e6stiones pbysiologic\u00e6 de ph\u00e6nomenis galvano-magneticis etc. JLeipzig 1836.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Elastischer Stoff, Collagen.\n49\nden Schlund und die Speiser\u00f6hre und das Uebereinandergleifen der Gelenk- und Sehnenfl\u00e4chen.\nEr ist ein Produkt des thierischen K\u00f6rpers. Frerichs*), Scherer**) und Tilanus***) vermuthen eine innige Beziehung zwischen ihm und den Epithelialstoffen.\n48. P epsin, nach Vogel in 100 Thl. C56,7 H5,6 N21,l 016,5. Es liegt keine Garantie vor, dass der analysirte K\u00f6rper rein war. \u2014 Dieser Stoff besitzt die Eigen-thiimlichkeit, auf katalytischem Wege die Aufl\u00f6sung geronnener Eiweissverbindun-gen in salz- und milchsaurem Wasser zu bewirken; er wird darum im Magen- und Darmsaft von Wichtigkeit.\n49. Elastischer Stoff. In 100 Theilen C55,6 H7,4N17,7 019,2 ; die von Mulder hieraus berechnete Formel ist C52H40N7O14; durch eine Chlorverbindung soll dieselbe best\u00e4tigt sein. Unter seinen Zersetzungen ist nur bemerkenswerth, dass er mit Salpeters\u00e4ure, so weit bekannt, \u00e4hnliche Produkte (und namentlich Xanthoproteins\u00e4ure) gibt als die Eiweissstoffe. Unser Stoff bildet die Grundlage der sehr verbreiteten elastischen Gewebe. Durch ausserordentliche Elastizit\u00e4t der aus ihm bestehenden Gewebe, seine Indifferenz gegen L\u00f6sungsmittel und seine eigenth\u00fcmlichen Imbibitionserscheinungen (wovon sp\u00e4ter) ist der Stoff f\u00fcr den Organismus von Bedeutung.\n50. Chondrigen und Chondrin. Aus der Cornea und allen Knorpeln, bevor sie verkn\u00f6chert oder in Fasergewebe umgewandelt sind, kann durch Kochen eine Substanz (Chondrin) dargestellt werden, welche mit Aether und Alkohol gereinigt, dieselbe Zusammensetzung besitzt, wie die mit Aether und Alkohol gereinigten Gewebe (Chondrigen), aus denen sie dargestellt ist. \u2014 Diese Substanz gibt \u00fcbereinstimmend in 100 Thl. C59,5 H7,t N14,9 0 28,6 SO,4. \u2014 Aus dieser Analyse, und Verbindungen mit Chlor und sclrwefelsauren Eisenoxyd berechnet Mulder die Formel 5 (C32 H26 N4 014) S. Diese Formel muss mit Misstrauen betrachtet werden, da sich aus der Chondrinl\u00f6sung, wie sie durch Kochen erhalten wird, nach Mulder viele durch das Kochen nicht aufgel\u00f6sste flockige Theile nicht abfiltriren lassen; das Chondrin enth\u00e4lt bis zu 6,5 pCt. Kalk-Salze.\nDas Chondrigen hat viele physikalische Eigenthiimlichkeiten mit den aus Ei-weissstoffen bestehenden Geweben gemein, wie bei der Cornea und dem Knorpel n\u00e4her ausgef\u00fchrt wird, w ohin die weiteren Betrachtungen zu verschieben sind, da der reine Stoff der Untersuchung nicht zug\u00e4nglich ist.\n51. Collagen, Colla. Durch anhaltendes Kochen verwandeln sich bekanntlich die* sogenannten Bindegewebe und die verkn\u00f6cherten Knorpel (Collagen) in Colla um. Beide Stoffe sollen nur durch einige physikalische Eigenschaften verschieden sein. Ihre Zusammensetzung in 100 Theilen ist C50,9 H7,2N18,3 022,7 S0,5 ; die Asche, meist phosphorsaure Kalkerde, betr\u00e4gt von 0,6 bis 5 pCt. ; der Gehalt an Schwefel ist wechselnd bis zu 1 pCt.; er ist durch Kochen mit Kali nicht nachweisbar.\nArtikel Synovia in Wagners Handw\u00f6rterbuch. III. A.\n**) lieber den fl\u00fcssigen Schleimstoff, Liebigs Annalen 57. Bd.\n***) Specimen chemico-physiol. inaug. contin. qu\u00e6dam de saliva et muco. 1849. Ludwig, Physiolog. I.\n4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nCollagen.\nDie absolute Atomzahl stellt Mulder durch C13 HI0 N2 05 dar; dass diese Annahme ungen\u00fcgend sei, geht schon daraus hervor, weil in dieser Formel der Schwefel keine Stelle erhalten hat. Zudem sind die Verbindungen mit CI und Gerbs\u00e4ure, welche Mulder zur Bestimmung des Atomgewichts benutzt hat, entweder leicht zer-setzlich, oder sehr complizirter Natur. Die Zersetzungsprodukte des Leims f\u00fchren zudem zu ganz anderen Annahmen, dahin n\u00e4mlich, dass der Leim und die Eiweissstoffe gewisse gemeinsame Atomgruppen enthalten, so dass sich also der Leim diesen Stoffen sehr ann\u00e4hert. Denn: mit chromsauren Kali oder Mangansuperoxyd und Schwefels\u00e4ure behandelt, gibt Leim alle die Zersetzungsprodukte der Eiweissstoffe mit der wahrscheinlich unwesentlichen Ausnahme des Aldehyds der Propions\u00e4ure. Mit S03 und Alkalien gekocht zerf\u00e4llt er nach Mulder (nebe/i andern Produkten?) in Ammoniak, Glycocoll und Leucin. Guckelberger, der zuerst die Aehnlichkeit der Zersetzungsprodukte der Eiweissstoffe und des Leims durch Oxydationsmittel nachgewiesen, glaubt Casein und Leim als entgegenstehende Glieder einer Gruppe aufstellen zu d\u00fcrfen, indem Casein am meisten Bittermandel\u00f6l und Benzoes\u00e4ure, Leim dagegen am meisten Essigs\u00e4ure und Ameisens\u00e4ure liefere. Die Aehnlichkeit beider Stoffe beth\u00e4tigt sich auch durch die mannigfache Uebereinstimmung in physikalischen Eigenschaften.\nCollagen zeigt wie dieEiweissstoffe die sogenannte Selbstzersez-zung; diese geschieht unter denselben Bedingungen wie die des Ei-weisses; ausnahmsweise hindern arsenige S\u00e4ure und Gerbs\u00e4ure die Leimzersetzung, aber nicht die der Eiweissstoffe. W\u00e4hrend derselben wirkt es ebenfalls fermentirend, und zwar so weit bekannt, \u00e4hnlich den Eiweissstoffen. Ob es aber und wie es hierdurch f\u00fcr den Organismus bedeutend wird, ist unbekannt. \u2014 Yon seinen \u00fcbrigen chemischen Eigenschaften ist nichts wesentliches bekannt, da Collagen nicht als solches in Aufl\u00f6sung gebracht werden kann.\nIn seinen physikalischen Eigenschaften, namentlich denen der Imbibition, der Elastizit\u00e4t, des Mangels an Crystallisationsverm\u00f6gen, steht es den festen Eiweissstoffen nahe. Wir m\u00fcssen aber ihre Besprechung auf Knochen, Bindegewebe, Haut u. s. w. verweisen, weil wir bis jetzt nur die Eigenschaften des in bestimmte Formen gebrachten Collagens, nicht aber die des homogenen Stoffes kennen.\nDas Collagen wird beim Fleischfresser schon mit der Nahrung eingef\u00fchrt; beim S\u00e4ugling und bei den von Pflanzenkost lebenden Individuen dagegen niemals; bei diesen muss es sich also im Organismus bilden.\nAnhangsweise verdient erw\u00e4hnt zu werden, dass Scherer*) im sogenannten weissen Blut Milzkranker, einen Stoff fand, dessen Reaktionen denen des Leims identisch waren.\n*) Verhandlungen der med. physikalischen Gesellschaft zu W\u00fcrzburg II. Bd. 321.","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Diffusionen.\n51\nZweiter Abschnitt.\nPhysiologie der Aggregatzust\u00e4nde.\nDa die im vorigen Abschnitt beschriebenen Atome in den drei m\u00f6glichen Aggregatznst\u00e4nden zur Bildung des Organismus zusammentreten, so m\u00fcsste, indem wir auf einer weiteren Verfolgung ihrer Leistungen f\u00fcr den Lebenshergang begriffen sind, er\u00f6rtert werden, welche Ver\u00e4nderung in ihren Eigenschaften die Masse im Allgemeinen erleidet, wenn sie aus diesen in jenen Aggregatzustand eintritt. Wir unterlassen jedoch gr\u00f6sstentheiis die in diesem Sinne m\u00f6glichen Betrachtungen, weil sie in ihrer Allgemeinheit gef\u00fchrt, den Physiologen wenig befriedigen und in der That auch nur zu einer einfachen Uebertragung der bekannten Abschnitte physikalischer Lehrb\u00fccher \u00fcber W\u00e4rmeleitung, Dichtigkeit, Elastizit\u00e4t, Druckmittheilung, Porosit\u00e4t u. s. w. u. s. w. f\u00fchren w\u00fcrden. Nur eine Folge des fl\u00fcssigen Aggregatzustandes, die Diffusionen werden wir ausf\u00fchrlicher behandlen.\nDiffusionen.\nZwei Fl\u00fcssigkeiten, tropfbare oder gasf\u00f6rmige, durchdringen sich, vorausgesetzt dass sie keine deprimirende Capillarit\u00e4t zu einander zeigen, wenn sie unmittelbar in Ber\u00fchrung gelangen, auch ohne Vermittlung der chemischen Verwandtschaft und der mechanischen Ersch\u00fctterung so innig, dass schliesslich der urspr\u00fcnglich nur von einer derselben eingenommene Raum auch von der andern erf\u00fcllt wird. Diese Erscheinung findet, unter Voraussetzung der Undurchdringlichkeit k\u00f6rperlicher Massen und ihrer Zusammensetzung aus kleinsten Theil-chen (Molekeln) , nur dann eine Erkl\u00e4rung, wenn die Molekeln den Massenraum nicht\u00bb ununterbrochen ausf\u00fcllen, so dass L\u00fccken (molekulare Poren) zwischen ihnen \u00fcbrig bleiben.\nDie Erscheinungen selbst, sowie die ihr zu Grunde liegenden Ursachen, sind andere bei den Luftarten als bei den tropfbaren Fl\u00fcssigkeiten ; beide m\u00fcssen darum gesondert betrachtet werden.\nGasdiffusion *).\n1. Diffusion zweier Gasarten bei unmittelbarer Ber\u00fchrung. Ber\u00fchren sich zwei verschiedene Gase unmittelbar (wie z. B. in den Poren einer sie trennenden trocknen Scheidewand)\n*) Poggendorf Artikel Diffusion im Handw\u00f6rterbuch der Chemie 2. Bd.\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nGasdiffusion.\nunter der Voraussetzung dass beide Luftarten demselben Barometerdrucke und derselben Temperatur unterworfen sind, so str\u00f6men sie mit Geschwindigkeiten in einander, die sich verhalten umgekehrt wie die Quadratwurzeln aus den spezifischen Gewichten (den Dichtigkeiten) beider Gase. Da, wegen der Gleichheit der Ber\u00fchrungsfl\u00e4chen, die Stromfl\u00e4chen beider Gase gleichen Querschnitt besitzen, so folgt hieraus, dass die Volumina, welche zwei ineinander diffundirende Gase austauschen, sich ebenfalls umgekehrt wie die Wurzeln aus den Dichtigkeiten der Gase verhalten. Aus dieser Erfahrung folgert man mit grosser Wahrscheinlichkeit, dass die Ursache der Mischung bei der Diffusion in der Spannkraft der Luftarten (in der Repulsion, welche zwischen ihren einzelnen Theilchen besteht) gelegen sei, und ferner, dass zwischen den Molekeln zweier verschiedener Gasarten keine Abstossung besteht, oder mit andern Worten, dass zwei verschiedene Gasarten keinen Druck aufeinander aus\u00fcben.\nDiese Folgerungen erlaubt man sieb, weil verschiedene Gasarten in demselben Verh\u00e4ltniss der Geschwindigkeiten in den leeren Raum eindringen, mit denen sie sich in einander ergiessen; denn nach einem von Dalton ermittelten Gesetz str\u00f6men durch weite und kurze R\u00f6hren verschiedene Gasarten mit Geschwindigkeiten in den luftleeren Raum, die sich umgekehrt wie die Quadratwurzeln aus den spezifischen Gewichten verhalten. Dieses Gesetz ist in seinen Ursachen sogleich klar, wenn man bedenkt, dass die Dichtigkeit (das spezifische Gewicht) einer Luftart nur die Folge seines Ausdehnungsbestrebens und des Widerstandes (oder des barometrischen Druckes) ist, welcher sich ersterem entgegensetzt. Die Dichtigkeit eines Gases ist demgem\u00e4ss das Mass f\u00fcr die Triebkr\u00e4fte, welche die Entfernung der Theilchen von einander bedingen, vorausgesetzt, dass die dem Vergleich unterworfenen Gasmengen unter gleichem barometrischem Druck waren, und es wird die Repulsionskraft des einen Gases in diesem Falle um so viel Mal gr\u00f6sser als die des andern sein, um so geringer seine Dichtigkeit ist. Da nun sich die Geschwindigkeiten str\u00f6mender Fl\u00fcssigkeiten so verhalten, wie die Wurzeln aus den dr\u00fcckenden Kr\u00e4ften, so muss die d\u00fcnnere Gasart bei aufgehobenem Widerstand rascher, und zwar in dem be-zeichneten Verh\u00e4ltniss rascher str\u00f6men als die dichtere. Da dieselben Verh\u00e4ltnisse der Geschwindigkeit auch bei gegenseitiger Durchdringung bestehen, mit andern Worten, da sich die eine Gasart gegen die andere wie ein luftleerer Raum verh\u00e4lt, so darf man voraussetzen, dass zwei chemisch verschiedene Luftarten keinen Druck aufeinander aus\u00fcben. Die Uebereinstimmung zwischen dem Dalton\u2019schen Gesetze und dem Diffusionshergang w\u00fcrde vollkommen sein, wenn es sich erweisen sollte, dass das sogenannte Graham\u2019sche Gesetz nicht in voller Sch\u00e4rfe giltig w\u00e4re. Nach Graham str\u00f6men n\u00e4mlich auch durch eine engpor\u00f6se trockene Scheidewand zwei Gase ineinander mit Geschwindigkeiten, die sich umgekehrt wie die Wurzeln aus den Dichtigkeiten verhalten. F\u00fcr einen Gasstrom durch capillare Oeffnungen von merklicher L\u00e4nge, wie in dem Graham\u2019schen Fall, gilt aber bekanntlich das Dalton\u2019sche Gesetz nicht mehr*), da jedes Gas mit einem besonderen Reibungs-coefficienten behaftet ist, der einen spezifisch verlangsamenden Einfluss auf seine Stromgeschwindigkeiten aus\u00fcbt.\nDer hier er\u00f6rterte Fall findet im menschlichen Organismus nur selten Anwendung; so weit wir wissen gilt er nur f\u00fcr Luft, die aus\n*3 Graham on the motion of gases. Philosophical Transactions Part IV for 1840.","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"GusdifFiision.\n53\nden kleinen Bronchialzweigen in die grossem, und aus den Sinus der Nasenh\u00f6hlen in diese selbst dringt.\n2. Diffusion der Gasarten in tropfbare Fl\u00fcssigkeiten; Absorption der Gase. Gerade so wie Luftarten in R\u00e4ume str\u00f6men, die scheinbar schon von andern Gasen eingenommen sind, dringen sie auch ohne Zuthun der chemischen Verwandtschaft in tropfbare Fl\u00fcssigkeiten. Den Beweiss, dass sie in diesen noch als Gase (in den molekularen Poren der Fl\u00fcssigkeit) enthalten seien, finden wir darin, dass die absorbirten Gase dem Mariotteschen Gesetz folgen, denn das spezifische Gewicht des absorbirten Gases steigt geradezu mit dem Drucke. F\u00fcr diese Diffusion gelten folgende Gesetze: a) Eine jede Fl\u00fcssigkeit absorbirt von einem jeden Gase nur ein ganz bestimmtes Volum; die absorbirte Gewichtsmenge des Gases ist demnach abh\u00e4ngig von dem Drucke, unter welchem sich das Gas in der Fl\u00fcssigkeit findet.\nSo nimmt z. B. 1 Kubikcentimeter Wasser 1 Kubikcentimeter Kohlens\u00e4ure auf, gleichgiltig ob die Kohlens\u00e4ure bei %, l/%i 1, 2 u. s. w. Atmosph\u00e4rendruck aufgesogen wurde. Die bei verschiedenen Atmosph\u00e4rendrftcken aufgenommenen Gewichtsmengen der Gasart verhalten sich aber wie die Werthe der Dr\u00fccke. Das Bedeutungsvolle bei dem Hergang besteht also darin, dass ein gewisses Gewicht des Wassers nicht ein bestimmtes Gewicht von C02, sondern ein bestimmtes Volum HO ein bestimmtes Volum C02 aufnimmt.\nb) Die verschiedenen Gasarten und Fl\u00fcssigkeiten sind in Beziehung auf einander mit besondern Absorptionscoefficienten behaftet, d. h. in einer jeden Fl\u00fcssigkeit diffundiren von verschiedenen Gasarten ganz verschiedene Volumina und eine jede Gasart diffundirt mit ganz verschiedenen Maastheilen in verschiedenen Fl\u00fcssigkeiten, c) Aus der Angabe, dass das Gas als solches in der Fl\u00fcssigkeit enthalten sei, folgt die durch die Erfahrung best\u00e4tigte Ableitung, dass eine Fl\u00fcssigkeit, welche ganz oder theilweise mit einer Luftart ges\u00e4ttigt ist, beim Einbringen in einen Raum, der mit einer andern Gasart erf\u00fcllt ist, einen Theil seines Gases verliert und umgekehrt einen Antheil des neuen aufnimmt. Denn da die neue Gasart keinen Druck auf die in der Fl\u00fcssigkeit enthaltenen aus\u00fcbt, dunstet so lange aus dieser letzteren Gas ab, bis die Gasart innerhalb der Fl\u00fcssigkeit denselben Druck besitzt als die ausserhalb desselben befindliche. Aus demselben Grund wird aber auch das neue Gas in die Fl\u00fcssigkeit dringen m\u00fcssen.\nEs ist noch nicht gelungen, eine scharfe Vorstellung \u00fcber den ganzen Absorptionshergang zu bilden. Man kann nach dem Vorstehenden nur im Allgemeinen aussprechen, dass die Absorption ebensowohl eine Folge der Spannkr\u00e4fte in den Gasen als auch der molekularen Anziehungen zwischen Gasen und Fl\u00fcssigkeiten ist. Zur Hinzuziehung des letzteren Einflusses n\u00f6thigt uns namentlich der besondere Absorptionscoefficient, der oft die Einheit \u00fcbersteigt, d. h. dieThatsache, dass ein Maastheil Fl\u00fcssigkeit oft 2,3 und mehr Maastheile Gas ayifnimmt.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nGasdifFusion.\nAus einem einfachen Eindringen der Gasart in L\u00fccken zwischen die Fl\u00fcssigkeitstheilchen kann diess nicht erkl\u00e4rt werden.\n3. Diffusion zweier Gasarten ineinander, welche durch eine w\u00e4sserige Scheidewand getrennt sind. \u2014 Die Combination der beiden F\u00e4lle, in welchen Gase in Gase und Gase in Fl\u00fcssigkeiten einstr\u00f6mten, erlaubt im Allgemeinen eine Ableitung f\u00fcr den hier zu besprechenden Fall, indem sich der Erfolg desselben offenbar richtet nach der Diffusionsgeschwindigkeit der betreffenden Gase und dem Absorptionscoefficienten der Fl\u00fcssigkeit, Denken wir uns, um sogleich zu einem Beispiel \u00fcberzugehen, ausser den fr\u00fcher schon angenommenen Bedingungen gleichen Barometerdruckes und gleicher Temperatur rechts von der Scheidewand eine Fl\u00fcssigkeit, von geringerem specifischem Gewichte als links, so w\u00fcrde ohne die Gegenwart der Fl\u00fcssigkeitsschicht dieselbe rascher und in gr\u00f6sseren Mengen diffundiren; denken wir uns nun aber, dass die Gasart rechts zugleich weniger leicht und weniger massenhaft in der Fl\u00fcssigkeit der Scheidewand l\u00f6slich sei, so kann sie das Uebergewicht, was sie erhielt, wieder einb\u00fcssen. Man muss sich, um sich den Hergang vollkommen klar zu machen, die Vorstellung aneignen, dass mit dem gr\u00f6sseren oder kleineren Absorptionscoefficienten der Fl\u00fcssigkeit, der Querschnitt des diffundirenden Gasstromes steigt und f\u00e4llt, und somit der Stromquerschnitt der einen von beiden Gasarten, welche einen geringem Absorptionscoefficienten besitzt, in der Fl\u00fcssigkeit ein kleinerer wird, als derjenige der andern Gasart, welche mit einem gr\u00f6sseren Absorptionscoefficienten behaftet ist. \u2014 Dieser Auseinandersetzung entsprechen, so weit wir wissen, die Erfahrungen vollkommen.\nZur Best\u00e4tigung der \u00fcber die Diffusionen der Gase in Fl\u00fcssigkeiten aufgestellten mathematischen Gesetze fehlt es immer noch an scharfen Beobachtungen, welchen besondere Schwierigkeiten entgegenstehen, weil die Absorptionscoefficienten schwer zu ermitteln sind, da die Fl\u00fcssigkeiten kaum gasfrei erhalten werden k\u00f6nnen. Von physiologischer Wichtigkeit w\u00e4re auch noch die Untersuchung der Geschwindigkeit der Absorption, und der Kraft, mit welcher die einmal absorbirten Gase gebunden gehalten werden, Fragen, deren L\u00f6sung noch nicht versucht ist.\nDiffusion tropfbarer Fl\u00fcssigkeiten*},\nDie Lehre von der Hydrodiffusion, wie du Bois im Gegensatz zu der Gasdiffusion die Durchdringung tropfbarer Fl\u00fcssigkeiten genannt\n*) E. Br\u00fc cke de diffnsione humorum p. septa viva etc. Berl. 1842 u. Poggend. Annalen 1843. Poggendorf Art. Absorption im Handw\u00f6rterbuch d. Chemie I. Bd. u. Diffusion ibid. IL Bd. 593. Vierordt Bericht \u00fcber die bisherigen die Endosmose betreffende Untersuchungen u. s. w. im Archiv v. Roser u. Wunderlich 1846,47 u. 48. \u2014 Liebig, Untersuchungen \u00fcber einige Ursachen der S\u00e4ftebewegung. Braunschweig 1848. Jolly, Experimentaluntersuchungen \u00fcber Endosmose. Zeitschrift f\u00fcr ration. Medicin Vol. VII. \u2014 C. Lud wig \u00fcber endosmot. Aequiva-lente u. endosm. Theorie ibid. Vol. VIII. Cloetta Diffusionsversuche durch Membranen mit 2 Salzen. Z\u00fcrich 1851. \u2014 Olechnowitz exp\u00e9rimenta qu\u00e6dam de endosmosi. Dorpat 1851. \u2014 Wistingshausen exp\u00e9rimenta qu\u00e6dam endosmotica etc. Dorp. 1851. Ausserdem sind wichtig die Berliner physikal. Jahresberichte f\u00fcr 1845 p. 26 f\u00fcr 1847 p. 14 u. 1848 p. 24. Verfasst von E. Br\u00fccke.","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Hydro diffusion.\n55\nhaben will, hat sich nur erst an wenigen Punkten aus dem Bereich der Casuistik in das des Gesetzes erhoben; die meisten uns bekannten Thatsachen entbehren darum des allgemeineren Interesses. Die folgende Darstellung stellt sich die Aufgabe, neben Hervorhebung der f\u00fcr den Physiologen wichtigen F\u00e4lle, die Anf\u00e4nge von Gesetzen, welche die bisherigen Untersuchungen ergaben, und welche sich als Ausgangspunkte neuer Versuche einladend erweisen, mitzutheilen. Demgem\u00e4ss muss die Theorie der L\u00f6sung mit aufgenommen werden.\nDas Bestehen der HydrodifFusion, d. h. der Erscheinung, dass aus in ihnen selbst gelegenen Gr\u00fcnden zwei oder mehrere in Ber\u00fchrung gekommene verschieden zusammengesetzte Fl\u00fcssigkeiten ihre Bestandtheile so lange austauschen, bis sie \u00fcberall vollkommen gleichartig sind, wird dadurch erwiesen, dass diese Vermischung unter den erw\u00e4hnten Bedingungen vorkommt, selbst wenn keine andere Ursache derselben, (Ersch\u00fctterung, spezifisches Gewicht u. s. w.) aufzufinden ist. Diese gegenseitige Durchdringung sieht man aber in der gegebenen Beschr\u00e4nkung selbst wieder als Folge zweier grunds\u00e4tzlich verschiedener Ursachen an, n\u00e4mlich einerseits der chemischen Verwandtschaft und anderseits des sogenannten L\u00f6sungsverm\u00f6gens ; den Beweis, ob der eine oder andere dieser Einfl\u00fcsse wirksam gewesen sei, glaubt man herleiten zu k\u00f6nnen aus der Entwicklung oder Bindung von W\u00e4rme und aus der vorhandenen oder mangelnden Verbindung nach chemischen Aequivalenten. Ohne zu untersuchen, inwieweit diese Annahme gerechtfertigt sei, wollen wir diese Spaltung der Thatsachen insofern adoptiren, als wir hier vorzugsweise uns an die F\u00e4lle von Mischung halten, welche in beliebigen (nicht in \u00e4quivalenten) Verh\u00e4ltnissen ohne Entwicklung von W\u00e4rme geschehen.\n1. L\u00f6sung. Die Erscheinungen, welche die L\u00f6sung, d.h. die Verfl\u00fcssigung fester durch fl\u00fcssige Stoffe auszeichnen, sind:\na) Es wird jedesmal W\u00e4rme latent gemacht. Da diese W\u00e4rme unzweifelhaft dazu verwendet wird, um die Coh\u00e4sion des festen Stoffes zu \u00fcberwinden, seinen Uebergang aus dem festen in den fl\u00fcssigen Zustand m\u00f6glich zu machen, so muss die Menge der jeweilig verschluckten W\u00e4rme mindestens den Werth derjenigen erreichen, welche beim Schmelzen des fraglichen Stoffes in hohem Temperaturen latent wird. Die Erfahrungen von Graham*) und Person**) lehren nun aber, dass bei der Aufl\u00f6sung mehr W\u00e4rme dem freien Zuztand entr\u00fcckt wird, als bei der Schmelzung, und namentlich dass alles andere gleichgesetzt, die Menge der verschluckten W\u00e4rme w\u00e4chst mit dem Grade der Verd\u00fcnnung, welchen die L\u00f6sung erf\u00e4hrt, oder anders ausgedr\u00fcckt, mit der Ausdehnung, welche der in der Fl\u00fcssigkeit vertheilte Stoff erleidet. Diese Thatsache f\u00fchrt zu der wichtigen Folgerung, dass die\n*) Philosoph. Magaz. XXIV. i.\n**) Annal, d. chim. et phys. 3. Ser. XXXIII.","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nL\u00f6sung.\nTheilehen des in Aufl\u00f6sung befindlichen festen Stoffes sich noch fortw\u00e4hrend in einer gegenseitigen Anziehung befinden, so dass zu jeder weitern Entfernung derselben ein Aufwand von freien Kr\u00e4ften erforderlich ist.\nF\u00fcr den Anf\u00e4nger muss zur Abwehr gegen Missverst\u00e4ndnisse noch angegeben werden, dass es nur scheinbar ist, wenn bei der L\u00f6sung eines Stoffes wenigerW\u00e4rme latent wird, als bei der Schmelzung. Freilich wird h\u00e4ufig durch die L\u00f6sung der Umgebung sehr wenig W\u00e4rme entzogen; dieses geschieht aber nur darum, weil in Folge der L\u00f6sung auch W\u00e4rme frei wird, welche zu der Verfl\u00fcssigung des Salzes benutzt werden kann. Die Quellen, aus welchen jene W\u00e4rme fliesst, liefen theils in der eintretenden Verdichtung, theils darin, dass die W\u00e4rmecapacit\u00e4t der L\u00f6sung geringer ist, als diejenige des Wassers und des fl\u00fcssigen Salzes f\u00fcr sich. Besondere Beweise hiefiir.siehe bei Person.\nb)\tDas spezifische Gewicht (die Dichtigkeit) der L\u00f6sung ist nicht das mittlere aus demjenigen des festen Stoffes und der Fl\u00fcssigkeit; es ist stets h\u00f6her als das hypothetische mittlere.\nc)\tDer Siede- und Gefrierpunkt des L\u00f6sungswassers hat sich erh\u00f6ht, beziehungsweise erniedrigt, ebenso wie die Ausdehnungsf\u00e4higkeit der L\u00f6sung durch die W\u00e4rme geringer ist als die mittlere zwischen der des festen Stoffes und der Fl\u00fcssigkeit. Diese letzen beiden allgemein g\u00fcltigenThatsachenreihen beweissen als eine Erweiterung zu der unter a) erw\u00e4hnten, dass auch die Theilehen des L\u00f6sungsmittels und des aufgel\u00f6sten Stoffes sich gegenseitig innig binden, weil namentlich nur unter dieser Voraussetzung verst\u00e4ndlich wird, dass das Wasser in der L\u00f6sung seinen fl\u00fcssigen Zustand Temperaturen gegen\u00fcber bewahrt, welche das freie Wasser schon in Dampf oder Eis verwandelt h\u00e4tten. Wenn nun auch im Allgemeinen die die Aufl\u00f6sung beg\u00fcnstigenden, resp. sie hemmenden Einfl\u00fcsse dargestellt werden durch die Coh\u00e4sion des festen Stoffes f\u00fcr sich und des Wassers f\u00fcr sich (mit andern Worten, durch die Menge von W\u00e4rme, welche gebunden werden muss, wenn eine dem Verd\u00fcnnungsgrad der L\u00f6sung entsprechende Ausdehnung der fl\u00fcssigen und festen Stoffe herbeigef\u00fchrt werden soll) , ferner durch die Menge der freien verwendbaren W\u00e4rme (sei es, dass sie von aussen zugef\u00fchrt oder in der L\u00f6sung selbst entwickelt werde), und endlich durch die L\u00f6sungsverwandtschaft der festen und fl\u00fcssigen Theile zu einander (oder den Widerstand, den die Masse bei Einwirkung der W\u00e4rme dem Verdunsten entgegensetzt), so ist es dennoch aus Mangel an guten Versuchen unm\u00f6glich, Angaben dar\u00fcber zu machen, wie mit dem Werth der bezeichneten Umst\u00e4nde die Geschwindigkeit der Verfl\u00fcssigung, die Menge und die Energie der Bindung des aufgel\u00f6sten Stoffes wachse. Bevor dieses Fundament gelegt ist, wird die Lehre von der Diffusion keinen besondern theoretischen Fortschritt zu machen im Stande sein.\n2. Diffusion einer L\u00f6sung in Wasser. Dieser Vorgang ist dem so eben geschilderten so analog, dass die Behauptung, alle","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"L\u00d6SllUg.\t57\ndie L\u00f6sung erzeugenden Bedingungen unterst\u00fctzen auch die freiwillige Verd\u00fcnnung, keines besondern Beweises bedarf. Ueber einige der bei der Verd\u00fcnnung eintretenden Erscheinungen haben wir durch Graham*) Aufschluss erhalten; sie beziehen sich insbesondere auf die Geschwindigkeit, mit welcher die Verkeilung der L\u00f6sung in das dar\u00fcber geschichtete Wasser geschieht. Diese Geschwindigkeit ist abh\u00e4ngig a) von der besondern Natur des aufgel\u00f6sten Stoffes. Denn alles Andere, und namentlich Ber\u00fchrungsfl\u00e4che zwischen Wasser und L\u00f6sung, spezifisches Gewicht oder Procentgehalt an festem Stoff in der L\u00f6sung, und Temperatur gleichgesetzt wechselt die Diffusionsgeschwindigkeit (d. h. die in der Zeiteinheit in das Wasser diffundirte Gewichtsmenge des aufgel\u00f6sten Stoffes) mit der Natur desselben. Wir heben hier aus den Beobachtungsreihen als f\u00fcr den Physiologen wichtig hervor, dass die Diffusionsgeschwindigkeiten des Na CI zu der des Eiweises aus 16,6pCtL\u00f6sungen sich = 19,2 : 1 verhielten; ferner unter gleichen Bedingungen die des Na CI zu St\u00e4rkezucker wie 2,2 : 1 ; ferner die des Na CI zu der des K CI aus einer 9 pCt L\u00f6sung sich verhielt wie 1 : 1,2\u2014. Dieses Verh\u00e4ltnis der Diffusionsgeschwindigkeiten scheint f\u00fcr dieselben Stoffe constant zu bleiben, wenn auch die Prozentgehalte der L\u00f6sungen in gleichem Verh\u00e4ltnis steigen und fallen. So fand Graham, dass sich die Diffusionsgeschwindigkeit einer 2,4. pCt , 6,6 pCt und 10,0 pCt L\u00f6sung von K 0 C02 zu einer 2,4 pCt 6,6 pCt; 10,0 pCt L\u00f6sung von Na0S03 verhielte wie 1 : 0,78; 1:0,79; 1 : 0,80; l : 0,77. Ebenso unter gleichen Umst\u00e4nden die des K0C02 : Na 0 C02 = 1 : 0,74; 1 : 0,75; 1 : 0,73; 1 : 0,68. \u2014 b) Die Diffusionsgeschwindigkeit ist ferner alles Andere, und namentlich die Natur des aufgel\u00f6sten Stoffes, sein Prozentgehalt in der L\u00f6sung und die Ber\u00fchrungsfl\u00e4che zwischen Wasser und L\u00f6sung gleichgesetzt, abh\u00e4ngig von der Temperatur in der Art, dass die Geschwindigkeit direkt proportional mit der steigenden Temperatur w\u00e4chst.\nZur Ermittelung der obigen Thatsachen bediente sich Graham folgender Methode. Er f\u00fcllte ein kleines, mit einem Hals und abgeschlitfenem oberem Hand versehenes Glasgef\u00e4ss mit der L\u00f6sung und setzte es auf den Boden eines gr\u00f6sseren, welches ungef\u00e4hr das f\u00fcnffache Volum des kleinen fasste; unter Beobachtung mehrerer Vorsichtsmassregeln goss er darauf das gr\u00f6ssere so weit voll Wasser, dass es den Rand des kleinern Gef\u00e4sses um ungef\u00e4hr 1 Zoll \u00fcberragte, und \u00fcberliess dann in einem Raum, der gleiche Temperatur hielt, die L\u00f6sung der Diffusion. Nach einer genau notirten Zeit schloss er das innere Gef\u00e4ss mit einer Glasplatte und bestimmte die absolute Menge gel\u00f6ssten Stoffes, welche in das Wasser getreten war. \u2014 Diese Untersuchungsweise f\u00fchrt den Uebelstand mit sich, dass die Diffusion sehr bald nicht mehr zwischen L\u00f6sung und Wasser, sondern zwischen dichterer und d\u00fcnnerer L\u00f6sung vor sich geht. Dieser Umstand verhindert unter Anderm, Gewicht zu legen auf\nA\ndie Behauptung Graham\u2019s, dass alles andere lind namentlich L\u00f6sungsstoff, Temperatur, Zeit und Ber\u00fchrungsfl\u00e4che gleichgesetzt, die Geschwindigkeit der Diffusion wachse wie der Procentgehalt der L\u00f6sung an festen Stoffen. Diese Behauptung w\u00fcrde\n*) Liebigs Annalen TT. Bd, u. ibid. 80. Bd.","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nL\u00f6sung,\naus seinen Zahlen nur folgen, wenn er die Differenz der Procentgehalte im \u00e4ussern und innern Gef\u00e4ss constant erhalten h\u00e4tte, oder wenn sie wenigstens bekannt w\u00e4re.\n3. Gleichzeitige L\u00f6sung mehrerer festen Stoffe und Diffusion eines L\u00f6sungsgemenges in Wasser. Ueber gleichzeitige L\u00f6sung solcher Salze, welche sich nicht gegenseitig zersetzen, sind Beobachtungen von Karsten, Ko pp*) u. s. w. vorhanden. Wir erfahren aus diesen Beobachtungen vorerst das theoretisch noch nicht verwendbare Resultat, dass die Maxima der Gewichtsmengen beider in L\u00f6sung tretenden Stoffe sich gegenseitig modifiziren k\u00f6nnen. \u2014 Graham hat die Frage in Angriff genommen, wie sich die Diffusion zweier in derselben Fl\u00fcssigkeit gel\u00f6sten Salze im Wasser verhalte. Er findet hier, dass die beiden Salze insofern unabh\u00e4ngig von einander diffundiren, als das mit einer grossem Diffusionsgeschwindigkeit begabte auch aus dem Gemenge rascher diffundirt als das, welches mit einer geringen Geschwindigkeit diffundirt. Diese Thatsache ist durch eine von mir angestellte Beobachtung dahin erweitert, dass die Adh\u00e4sion der beiden in L\u00f6sung befindlichen Salze nicht gross genug ist, um durch das Diffusionsbestreben nicht aufgehoben werden zu k\u00f6nnen. Aus den Graham\u2019schen Versuchen geht jedoch noch weiter hervor, dass die in dem Gemenge vorhandenen Salze ihre Diffusionsgeschwindigkeit modifiziren. Denn aus einer L\u00f6sung, welche gleichzeitig von Na CI und Na 02 C02 je 3,6 pCt (also 7,2 pCt im Ganzen) Salz enthielt, diffundirten in der Zeiteinheit 5,7 Gr. NaO C02 und 12,4 Gr. NaO S03, w\u00e4hrend in derselben Zeit aus einer 3,9 procentigen NaO C02 L\u00f6sung 7,3 Gr. und aus einer 3,9 procentigen Na CI L\u00f6sung 11,0 Gr. austraten.\nZur Bestimmung der Diffusionserscheinungen der Salzgemenge benutzte ick einen Glascylinder (Fig. 5). G, dessen mit einem Kork y erschlossener Boden von einer umgebogenen Glasr\u00f6hre A AM durchbrochen war; diese R\u00f6hre m\u00fcndet mit capillarer Oeffnung M gerade im obern Niveau des Korkes innerhalb des Cylinders. Ausserdem liefen durch den Boden noch mehrere R\u00f6hren CC, LL u. s. f. Diese R\u00f6hren stiegen im Cylinder bis zu einem bekannten Abstand vom Boden auf, und ihr freies, ausserhalb des Cylinders liegendes Ende war ausgezogen und zugeschmolzen. In den Cylinder wurde von oben Wasser gef\u00fcllt und dann in die freie M\u00fcndung des Rohres A A aus einer Pipette mit capill\u00e4rer M\u00fcndung eine L\u00f6sung, welche gleichviel (wasserfreies) NaO S03 und Na CI enthielt, eingelassen. Dieses L\u00f6sungsgemenge drang auf den Boden des Gef\u00e4sses und hob das Wasser, ohne sich mit ihm zu mischen. Hierauf \u00fcberliess man die Fl\u00fcssigkeit im gesch\u00fctzten Raume von m\u00f6glichst constante!* Temperatur der Diffusion. Nach beliebiger, aber genau gekannter Zeit brach man darauf vorsichtig die Spitze des Rohres LL ab, aus welchem in feinem Strahl die Fl\u00fcssigkeit von Obis 1 auslief, welche man gesondert auffing; dann \u00f6ffnete\nFig. 5.\nA\n*) Siehe die Literatur mit Ausz\u00fcgen hei Gmelin Handhuch der Chemie IV. Aufl, I. Bd. 525.","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"59\nDiffusion zwischen L\u00f6sungen.\n\\\nman ebenso das Rohr CCund erhielt die Fl\u00fcssigkeit des Raumes 1 2 u. s. f. Dieser Versuch ergab, dass wenn das Na CI in den Raum 0 1 schon in grosser Menge eingedrungen war, sich noch keine Spur von Glaubersalz in ihm fand, ein Resultat, welches obigen Ausspruch geradezu beweisst.\n4.\tDiffusion zweier L\u00f6sungen ineinander. Auch diesen Fall hat Graham behandelt, indem er L\u00f6sungen von NaO C02 in L\u00f6sungen von Na CI und NaO S03 diffundiren liess. Das NaO C02 trat in das Kochsalz in gleicher Menge wie in das Glaubersalz, aber in geringerer \u00fcber als in reines Wasser.\n5.\tDiffusion zwischen L\u00f6sungen,deren L\u00f6sungsmittel sich nicht mischen. Dieser Fall ereignet sich z. B. wenn Oele, welche Seifen, Galle u. s. w. aufgel\u00f6st enthalten, mit Wasser in Ber\u00fchrung; kommen. Diese sehr bemerkenswerthe Modifikation des Ver-suchs ist nur in einem Falle von Br\u00fccke behandelt. Br\u00fccke w\u00e4hlte zu den Versuchen Aether, Wasser und Hg CI. \u2014 Die Fortsetzung dieser Versuche verspricht vielseitige und wichtige Ausbeute f\u00fcr den Physiologen.\n6.\tDiffusion von Fl\u00fcssigkeiten in thierische Stoffe; 0 uellung, Imbibition. Es ist eine Eigent\u00fcmlichkeit vieler thieri-schen (und pflanzlichen) Stoffe, auf eine besondere Weise von Fl\u00fcssigkeiten durchdrungen zu werden, wie wir schon p. 45. bei den Ei weissk\u00f6rpern ausf\u00fchrten. Zu den dortigen Bemerkungen ist hier noch zuzuf\u00fcgen: Ein queliungsf\u00e4higer Stoff nimmt aus einer Fl\u00fcssigkeit, in die er gelegt wurde, im Verlauf einer langem Zeit eine endliche Menge von Fl\u00fcssigkeit auf, \u00fcber welche hinaus keine weitere Aufnahme mehr stattfindet. Diese Menge nennt man das Quellungsmaximum; und insofern man das Gewicht oder Volum der aufgenommenen Fl\u00fcssigkeit mit dem Gewicht oder Volum des aufnehmenden Stofles vergleicht, erh\u00e4lt man das OuelJungsverh\u00e4ltniss. Dieses Ouellungsmaximum wechselt nun alles Andere gleichgesetzt mit der Natur der Fl\u00fcssigkeit und der* jenigen der Membran, in der Art, dass ein und derselbe Stoff in verschiedene Fl\u00fcssigkeiten, Oel, Alkohol, Wasser gelegt, von jeder ein anderes Maximum aufnimmt, und umgekehrt, dass dieselbe Fl\u00fcssigkeit in verschiedene Stoffe (Ho/n, Faserstoff*, Colla u. s. w.) in einem anderen Verh\u00e4ltnis eindringt. Das Ouellungsverh\u00e4ltniss, namentlich aber auch die Geschwindigkeit des Eindringens von Fl\u00fcssigkeiten, ist jedoch nicht allein hievon, sondern wie schon fr\u00fcher erw\u00e4hnt, auch noch von andern Umst\u00e4nden abh\u00e4ngig, indem ein und derselbe Stoff in ein und derselben Fl\u00fcssigkeit in seinem Ouellungsmaximum wechselt, je nach der Temperatur oder dem Grade der Austrocknung, in welchem sich der Stoff vor der beginnenden Quellung befunden hatte.\nDie Quellung stellt sich insofern in die Reihe der Diffusionen als die Verbindung der Fl\u00fcssigkeit und der festen Theile nicht nach ato-mistischen Gewichtsverh\u00e4ltnissen vor sich geht, und insofern als wir","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nQuellung.\ni\nschliessen d\u00fcrfen, dass hier wie dort die Erscheinung durch eine Aneinanderlagerung der unver\u00e4nderten Theilchen des festen und fl\u00fcssigen Stoffes geschehe. So sehr wir uns nun auch \u00fcber die besondere Art der Zusammenlagerung im Unklaren befinden, so d\u00fcrfen wir doch behaupten, dass in den meisten der aufgequollenen Stoffe die einges\u00f6gene Fl\u00fcssigkeit zum Theil in weiteren Poren, welche zwischen mehr oder weniger grossen Haufen von Molekeln vorhanden sind, sich eingelagert finde, zum Theil aber zwischen den Molekeln selbst gebettet sei. Diese Annahme einei; solchen Lagenverschiedenheit gr\u00fcndet sich ebensowohl auf die Struktur der festen Stoffe als auf die Ouellungserscheinungen selbst. Was ersteren Punkt, die Struktur der quellenden Stoffe, ankngt, so wissen wir, dass viele derselben sich aus Massen von gegenseitig mehr oder weniger inniger Coh\u00e4sion zusammensetzen; wir erinnern hier nur an die Gewebe des thierischen K\u00f6rpers, welche eine Zusammenh\u00e4ufung gleichartiger oder ungleichartiger Formelemente darstellen; die Verbindung der einzelnen Formelemente miteinander ist eine so lockere, dass man an die Gegenwart gr\u00f6blicher sogenannter physikalischer Poren zwischen ihnen denken darf, w\u00e4hrend die zu einem der Formelemente zusammengeordneten Molekeln sich so innig verbinden, dass, wenn man hier \u00fcberhaupt Poren statuiren will , sie nur als intermolek\u00fcl\u00e4re bestehen k\u00f6nnen. Die Fl\u00fcssigkeit dringt nun aber thats\u00e4chlich sowohl in den Raum zwischen die Formelement\u00e9 als auch in diese selbst. In Uebereinstimmung mit dieser Betrachtung finden wir nun, dass die eingedrungene Fl\u00fcssigkeit theilweise mit Leichtigkeit durch Zusammenpressen des gequollenen Stoffes zum Ausfliessen gebracht werden kann, w\u00e4hrend ein anderer Theil derselben den kr\u00e4ftigsten Druckwirkungen widersteht; ferner dass bei dem normalen Siedepunkt der Fl\u00fcssigkeit ein Theil mit Leichtigkeit in Dampf verwandelt werden kann, w\u00e4hrend ein anderer erst bei h\u00f6heren Temperaturen Dampfform annimmt.\nDie Umst\u00e4nde, welche \u00fcberhaupt Einfluss auf die Quellung \u00fcben, sind: a) die Verwandtschaft der Fl\u00fcssigkeit zu den festen Stoffen;\n\u25a0W-\ndiese sehen wir ausgepr\u00e4gt durch die F\u00e4higkeit der trockenen Stoffe, die D\u00e4mpfe der Fl\u00fcssigkeiten, von welchen sie imbibirt werden, in fl\u00fcssiger Form in sich niederzuschlagen; oder mit einem Wort durch die hygroskopischen Eigenschaften der quellungsf\u00e4higen Stoffe, und weiter durch die Steigerung des Siedepunktes der aufgenommenen Fl\u00fcssigkeiten (?).\nDiese Eigenschaften hat man noch nicht als Maass zur Feststellung einer Verwandtschaftsscala angewendet. Ein anderes Maass, welches Liebig hierzu benutzt hat, ist das Ouellungsmaximum und die Ouecksilberh\u00f6hen, welche n\u00f6thig sind, um die Filtration der Fl\u00fcssigkeit durch d\u00fcnne St\u00fccke von bekannter Dicke einzuleiten. Inwiefern hieraus ein solches gewonnen werden kann, ist aber vollkommen unklar und es d\u00fcrften darum, so lange die Beziehung des Filtrationsdruckes und des Quel-","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Quellung.\n6i\nluugsmaximums zu der Verwandtschaft nicht fest steht, die Liehig\u2019schen Zahlen fur diesen Zweck werthlos sein.\nb) Die Coh\u00e4sion der Molekeln des aufquellenden Stoffes ; die Bedeutung dieses Einflusses ist von selbst klar, wenn man erw\u00e4gt, dass der aufquellende Stoff durch die eingetretenen Wassermengen sein Volum \u00e4ndert; damit also die Fl\u00fcssigkeitstheilchen eintreten k\u00f6nnen, m\u00fcssen sie die Theile der festen Stoffe auseinanderzerren, c) In Stoffen, welche aus einer Zusammenh\u00e4ufung von Formelementen bestehen, ist f\u00fcr die in den Zwischenr\u00e4umen der letzteren sich bildenden gr\u00f6beren Poren von Bedeutung, die Gestalt und die daraus folgenden gegenseitigen Lagerungen, welche die aufgequollenen Formen annehmen, d) Die Coh\u00e4sion der Fl\u00fcssigkeit, welche hier von \u00e4hnlicher Wirksamkeit sein muss als beim Aufsteigen derselben in Capillarr\u00f6hren.\n7. Diffusion von L\u00f6sungen und L\u00f6sungsgemenge in feste Stoffe. Die \u00fcber diesen Punkt vorliegenden Untersuchungen beziehen sich nur auf w\u00e4sserige L\u00f6sungen. Aus ihnen ergibt sich, dass alles Andere gleichgesetzt die Ouellungsmaxima sich \u00e4ndern mit der Natur und dem Procentgehalt des gel\u00f6sten Stoffes. Liebig ermittelte u. A., dass 100 Gewichtstheile trockener Harnblase vom Ochsen vom Wasser 310 Gewichtstheile, von einer 9 pCt. Kochsalzl\u00f6sung nur 288, von einer 13,5 pCt. Kochsalzl\u00f6sung 235 und endlich von einer 18 pCt. L\u00f6sung desselben Stoffes 219 Gewichtstheile aufnahmen; und Cloetta fand, dass das Ouellungsverh\u00e4ltniss (der Quotient aus dem Gewicht des festen Stoffes in das Gewicht der aufgenommenen L\u00f6sung) des trockenen und gereinigten Herzbeutels vom Ochsen f\u00fcr eine 5,4 pCt. Kochsalzl\u00f6sung 1,35, f\u00fcr eine 24,3 pCt. Kochsalzl\u00f6sung dagegen 1,01 betrug; und ebenso dass hei Anwendung derselben Membran das Ouellungsverh\u00e4ltniss einer 5,5 pCt. Glaubersalzl\u00f6sung 1,15, das einer ll,7pCt. L\u00f6sung aber nur 0,86 ausmachte. \u2014 Daneben zeigt sich aber die noch bemerkeriswTerthere Erscheinung, dass wenn eine trockene thierische Membran in eine Salzl\u00f6sung getaucht wird, die in die Membran aufgenommene L\u00f6sung eine andere Zusammensetzung besitzt, als diejenige, welche dieselbe umsp\u00fclt. So nahm u. A, die gereinigteHarnblase des Ochsen, als sie in eine 7,2 pCt. Glaubersalzl\u00f6sung gelegt wurde, eine Fl\u00fcssigkeit auf, welche nur 4,4 pCt. Glaubersalz enthielt ; dieselbe Membran durchtr\u00e4nkte sich, als sie in eine 19 pCt. Kochsalzl\u00f6sung gelegt wurde, mit einer 16,5 pCt. L\u00f6sung. (Ludwig). \u2014 Cloetta, der diese Thatsachen weiter verfolgte, hat ermittelt, dass das Verh\u00e4ltniss der Dichtigkeit zwischen der in die Membran aufgenommenen und der sie umsp\u00fclenden L\u00f6sung f\u00fcr Na CI ein constantes ist, f\u00fcr Glaubersalz dagegen ein mit dem Procentgehalt der L\u00f6sungen an festen Stoffen wechselndes. So fand er u. A., dass ob man die Membran in eine 24,2 pCt. oder 5,4 pCt. Kochsalzl\u00f6sung legt, der Procentgehalt der umsp\u00fclenden Fl\u00fcssigkeit zu dem der eingedrungenen sich verhielt wie 1 :0,84","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nQuellung.\ni\nund 0,82; wendete er aber Glaubersalz als umsp\u00fclende Fl\u00fcssigkeit an, so verhielt sich bei einer 11,7 pCt. L\u00f6sung der Procentgehalt der in-nern zur \u00e4ussern Fl\u00fcssigkeit wie 1 : zu 0,39, und bei \u00e9iner 4,8 pCt. umsp\u00fclenden L\u00f6sung war dasselbe Yerh\u00e4ltniss wie 1 : 0,57\u00bb\nDurch diese Thatsache wird eine neue Analogie hergestellt zwischen L\u00f6sung und Ouellung; denn wie bei gleichzeitiger L\u00f6sung zweier Salze das L\u00f6sungsmaximum der Fl\u00fcssigkeit f\u00fcr das eine derselben beschr\u00e4nkt werden kann, so wird auch hier durch die Verwandtschaft der thierischen Stoffe zu dem eingedrungenen Wasser die F\u00e4-\n\u00f6\tC/|\nhigkeit desselben, Salze zu l\u00f6sen, beeintr\u00e4chtigt.\nOhne diese Thatsachen zu kennen, erschloss Br\u00fccke mit einem seltenen Scharfsinn aus den Erscheinungen, welche sich bei der Ber\u00fchrung von Fl\u00fcssigkeiten mit festen Stoffen ereignen und aus denen der sogenannten Endosmose, ihr Vorhandensein und stellte noch die weitere Behauptung auf, dass die an den Poren der Membranen aufgenommenen L\u00f6sungen so geordnet seien, dass in der unmittelbaren N\u00e4he der festen Molek\u00fcle eine salz\u00e4rmere Fl\u00fcssigkeit und in der Mitte der Poren eine salzreichere Fl\u00fcssigkeit gelegen sein m\u00f6chte, in der Art wie es das (Fig. 6) gegebene Schema ausdr\u00fcckt, in welchem die\ndunklen Ouadrate Molekeln oder Mo-lekelmassen, die dunkleren Rahmen die salzarmen und die hellen Rahmen eine Fl\u00fcssigkeit von der Zusammensetzung der die Gesammtmassen umsp\u00fclenden darstellen. Der thats\u00e4ch-liche Beweis f\u00fcr diese Annahme ist dadurch geliefert worden, dass die durch Pressen aus der Membran erhaltene Fl\u00fcssigkeit die Zusammensetzung der umsp\u00fclenden besass (Ludwig). Dass diese Beobachtung in Wirklichkeit den verlangten Beweis liefert, ist sogleich verst\u00e4ndlich, wenn man erw\u00e4gt, dass durch Pressung nur die Antheile der aufgenommenen Fl\u00fcssigkeit entfernt werden k\u00f6nnen, welche nicht durch die sie unmittelbar ber\u00fchrenden Porenwandungen festgehalten werden; besitzt nun in der That die in der Membran vertheilte Fl\u00fcssigkeit einen niedrigem Procentgehalt, als die umsp\u00fclende, und ist man ferner, wie angegeben, im Stande durch Pressen eine L\u00f6sung von der Zusammensetzung der umsp\u00fclenden zu gewinnen, so muss offenbar der geringere Procentgehalt der ganzen aufgenommenen Fl\u00fcssigkeit der mittlere sein zwischen einer nicht auspressbaren von viel geringerem Salzgehalt und einer auspressbaren von gleichem Salzgehalt wie die umsp\u00fclende.\nDiffundiren nun endlich gleichzeitig zwei L\u00f6sungen in eine Mem-","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Endosmose.\n63\nbran, so werden dadurch noch weitere Complicationen veranlasst werden, denn a) es werden bei Gegenwart w\u00e4sseriger L\u00f6sungen durch die Verwandtschaften der Membranen, diejenigen der gel\u00f6sten Stoffe zum Wasser in einer Weise beschr\u00e4nkt, welche nicht ableitbar ist aus dem bekannten Verhalten jeder Salzl\u00f6sung fur sich in der Membran. Den Untersuchungen von Cloetta verdanken wir den bemerkenswerthen Aufschluss, dass wenn man Stucke des Herzbeutels in eine L\u00f6sung legt, welche zugleich Kochsalz und Glaubersalz aufgel\u00f6st enth\u00e4lt, das Glaubersalz in geringerer Menge von der Membran aufgenommen wird, als wenn er aus einer L\u00f6sung f\u00fcr sich eingedrungen w\u00e4re. Diese Erniedrigung des Glaubersalzgehaltes w\u00e4chst mit der Menge des gleichzeitig in der L\u00f6sung vorhandenen Kochsalzes. Folgende Zahlen geben die Belege f\u00fcr diesen Ausspruch. Wenn die Membran von einer L\u00f6sung umsp\u00fclt wurde, welche 10,5 pCt. Na CI und 5,1 pCt. Na0S03 enthielt, so trat eine Fl\u00fcssigkeit in dieselbe, welche 9,1 pCt. Na CI und 1,8 pCt. Na0S03 enthielt; aus einer L\u00f6sung, welche dagegen 5,3 pCt. Na CI und 4,7 pCt. Na0S03 enthielt, drang eine Fl\u00fcssigkeit in dieselbe Membran, in welcher sich 4,3 pCt. Na CI und 2,2 pCt. Na0S03 befanden. Als demnach 10,5 pCt. Na CI in der \u00e4ussern Fl\u00fcssigkeit vorhanden waren, verhielt sich der Procentgehalt der \u00e4ussern und innern Glaubersalzl\u00f6sung wie 1 : 0,35, und als nun 5,3 pCt. Na CI in der \u00e4ussern Fl\u00fcssigkeit vorkamen, verhielten sich die entsprechenden Glaubersalzl\u00f6sungen wie 1 : 0,47. \u2014 b) Sehr h\u00e4ufig wird durch den Eintritt einer Fl\u00fcssigkeit in eine Membran die F\u00e4higkeit dieser letzteren aufgehoben gleichzeitig eine andere aufzunehmen; so schliesst u. A. die Gegenwart w\u00e4ssriger diejenige \u00f6liger Fl\u00fcssigkeiten aus. Dieses Ausschliessungsverm\u00f6gen der einen Fl\u00fcssigkeit durch die andere, kann aber beseitigt werden, wenn in der einen von beiden ein Stoff gel\u00f6st wird, durch den die Adh\u00e4sion beider Fl\u00fcssigkeiten aneinander erm\u00f6glicht ist. So dringt u. A. in eine mit Wasser durchdr\u00e4ngte Membran Oel ein, vorausgesetzt dass in dem Wasser Seifen oder gallensaure Salze gel\u00f6sst waren (Odilenowitz).\n8. Diffusion zweier Fl\u00fcssigkeiten ineinander, welche mittelst einer f\u00fcr sie durchg\u00e4ngigen Scheide wand getrennt sind. Endosmose. Die Bedingungen dieses Hergangs bestehen darin, dass zwei in irgend welcher Art verschiedene Fl\u00fcssigkeiten durch eine (molekular oder grob) por\u00f6se Scheidewand getrennt sind, in welche eine oder beide Fl\u00fcssigkeiten so eindringen k\u00f6nnen, dass sie sich innerhalb oder an der einen Grenze der Poren in unmittelbarer Ber\u00fchrung finden. Zugleich wird vorausgesetzt, dass, eine etwa vorhandene Verschiedenheit des hydrostatischen Druckes, den die beiden Fl\u00fcssigkeiten auf die Fl\u00e4chen der Scheidewand aus\u00fcben, nicht hinreicht, um bei dem Widerstand dieser letzteren als Bewegungsursache einer der beiden Fl\u00fcssigkeiten angesehen werden zu k\u00f6nnen.","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nEndosmotisches Aequivalenfc.\nDie hervorragenden Erscheinungen, die unter diesen Umst\u00e4nden die Diffusion darbietet sind a) die beiden durch die Scheidewand getrennten Fl\u00fcssigkeiten gleichen ihre Verschiedenheiten vollkommen aus, so dass gerade wie wenn die Scheidewand fehlte, der Diffusionsprozess nicht eher beendigt ist, als bis die Fl\u00fcssigkeiten beiderseits vollkommen einander gleich sind. \u2014 b) Die Volumina der durch den Diffusionsstrom auf die beiden Seiten der Scheidewand bef\u00f6rderten Fl\u00fcssigkeiten sind einander meist nicht gleich, oder mit andern Worten, die Diffusionsstr\u00f6me \u00fcberwiegen an St\u00e4rke in der einen Richtung, diejenigen in der andern. \u2014 c) Die Geschwindigkeit, mit der zwei Fl\u00fcssigkeiten durch die Scheidewand hindurch sich ausgleichen, ist eine andere als ohne Gegenwart derselben. \u2014 Die zuerst erw\u00e4hnte Eigenschaft bedarf keiner besonderen Betrachtung, um so mehr aber die unter b und c erw\u00e4hnten Eigenth\u00fcmlichkeiten.\nUm ein Maas f\u00fcr den ungleichen Werth der verschieden gerichteten Str\u00f6me zu erlangen (b) bedient man sich nach dem Vorgang von Jolly, der Verh\u00e4ltnisszahl zwischen den Gewichten der nach der einen und der andern Seite \u00fcbergegangenen Fl\u00fcssigkeitsbestandtheile: diese Verh\u00e4ltnisszahl f\u00fchrt den Namen des endosmotischen Aequi-valen ts.\nMethode zur Bestimmung des endosmotisehen Aequivalents. Der Apparat mit dessen H\u00e4lfe diese Bestimmung vorgenommen wird, ist dargestellt durch zwei gl\u00e4serne Gef\u00e4sse, von denen das eine durch eine Membran, f\u00fcr eine Druckh\u00f6he von mehreren Zoll wasserdicht verschlossen ist. Dieses letztere Gef\u00e4ss, welches an der\nStelle des Glasbodens eine Membran tr\u00e4gt, wird auf irgend welche Art in den Raum der andern jedoch so aufgeh\u00e4ngt, dass es in diesem senkreckt auf und niedergelassen werden kann. Dieser Apparat muss zugleich noch so aufgestellt werden k\u00f6nnen, dass die in seinem Innern vorhandenen Fl\u00fcssigkeiten vor Verdunstung bewahrt werden. Diese Bedingungen erf\u00fcllt die in Fig. 7 gezeichnete Vorrichtung. \u2014 A stellt das mit der Membran umbimdene Gef\u00e4ss vor; es ist mittelst eines Fadens an die Rolle R geheftet, welche sich mit den Zapfen in den Lagern L dreht. Diese Lager stehen auf dem blechernen Deckel des \u00e4usseren Gef\u00e4sses, welches mittelst der Rinne mm auf das Glas gekittet ist; auf der oberen Fl\u00e4che dieses Dekeis findet sich noch eine zweite breitere Rinne oo angebracht, in welche die Glocke G einpasst. Wenn diese Rinne mit W^asser gef\u00fcllt wird, nachdem die Glocke aufgesetzt war, so sind die in A und B enthaltenen Fl\u00fcssigkeiten abgesperrt. In das Innere beider Gef\u00e4sse f\u00fcllt man Fl\u00fcssigkeit von bekanntem Gewicht und bekannter quantitativ und qualitativer Zusammensetzung; man \u00fcberl\u00e4sst sie darauf gegen-\nFig. 7.","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Endosmotisches Aequivalent.\n65\nseitiger Einwirkung wobei man Sorge tr\u00e4gt, kleine Niveau differ enzen im Stand der innern und \u00e4ussern Fl\u00fcssigkeit durch Herausheben oder Ein senken des Glasest auszugleichen, und bestimmt dann nach beliebiger Zeit welche quantitative und qualitative Ver\u00e4nderungen die Fl\u00fcssigkeit des inneren Rohrs erlitten hat, wodurch auch die Data gegeben sind, um die Ver\u00e4nderungen der \u00e4ussern Fl\u00fcssigkeit zu berechnen. Hieraus fliesst von selbst, welche Stoffe von aussen nach innen, welche von innen nach aussen gingen und wie relativ kr\u00e4ftig diese Str\u00f6me gewesen waren.\nDie Erfahrung hat gelehrt, dass die Werthe der endosmotischen Aequivalente sich \u00e4ndern mit dem Wechsel der Scheidewand (der chemischen und physikalischen Eigenth\u00fcmlichkeit ihres Stoffes), mit quantitativen und qualitativen Ver\u00e4nderungen in der Zusammensez-zung der Fl\u00fcssigkeiten, und mit der Temperatur.\nBei so zahlreichen auf den Werth des Aequivalents influirenden Umst\u00e4nden geh\u00f6rt es begreiflich zu den Seltenheiten, dass zwei der Diffusion ausgesetzte L\u00f6sungen w\u00e4hrend der ganzen Dauer derselben, mit dem gleichen Verh\u00e4ltnis\u00bb ihrer Gewichtsmengen in einander str\u00f6men. \u2014 Dieses wird sich nur ereignen, wenn unter Voraussetzung derselben Scheidewand auch w\u00e4hrend der ganzen Str\u00f6mungsdauer die Temperatur constant bleibt und zugleich die durch den Diffusions-strom erzeugten Ver\u00e4nderungen in der Zusammensetzung beider Fl\u00fcssigkeiten durch andere Einfl\u00fcsse wieder ausgeglichen werden. Wo dieses letztere geschehen ist, gen\u00fcgt um eine Vorstellung \u00fcber den Werth des Aequivalents zu gewinnen, die einfache Angabe der Ver-h\u00e4ltnisszahl; wo aber, wie es meist der Fall, diesen Bedingungen eines constanten Stromes nicht Gen\u00fcge geleistet werden kann, muss zur Angabe des absoluten Werthes eines der partiellen endosmtjti-schen Aequivalente #) noch die des den Wechsel bestimmenden Gesetzes kommen. Um vollkommen verst\u00e4ndlich zu werden wollen wir das Gesagte durch ein Beispiel erl\u00e4utern. \u2014 In einer Versuchsreihe wurde als Scheidewand die mit Wasser Aether und Alkohol gereinigte Harnblase des Schweines angewendet; als diffundirende Fl\u00fcssigkeiten dienten Glaubersalzl\u00f6sung und Wasser; das Wasser welches sich im \u00e4ussern Gef\u00e4sse des Apparates (Fig. T) befand, wurde so oft erneuert als noting, um niemals eine merkliche Spur von Glaubersalz sich in ihm anh\u00e4ufen zu lassen. Es ergab sich, als in das innere Rohr Glauber-salzcrystalle gelegt wurden, und die Diffusion beendigt war bevor s\u00e4mmtliche Crystalle gel\u00f6sst waren, das endosmotische Aequivalent = 5,8 (die \u00fcbergetretenen Gewichtsmengen des Glaubersalzes = 1 gesetzt) In einem zweiten Versuch wurden Glaubersalzcrystalle in die R\u00f6hre gelegt und die Diffusion unterbrochen, als die in der inneren R\u00f6hre enthaltene L\u00f6sung 3,8 pCt. betrug; das endosmotische Aequivalent wurde zu 6,7 gefunden. Bei einem dritten Versuch mit derselben Mem-\nd. k. des Werthes, welchen das Aeq. besitzt, so lange noch keine merkliche Ver\u00e4nderung in den dasselbe bedingenden Umst\u00e4nden eingetreten.\nLudwig, Physiologie I.\n5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nEiidosmotisches Aequivalent.\nbran wurde in das innere Rohr eine 5,1 pCLNa0S03 L\u00f6sung gef\u00fcllt, und die Diffusion unterbrochen, als der Procentgehalt der L\u00f6sung auf 0,17 gesunken war, das Aequivalent fand man = 10,5. Viertens wurde in das eine Rohr eine 1,0 pCt. Glaubersalzl\u00f6sung gef\u00fcllt und der Diffusion \u00fcberlassen bis sie auf eine 0,1 proeentige gesunken war, das E. Ae. betrug unter diesen Umst\u00e4nden 21,6. \u2014 Aus diesen Beobachtungen l\u00e4sst sich nach bekannten Regeln ann\u00e4hernd berechnen, welchen Werth in jedem Momente das Aequivalent besass, als die Dichtigkeit der L\u00f6sung von ihrem bei der Beobachtungstemperalur m\u00f6glichen Maximum bis auf 0,1 pCt. herabfiel. Construirt man diese Wer-\nthe auf ein Ordinatensystem, auf dessen x Achse nach einer beliebigen L\u00e4ngeneinheit die fortlaufenden Procentgehalte und auf dessen y Achse die fortlaufend sich ver\u00e4ndernden Aequivalente aufgetragen sind, so erh\u00e4lt man die Curve des Aequi-valents, bezogen auf den Wechsel der\nFig. 8.\nx\nDichtigkeiten. F\u00fcr die oben gegebenen Beobachtungen w\u00fcrde ihre Gestalt ann\u00e4hernd wie in Fig. 8 ausgefallen sein, vorausgesetzt dass vom O Punkt der Ordinaten auf x das Maximum der\n? P\nOi * p\nDichtigkeit aufgetragen worden w\u00e4re. Setzen wir voraus dieses Dichtigkeitsmaximum habe 7 pCt. betragen, so w\u00fcrde y1 das erste Partialae-quivalent und y2 das letzte Partialaequivalent gewesen sein, zwischen denen unendlich viele in der Mitte liegen. Kann nun aber, wie dies leider meist der Fall ist, auch das Gesetz dieses Wechsels nicht angegeben werden, sondern nur die Zahl f\u00fcr das endosmotische Aequivalent, welche hier die mittlere ist zwischen ihren verschiedenen Wer-then, so muss, wenn diese Angabe eines mittlern Aequivalents vergleichbar mit andern sein soll, mindestens der Zusatz geschehen, zwischen wTelchen Grenzen der Dichtigkeit, Temperatur u. s. w. sich die Beobachtung bewegte.\nVon den wichtigem das endosmotische Aequivalent betreffenden Thatsachen sind nun nachfolgende vorzuf\u00fchren:\n1. Unter gleichen Umst\u00e4nden sind die mittlern Aequivalente bei Anwendung verschiedener H\u00e4ute, wie des Herzbeutels und der Harnblase, nicht gar zu abweichend von einander gefunden worden $ wir f\u00fcgen einige derselben bei.","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"Endosmotiselies A equivalent.\n67\n\u2022\tDiffundir ende Stoffe.\t\t\t/\t\nScheidewand.\tEinerseits\t\tAnderseits\tEndosm. Aequiv.\tBeob.\n\tzu Beginn der Diffusion.\tzu Ende der Diffusion.\tzu allen Zeiten der Diffusion.\t\t\nHarnblase d. j Schweins\tNa Cl cry stall\tWasser\tWasser\t4,0\tJolly\nI\tidem\tid.\tNa CI l\u00f6sung v. 10,0fi p. C.\tidem\t4,3\tLudwig\nJ\tidem\tNa Cli\u00f6sung v. 4,9 p. C.\tL\u00f6sung v. 0,275 p. C.\tidem\tM\t_\nHerzbeutel d. Ochsen\tNa CI cryst.\tL\u00f6sung v. 1,55 p. C.\tidem\t5,4\tCloetta\nidem\tNa CI l\u00f6sung v. 5,5 p. C.\tL\u00f6sung v. 0,36 p. C.\tidem\t3,6\t\u2014\nidem\tNaO S03 cry stall\tL\u00f6sung v. 1,6 p.C.\tidem\t9,8\t\u2014\n!\tidem\tNaO S03 l\u00f6sg. v. 1,1 p. C.\tL\u00f6sung v. 0,28 p.C.\tidem\t7,5\t\u2014\nHarnblase d. Schweins\tNaO S03 erystall\tWasser\tidem\t11,0\tJolly\nidem\tKaO S03 erystall\tidem\tidem\t12,7\t-\nidem\tKaO HO l\u00f6sg. v. 5,2 p. C.\tidem\tidem\t200,0\t-\nidem\tS03 HO l\u00f6sg. v. 3,t p. C.\tidem\tidem\t0,39\t\u2014\n1\tidem\tZuckerl\u00f6sung v. 4,1 p. C.\tidem\tidem\t7,2\t\u2014\n!\tidem\tAlcoholl\u00f6sg. v. 4,0 p. C.\tidem\tidem\tM\t\u2014\n2.\tWie sich aber der vorstehenden Tabelle gem\u00e4ss mit dem Procentgehalt der dem Wasser gegen\u00fcber gesetzten Salzl\u00f6sung das Aequivalent \u00e4ndert, so ist es auch f\u00fcr denselben Stoff einer Aenderung unterworfen, wenn statt der des Wassers ihm selbst eine Salzl\u00f6sung gegen\u00fcber gesetzt wird. Siehe hier\u00fcber das N\u00e4here bei Ludwig und Clo et ta.\n3.\tNach Beobachtungen von Matten cci und C im a sollen die m\u00f6glichst frischen thierischen H\u00e4ute bei Anwendung gleicher Fl\u00fcssigkeiten ein anderes Aequivalent erwirken, als die welche aus schon l\u00e4ngere Zeit verstorbenen Thieren genommen sind; \u2014 zudem soll noch das Aequivalent f\u00fcr dieselbe Membran wechseln, je nachdem man die eine oder andere Seite dem Wasser oder der Salzl\u00f6sung gegen\u00fcber setzt* Diese Thatsachenreihe wird noch bezweifelt. S* Berliner physik. Jahresbericht f\u00fcr 18451. c.\n4.\tCloetta hat in einer sehr genau gef\u00fchrten Versuchsreihe ermittelt, dass die Diffusion zweier chemisch sich nicht zersetzender Salze, z. B. Na CI und Na 0 S03, wenn sie aus einer und derselben Fl\u00fcssigkeit geschehen, sich nicht st\u00f6re, so dass das Aequivalent eines Salzgemenges aus dem bekannten Aequivalente der in ihm vorhandenen Salze berechnet werden kann.\nZur Theorie des endosmotis chen Aeqiii valen ts. Um zu einer wissenschaftlichen Begr\u00fcndung der Erscheinung zu gelangen, dass nach der einen Richtung durch die Membran ein st\u00e4rkerer Strom geschieht als nach der andern, w\u00e4re es vor\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\nEn dosmotis dies Aesuivaient.\nAllem liothweiidig zu wissen, wie sieh die Volumina zweier in einander diffundiren-der Substanzen verhalten, wenn sie ohne Scheidewand liehen einander geschichtet sind. Hier\u00fcber gibt uns aber weder die theoretische Betrachtung Aufschluss, noch der Versuch. Denn setzen wir voraus, es bestehe z. B. bei Ber\u00fchrung von w\u00e4sseriger Salzl\u00f6sung und Wasser eine Anziehung zwischen Wasser und Salzwas-ser, so w\u00fcrden wir uns an der Grenze beider Fl\u00fcssigkeiten zwei gleich m\u00e4chtige, nach entgegengesetzten Richtungen wirkende Kr\u00e4fte vorstellen d\u00fcrfen, gleich m\u00e4chtig, wmil offenbar die Anziehung des Wassers zum\u00ab Salzwasser so gross gedacht werden muss, als die des Salzwrassers zum Wasser. Das Volum der Fl\u00fcssigkeit, das jede dieser Kr\u00e4fte \u00fcber die Grenze (und zwar entweder in das zum Theil festgestellte Salzwasser oder in das Wasser) z\u00f6ge, w\u00fcrde direct proportional sein der Verwandtschaft der Fl\u00fcssigkeit zu einander, und umgekehrt proportional der Coh\u00e4sion und dem spezifischen Gewichte jeder einzelnen Fl\u00fcssigkeit. So einfach kann aber der Hergang nicht aufgefasst werden, weil durch die Versuche von Cloetta und Graham \u00fcber L\u00f6sungsgemenge die Behauptung von Br\u00fccke: dass die Anziehung nicht zwischen Salzl\u00f6sung und Wasser, sondern zwischen Salz und Wasser bestehe, bewiesen ist. Nehmen wir unter dieser Voraussetzung an, es ber\u00fchre sich trockenes Salz und Wasser, und es l\u00f6se sich z. B. das Salz nur in wenigstens t\u00f6TheileW asser, so m\u00fcssten, ganz abgesehen von der Coh\u00e4sion u.s. w., mindestens f\u00fcr 1 Gewichtstheil Salz, welches \u00fcber die Grenze in das Wasser tritt , 10 Gewichtstheile \\S asser in das Salz treten, da die anziehenden Kr\u00e4fte nicht \u00fcber das Verh\u00e4ltnis von l/l0 (1 : 10) steigen k\u00f6nnen; denn es stellen die Zahlen 1 und 10 die sich anziehenden Einheiten vor. Der Versuch gibt aber nat\u00fcrlich keinen Aufschluss, da die Schwere die aus ungleichen Str\u00f6men hervorgehenden Niveaudifferenzen der sich unmittelbar ber\u00fchrenden Fl\u00fcssigkeiten jeden Augenblick ausgleicht und somit die auf das Volum bez\u00fcglichen Folgen der DifFusionsstr\u00f6me verw ischt. Dieser letztere Umstand wird nun allerdings vermieden, wenn zwischen die Fl\u00fcssigkeiten eine Scheidewand geschoben wird, welche von so engen Capillarr\u00f6hren durchzogen ist, dass in betr\u00e4chtlichen Zeiten durch nicht allzuhohe hydrostatische Dr\u00fccke keine merklichen Fl\u00fcssigkeitsmengen durch dieselben hindurchgepresst werden k\u00f6nnen. Dieser Fall ist nun allerdings in der Endosmose verwirklicht, zugleich aber sind neue Complicationen eingef\u00fchrt; denn einmal \u00e4ndern sich die Ber\u00fchrungsfl\u00e4chen von Wasser und Salzl\u00f6sung, da, wie wir gesehen, jedes der Scheidewand angeh\u00f6rige Molek\u00fcl von einer Schicht Wasser umgeben ist (siehe Fig. 6.), somit immer die dem Salzwasser zugekehrte Wasserfl\u00e4che betr\u00e4chtlicher ist, als die dem Wasser zugekehrte Salzl\u00f6sungsfl\u00e4che. Obwohl es nun gelingt, das Verh\u00e4ltnis dieser Fl\u00e4chen festzustellen, so w\u00fcrde es dennoch wmrthlos sein, mit Hilfe desselben die theoretischen Betrachtungen fortzuf\u00fchren, so lange nicht bekannt ist, ob die in der Mitte der Poren liegende Fl\u00fcssigkeitsschicht dieselbe Bew eglichkeit besitzt wie die an den W\u00e4nden haftende. \u2014 Siehe die bisherigen theoretischen Betrachtungen hier\u00fcber in den Abhandlungen von Br\u00fccke, Jolly und Ludwig.\nDer Zeitraum, welcher nothwendig, damit zwei von einer Scheidewand getrennten Fl\u00fcssigkeiten ihre chemischen Differenzen ausglei-chen, ist im Allgemeinen gr\u00f6sser, als wenn eine solche fehlt. Die Rieh\u00ab tigkeit dieser Behauptung ist ohne weiteres klar, indem die Str\u00f6me in so engen Poren offenbar Wiederst\u00e4nde erfahren, die ohne jene nicht vorhanden sind.. In diesem Sinne kann auch noch zugef\u00fcgt werden, dass alles andere gleich gesetzt die Ausgleichungszeit der L\u00f6sungsunterschiede mit der Dicke der Membran respect, der L\u00e4nge der Poren w\u00e4chst. \u2014 Ausser diesen selbstverst\u00e4ndlichen Dingen ist aber noch weiter zu bemerken 1) die Ausgleichungsdauer ist abh\u00e4ngig von dem Werthe des endosmoti-","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Bedeutung der Diffusionen.\n69\nsehen A equivalents (Jolly). Der innige Zusammenhang der zwischen der Ausgleichungsdauer und dem endosmotischen Aequivalent besteht, leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass dieses letztere nichts anderes ist, als ein Ausdruck f\u00fcr die \u00fcberwiegende Richtung des einen Stroms, und weiter, dass die.Ausgleichung niemals durch den einseitigen, sondern immer nur durch den doppelseitigen Strom geschehen kann. Ist also das endosmotische Aequivalent ein grosses, d. h. geht der Strom \u00fcberwiegend einseitig, so wird wohl alles andere gleichgesetzt die Fl\u00fcssigkeit, in welche diese Str\u00f6mung geschieht, durch die andere stark verd\u00fcnnt werden, aber die Ausgleichung dennoch sehr langsam geschehen. \u2014 2) Die in gleicher Zeit sich gegenseitig austauschenden Fl\u00fcssigkeitsmengen sind, alles andere gleichgesetzt, um so betr\u00e4chtlicher, je gr\u00f6sser die chemische Differenz der beiden einander entge-genstehenden Fl\u00fcssigkeiten ist. Demgem\u00e4ss wird z. B, bei einer Entgegensetzung von Wasser und L\u00f6sungen, die St\u00e4rke der Str\u00f6me wachsen mit dem Gehalt dieser letztem an festen Stoffen (Yierordt). Keinenfalls aber kann dieses Wachsthum beider Erscheinungen ein direkt proportionales sein, und zwar darum nicht, weil das endosmotische Aequivalent mit der Conzentration selbst wechselt. \u2014 3) Die einzelnen in einem L\u00f6sungsgemenge enthaltenen Salze gleichen sich, wenn sie reinem Wasser gegen\u00fcbergesetzt werden, mit diesen in ann\u00e4hernd derselben Zeit aus, als wenn jedes einzelne f\u00fcr sich unter sonst gleichen Umst\u00e4nden dem Diffusionsstrome ausgesetzt gewesen w\u00e4re; die Ausgleichungsdauer des langsamer diffundirenden Salzes scheint im Gemenge jedoch um etwas vergr\u00f6ssert zu werden (Cloetta).\nDie Bedeutung der unter dem Namen Diffusion zusammengefassten Ph\u00e4nome ist f\u00fcr den Lebensvorgang eine sehr verschiedenwerthige. \u2014 Unter den'Gasdiffusionen scheinen von besonderer Wichtigkeit nur der Austausch der Gase durch feuchte Scheidew\u00e4nde und die Absorption zu sein; denn nur f\u00fcr diese Vorg\u00e4nge finden sich die Bedingungen vorzugsweise im Thierk\u00f6rper verwirklicht; auf ihnen ruht namentlich die Funktion der Athmung. In dieser Beschr\u00e4nkung wirken aber die Gasdiffusionen ausserordentlich eingreifend, weil eines der wesentlichsten und zugleich das in gr\u00f6sster Menge genossene Nahrungsmittel gasf\u00f6rmiger Sauerstoff ist und der thierische K\u00f6rper in seinem lebendigen Zustand gr\u00f6sstentheils in zwei gasf\u00f6rmige Produkte, in Kohlens\u00e4ure und Wasserdampf, zerf\u00e4llt. \u2014 Unter den verschiedenen Hydro-diffusionen erlangen im Thierleib eine vorwiegende Geltung, die L\u00f6sung, die Ouellung und die Endosmose. Denn die Mischungen von Fl\u00fcssigkei-ten, die sich ohne Scheidewand ber\u00fchren, geschehen wohl schwerlich durch einfache Diffusion, sondern vielmehr mittelst der Ersch\u00fctterungen, denen aile thierische Theile fortw\u00e4hrend ausgesetzt sind. Die Bedeutung der L\u00f6sung erhellt dagegen sogleich, wenn man erw\u00e4gt, dass wir stets feste Massen gemessen, dass diese in Blut, also in eine Fl\u00fcs-","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nPhysiologische Bedeutung der Diffusionen.\nsisfkeit umgewandelt werden, und dass sie aus diesem sich wieder fest\n\u00f6\tO\nniederschlagen um die sogenannten Gewebe zu bilden; diese Gewebe werden aber schliesslich wieder in Harn, Schweiss, Lungen- und Hautdunst verwandelt, was wiederum nur dui*ch einen L\u00f6sungsprozess geschehen kann. Die Quellung und die Endosmose sind aber nicht minder allgemeine Vorg\u00e4nge als diejenigen der L\u00f6sung; denn mit ganz untergeordneter Ausnahme verharren alle festen thierischen TheiJe w\u00e4hrend der ganzen Dauer ihres Bestehens in gequollenem Zustand, und in diesem gequollenen Zustand dienen sie als Scheidew\u00e4nde zur Trennung der verschiedenartigsten Fl\u00fcssigkeiten. So wurde es m\u00f6glich, im thierischen K\u00f6rper ein R\u00f6hrensystem darzustellen, in welchem eine Flusigkeit kreisst, die trotzdem dass sie einen betr\u00e4chtlichen Druck gegen die Wandungen von innen nach aussen \u00fcbt, depnoch unter Umst\u00e4nden mehr von einer das R\u00f6hrensystem umsp\u00fclenden Fl\u00fcssigkeit aufnimmt, als sie in letztere ausstr\u00f6mt. Hiedurch wurde es ferner m\u00f6glich, aus ein und demselben L\u00f6sungsgemenge bald diesen und bald jenen gel\u00f6sten Stoff mit Ausschliessung aller \u00fcbrigen austreten zu lassen, ohne Anwendung anderer Hilfsmittel als der Gegenwart verschiedentlich quellungsf\u00e4higer Scheidew\u00e4nde, indem diese bald dem einen und bald dem andern der gel\u00f6sten Stoffe den Durchtritt durch sich erlauben oder verwehren. Offenbar liegt also in dieser wichtigen Einrichtung der Schl\u00fcssel zur Erkl\u00e4rung der verschiedenartigsten Ausscheidungen aus dem \u00fcberall nahezu gleichartigen Blute. Bei dieser hohen Bedeutung der Hydrodiffusion ist es um so mehr zu bedauern, dass gerade die dem Leben wichtigsten Fl\u00fcssigkeiten und Membranen noch nicht auf ihre Diffusionseigenschaften untersucht sind.","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"71\nDritter Abschnitt.\nPhys iologie des Nervensystems.\nI. Allgemeine Nervenphysiologie.\nA. Physiologie der N erreur \u00d6hren.\nAnatomische Beschaffenheit*). Die frische Nervenr\u00f6hre erscheint optisch vollkommen gleichartig; durch physikalische und chemische Hilfsmittel gelingt aber die Zerlegung derselben in verschiedene Formbestandtheile. Mit R\u00fccksicht auf die bei diesen Zerlegungen hervortretenden Formen theilt man die Nervenr\u00f6hren in markhaltige und marklose. Die erstem erscheinen zusammengesetzt aus einer sehr zarten R\u00f6hrenwandung (Scheide), einem fl\u00fcssigen, der Scheide unmittelbar anliegenden Mark und einem in dieses letzte eingebetteten bandartigen Streifen (Achsenfaser). Die letztem zerfallen dagegen nur in eine Scheide, welche zuweilen mit Kernen besetzt ist, und in Achsenfasern, so dass ihnen zum Unterschied von den vorigen das Mark fehlt.\nOb die erw\u00e4hnten Formbestandtheile dem Nerven auch beim unverletzten Zustand eigen sind, und namentlich ob die markhaltige Nervenr\u00f6hre auch lebend nur aus Scheide und Mark, oder aus Scheide, Mark und Achsenfaser besteht, wird nat\u00fcrlich entschieden sein, wenn man die Achsenfaser im lebenden Nerven sichtbar gemacht hat. Ohne dieses kann man dieselbe immer als ein (das Absterben des Nerven bedingendes) Gerinnungsprodukt ansehen, das seine regelm\u00e4ssige Form der R\u00f6hre, innerhalb deren es gerinnt, verdankt. \u2014 W\u00fcrde sich die Anwesenheit der Achsenfaser im lebenden Nerven nicht best\u00e4tigen, so w\u00fcrden wahrscheinlich auch die Unterschiede der marklosen und markhaltigen R\u00f6hre wieder aufgegeben oder der Unterscheidung wenigstens anders ausgesprochen werden m\u00fcssen, indem man dann auch w\u00e4hrend des Lebens in dem marklosen Nervenrohr einen fl\u00fcssigen Inhalt anzuneh-men gezwungen w\u00e4re. Das Fehlen oder Vorhandensein des Marks bezieht sich ent-\nweder auf den ganzen Verlauf einer R\u00f6hre oder nur auf St\u00fccke derselben, indem in ein und derselben R\u00f6hre markhaltige Stellen mit marklosen abwechseln ; so verliert u. a. zuweilen das sogenannte centrale oder auch das periphere Ende das Mark. \u2014 Die Gr\u00f6sse des R\u00f6hrendurchmessers wechselt sehr betr\u00e4chtlich und zwar sowohl im\nVerlauf derselben R\u00f6hre als auch in den verschiedenen R\u00f6hren eines in gleicher\nWeise th\u00e4tigen Nerven, so dass dieThatsaclien den Wer auf den Wechsel der Durchmesser gelegt hat.\nth nicht rechtfertigen, den man\n*) K\u00f6lliker, Mikroskopische Anatomie II. Bd. a. 391 u.f,","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"12\nChemischer Bau des Nervenrohrs.\nChemische Beschaffenheit*). Die chemische Substanz der Scheide soll elastischer Stoff sein (Mulder) , man schliesst das aus ihrem Verhalten gegen Kalien und S\u00e4uren; der Achsencylinder soll aus einem eiweissartigen Stof! bestehen (K \u00f6l liker) , und ebenso enth\u00e4lt das Mark eiweisshaltige Stoffe in L\u00f6sung (Lehmann). Ausserdem hat man aus der weissen Hirnsubstanz gewonnen: Olein, Oleophos-phors\u00e4ure, Oels\u00e4ure; Margarins\u00e4ure, Cerebrins\u00e4ure, Cholestearin (Fremy). Glycerinphosphors\u00e4ure (Gobley). \u2014 Ueber die besondere Lagerung dieser Fette und ihr Verhalten zu den \u00fcbrigen Bestandtheilen\ndes Nerveninhalts ist nichts bekannt.\nLeistungen des Nervenrohrs. Ein Gebilde, das wie das vorliegende in Form und Atomistik verwickelt ist, wird zu zahllosen Leistungen bef\u00e4higt sein, sei es, dass man es sich selbst \u00fcberl\u00e4sst, oder dass man es in Umst\u00e4nde fuhrt, in denen es einen Eingriff in das Bereich der in ihm vorgehenden Anziehungen erf\u00e4hrt; zu Leistungen, deren Folgen sich entweder innerhalb des Gebildes beschr\u00e4nken, oder sich jenseits seiner Grenzen erstrecken. Von dieser unendlichen Schaar m\u00f6glicher Kraft-\nG\n\u00e4usserungen sind bis dahin aus leicht begreiflichen Gr\u00fcnden nur wenige ein Gegenstand der Aufmerksamkeit gewesen. Zuerst hat sich dieselbe vorzugsweise nur den Erscheinungen zugewendet, welche der Nerv veranlassen kann in einigen Organen, mit welchen er in fertigen und lebenden Thierk\u00f6rpern in normaler Verbindung steht, namentlich mit den Ver\u00e4nderungen, welche er in den empfindlichen Provinzen des Hirns, in den Muskeln und Dr\u00fcsen herbeifuhrt, indem er die Acte der Empfindung, Bewegung und Absonderung anregt. Diese Aeusserungen unseres Gebildes f\u00fchren von Alters her den Namen physiologischer Nervenfunc-tionen. Neben diesen hat die neueste Zeit noch eine andere Reihe von Aeusserungen der Nerventh\u00e4tigkeit in genauere Betrachtung gezogen, n\u00e4mlich diejenigen, welche sie auf eine unter besondern Umst\u00e4nden aufgeh\u00e4ngte Magnetnadel zu \u00fcben vermag. Wir wenden uns nun zun\u00e4chst zur Betrachtung dieser letzteren, den electrischen Leistungen oder Eigenschaften des Nerven, theils weil sie sch\u00e4rfer greifbar sind,\ntheils weil sie uns einen tieferen Blick als alle \u00fcbrigen in die innern Verh\u00e4ltnisse des Nervenrohrs erlauben, und endlich weil sie uns die Betrachtung der physiologischen Eigenschaften sehr erleichtern , da beide Erscheinungsreihen, so weit wir wissen, einander durchaus parallel gehen, wie sich von vorneherein sogleich dadurch ank\u00fcndigt,\ndass beide nur dem lebenden Nerv eigen sind.\nElectrische Eigenschaften. Die zahlreichen und wichtigen Aufschl\u00fcsse, die wir in diesem Gebiete erhalten haben, verdanken wir einzig und allein du Bois - Reymond, der seine Beobachtungen und Schl\u00fcsse in einem Werke *#) niedergelegt hat, das durch Tiefe und Reich-\n*) Lehmann physiologische Chemie III. 114.\n**D Untersuchungen \u00fcber thierische Electricit\u00e4t I. u. IL Btls. 1. Abth. Berlin 1843 u. 1849.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Electrischer Bau des Nervenrohrs.\nUS\nilium des Gedankens und durch Umfang der Bem\u00fchungen in der physiologischen Litteratur den ersten Rang einnehmen d\u00fcrfte.\n1 Hilfsmittel der Untersuchung. Zur Erforschung der electri-schen Eigenschaften des Nervenrohrs bedient man sich des elektrischen Multiplikators und des strompr\u00fcfenden Froschschenkels. Der Multiplikator gew\u00e4hrt den Vortheil, die Gegenwart sehr schwacher electrischer Str\u00f6me nachzuweisen und zugleich sichern Aufschluss \u00fcber die Richtung derselben und \u00fcber ihre in gr\u00f6sseren Zeiten wechselnde St\u00e4rke (\u00fcber das Steigen und Sinken ihrer Intensit\u00e4t) zu geben. Ist der Multiplikator graduirt, so kann durch ihn sogar ein absolutes Mass der durch seine Dr\u00e4hte str\u00f6menden Electricit\u00e4tsmengen erhalten werden. Der Froschschenkel ist nun zwar wegen wechselnder Erregbarkeit von nicht so sicherer Feinheit als der Multiplikator, er zeigt ferner nur Ver\u00e4nderungen in den Intensit\u00e4ten des Stroms, aber keine mit gleicher Intensit\u00e4t anhaltende Str\u00f6me an, er ist endlich nur selten brauchbar um die Stromesrichtung anzugeben, aber dennoch ist er von unsch\u00e4tzbarem Werthc, weil er verm\u00f6ge der Leichtigkeit, mit der er im Gegensatz zur tr\u00e4gen Multiplikatornadel den electrischen Anregungen Folge leistet, noch die Gegenwart sehr kurz dauernder oder ausserordentlich rasche Ver\u00e4nderungen l\u00e4nger dauernder Str\u00f6me angibt.\nUm die Fehler, welche der Multiplikator einf\u00fchren kann, zu vermeiden, und alle Vortheile, die er zu bieten vermag, zu gemessen, muss 1 ) der Multiplikator m\u00f6glichst empfindlich gemacht werden. Dieses geschieht theils durch Anwendung m\u00f6glichst vollkommener astatischer Nadeln, theils durch die betr\u00e4chtliche Zahl von Drahtwin-dungen, die um die Nadel gelegt werden. Du Bois verlangt f\u00fcr Untersuchung der Nervenelectricit\u00e4t wenigstens II000 Umg\u00e4nge eines feinen, m\u00f6glichst eisenfreien Kupferdrahtes. Die L\u00e4nge des sehr feinen Drahtes kann am Multiplikator f\u00fcr thie-risch electrische Zwecke so betr\u00e4chtlich genommen werden, weil die feuchten thierischen Theile einen so m\u00e4chtigen Widerstand in den Kreiss einf\u00fchren, dass dagegen immer noch derjenige des Drahtes verschwindet, also auch keine weitere Schw\u00e4chung der Stromst\u00e4rke bedingt. 2) Stellt sich die Aufgabe, in den Kreis keine Ungleichartigkeiten zu bringen, welche selbst Quellen einer electrischen Str\u00f6mung sind; mit andern Worten, es muss die Nadel des Multiplikators vollkommen in Ruhe bleiben, so lange die Enden des Drahtes in eine indiff\u00e9rente gleichartige Fl\u00fcssigkeit tauchen. Dieses bewerkstelligt du Bois dadurch, dass er die beiden Enden der Multiplikatorendr\u00e4hte mit Platinblechen in Ber\u00fchrung bringt, welche durch chemische Mittel, die*eine Reinigung der Oberfl\u00e4che bedingen, beiderseitig m\u00f6glichst gleichartig gemacht werden. Diese Bleche tauchen in unver\u00e4nderter Stellung in zwei Becher mit concentrirter Kochsalzl\u00f6sung, und sind noch besonders an den ausserhalb der Fl\u00fcssigkeiten gelegenen Abschnitten \u00fcberfirnisst, um bei Bewegungen der Fl\u00fcssigkeit keine neue Metalloberfl\u00e4chen mit ihr in Ber\u00fchrung* zu bringen. In die Becher werden ausserdem B\u00e4usche von Fliesspapier, die mit ges\u00e4ttigter Kochsalzl\u00f6sung vollkommen durchtr\u00e4nkt sind, eingesenkt; die freien Enden dieser B\u00e4usche, die aus der Fl\u00fcssigkeit hervorragen, werden durch einen dritten mit Kochsalzl\u00f6sung durchtr\u00e4nkten Bausch geschlossen. In diesem Zustande muss der Multiplikator, bevor er zu den Versuchen benutzt wird, so lange geschlossen bleiben, bis alle Ungleichartigkeiten in dem Kreise ausgeglichen sind. Ist aber der Kreis statt des einfachen Schliessungsbausches einmal, wenn auch w\u00e4hrend noch so kurzer Zeit,","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nMethode der electrischen Untersuchung.\ndurch eine Elektrizit\u00e4tsquelle geschlossen gewesen, so dass ein Strom durch die Kochsalzl\u00f6sung zu den Platinblechen u. s. w. gegangen ist, so wird nach neuer Schliessung durch den indifferenten Bausch eine Ablenkung der Nadel, oder anders ausgedr\u00fcckt, eine elektrische Ungleichartigkeit in dem Kreise Zur\u00fcckbleiben. Diese Ungleichartigkeit ist bedingt durch die Wasserstoff und Sauerstoffatome, welche von dem Wasser zersetzenden elektrischen Strom frei gemacht, die Platinoberfl\u00e4chen \u00fcber-ziehen (Ladung, Polarisation); diese Ladung ruft bekanntlich jedesmal einen Strom nach einer Richtung hervor, die entgegengesetzt von der Ladungserzeugenden Str\u00f6mung verl\u00e4uft. Die Einrichtungen des Multiplikatorenkreises m\u00fcssen nun so gestaltet sein, dass auch diese Ladungen m\u00f6glichst rasch verschwinden, was aus bekannten Gr\u00fcnden dann geschieht, wenn die Platinenden mit einer grossen Oberfl\u00e4che in den\ngeschlossenen Kreis tauchen und ausserdem die Widerst\u00e4nde diesss letzteren m\u00f6glichst gering werden, d. h. wenn die leitende Fl\u00fcssigkeitsschichte eine m\u00f6glichst geringe L\u00e4nge und einen m\u00f6glichst grossen Querschnitt bietet. Darum n\u00e4hert du Bois seine gro ssen Platinbleche den B\u00e4uschen sehr an und wendet einen breiten Schliessungsbausch an, der in ausgiebiger Ber\u00fchrung mit beiden andern steht. Endlich 3) darf durch die Ber\u00fchrung der thierischen Theile mit den fl\u00fcssigen Multiplikatorenenden (den B\u00e4uschen) keine neue, in den Nerven nicht schon enthaltene Elektrizit\u00e4tsquelle gesetzt werden. Obwohl nun dieses durch die Ber\u00fchrung des Kochsalzes mit den Nerven nicht geschieht; so darf der Nerv dennoch nicht unmittelbar auf die B\u00e4usche gelegt werden, weil das eindringende Kochsalz ihn rasch zerst\u00f6ren w\u00fcrde. Darum legt du Bois, bevor er die Nerven einschaltet auf jeden Bausch ein St\u00fcckchen Harnblase des Schweins, das vorher aufs innigste mit H\u00fchnereiweiss durchfeuchtet worden ist. Von diesem hier geschilderten Apparat gibt die Fig. 9 eine Vorstellung; die Vorrichtung ist in dem Zustande der Schliessung durch den Nerven\ndargestellt.\nFig. 9.\nM","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Methode der electrischen Untersuchung.\n75\nFig. 10.\nN bedeutet den Nerven, HH die mit Eiweiss durclitr\u00e4nkten H\u00e4utchen, B B die B\u00e4usche, G G die Becher, welche his nahe zum Rand mit ges\u00e4ttigter Kochsalzl\u00f6sung gef\u00fcllt sind; PP die Platinhleche deren oberer (schr\u00e4g schraffirter) Theil gefirnisst ist und die mit blanken Enden in die Metallklemmen KK gehen. Diese Klemmen sind au dem metallischen St\u00e4nder SS befestiget, dessen senkrechte St\u00fccke durch eingeschobene Glas cylinder (die schr\u00e4g schraffirten Theile) vom Boden isolirt werden. Aus dem horizontalen Arm des St\u00e4nders f\u00fchrt endlich der Zuleitungsdraht DD zum Multiplikator M, dessen Construktion als bekannt vorausgesetzt wird.\nDas Genauere \u00fcber die Einrichtung und Handhabung dieses Apparates siehe bei du Bois I. Bd. 161 u. f.\nDie Bedeutung welche dem Multiplicator als Messinstrument zukommt, bedarf noch einer weiteren Auseinandersetzung; um sie zu veranschaulichen wenden wir uns sogleich zur Betrachtung eines Beispiels, das als ein Schema der Nerven in elektrischer Beziehung angesehen werden kann. Zu diesemBehufe denken wir uns es sei\n(Fig* 10) auf dem Boden des Troges TT ein aus Kupfer Cu und aus M\t.\tZink Z zusammengel\u00f6thete Platte\nangebracht und es sei dieselbe darauf mit einer leitenden Fl\u00fcssigkeit \u00fcbergossen worden. In diesem Fall werden durch die Fl\u00fcssigkeit elektrische Str\u00f6me dringen von dem positiven zu dem negativen Metall, in der Richtung, welche die Pfeile angeben. Werden darauf die metallischen gleichartigen Enden PP des Multiplikators M in die Fl\u00fcssigkeit getaucht, so wird der urspr\u00fcnglich einfache, die Fl\u00fcssigkeit durchlaufende elektrische Strom sich spalten, indem er nun auch einen Zweig in der Richtung der Pfeile durch den Multiplikatorendraht sendet. Die Aufgabe des Multiplikators besteht nun darin, uns aus dem durch ihn tretenden Zweigstrom eine Vorstellung zu verschaffen \u00fcber Richtung und St\u00e4rke des durch die Fl\u00fcssigkeit tretenden Hauptstroms. Es ist nun sogleich klar, dass die Antheile der Gesammtstr\u00f6mung, welche durch jeden der Zweige (den Draht und die Fl\u00fcssigkeit) hindurchgehen, abh\u00e4ngig sein werden von dem Verh\u00e4ltniss ihrer Leitungswiderst\u00e4nde, in der Art, dass wenn der Widerstand, den die metallische Bahn dem elektrischen Strom entgegen setzt, die H\u00e4lfte von dem betragen w\u00fcrde, den die Fl\u00fcssigkeitsbahn bietet, der Str\u00f6m im Draht ums doppelte den im Trog \u00fcbertreffen w\u00fcrde. 1st demnach das Verh\u00e4ltniss der Leitungswiderst\u00e4nde in beiden Stromzwreigen ein constantes und zugleich bekanntes, so w\u00fcrde man aus dem Grade der Nadelablenkung, den der Stromzweig in dem graduirten Multiplikator erzielte, auch den Stromwerth in der Fl\u00fcssigkeit durch einen einfachen Proportionssatz berechnen k\u00f6nnen \u2014 Gesetzt aber, es w\u00e4re das Verh\u00e4ltniss der Leitungswiderst\u00e4nde zwar ein constantes, dagegen die ihm zukommende Zahl nicht bekannt, so w\u00fcrden wir zwar keinen Aufschluss \u00fcber den absoluten Werth des Stromes in der Fl\u00fcssigkeit erhalten, wir w\u00fcrden dagegen noch mit Sicherheit angeben k\u00f6nnen, ob und welchen Schwankungen die Gesammtstr\u00f6mung unterworfen sei. Denn offenbar m\u00fcsste wegen der Best\u00e4ndigkeit des Verh\u00e4ltnisses der Leitungswiderst\u00e4nde beider Bahnen einer jeden Ver\u00e4nderung der Stromst\u00e4rke in der Fl\u00fcssigkeit auch eine solche in dem Drahte parallel gehen, deren jeweilige Werthe an dem Stande der Nadel abgelesen werden k\u00f6nnten; mit einem Worte, der Multiplikator w\u00e4re statt eines absoluten ein proportionaler","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nMethode der elektrischen Untersuchung'\nMasstaab geworden. \u2014 Wenn dagegen auch noch die Bedingung des best\u00e4ndigen Widerstandsverh\u00e4ltnisses nicht erf\u00fcllt ist, so h\u00f6rt der Multiplikator auf proportionaler Maasstab zu sein; ja es kann sich sogar nun ereignen, dass die im Multiplikator kreisende Elektrizit\u00e4t weder einen Schluss zul\u00e4sst auf die St\u00e4rke noch auf die Richtung des Stromes in der Fl\u00fcssigkeit. In der That tritt bei einer Vorrichtung wie sie unser Schema darstellt ein Umstand ein, der genau so wirkt, als ob das Wi-derstandsverh\u00e4ltniss beider Zweige w\u00e4hrend der Dauer eines in seiner St\u00e4rke schwankenden Stromes ein unbest\u00e4ndiges sei. Dieser Umstand ist aber kein anderer als die Polarisation oder Ladung, welche die Enden eines Drahtes erfahren, der, wie in unserem Fall, zur Nebenschliessung eines durch Fl\u00fcssigkeiten gef\u00fchrten Stromes benutztwird. Diese Polarisation besteht nun bekanntlich in dem Absatz von Zersetzungsprodukten der Fl\u00fcssigkeit auf den beiden Drahtenden in der Art, dass auf derjenigen\nEndplatte P1 in Fig. 11, durch wel-^\tche der urspr\u00fcngliche Strom u u u\nin die metallische Leitung eintritt sich ein elektropositives Zersez-zungsprodukt (in der Fig. durch den senkrecht schraffirten Mantel angedeutet) anlegt, w\u00e4hrend an die Platte P\", durch weiche der Strom austritt, sich das negative (in der Fig. horizontal schraffirte) Zersetzungsprodukt heftet. Die nothwendige Folge dieser Verthei-lung der Zersetzungsprodukte ist die Entstehung eines neuen Stromes, des Polarisations- oder La-dungsstromes, der in einer Richtung sich bewegt, die derjenigen des urspr\u00fcnglichen Stromes entgegengesetzt ist. Denn da der elektromotorisch wirksame Ber\u00fchrungspunkt der Zersetzungsprodukte durch den Muitiplikatorendraht gegeben ist, so wird offenbar der von ihm ausgehende Strom in der Richtung der Pfeile, welche in der Fig. auf der punktirten Bahn gelegen sind, nehmen. Dem gem\u00e4ss kreisen in dem Multiplikatorendrahte gleichzeitig zwei Str\u00f6me von entgegengesetzter Richtung, so dass nun auch ihre an der Nadel zur Erscheinung kommende Wirkung die resultirende ist aus beiden Str\u00f6men; offenbar wirkt also der Ladungsstrom, r\u00fccksichtlich des sichtbaren Erfolges, auf die Nadel, wie ein Leitungswiderstand f\u00fcr die urspr\u00fcngliche Str\u00f6mung. \u2014 Um den Einfluss dieses Ladungsstromes auf das Resultat der Messung beurtheilen zu k\u00f6nnen, mit andern Worten; um angeben zu k\u00f6nnen wie gross der durch den Ladungsstrom vernichtete Antheil des urspr\u00fcnglich im Drahte kreisenden Stromes sei, ist es nothwendig zu wissen, wie mit der Dauer und St\u00e4rke des urspr\u00fcnglichen Stromes, der Ladungsstrom Avachse. R\u00fccksichtlich dieser Verh\u00e4ltnisse steht fest, dass alles andere gleichgegetzt die Ladung zunimmt mit der St\u00e4rke des urspr\u00fcnglichen Stromes, jedoch nicht mit dem Beginn desselben sogleich ihr Maximum erreicht, oder beim Aufh\u00f6ren des ladungerregenden Stromes sogleich auf Null herabsinkt, sondern dass beides, die Entwicklung und das VerscliAvinden der Ladung sehr allm\u00e4lig vor sich gehen* Hieraus folgt nun u. A., dass wenn die St\u00e4rken des urspr\u00fcnglichen Stromes rasch genug Avechseln, um den Ladungen nicht die geh\u00f6rige Zeit zu g\u00f6nnen, zur Annahme desjenigen Werthes, welcher der gerade vorhandenen St\u00e4rke des urspr\u00fcnglichen Stromes entspricht, der Multiplikator eben-sowenig benutzt Averden kann als Mittel f\u00fcr die Bestimmung der St\u00e4rke als f\u00fcr diejenige der Richtung des Stromes, in den seine Enden tauchen. Denn es Arird sich z. B. ereignen k\u00f6nnen, dass, nachdem ein Strom l\u00e4ngere Zeit in betr\u00e4chtlicher Intensit\u00e4t","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Methode der electrischen Untersuchung.\n7T\nbestanden und er die Platten bis auf das seiner St\u00e4rke entsprechende Maximum geladen hat, und er darauf pl\u00f6tzlich betr\u00e4chtlich geschw\u00e4cht wird, der zur\u00fcckbleibende Ladungsstrom das Uebergewicht erh\u00e4lt \u00fcber den Rest des Hauptstromes, so dass darum die Nadel f\u00fcr einige Zeit gerade in eine Richtung gef\u00fchrt wird, welche derjenigen entgegengesetzt ist, nach der sie der Hauptstrom ablenken w\u00fcrde. Weil sich nun die Ladungen \u00fcberhaupt nicht vollkommen vermeiden lassen, so folgt daraus, dass die Nadelablenkungen, welche die in den Dr\u00e4hten des Multiplikators laufenden Str\u00f6me erzeugen, auch nicht als ein direkt proportionales Mass f\u00fcr die in der Fl\u00fcssigkeit vorhandene Electricit\u00e4tsbewegung, vorausgesetzt dass diese eine unregelm\u00e4ssige sei, angesehen werden k\u00f6nnen, sondern dass der Multiplikator unter dieser Bedingung nur dazu dient, um mit H\u00fclfe besonderer sp\u00e4ter noch zu erw\u00e4hnender Kunstgriffe uns im Grossen und Ganzen Angaben dar\u00fcber zu machen, ob die Str\u00f6me einer Fl\u00fcssigkeit im Sinkeu oder Steigen begriffen sind.\nSchliesslich soll dem Anf\u00e4nger zu Liebe noch hervorgehoben werden, dass die St\u00e4rke eines elektrischen Stromes geradezu steigt mit dem Werthe der ihn erregenden (der elektromotorischen) Kr\u00e4fte (E) und geradezu abnimmt im Yerh\u00e4ltniss der Widerst\u00e4nde (W) die die bewegte Electricit\u00e4t auf ihren Bahnen findet. Die Strom-\nE\nst\u00e4rke (S)ist darum immer ausdr\u00fcckbar durch einen Quotient S = \u2014 . Da nun\nder Multiplikator im g\u00fcnstigsten Falle nur den Werth dieses Quotienten misst, so gibt er ohne weitere H\u00fclfsmittel selbstverst\u00e4ndlich keinen Aufschluss \u00fcber die Werthe von E oder W und namentlich auch nicht dar\u00fcber, ob eine Stromvermehrung oder Stromverminderung durch das Wachsen oder Sinken der Stromst\u00e4rke oder des Widerstandes erzeugt sei. Aufkl\u00e4rung dar\u00fcber kann man nur dadurch erhalten, wenn es gelingt, w\u00e4hrend der Messung die Bedingungen willk\u00fcrlich dahin zu \u00e4ndern, dass man bei gleichbleibendem W, das E, oder umgekehrt bei gleichbleibendem Edas W ver\u00e4nderlich macht.\nDen Froschschenkel pr\u00e4parirt man sich behufs thierisch- elektrischer Untersuchungen so, dass man am enth\u00e4uteten Beine den Oberschenkelknochen kurz \u00fcber den Ans\u00e4tzen des M. gastrocnemius durchschneidet, dann alle Muskeln, die die Verbindung zwischen dem unteren und oberen St\u00fccke des Oberschenkels noch hersteilen, l\u00f6st, den Nervus ischiadicus dagegen m\u00f6glichst weit gegen seinen Ursprung frei pr\u00e4parirt und ihn an diesem abschneidet, so dass er in Verbindung mit dem Unterschenkel bleibt. Der strompr\u00fcfende Froschschenkel ist also ein enth\u00e4uteter Unterschenkel, dessen zugeh\u00f6rige Nervenst\u00e4mme m\u00f6glichst lang erhalten sind. Seine Vorz\u00fcge vor dem Multiplikator bestehen 1) darin, dass durch ihn ohne Einf\u00fcgung von Metallen ein Strom gepr\u00fcft werden kann, wodurch alle die am Multiplikator nothwendigen und verwickelten Zwischenapparate wegfallen, 2) aber vorz\u00fcglich darin, dass er eine Seite der elektrischen Str\u00f6mung aufdeckt, welche dem Multiplikator ganz unzug\u00e4nglich ist. Bekanntermassen ist die Magnetnadel zu tr\u00e4g, um einen momentan dauernden Strom \u00fcberhaupt oder wenigstens in der seiner Intensit\u00e4t entsprechenden St\u00e4rke anzuzeigen. Die nothw endige Folge dieser Eigenschaft ist nun auch die, dass die Magnetnadel rasch wechselnden Schwankungen eines Stromes in seinen verschiedenen Phasen nicht zu folgen vermag, sondern dass sie nur die resultirende Wirkung eines in seiner St\u00e4rke und Richtung rasch ver\u00e4nderlichen Stromes darstellt. So w\u00fcrde unter andern eine Magnetnadel gar keinen Strom anzei-gen (auf dem Nullpunkt verharren), wenn in rascher zeitlicher Folge regelm\u00e4ssig wechselnd zwei gleich starke aber in entgegengesetzter Richtung gehende Str\u00f6me sich durch den Multiplikatorendraht dr\u00e4ngen. Ganz anders w\u00fcrde sich aber dann der Froschschenkel verhalten; w egen seines geringen Tr\u00e4gheitsmomentes erleidet er merkbare Ver\u00e4nderungen durch jeden noch so kurz dauernden Strom, und namentlich wiegen seiner Eigenschaft nur durch den in seiner St\u00e4rke ver\u00e4nderlichen Strom zu Muskelbewegungeil veranlasst zu wrerden, tritt er gerade als ein Reagens f\u00fcr","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\tRuhender Nerveiistrom.\njeden Wechsel desselben auf, so dass er z. B. in dem eben erw\u00e4hnten Fall der Str\u00f6mung, welche die Nadel vollkommen in Ruhe liess, in sehr lebhafte Zuckungen ge-rathen w\u00fcrde.\n2. Elektrische Erscheinungen am lebenden Nerven, w\u00e4hrend er sich in einem Zustande befindet, in welchem er innerhalb des thierischen K\u00f6rpers weder Empfindung noch Bewegung noch Absonderung erzeugen wurde. Ruhender Nervenstrom. Das Pr\u00e4parat, an dem du Bois die Untersuchung vornimmt, ist ein frisches langes St\u00fcck eines m\u00f6glichst astlosen st\u00e4rkern Stammes (n. ischiadicus) der am besten von einem lebenskr\u00e4ftigen Kaltbl\u00fcter genommen wird. Indem man dieses St\u00fcck als einen Cylinder ansieht, unterscheidet man an ihm den Cylindermantel (den L\u00e4ngsschnitt), die Cylinderbasis (Querschnitt) und die auf die L\u00e4ngenachse desselben senkrechte Halbirungslinie (den Aequator). Die Untersuchung stellt sich nun zuerst die Aufgabe, zu ermitteln, ob und von welchen Punkten der Oberfl\u00e4che Str\u00f6me zu andern Punkten derselben gehen, und wenn sie vorhanden, wie stark die Str\u00f6mung an jedem Orte ist. Demgem\u00e4ss bringt man den Nerv gleichzeitig an verschiedenen Stellen mit den beiden Zuleitungsb\u00e4uschen, welche in einer constanten Entfernung von einander stehen, in Verbindung. Ber\u00fchrt man nun gleichzeitig die B\u00e4usche mit symmetrisch zum Aequator gelegenen Punkten des Nervenst\u00fccks, gleichg\u00fcltig ob sie auf dem L\u00e4ngs- oder Querschnitte sich befinden, so erscheint keine Ablenkung der Nadeln; unwirksame Anordnung. Ber\u00fchrt dagegen der eine der B\u00e4usche den Aequator und der andere ein zweites St\u00fcck der Oberfl\u00e4che, so entsteht eine Ablenkung; die Gr\u00f6sse der Ablenkung w\u00e4chst rascher und rascher, wenn man mit beiden B\u00e4uschen mehr und mehr gegen die Grenze der Oberfl\u00e4che und des Querschnitts wendet, schwache Anordnung; sie erreicht ein Maximum, wenn man endlich einen Bausch auf der Oberfl\u00e4che zur\u00fcckl\u00e4sst und mit dem andern auf den Querschnitt \u00fcbergeht; starke Anordnung. \u2014 Die Richtung der Str\u00f6me geht in allen F\u00e4llen durch den Multiplikatorendraht von dem L\u00e4ngsschnitt zum Querschnitt und also\nim Innern des Nerven vom Ouerschnitt zur Oberfl\u00e4che.\n^f\nDie um den Aequator gelegenen Theile der Oberfl\u00e4che verhalten sich also positiv gegen die nach den Enden gelegenen und diese wieder positiv gegen- den Querschnitt. Eine Versinnlichung des Wachsthums der Str\u00f6me von ihrem Minimum zu ihrem Maximum bei gleicher Spannweite des ableiten-\nFig. 12a.","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Ruhender Nervenstrom.\nT9\nden Bogens erh\u00e4lt man, wenn man sich die wachsenden St\u00e4rken der Ablenkung als Ordinaten yl,y2,y* u. s.w. auf der Oberfl\u00e4che des Nerven N als Abszisse aufgetragen denkt, wie dies in der Fig. 12a geschehen ist. Die Pfeile geben die Richtung der Str\u00f6me an.\nDiese Curve zeigt also, an, dass auf dem L\u00e4ngenschnitt symmetrisch um den Aequator Str\u00f6me gleicher St\u00e4rke und entgegengesetzter Richtung gehen. Dasselbe setzt sie von den Str\u00f6men auf dem Querschnitte des Nerven voraus, was vorerst noch nicht durch den Versuch dargethan; die Gr\u00fcnde, die die Richtigkeit dieser letzteren Annahme wahrscheinlich machen, werden sp\u00e4ter noch beigebracht werden. Die Form der Curve ist nur als eine schematische anzusehen.\nDie Gegenwart dieser Str\u00f6me von dem L\u00e4ngsschnitt des Nerven zu seinem Querschnitt, kann nun auch durch den Froschschenkel erwiesen werden. Der Versuch, durch den du Bois dieses thut, ist folgender. Er stellt (Fig. 12b) zwei mit con-\nFig. 12b.\tzentrirter Kochsalzl\u00f6sung\nwohl durchfeuchtete B\u00e4usche (B1 B2) die auf einer wohl isolirten Grundlage ruhen, auf; an zwei Stellen beider werden die mit Eiweiss durchdr\u00e4nkten Harnblasenst\u00fcckchen EE angedr\u00fcckt und auf den Bausch B2 ausserdem noch in Glaspl\u00e4ttchen G gelegt; hierauf bringt er einen sehr erregbaren strompr\u00fcfenden Froschschenkel F auf das Glaspl\u00e4ttchen und seinen zugeh\u00f6rigen Nerven auf das Harnblasenst\u00fcck des Bausches B2 mit der Oberfl\u00e4che und auf dasjenige des Bausches B1 mit dem Querschnitt an. Ist dieses geordnet, so verbindet er sehr rasch die beiden B\u00e4usche durch den Schliessungs-bausch S, in welchen augenblicklich, ein Strom von B2 zu Bl dringt, in Folge dessen der Schenkel zuckt. OefFnet man eben so rasch wieder, so entsteht eine zwreite Zuckung. \u2014 Ep bringt also hier ein Strom, der die im Nerven enthaltenen Gegens\u00e4tze auszugleichen strebt, den Nerven in Erregung.\nWenn man die Spannweite des zum Multiplikator ableitenden Bogens statt sie, wie bisher vorausgesetzt wurde, gleich gross zu erhalten, ver\u00e4nderlich macht, so dass z. B. der Nerv mit seinem Aequator auf einem Bausch unver\u00e4nderlich aufruht, w \u00e4hrend der andre mehr und mehr gegen das Ende desselben r\u00fccket, und demgem\u00e4ss nach jedem Weitergang der Bogen l\u00e4ngere Nervenst\u00fccke umspannt, so steigen die Ausschl\u00e4ge der Nadel betr\u00e4chtlich und man erh\u00e4lt den st\u00e4rksten Ausschlag, wenn der Nerv den einen Bausch am Querschnitt und den andern am","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nRuhender Nervenstrom.\nAequator ber\u00fchrt, einen st\u00e4rkeren als wenn irgend eine dem abgeleite-ten OuersehniU nahe liegende Stelle der Oberfl\u00e4che ber\u00fchrt wird.\nDieses bisher beschriebene Verhalten des Nerven gegen die Magnetnadel tritt mit seinen allgemeinen Kennzeichen ein, mag das Nervenst\u00fcck dick oder d\u00fcnn, lang oder kurz sein; jedes noch so kleine der Untersuchung noch zug\u00e4ngige St\u00fcck zeigt unwirksame, schwache und starke Anordnungen und seine Str\u00f6me gehen immer bez\u00fcglich der Richtung: nach demselben Gesetz. So unwesentlich demnach die Masse des Nerven f\u00fcr das Zustandekommen der Str\u00f6me ist, so einflussreich erscheint sie auf die St\u00e4rke derselben. Du Bois hat in R\u00fccksicht dieses letzteren Punktes ermittelt, dass mit der Zunahme der L\u00e4nge und des Querschnittes eines Nerven die St\u00e4rke des Stromes in irgend einem noch unbekannten Yerh\u00e4ltniss w\u00e4chst.\nUm diese Thatsachen festzustellen sind bei den zu vergleichenden Nerven verschiedener L\u00e4nge die Spannweiten des Bogens so zu legen, dass jedesmal die Maxima der m\u00f6glichen Wirkungen gegeben werden; ihr einer Grenzpunct muss demnach der Aequator, der andere der Querschnitt sein. Da nun ferner verschiedene Nerven verschiedene elektromotorische Kr\u00e4fte besitzen k\u00f6nnen und in der That besitzen, wie sich noch zeigen wird, so m\u00fcssen m\u00f6glichst gleichartige Nerven, also die gleichnamigen der beiden Schenkel desselben Thieres, oder auch verschieden dicke Enden desselben Nerven verglichen werden. Endlich f\u00fchrte auch die Verschiedenheit des Querschnittes und der L\u00e4nge des Nerven verschiedenen Widerstand in den Kreis;\ndiese Unterschiede werden anfgeho-ben durch das Verfahren der Com-\npensation, das darin besteht, dass die zu vergleichenden Nervenst\u00fccke gleichzeitig in den Kreis, aber in entgegengesetzter Richtung, eingeschaltet werden, wie diess in Fig. 13 angegeben. Der Nerv B sendet dann einen Strom in der Richtung 1.2. 3 und der Nerv A einen solchen in der Richtung 3.2.1. durch den Kreis. Erscheint in diesem Fall ein Uebergewickt des einen Stromes, so muss dieses von o-r\u00f6ssern elektrischen Leistungen ei-\no\nnes der beiden Nerven abli\u00e4ngen, da der ausserwesentliehe Widerstand (der Widerstand ausserhalb der im Nerven enthaltenen Ketten) in beiden F\u00e4llen gleich ist.\nAusser den Dimensionen des Nerven wirken noch bestimmend auf die Intensit\u00e4t des ruhenden Nervenstroms gewisse innere nicht genauer bestimmbare Verh\u00e4ltnisse der mechanischen und chemischen Anordnung des Nerven. Am st\u00e4rksten erscheint der Strom, wenn der Nerv frisch von einem recht lebenskr\u00e4ftigen Thier genommen wird, und aus einem Glied, welches einige Zeit vorher keinen physiologischen Anstrengungen ausgesetzt war. Dieses Maximum der uns bekannten Stromst\u00e4rke kann auf mancherlei Art willk\u00fcrlich geschw\u00e4cht\n2-,","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"81\nAnordnung* der elec tris ehen Massen.\noder vernichtet werden ; alle diese Schw\u00e4cluingsmiUel haben, so vielfach sie auch sein m\u00f6gen, immer noch gleichzeitig die Folgen die chemische und mechanische Anordnung des Nerven abweichend von derjenigen des frischen Nerven zu gestalten. Wie weit und nach welchen Richtungen die Abweichung gegangen sein muss, um die Ablenkung der Nadel in dieser oder jener Weise zu modificiren, ist ganz unbekannt, was nicht minder zu bedauern als der Umstand, dass wir nicht im Stande sind einmal eingetretene Stromschw\u00e4chungen wieder aufzuheben.\nFolgerungen f\u00fcr die Anordnungen der electrischen Theile im Nerven. Die Schl\u00fcsse, welche f\u00fcr die electrische Massenanordnung aus den bis dahin gegebenen Thatsachen fliessen sind 1) die electrischen Massen des erregbaren Nerven sind in eine Schichte eines feuchten indifferenten Leiters eingebettet, und zwar so, dass sie wirken als ob ihre positive Seite gegen den Cylindermantel, die negative gegen den Querschnitt gewendet sei. Mithindern Worten der erregbare Nerv stellt eine geschlossene S\u00e4ule dar, dessen positiver Pol gegen den L\u00e4ngen-, dessen negativer gegen den Querschnitt gerichtet ist.\nDie Beweise f\u00fcr diesen Satz liegen darin, dass stach auf dem L\u00e4ngenschnitt f\u00fcr sich Str\u00f6me Vorkommen; w\u00e4re in der That die Oberfl\u00e4che des L\u00e4ngenschnitts (die Scheide des Nerven) das positive Glied, so w\u00fcrde gleichzeitige Ber\u00fchrung derselben keinen Strom bedingen; dass dagegen sogleich auf der Oberfl\u00e4che der Nerven ein Strom eintreten muss, wenn man die an der Oberfl\u00e4che undan dem Ouerschnitt enthal-tenen elektrischen Gegens\u00e4tze durch einen indifferenten Leiter verbindet, ist von selbst klar. \u2014 Um diese wichtige Folgerung \u00fcber allen Zweifel zu heben, hat du Bois noch folgende Anordnung mit dem Multiplikator untersucht. \u2014 Mit einem Bausch\n14.\nA brachte er die Oberfl\u00e4che eines quergelegten Nerven 1 in Ber\u00fchrung; an diesen legte er den Querschnitt des Nerven 2 der mit dem Aeqnator seiner Oberfl\u00e4che auf den Bausch B zu liegen kam, diese Anordnung gab den starken Strom von der Oberfl\u00e4che zum Ouerschnitt, was nicht h\u00e4tte eintreffen d\u00fcrfen, wenn die Oberfl\u00e4che der Nerven das positive Glied gewesen w\u00e4re. Die Modifikation dieses letzteren Versuchs von du Bois die Nerven so zu legen, dass die Querschnitte auf die ableitenden B\u00e4usche und der L\u00e4ngeschnitt in der Mitte sich befinden, gibt den Be-weiss, dass auch auf dem Querschnitt die negative Masse mit einem unwirksamen Ueberzug versehen ist; dieser Fall gibt n\u00e4mlich ebenfalls einen starken Strom.\nLudwig*, Physiologie I.\t6","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\nElectrotonisclier Zustand.\nAus den bis dahin mitgetheilten Thatsachen folgt 2) dass die im Nerven enthaltenen positiven und negativen electrischen Massen hintereinander in regelm\u00e4ssiger Reihenfolge wiederkehren. Diese Behauptung wird durch die Erscheinung gerechtfertigt, dass die Gr\u00f6sse des Nervenst\u00fccks keinen Einfluss auf das allgemeine Str\u00f6mungsgesetz ubt, und dass die symmetrisch zum Aequator gelegenen Theile an einem m\u00f6glichst regelm\u00e4ssig geformten Nervenst\u00fcck ganz gleiche Spannungen darbieten, so dass kein Strom zwischen ihnen bestehen kann. In dieser Beziehung zeigt der Nerv Analogie mit einem Magneten.\n3. Electrisches Verhalten des Nerven, w\u00e4hrend ein Theil seiner L\u00e4nge dem Einfluss eines electrischen Stromes unterworfen ist. Elec-\ntrotonischer Zustand. \u2014 Bevor wir die bis dahin mitgetheilten Thatsachen zu noch weitern Folgerungen nutzbar machen, sollen erst die Umwandlungen der electrischen Erscheinungen besprochen werden, welche du Bois im Nerven beobachtete, und zwar zuerst diejenige welche eintritt, wenn man eine kurze Strecke eines langen Nervenstucks in den Multiplicatorenkreis einschaltet und durch das ausserhalb dieses Kreises gelegene Ende einen electrischen Strom von gleichbleibender St\u00e4rke durchtreten l\u00e4sst. Der Versuch gestaltet sich folgendermassen\nM\nFig. 15.\n(Fig. 15): der Nerv N liegt mit einer Abtheilung auf den B\u00e4uschen B B die in bekannter Weise mit dem Multiplikator M verbunden sind, w\u00e4hrend durch einen andern Theil des Nerven N die constante (eine Grovesche oder Bunsen-sche) S\u00e4ule K geschlossen wird. Den Strom dieser S\u00e4ule werden wir den erregenden, das zwischen den Polen der letztem liegende Nervenst\u00fcck das galvanisirte, das auf den B\u00e4uschen liegende das abgeleitete nennen.\u2014 Unter diesen eben gegebenen Bedingungen erf\u00e4hrt der Strom, der urspr\u00fcnglich (vor Anlegung der Kette) im Nerven vorhanden war, eine Ver\u00e4nderung, und zwar eine Verst\u00e4rkung, wenn der in das galvanisirte St\u00fcck geschickte Strom gleiche Richtung mit dem urspr\u00fcnglichen (Nerven) Strom in der abgeleiteten Stelle besitzt und umgekehrt eine Schw\u00e4chung oder g\u00e4nzliche Umkehrung, wenn der erregende Strom das galvanisirte St\u00fcck in einer Richtung durchkreisst, die entgegengesetzt von derjenigen ist, welche dem urspr\u00fcnglichen Nervenstrome in dem abgeleiteten St\u00fccke zukommt. Die Vermehrung (oder Verminderung) des Nervenstroms nennt du Bois den electrotonischen Zuwachs, und den Nerven nennt er in der positiven Phase befindlich, wenn der Nerven- und erregende Strom gleichgerichtet sind (also der erstere verst\u00e4rkt wird),","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"83\nParadoxe Zuckung.\nund umgekehrt, befindet sich der Nerv in der negativen Phase wenn Nerven- und erregender Strom im entgegengesetzten Sinne laufen (also der erstere geschw\u00e4cht wird). Der electrotonische Zuwachs tritt momentan mit dem Schluss der erregenden S\u00e4ule ein, besteht so\nlange sie geschlossen bleibt, und verschwindet momentan mit ihrer Oeffnung.\nDer Verdacht, der sich hier erheben k\u00f6nnte, als ob die beobachtete Nadel-abweichung keine Folge der ver\u00e4nderten elektrischen Eigenschaften des Nerven sei, sondern eine unmittelbare des erregenden Stromes, wird einfach vernichtet, wenn man erf\u00e4hrt, dass der electrotonische Zuwachs ausbleibt, so wie zwischen das erregte und das abgeleitete St\u00fcck ein befeuchteter Faden so fest um den Nerven geschn\u00fcrt wird, dass beide Theile nicht mehr durch Nerveninhalt sondern nur durch die Scheide und den nassen, also E leitenden Faden Zusammenh\u00e4ngen. Ebenso sicher bleibt der elektrotonische Zuwachs, wie \u00fcberhaupt alle elektrische Wirkung aus, wenn ein nicht mehr erregbares Nerveust\u00fcckin gleicher Weise auf die B\u00e4usche gelegt und gleichzeitig von erregenden Str\u00f6men durchkreisst wird. \u2014 Der erregende Stromk\u00f6nnte in der That auf zweierlei Art direkt auf die Nadel wirken; einmal durch die Luft, was man verh\u00fctet, wenn man die S\u00e4ule selbst entfernt von der Nadel aufstellt, und die von ihr zum Nerven gehenden umsponnenen Dr\u00e4hte umeinanderwickelt; oder durch Stromesschleifen, die sich von den an die Nerven angelegten erregenden Polen \u00fcber die Enden des galvanisirten Nervenst\u00fccks hinaus erstrecken. Diese Schleifen werden vermieden oder auf einen sehr engen Raum beschr\u00e4nkt, wenn die Pole des erregenden Stromes aus feinen Dr\u00e4hten bestehen, und der Zwischenraum zwischen beiden nicht zu gross genommen wird. In diesem Fall kann man die Dr\u00e4hte des erregenden Stromes bis auf 2 M. M. den ableitenden B\u00e4uschen n\u00e4hern, ohne ein Uebergehen der Str\u00f6me aus dem erregenden in den Multiplikatorkreis zu gewahren.\nParadoxe Zuckun g. Das Eintreten und Verschwinden des elektro tonisch en Zustandes l\u00e4sst sich nach du Bois auch durch den strompr\u00fcfenden Froschschenkel darlegen. Man ordnet den Versuch nach dem Schema an das die Fig. 16 gibt. Den Nerven eines strompr\u00fcfenden, sehr lebenskr\u00e4ftigen Froschschenkels iV legt man in innige Ber\u00fchrung mit einem noch m\u00f6glichst erregbaren Nervenst\u00fcck M, an dieses schl\u00e4gt man bei S eine ganz lockere Schleife, so dass der Nerv in keiner Weise gedr\u00fcckt wird, und an sein Ende legt man ihn auf zwei sehr nahe stehende und sehr feine Dr\u00e4hte, welche mit der IS\u00e4ule K in Verbindung stehen. Der Schluss oder die Oelfnung der S\u00e4ule geschieht durch die Herstellung oder Unterbrechung der Leitung in einem der Dr\u00e4hte, indem man zwei einander zugekehrte Enden desselben in ein Ouecksilbern\u00e4pfchen Q taucht.\nFi\u00ab:. 16.\na\nIn dem Momente wo die Schliessung oder Oeffnung der Kette erfolgt, tritt eine Zuckung in den Schenkeln ein. Dass auch hier kein unmittelbares Uebertreten der Elektricit\u00e4t aus der Kette K in den Nerven N stattfinde, wird dadurch bewiessen, dass die Zuk-kung beim Schliessen und Oeffnen der Kette ausbleibt, wenn die Schlinge K des wohldurchfeuchteten Fadens S so fest zuge-\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"g4\tElectrotonischer Zustand.\nschn\u00fcrt wird, dass der Inhalt des Nerven M zwischen der erregten und der mit dem Nerven N in Ber\u00fchrung befindlichen Stelle unterbrochen wird. Als Erregungsmittel des strompr\u00fcfenden Froschschenkels dient also nichts anderes als die im Marke des erregten Nerven M anschwellenden und sinkenden elektrischen Str\u00f6me im Momente der Schliessung und. Oeffnung der Kette K.\nDie St\u00e4rke des electrotonischen Zuwachses, resp. die durch ihn herbeigef\u00fchrte Vermehrung der Nadelablenkung unter Voraussez-zung einer gleichen Spannweite der ableitenden B\u00e4usche des MultipJicators ist abh\u00e4ngig von folgenden Umst\u00e4nden:\na)\tDer Zuwachs erscheint bei Auflegung der urspr\u00fcnglich unwirksamen oder schwachen Anordnungen des Nerven sehr viel betr\u00e4chtlicher als beim Auflegen der urspr\u00fcnglich kr\u00e4ftigen Anordnung des Nerven. Diese Behauptung wird dadurch gerechtfertigt, dass die im electrotonischen Zustand von der Oberfl\u00e4che des Nerven abgeleiteten Str\u00f6me fast so betr\u00e4chtlich sind, als die von der Oberfl\u00e4che und dem Ouerschnitte abgeleiteten.\nb)\tDie St\u00e4rke des Zuwachses steigert sich mit der Ann\u00e4herung an die Electroden des erregenden Kreises ; das Gesetz seiner Zunahme mit der N\u00e4herung an den erregenden Kreis ist aber nicht das der einfachen Proportionalit\u00e4t, sondern das eines urspr\u00fcnglich raschen\nund dann nur sehr allm\u00e4hligen Steigens, so dass ann\u00e4hernd dasselbe durch folgende Curve (Fig. 17) dargestellt wird; in dieser Curve bedeuten die H\u00f6hen der Ordinaten y die St\u00e4rken des Zuwachses auf der jeweiligen Stelle der Nerven N wenn die erregende Kette ZP in der gegebenen Steilung sich findet.\nDie Auffindung dieses Gesetzes der Ver\u00e4nderung des elektrotonischen Zuwachses auf der L\u00e4nge des Nerven, die besondere Schwierigkeiten bietet, ist auf zwei Wegen m\u00f6glich\u00bb Entweder man verr\u00fcckt auf den B\u00e4uschen die abgeleitete Stelle und l\u00e4sst die erregende unver\u00e4ndert; in diesem Fall misst man die Resultirende aus den zweien mit der L\u00e4nge der Nerven ver\u00e4nderlichen Gr\u00f6ssen, n\u00e4mlich der Ver\u00e4nderung des Nervenstromes und der des elektrotonischen Zuwachses, denn es ist, was besonders hervorzuheben, der Nerv im elektrotonischen Zustand auch noch dem Gesetze des urspr\u00fcnglichen Nervenstromes unterworfen. In diesem Fall wird also die Curve der scheinbaren, (d. h. der am Multiplikator sichtbaren) Stromst\u00e4rke auf dem Nerven so sein, wie sie Fig. 18 darstellt. Diese Curve ist folgendermassen zu verstehen: a ob ist die Curve des Nervenstromes d. h. die Ordinaten a Y bis bYbedeuten die Wechsel in der Gr\u00f6sse der Ausschl\u00e4ge, welche man erh\u00e4lt wenn man \u00fcber den Nerven, bevor er im elektrotonischen Zustande war, mit je-desmal gleickweit entfernten B\u00e4uschen hingeht. Die Darstellung, dass von a bis o die Ordinaten positiv und von o bis b negativ sind, bedeutet die Umkehr des Stromes, wie sie auch durch die Pfeile im Nerven N angedeutet ist. h c und debedeu-\nFig. 17.\nN","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Eie ctrotoniseher Zustand.\n85\nFig. 18.\nten die Ver\u00e4nderung in deni Werthe des elektrischen Zuwachses, wenn der Strom den\ndie Elektroden PZ durch den Nerven schicken in der Richtung des Pfeiles durch ihn\ngeht, der zwischen den Elektroden gezeichnet ist. Die algebraische Summe beidei Ordinaten an jedem Punkte wird die jeweilige Ordinate der Resultirenden beider darstellen. Die aus ihrer Zusammenstellung hervorgehende Curve ist 1. 2. 3. 4. 5.. Wie man sieht liegt diese Curve in der H\u00e4lfte wo der Nerven- und erregender Strom gleichgerichtet sind auf der positiven Seite \u00fcber der Curve des Nervenstroms (positive Phase) auf der anderen Seite des Aequators o in der negativen Phase liegt unsre Curve dagegen zum Theil auf der positiven Seite, schneidet aber bei 4 die Abszissenachse und erreicht nun bei 5 ihr Maximum auf der negativen Seite. Obwohl die Hilfsmittel noch nicht so weit gediehen sind, um aus den Messungen mit Sch\u00e4rfe die Curve abzuleiten, so entspricht doch die Messung der theoretischen Entwicklung so ann\u00e4herend, dass die Richtigkeit der hier gegebenen Vorstellung vom Zuwachs nicht bezweifelt werden kann.*)\u2014Die andre Art der Messung gewinnt den Werth des elektrotonischen Zuwachses auf direkterem Weg, indem sie den Ort des abgeleiteten Nervenst\u00fccks unver\u00e4ndert l\u00e4sst, dagegen den erregenden Strom dem aut den B\u00e4uschen liegenden Nerven bald n\u00e4hert und bald von ihm entfernt. In diesem Fall wird begreiflich die vom Nervenstrom herr\u00fchrende Ver\u00e4nderlichkeit beseitigt. Auch diese Messung best\u00e4tigt die im Text gegebene Curve des Zuwachses.\nc)\tDie Abh\u00e4ngigkeit des electrotonischen Zustandes von der Dichtigkeit und St\u00e4rke des erregenden Stromes gestaltet sich so, dass urspr\u00fcnglich mit dem Steigen des erregenden Stromes auch der electro-tonische Zustand w\u00e4chst, bald aber ein Maximum erreicht, \u00fcber das hinaus beim weiteren Steigen des erregenden Stromes die St\u00e4rke des electrotonischen Zustandes nicht gesteigert wird.\nd)\tDie St\u00e4rke des electrotonischen Zustandes w\u00e4chst mit der L\u00e4nge des Nervenst\u00fcckes, welches in den erregenden Kreis eingeschoben wird.\nDie Eigenschaft des elektrotonischen Zustandes, seine Wirkungen auf anliegende Theile durch ein unterbundenes Nervenst\u00fcck nicht weiter zu verbreiten, gibt die M\u00f6glichkeit an die Hand, auch die unter d angef\u00fchrte Thatsache direkt zu erwei-\n*) Die um ein kleines geringere St\u00e4rke, welche der elektrotonische Zuwachs in der negativen\nPhase constant gegen den der positiven Phase zeigt ist hier vernachl\u00e4ssigt worden.","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nAnordnung der electrischen Massen.\nsen. Wollte man n\u00e4mlich die St\u00e4rke des Zuwachses an einer bestimmten Stelle des Nerven pr\u00fcfen, w\u00e4hrend man die L\u00e4nge des in den erregenden Kreis eingeschobenen St\u00fcckes bald k\u00fcrzer bald l\u00e4nger w\u00e4hlte, so w\u00fcrde man damit zugleich die Stromst\u00e4rke in dem erregenden Kreise \u00e4ndern, indem man n\u00e4mlich hierdurch den Widerstand steigerte und schw\u00e4chte. Um diese Fehler zu vermeiden, l\u00e4sst du Bois die L\u00e4nge des Nervenst\u00fcckes zwischen den Polen der S\u00e4ule unver\u00e4ndert, unterbindet aber, nachdem er vorher die St\u00e4rke des Zuwachses festgestellt hat, den Nerven in der Mitte zwischen beiden Polen, wodurch die H\u00e4lfte des erregten Nervenst\u00fccks seine Wirsamkeit f\u00fcr die Vermehrung des elektrotonischen Zustandes im abgeleiteten Nervenst\u00fcck verliert.\ne) Die St\u00e4rke des electrotonischen Zuwachses ist vom Winkel abh\u00e4ngig, welchen der Zweig des erregenden Stromes mit der L\u00e4ngenachse des Nerven bildet; wird der erregende Strom unter einem rechten Winkel zur L\u00e4ngenachse des Nerven durchgeleitet, so tritt gar kein elektrotonischer Zustand ein, w\u00e4hrend dieser letzteren alles andere gleichgesetzt im Maximum erscheint, wenn die Stromrichtung in die L\u00e4ngenaxe des Nerven f\u00e4llt.\nDu Bois hat sich, wie aber auch ohne Bemerkung vorausgesetzt werden d\u00fcrfte, \u00fcberzeugt, dass die bei dem zuerst erw\u00e4hnten Versuch immer nur geringe L\u00e4nge des einschiebbaren Nervenst\u00fcckes nicht den Grund f\u00fcr das Ausbleiben des elektrotonischen Zustandes abgibt.\nf) Die Gr\u00f6sse der vorhandenen physiologischen Leistungsf\u00e4higkeit des Nerven bestimmt endlich die St\u00e4rke des electrotonischen Zuwachses. Je frischer und lebenskr\u00e4ftiger der Nerv ist, welcher dem Einfluss der Kette unterworfen ward, um so betr\u00e4chtlicher wird der Zuwachs; aus diesem Grund nimmt nun auch in der Kette,-durch welche die Erregbarkeit des Nerven geschw\u00e4cht wird, und zwar um so rascher je intensiver und dichter der in ihr kreisende Strom ist, die St\u00e4rke des electrotonischen Zuwachses fortw\u00e4hrend ab, und sinkt auf Null, wenn die physiologische Leistungsf\u00e4higkeit verschwunden ist.\nBisher sind die Umst\u00e4nde betrachtet, welche unter Voraussetzung einer gleichen Spannweite des ableitenden Bogens einen Einfluss auf die Gr\u00f6sse der durch den electrotonischen Zustand herbeigef\u00fchrten Nadelabweichung \u00fcbten. Es bleibt noch \u00fcbrig zu betrachten, welcher Erfolg eintritt, wrenn die Spannweite des Bogens, also die L\u00e4nge und der Querschnitt des abgeleiteten Nervenst\u00fcckes wechselt. D u Bois hat hier ermittelt, dass diese F\u00e4lle nach Analogie der Zus\u00e4tze\nneuer Glieder in eine gew\u00f6hnliche galvanische Kette zu beurtheilcn sind.\nF o rt s e tz u n g d er F o 1 g er u n g e n f \u00fc r di e el ec t ri s ch e An o r d-\nnung des Nerven. Bis dahin hatten wir vom electrischen Gesichtspunkt aus den Nerven aufgefasst als ein Gebilde, das aus electrischen Ungleichartigkeiten bestand, die in sehr kleinem Raume vertheilt, in regelm\u00e4ssiger Folge wiederkehrten. Die Darstellung des electrotonischen Zustandes erlaubt es nun geradezu auszusprechen, dass die electrischen Ungleichheiten auf kleinste Theilchen irgend welcher Form, eiectri-","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie der peripolaren Anordnung.\n87\nsehe Molek\u00fcle, vertheilt sind, welche in verschiedenen Zust\u00e4nden des Nerven verschiedene Stellungen einnehmen k\u00f6nnen. In dem ruhigen Zustand des lebenden Nerven liegen je zwei dieser Molek\u00fcle mit ihren gleichnamigen Enden einander zugekehrt, so dass aus beiden scheinbar ein Gebilde mit einer positiven Zone und zwei negativenPolen entsteht (Peripolarer Zustand). In dem electrotonischen Zustande sind die Molek\u00fcle dagegen so geordnet, dass sie sich immer die ungleichnamigen Pole zu wenden (dipolarer Zustand, s\u00e4ulenartige Polarisation). Folgende Figuren geben die bildliche Vorstellung; in ihnen ist, um das Verhalten der Nerven auf Quer- und L\u00e4ngsschnitt klar zu machen, das Rohr nur mit einer Reihe von Molek\u00fclen (obwohl es ihrer in Wirklichkeit auch auf dem Querdurchmesser zahllose sein m\u00fcssen) erf\u00fcllt gedacht worden.\nPeripolarer Zustand.\nFig. 20.\nDipolarer Zustand.\nDie Gr\u00fcnde f\u00fcr diese Vorstellung liegen einfach darin, dass diese Anordnungen allen gefundenen Thatsachen Gen\u00fcge leisten. Die fixirte Vertheilung der Ungleichheiten auf bewegliche Molekeln wird namentlich durch die momentan eintretenden Stromes Ver\u00e4nderungen verlangt.\nZur weiteren Begr\u00fcndung und Aufkl\u00e4rung noch Folgendes:\n1) Peripolare Anordnung. \u2014 Du Bois versenkte ein k\u00fcnstliches peripolar- elektrisches Gebilde in einen Trog mit leitender Fl\u00fcssigkeit und studirte die Str\u00f6me, welche dasselbe durch die Fl\u00fcssigkeit respective durch die in dieselbe eingesenkten Platten eines Multiplikators sendete. Die einfachste Anordnung, die hier gegeben werden kann, besteht darin, an den Enden einer beliebig langen viereckigen Zinkplatte jederseits eine Kupferplatte von gleicher Breite und halber L\u00e4nge des\nZinkes anl\u00f6then zu lassen, und sie als Boden eines rechteckigen Kastens zu benutzen, welcher mit einer Fl\u00fcssigkeit gef\u00fcllt ist, die so viel als m\u00f6glich die Ladungen der Kupferplatte ausschliesst. in unserem Falle w\u00e4re also Salpeters\u00e4ure oder schwefelsaure Kupferoxydl\u00f6sung anwendbar.\nDie Theorie verlangt nun, dass die an den Zinkkupfergrenzen entwickelten elektrischen Massen sich auszugleichen streben; zun\u00e4chst werden sie auf die mit einer ausgezeichneten Leitungsf\u00e4higkeit begabten Metalle ausstr\u00f6men, so dass sich sehr bald alle Theilchen der Metallplatte in gleicher elektrischer Spannung befinden, nur mit dem Unterschiede, dass alle Kupfertheilchen negativ und alle Zinktheilchen positiv elektrisch geladen sind. Von jedem Ort dieser Platte, in so ferne er mit leitender Fl\u00fcssigkeit bedeckt ist, wird nun ein Strom in die Fl\u00fcssigkeit austreten, und zwar wird, indem wir nur die Str\u00f6mung positiver Elektrizit\u00e4t in das Auge fassen,","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie der peripolaren Anordnung.\n3V3\u00ceI JE 1\n1\t0 l n JlT TV*\nvon den Zinktheilchen ein Strom gegen die Kupfertheilcken durch die Fl\u00fcssigkeit gehen. Die St\u00e4rke des Stromes, die von jedem Theilclien aiisgeht, nimmt nun bekanntlich, bei Voraussetzung gleicher elektromotorischer Kr\u00e4fte, in geradem Verh\u00e4ltnis mit dem Wachsthum des Widerstandes ab, der sich ihm bei seinem Austritt entgegensetzt. Der Widerstand w\u00e4chst aber, bei Voraussetzung gleicher Breite des Stromes, wie hier geschehen, mit der L\u00e4nge des Weges, den er zu durchlaufen hat, um von seinem Ausgangspmiete in das negative Kupfer einzukehren. Alle diese Forderungen sind in Fig. 2! graphisch dargestellt. Diese Figur bedeutet einen nach\nobigen Angaben gebauten Kasten; am Boden sind die Zink-und die Kupferplatten. Verfolgen wir nun die einzelnen (Theil) Str\u00f6me, welche von den Punkten 1, 2, 3, 4 des Zinkes\n\u00a3,u\tgj\tg-*\tdurch die Fl\u00fcssigkeit\n**\u25a0\tzu 1, II, III, IV des\nKupfers gehen, so ist ersichtlich, dass die von 1 zu I verlaufenden Str\u00f6me st\u00e4rker sein werden, als die von 2 zu II dringenden u. s. w. und es wird zwar ihre Intensit\u00e4t abnehmen, wie die L\u00e4nge der bogenf\u00f6rmigen Bahnen w\u00e4chst. Dieses Verhalten der Str\u00f6me ist in der Figur durch die abnehmende Dicke der Striche angedeutet*).\nIn allen F\u00e4llen werden aber Str\u00f6me vom Zink zum Kupfer gehen; ist, wie in unserer Anordnung zu beiden Seiten des Zinks Kupfer vorhanden, so werden in der Fl\u00fcssigkeit von dem Zinke, von dem Aequator 4 aus, Str\u00f6me in entgegengesetzter Richtung laufen. Diese entgegengesetzt gerichteten Str\u00f6me, werden aber bei vorausgesetztem Ebenmaass aller Theile ( d. h. des Widerstandes und der elektromotorischen Kr\u00e4fte) in denselben Abst\u00e4nden von der Mittellinie unseres Systems in gleicher St\u00e4rke wiederkehren, und somit wird dasselbe in zw ei zerfallen, deren Str\u00f6mungsrichtung zwar entgegengesetzt ist, die sich aber ausserdem vollkommen identisch sind. Es wird nun, unter Ber\u00fccksichtigung des fr\u00fcher Mitgetheilten leicht be-urtheilt werden k\u00f6nnen, was eintritt, wenn man die ableitenden Platten des Multiplikators bis nahe auf den Metallboden einsenkt und durch die Fl\u00fcssigkeit f\u00fchrt. Wir wollen zuerst voraussetzen, es sei der Abstand (die Spannweite) der Platte in allen F\u00e4llen gleich der Entfernung je zweier benachbarter Zahlen, so wird, wenn wir auf 4, 3 aufsetzen, ein schwacher Strom durch den Multiplikator gehen, weil nur geringe und schwache Theilstr\u00f6me in seine Platte dringen, setzen wir auf 3, 2 so w\u00e4chst die Ablenkung der Nadel sehr betr\u00e4chtlich, weil eine gr\u00f6ssere Zahl und noch dazu intensiverer Theilstr\u00f6me in die Platten treten, und die Ablenkung erreicht ein Maximum, wenn wir eben jenseits 1 und 0 angelangt sind, weil nun s\u00e4mmtliche Theilstr\u00f6me auf sie wirken. A on da ab wird die Ablenkung wieder abnehmen bis zur Stellung III, IV. \u2014 Wenn man aber mit ver\u00e4nderlichen statt mit gleichbleibenden Spannweiten der Platten durch die Fl\u00fcssigkeit geht, so k\u00f6nnen ersichtlich mannigfache Erfolge eintret en; einer von diesen ist besonders bemerkenswerth; bringt man n\u00e4mlich ableitende Platten zeitlich nach einander auf 3,3; 2,2; 1,1 ; 0,0; II; II II; III III; IV IV; also auf symmetrisch zur Mittellinie des ganzen Syst\u00e8mes gelegene Punkte, so wird die Magnetnadel gar nicht abgelenkt werden,\n) Die obige Angabe enth\u00e4lt noch, wie der Wissende sogleich sieht, eine Unrichtigkeit. Dieser Fehler h\u00e4tte nur vermieden werden k\u00f6nnen, wenn man entweder ausf\u00fchrlicher als hier m\u00f6glich die Lehre von den isoelektrischen Curven entwickelt oder ganz darauf verzichtet h\u00e4tte die Theorie des peripolaren Molekels zu erl\u00e4utern*","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie der peripolaren Anordnung.\n89\nweil die ableitenden Platten jetzt in Orten stehen, die von gleich intensiven aber entgegengesetzt gerichteten elektrischen Str\u00f6men durchzogen sind.\nBegreiflich wird nun eine Umsetzung der ebenen Form des peripolaren Systems in eine andere z. B. eine cylindrische, die Art des Hergangs nicht wesentlich \u00e4ndern. Dennoch lohnt es sich der M\u00fche, noch den Fall zu betrachten, wenn eine gr\u00f6ssere Zahl peripolarer Systeme zusammengeh\u00e4uft Vorkommen.\nWir wollen auch in dieser Anordnung voraussetzen, dass sie vollkommen regelm\u00e4ssig sei, sowohl in Beziehung auf die Verkeilung der elektrischen Massen, als auch der leitenden Fl\u00fcssigkeiten. \"Diesem System geben wir beispielsweise die in Figur 22 gezeichnete Gestalt.\nFig. 22.\nDie um jedes einzelne peripolare Molekel gehenden Grenzstr\u00f6me sind durch den Strich mit dem Pfeil angedeutet, deren Verlauf aus dem vorigen Schema ohne weitere Zus\u00e4tze klar sein wird. Setzen wir in dieses System bei hinreichender Entfernung der elektromotorischen Theile von einander die ableitenden Platten auf 1 2; 2 3; 3 4 : oder auf 1 II; oder a \u00ab; oder \u00fcberhaupt auf die \u00f6fter wiederkehrenden Stellen gleich starker aber entgegengesetzter Str\u00f6mung, so erhalten wir keine Nadelablenkung. Wir erhalten dagegen schwache Abweichungen beim Aufsetzen auf ac, ba u. s. w. Das Maximum der m\u00f6glichen Ablenkung dagegen beim Aufsetzen auf die Punkte aA\\ e A u. s. w. Stellen, welche offenbar den Punkten l I u. s. w. des vorhergehenden Schemas entsprechen.\nSo mannigfache Analogien dieses eben dargestellte System, das wir schon fr\u00fcher als das Schema der elektrischen Anordnung im Nerven betrachteten, mit dem Nerven darbietet, so betr\u00e4chtlich weicht es in einem Punkte ab. Von der ganzen Oberfl\u00e4che des Nerven fanden wir n\u00e4mlich eine Str\u00f6mung vom Aequator nach dem Mittelpunkte des Querschnittes, w\u00e4hrend hier nur zahlreiche Einzelstr\u00f6me um je ein peripolares System sich darstellen.\nWenn das hier betrachtete Schema also dem Nerven entsprechen sollte, so m\u00fcssten die Str\u00f6me der einzelnen Glieder unseres Conglomerates sich zu einem Ge-sammtstrome vereinigen, der in der Richtung der bei 2 und 3 an der Umgrenzung gelegenen Pfeile um das ganze System verliefe. Es fragt sich also, ob die Nerven durch einen solchen Umstand von dem hier betrachteten Schema abweichen, der im Stande w\u00e4re, den gefundenen Widerspruch zu l\u00f6sen; dieses ist nun in der That der Fall. Am Nerven besteht n\u00e4mlich die in unserem Schema angenommene gleichm\u00e4s-sige Verkeilung des feuchten Leiters nicht, indem namentlich die Grenzschichten der Molekeln mit einer leitenden Masse von sehr betr\u00e4chtlichem Querschnitt \u00fcberzogen sind, n\u00e4mlich den in und auf der Scheide befindlichen Fl\u00fcssigkeiten. Da nun, wie bekannt, die St\u00e4rke der Str\u00f6me bei gleichen elektromotorischen Kr\u00e4ften in dem Maasse w\u00e4chst, in welchem der Widerstand abnimmt, und dieser, alles andere gleich","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nTheorie der dipolaren Anordnung.\ngesetzt, um so geringer wird, je mehr der Querschnitt zunimmt, so werden die Grenzmolekeln einen kr\u00e4ftigeren Strom aussenden als die mittleren. Diese Ungleichheit gibt nun, wie d u B o i s durch Versuche am Schema erwiessen, Str\u00f6me in der Richtung wie sie der Nerv besitzt.\nAus der Betrachtung der verschiedenen hier vorgef\u00fchrten Schemata und namentlich des letzteren, un4 aus der Voraussetzung, dass die peripolaren Molekeln von ausserordentlicher Kleinheit sind, ergibt sich auch noch die wichtige Thatsache, dass, abgesehen von allen fr\u00fcheren Mittheilungen in keinem Fall aus der Gr\u00f6sse der Nadelablenkung im Multiplikator auf die absoluten Werthe der Str\u00f6me oder gar der elektromotorischen Kr\u00e4fte in der Kette geschlossen werden kann, und dieses zwar darum nicht, weil durch den Multiplikator nur der Zweig eines Stromes kreisst, der erst selbst Wiederaus einer complizirten Gegenwirkung vieler Einzelstr\u00f6me hervorgegangen ist. In der That fand du Bois in seiner aus Zink und Kupfer bestehenden der Fig. 24 entsprechenden Vorrichtung immer nur sehr schwache Nadelablenkungen, obwohl er auch zu ihrer Untersuchung seinen empfindlichen Multiplikator benutzte.\n2) Dipolare Anordnung. \u2014 Die Gr\u00fcnde, welche die Annahme vertheidigen, dass unter dem Einfluss eines constanten galvanischen Stromes die elektrischen Molekeln des Nerven aus der peripolaren Lage in die dipolare \u00fcbergehen, sind theils den Beobachtungen am Multiplikator entnommen, theils st\u00fctzen sie sich auf Folgerungen aus bekannten Wirkungsgesetzen der galvanischen Str\u00f6me. Die Thatsache,\ndass der Nerv w\u00e4hrend des elektrotonischen Zustandes auch von solchen Stellen sei-\n!\u00bb\nnes Verlaufes, die w\u00e4hrend der Anwesenheit des ruhenden Nervenstroms keine Nadelablenkungen herbeif\u00fchren, Str\u00f6me von einer solchen St\u00e4rke ausschickt, wie sie sonst nur zwischen Quer- und L\u00e4ngenschnitt Vorkommen, errweisst, dass auf diesen Stellen nunmehr eine Lagerung der Molekeln eingetreten sein muss, die eine eben so starke Spannung herbeif\u00fchrt, wie sie fr\u00fcher nur zwischen Quer- und L\u00e4ngenschnitt\nbestand; mit andern Worten, es m\u00fcssen hier + und \u2014 Theilchen mit einander ab-w echseln. Da nun aber rings um den Nerven, aller Orten, wo man auch die ableitenden B\u00e4usche anlegen mag, die starken Str\u00f6me erscheinen, so muss in sehr kleinen Abst\u00e4nden das und \u2014 mit einander wechseln. Die Theorie, wrelche du Bois in Folge dieser Thatsachen gibt, empf\u00e4ngt ihre Bekr\u00e4ftigung, w^enn man den Hergang am Nerven mit den elektrolytischen Wirkungen vergleicht. Bekanntlich erl\u00e4utern sich sowrohl die Zersefzungserscheinungen, welche ein elektrischer Strom in zerlegbaren Fl\u00fcssigkeiten herbeif\u00fchrt als auch die Stromleitung durch dieselben vollkommen, wenn man annimmt, dass die zwischen den Polen gelegenen chemischen Atome ihre negative Seite gegen die positive Elektrode und ihre positive gegen die negative Elektrode wenden. Diese aus der Physik bekannte Darstellung ruft beistehende Fig. 23 in das Ged\u00e4chtniss zur\u00fcck. \u2014 Ueber-\nFig* 23.\ttr\u00e4gt man diese Vorstellung einfach auf den Nerven,\nw\u00e4hrend sich ein Theil seiner L\u00e4nge in einer geschlossenen Kette befindet, so m\u00fcssen die zwischen den Polen dieser letztem gelegenen Molekeln in gleicher WTeise geordnet gedacht werden. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Vorg\u00e4ngen, dem physiologischen und physikalischen, besteht darin, dass im elektrotonischen Nerven die Molekeln auch noch jenseits der Pole der geschlossenen Kette, w ohin ihr Strom nicht mehr reicht, geordnet werden, was in der elektrolysirbaren Fl\u00fcssigkeit nicht geschieht, eine Annahme die durch Fig. 24 versinnlicht wird. Die M\u00f6glichkeit dieses Geschehens scheint darin zu. liegen, dass die Molekeln des Nerven leichter zu elektrolysiren ( oder zu polarisiren ) sind, als andere complizirte Atome, so dass die innerhalb des Nerven liegenden und schon gerichteten Molekeln wieder richtend auf die anliegenden wirken k\u00f6nnen. Diesen gegenseitig richtenden Einfluss sind","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie der dipolaren Anordnung.\n91\nsie jedoch nur bei unmittelbarer Ber\u00fchrung ausziuiben Im Stande? wie die oben erw\u00e4hnten Versuche erweisen.\nFig 24.\tAus dieser durch das\nVorstehende sehr wohl be-A\tgr\u00fcndeten Theorie lassen\nsich nun auch mit aller Sch\u00e4rfe die Gr\u00fcnde f\u00fcr alle Erscheinungen und Ver\u00e4nderungen ein sehen? die der elektrotonische Zustand darbietet. \u2014 Zun\u00e4chst ist klar, warum der Zuwachs, den der Nervenstrom w\u00e4hrend des electrotonisclien Zustandes erf\u00e4hrt, auf der einen Seite des erregenden Stromes positiv und auf der andern negativ sein muss. Diess ergibt sich sogleich aus der Betrachtung von Fig. 24. Wir wollen mit dieser annehmen, dass die Pole des erregenden Stromes genau symmetrisch zum Aequator J stehen und dass die von ihm ausgehende Stromesrichtung durch den Nerven mit dem Pfeile Z P laufe; im Sinne dieser Richtung werden alle Molekeln geordnet, so dass ein Strom nach dem obersten Pfeil EZ durch den ganzen Nerven geht. Vor dem Eintreten des elektrotonisclien Zustandes verliefen aber in dem Nerven von dem Aequator A zw7ei Str\u00f6me in entgegengesetzter Richtung nach den Pfeilen u Z1 tt Z2, Vergleichen wir beide, den Strom des elektrotoni-schen Zustandes und den Nervenstrom, so sehen wir, dass u Z2 und der neue Strom in gleicher Richtung gehend, sich verst\u00e4rken w erden (positive Phase), w\u00e4hrend UZ1 und der Strom des dipolaren Zustandes entgegengesetzt verlaufend, sich schw\u00e4chen werden (negative Phase). Diese Erkl\u00e4rung vernachl\u00e4ssigt nun aber scheinbar eine Thatsache, die wir oben Seite (85) mitgetheilt, die n\u00e4mlich, dass das Gesetz des urspr\u00fcnglichen Nervenstromes noch sichtbar ist, wenn der elektrotonische Zustand eingetreten. Wenn in der That der Nervenstrom von der peripolaren Lagerung der Molekeln abh\u00e4ngt, so muss er momentan verschwinden, so wie die dipolare Anordnung eingetreten; dieser Widerspruch l\u00f6sst sich aber sehr einfach unter der Voraussetzung, dass in den untersuchten F\u00e4llen des elektrotonisclien Zustandes die Drehung der Molekeln eine nur unvollkommene gewesen ; wrenn also die neue Stellung die Mitte hielt zwischen der peripolaren und der dipolaren, SO muss in\nder That die Str\u00f6mungserscheinung ebenfalls die Resultirende beider sein \u2014 Aus der vorgetragenen Theorie erhellt weiterhin, warum bis zu gewissen Grenzen mit der St\u00e4rke und Dichtigkeit des erregenden Stroms die Ausbildung des dipolaren Zustandes w \u00e4chst, \u00fcber diese Grenze hinaus aber durch noch weitere Steigerung des\nerregenden Stromes die Intensit\u00e4t des elektrotonisclien Zuwachses nicht vermehrt w erden kann. Denn begreiflich w ird der elektrotonische Zustand um so ausgepr\u00e4gter auftreten, je energischer die richtenden Kr\u00e4fte des erregenden Stromes einwir-ken; sind aber einmal die Molekeln vollkommen dipolar gestellt, so wird durch weitere Verst\u00e4rkung der richtenden Kr\u00e4fte keine h\u00f6here Steigerung des dipolaren Zustandes m\u00f6glich sein. \u2014 Fernerhin wird aus der Theorie klar, w arum der erregende Strom keine dipolare Anordnung hervorruft, w enn er den Nerven senkrecht gegen sei-\nFig. 25.\tHC L\u00e4ngenachse durch-\nsetzt. Denn geht wie in Fig. 25 der Strom von Z nach P durch den Nerven, so wird er zwar die zwischen den Polen liegenden peripolaren","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nNegative Stromesschwankiuig.\nMolekeln dipolar anorduen Diese selbst werden aber die nebenliegenden, aus ihrer urspr\u00fcnglichen Lage nicht bewegen k\u00f6nnen, weil, wie die Betrachtung von Molekel 2 und 3, oder 1 und 4 lehrt, das -j- von 2 das \u2014 von 3 um gerade soviel anzieht, als es das \u2014 von 2 abst\u00f6sst. \u2014 Schliesslich macht die Theorie begreiflich, warum die Ver\u00e4nderung der durch den Multiplikator gehenden Str\u00f6me nach Ver\u00e4nderungen in der Spannweite des ableitenden Bogens zusammentrifft mit derjenigen, die bei Einschiebung neuer Elemente in eine mehrgliederige galvanische S\u00e4ule beobachtet wird; denn ein einziger Blick auf alle Zeichnungen des Nerven im elektro-tonischen Zustand lehrt, dass die Molekeln in ihm ganz nach Art unserer S\u00e4ulen angeordnet sind.\nDie Frage, ob nicht dennoch vielleicht die Nerven unter dem Einfluss des erregenden Stromes ausser der Richtungsver\u00e4nderung auch eine Verst\u00e4rkung ihrer elektromotorischen Kr\u00e4fte erfahren, kann mit grosser Wahrscheinlichkeit verneinend beantwortet werden. \u2014 Diese Meinung findet darin ihre Berechtigung, dass der urspr\u00fcngliche Strom zwischen der Oberfl\u00e4che und dem Querschnitte nur eine geringe Steigerung erf\u00e4hrt und namentlich, dass dieser Strom in der negativen Phase nicht umgekehrt wird, was doch eintreten m\u00fcsste, wenn der (negative) Zuwachs gr\u00f6sser, als der urspr\u00fcngliche (positive) Nervenstrom gewesen w\u00e4re. Die scheinbare St\u00e4rke des Stromes im elektrotonischeu Zustand findet auch darin ihre hinreichende Erkl\u00e4rung, dass die dipolare Anordnung vieler Elemente weit geeigneter ist, eine Resultirende nach aussen zu senden, als die peripolare Anordnung.\nDer Anf\u00e4nger ist hier zugleich auf die grosse Uebereinstimmung in der Magne-tisirung des weichen Eisens und der Polarisirung der Nerven durch den elektrotoni-schen Strom hingewieseu, die an diesem Orte nicht weiter ausgef\u00fchrt werden kann.\n4. Electrisches Verhaltendes Nerven, w\u00e4hrend er sich in einem Zustande befindet, der ihn zur Einleitung der Empfindung, Muskelbewegung und Absonderung bef\u00e4higt. N e g a t i v e S t r o m e s s c h w a n k u n g. Der Winkel, um welchen die Nadel durch ein in den Multiplicatorenkreis eingeschaltetes lebendes Nervenst\u00fcck abgelenkt wurde, erf\u00e4hrt eine Verkleinerung, wenn der Nerv durch irgend ein Mittel in einen Zustand versetzt wird, der eine sogenannte physiologische Leistung (Empfindung, Bewegung, Absonderung) herbeif\u00fchren w\u00fcrde, vorausgesetzt, dass der Nerv noch in seinen normalen Verbindungen st\u00e4nde; mit andern Worten, die durch den ruhenden Nervenstrom aus ihrer Gleichgewichtslage getriebene Nadel kehrt gegen ihre Gleichgewichtsstellung zur\u00fcck, sobald der Nerv erregt wird ; die diesem R\u00fcckschlag der Nadel zu Grunde liegende Bewegung der Nervenmolek\u00fcle bezeichnet du Bois mit dem Namen der negativen Schwankung. In dieser neuen Stellung verharrt die Nadel jedoch nur so lange, als der Nerv im erregten Zustand erhalten wird; mit seinem Aufh\u00f6ren treten die Wirkungen des ruhenden Nervenstroms wieder hervor.\nDie Gr\u00f6sse dieser R\u00fcckschwrankung ist abh\u00e4ngig von folgenden Umst\u00e4nden, a. Sie geht proportional dem Ablenkungswerth, den der ruhende Nervenstrom hervorbrachte. Darum wird ein mehr erregbarer und auch ein dickerer Nerv sie st\u00e4rker veranlassen, als ein minder erregbarer oder d\u00fcnnerer; und ferner wird sie gr\u00f6sser ausfalien, wrenn der ruhende Nerv mit einer sogenannten kr\u00e4ftigen Anordnung in den","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"93\nNegative S t r om e ss ch w ankung.\nKreis gelegt wurde, dagegen geringer sein, wenn er mit einer schwachen Anordnung auflag, und ganz fehlen beim Einf\u00fcgen der unwirksamen Anordnung in den Kreis. \u2014 b. Die steigende Entfernung der abgeleiteten Stelle des Nerven von derjenigen , an welcher der erregende Einfluss wirkt, schw\u00e4cht die Gr\u00f6se der electronegativen Schwankung. Diese Verminderung der St\u00e4rke w\u00e4chst jedoch nicht so rasch mit der Entfernung von der erregten Stelle, wie dieses beim elektrotonischen Zuwachs der Fall war. \u2014 c. Die Gr\u00f6sse der R\u00fcckschwankung w\u00e4chst mit der St\u00e4rke der Erregung. R\u00fccksichtlich dieses Punktes muss man, im Auge behalten, dass die jetzigen Untersuchungsmethoden bislang nur erlaubten, die durch electrische Str\u00f6me in den Muskelnerven erzeugten Erregungsst\u00e4rken mit den electronegativen Schwankungen in befriedigender Sch\u00e4rfe zu vergleichen.\nDa die St\u00f6sse, welche der Nerv in der elektronegativen Schwankung seiner Molekeln der Nadel mittheilt, sehr schwach sind, so m\u00fcssen dieselben l\u00e4ngere Zeit auf die Nadel wirken, um einen deutlichen R\u00fcckschwung zu erzeugen, oder anders ausgedr\u00fcckt, es muss der Nerv in einer l\u00e4ngere Zeit hindurch andauernden Erregung erhalten werden. Unter den bekannten Hilfsmitteln k\u00f6nnen wir eine solche vorzugsweise nur durch den elektrischen Strom erzeugen; indem wir diesen aber auf den Nerven einwirken lassen, versetzen wir seine Molekeln in den elektrotonischen Zustand, der auf die Nadel wirkend die zarteren Folgen der elektronegativen Schwankung verwischen w\u00fcrde. Um diese letztere rein zu erhalten gen\u00fcgt es aber einfach den Nerv durch abwechselnd gerichtete Schl\u00e4ge (mit einer im Nerven bald auf- und bald absteigenden Stromesrichtung) zu treffen, wie sie eine gew\u00f6hnliche Inductionsmaschine liefert. Dadurch erscheinen im Nervenst\u00fcck in rascher Folge abwechselnd gerichtete Phasen, die gegenseitig ihre Wirkung auf die Nadel vernichten, weil diese nicht momentan jeder Einwirkung Folge leistet. \u2014Du Bois hat aber auch auf andern als elektrischem Wege die negative Schwankung der Theile durch sehr sinnreiche Methoden der Erregung erwiesen; so hat er namentlich am lebenden Thier auf sog. reflectorischen Wege, und nach Strychnin - Vergiftung, ferner im einzelnen Nerven durch mechanische und kaustische Einwirkungen sie beobachtet. \u2014 Die negative Schwankung erscheint, was sehr bemerkenswert!!, gew\u00f6hnlich nicht in voller St\u00e4rke mit der ersten Erregung, sondern erst dann, wenn der Nerv mit zwischen gelegten Pausen einigemal erregt worden war.\nDie Fortleitung der electronegativen Schwankung geschieht in allen Nerven, m\u00f6gen diese im lebenden K\u00f6rper Empfindung oder Bewegung veranlasst haben, nach beiden Richtungen ihrer L\u00e4ngsachse, so dass wenn maaz. B. das Mittelst\u00fcck eines Nerven erregt,jedes der beiden Enden auf die B\u00e4usche aufgelegt, die Nadel zur R\u00fcckschwankung veranlasst.\nDer R\u00fcckschwung der Nadel kann verschiedene Zustandsver\u00e4nderungen der Nervenmolek\u00fcle bedeuten; entweder k\u00f6nnte er herr\u00fchren von einer dauernden Abstumpfung der Gegens\u00e4tze auf der Oberfl\u00e4che und dem Querschnitte, oder er k\u00f6nnte wegen der Tr\u00e4gheit der Nadel auch Folge sein von einem stetigen Wechsel der Stromesrichtungen, welche dadurch bedingt w\u00e4ren, dass die Oberfl\u00e4che aus ihrem + in ein \u2014 und der Querschnitt aus seinem \u2014 in ein -j- umschl\u00e4gt. Diese","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nPhysiologisches Verhalten.\nletztere Meinung ist wie bei dem electrischen Verhalten der Muskeln dargethan wird, wahrscheinlich die richtige.\nPhysiologisches Verhalten*). Die Anregung, welche die Nerven der Seele, den Muskeln und Dr\u00fcsen zur Erzeugung der Empfindung, Bewegung und Absonderung zu ertheilen vermag, belegte man, weil man fr\u00fcher nur diese Aeusserungen des lebenden Nerven kannte, mit dem Namen der physiologischen Nerventh\u00e4tigkeit oder Nerven-kraft. Innerhalb des lebenden Organismus erwecken aber, wie bekannt, die Nerven nicht zu jederzeit die genannten Ver\u00e4nderungen der Organe,\ndenen sie zugeordnet sind, eine Thatsache, die zu der Ableitung f\u00fchrte, dass die Nerven sich zeitweise im Zustande der Th\u00e4tigkeit oder Kraftentwicklung, zeitweise in dem der Ruhe bef\u00e4nden. Eine noch weiter gehende Erfahrung des t\u00e4glichen Lebens musste aber bald die Ueber-zeugung aufdr\u00e4ngen, dass diese beiden entgegengesetzten Zust\u00e4nde nicht die einzigen dem Nerven zukommenden seien ; denn es ergab sich dass ein und derselbe Nerv unter ganz gleichen Umst\u00e4nden das eine Mal zu Th\u00e4tigkeits\u00e4usserungen geweckt werden konnte, w\u00e4hrend dies ein anderes Mal nicht geschah. Hieraus folgte der Schluss, dass der ruhende Nerv mindestens zwei Erscheinungsformen besitze, von denen diejenige, in welcher er unter gewissen Umst\u00e4nden zur Th\u00e4tigkeit zu bringen war, die erregbare, lebende, w\u00e4hrend die andere der erste-ren entgegenstehende, die todte oder unerregbare genannt wurde.\nDem Vorstehenden entsprechend wird der Nerv als ein erregbarer bezeichnet durch die F\u00e4higkeit, unter gewissen Bedingungen in den\nerregten Zustand \u00fcbergehen zu k\u00f6nnen, und dieser letztere Zustand selbst wurde wieder characterisirt durch die Th\u00e4tigkeits\u00e4usserungen, welche der Nerv gerade in diesem oder jenem mit ihm in Verbindung befindlichen Organ erwecken konnte. Diese Characterisirun^ ist nur eine h\u00f6chst unvollkommene, und zwar darum weil sie nicht aus innern Verh\u00e4ltnissen der den Nerven constituirenden elementaren Bedingungen genommen ist. DuBois ist es gelungen, den ersten und zwar einen sehr bedeutenden Schritt zur sch\u00e4rfern Bestimmung der molek\u00fcl\u00e4ren Ver\u00e4nderung zu thun, welche mit jenen physiologischen Hand in Hand gehen; er machte die wichtige Entdeckung, dass der ruhende erregbare Nerv diejenige Anordnung elektrischer Molekeln darbiete, in welcher sie den ruhenden Nervenstrom erzeugen, w\u00e4hrend der Nerv in der Erregung in die negative Stromesschwankung verf\u00e4llt. Diese Erfahrung regt nun sogleich die Frage an, welche chemische und physikalische Umst\u00e4nde im Nerven die eine oder andere Anordnung der elektrischen Molekeln bedingen, und die weitere, unter welchen besondern Veranlassungen der ruhende Strom in die negative Schwankung, oder anders ausgedr\u00fcckt,\n*) J. M\u00fcller Handbuch der Physiologie 4. Auf!. \u2014 Volkmann Nervenphysiologie in B. Wagners Handw\u00f6rterbuch. 2. Bd. \u2014 Spiess Physiologie des Nervensystems. Braunschweig 1844. E, H. Weber Tastsinn, Wagners Handw\u00f6rterb. 3. Bd.","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"ErregiingsmUtcl.\n95\nder erregbare Nerv in den erregten \u00fcbergehe. Auf die erstere der beiden Fragen fehlt uns durchaus noch jede Antwort, und auch die zweiteist nur sehr unvollkommen zu befriedigen, was nun zun\u00e4chst geschehen soll.\n1.\tErregungmittel ; Reize. Die Einfl\u00fcsse, welche den erreg-baren Nerven in den erregten Zustand versetzen, sind ganz allgemein mechanische Wirkungen, W\u00e4rme, Licht, Electricit\u00e4t und eine Zahl von chemischen Atomen, welche zu der Nervensubstanz Verwandtschaft besitzen. Diese Mittel erregen aber erfahrungsgem\u00e4ss s\u00e4mmtliche Nerven des K\u00f6rpers durchaus nicht auf gleiche Weise. Diese Verschiedenheit \u00e4ussert sich auf dreierlei Art: zuerst darin, dass ein und dasselbe Mittel nicht f\u00fcr alle Nerven Erreger wird ; dann dadurch, dass ein Mittel, wenn es verschiedene Nerven erregen kann, in einzelnen derselben ganz besondere Arten der Erregung (qualitativ verschiedene Empfindungen) , und endlich darin, dass dasselbe Mittel auf verschiedenen Orten des Verlaufes eines und desselben Nerven von einander abweichende Erfolge erzweckt.\nZur weiteren Ausf\u00fchrung dieser Ausspr\u00fcche f\u00fcgen wir bei, dass a) die Retina nur durch Aetherwelien, Electricit\u00e4t und Druck, der nerv, acusticus nur durch Schallschwingung und Electricit\u00e4t; der nerv, olfactorius nur von (aber nicht allen) fl\u00fcchtigen Stoffen und Electricit\u00e4t (?); die Geschmacksnerven nur durch (aber nicht alle) l\u00f6sliche Stoffe und Electricit\u00e4t (?) ; die Gef\u00fchls nerven durch Druck, W\u00e4rme, chemische Einwirkungen und Electricit\u00e4t; die xMuskelnerven durch Druck, Temperatur , Electricit\u00e4t und eine beschr\u00e4nkte Zahl chemischer Atome, und endlich die Dr\u00fc s en n er ven durch chemische und electrische Wirkungen erregt werden. \u2014 b) Ein und dasselbe Mittel, insofern es unter den gegebenen Bedingungen Erreger verschiedener Nerven ist, erzeugt in einem jeden dieser verschiedenen Nerven scheinbar oder wirklich von einander abweichende Qualit\u00e4ten der Empfindung, so z. B. der Druck auf einen Muskelnerven Bewegung , auf einen Hautnerven Schmerz, auf die Retina Lichtempfindung u. s. w. \u2014 c) Endlich bringt ein und dasselbe Mittel, auf die peripherischen Verzweigungen angewendet, einen andern Erfolg hervor, als wenn es auf den Verlauf des Nerven einwirkt. Hierher geh\u00f6rt, dass die Erleuchtung der Retina Lichtempfindung hervorruft, die des Opticusstammes dagegen nicht (Helmholtz), und dass eine W\u00e4rmeschwankung, auf den Nerven in seiner Hautverbreitung angewendet, Temperaturempfindung , w\u00e4hrend sie Schmerz erzeugt, wenn sie auf den Stamm des Nerven geschieht. (E. H. Weber.)\n2.\tGleichartigkeit und Ungleichartigkeit der Nerven; spezifische Energie. Diesen mannigfaltig abweichenden Erfolgen gegen\u00fcber erhebt sich die bedeutungsvolle Frage, ob wir weiterhin noch berechtigt sind, die Nerven \u00fcberall als dieselben anzusehen, oder ob wir nicht vielmehr die Gesammtmasse der Nerven in besondere, spe-","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nGleichartigkeit der Nerven.\nzifisch wirksame Gruppen scheiden m\u00fcssen. Dieser letzten Nothwcn-digkeit k\u00f6nnen wir, wie ersichtlich, nur f\u00fcr den Fall ausweichen, wenn es uns gelingen sollte nachfcuweisen, dass die Unterschiede der physiologischen Erscheinungen, welche eintreten wenn verschiedene Nerven in Erregung kommen, nicht abh\u00e4ngig sind von der ver\u00e4nderten Natur des Nerven, sondern der mit ihm in Verbindung stehenden Organe, sei es, dass sich diese am pheripherischen oder centralen Ende des Nerven oder auf seinem Verlaufe finden. Zur Entscheidung dieser Alternative f\u00fchren drei Wege. \u2014 Der erste und geradeste Weg w\u00fcrde darin bestehen den Versuch zu wagen ob es gel\u00e4nge ein und denselben Nerven mit verschiedenen Organen in wirksame Beziehung zu bringen, denen man hypothetisch eine von einander abweichende physiologische Funktion zuschreibt. Wenn dann mit dem Wechsel der Einpflanzungsstellen der durch die Nervenerregung erzielte Erfolg sich \u00e4nderte, so dass z. B. aus einem Nerv der bisher Empfindungen erzeugt h\u00e4tte, ein bewegungseinleitender w\u00fcrde, so d\u00fcrfte erwiesen sein, dass die Ursache der verschiedenen Leistung nicht in dem Nerven sondern anderswo zu suchen sei. Diesen Gedanken hat Bidder*) auf eine sinnreiche Weise verfolgt, indem er die durchschnittenen Enden des empfindlichen ram. lingualis trigemini und des vorzugsweise bewegenden n. hypoglossus kreuzweise zu verheilen suchte. Leider haben diese Versuche, die mannigfache Wiederholung und Modification verdienten bis jetzt noch kein Resultat ergeben. \u2014 Das zweite Beweismittel w\u00fcrde darin bestehen, darzuthun, dass alle die \u00fcngleich-artigkeiten des Erfolges der Nervenerregung aus den Eigenth\u00fcmlieh-keiten der Organe abgeleitet werden k\u00f6nnten, mit denen der Nerv an verschiedenen Orten in Ber\u00fchrung ist. Auch auf diesem Wege ist vorerst noch kein \u00fcberall hindringender Entscheid zu finden. Sicher steht hier aber schon, dass viele Verschiedenheiten der Wirkung eines Nerven von seiner peripherischen Verbreitung abh\u00e4ngen; denn ein Hautnerv, die Retina u. s. w. k\u00f6nnen nat\u00fcrlich in ihrer Erregung keine Muskelzuckung erzeugen, weil sie nicht mit einem Muskel in Verbindung stehen. Ferner kann das Licht nicht als Licht sondern nur als W\u00e4rme auf die Hautnerven wirken u. s. w. Die Wesentlichkeit der Organe, die an der Peripherie die Nerven umgeben leuchtet ferner noch besonders ein, wenn man erf\u00e4hrt dass ein Hautnerv nur so lange Temperatur empfindet, als er noch in den Tastk\u00f6rperchen endet und der Opticus nur auf seiner letzten Endigung durch Aetherwellen erregbar ist, \u2014 So viel Verschiedenheiten nun aber auch von der Peripherie abh\u00e4ngig sind, so sind sie doch nicht alle davon bedingt; denn in der That zeigen sich auch noch Abweichungen in den Erfolgen der Erreger wenn diese auf die nur noch mit Hirn und R\u00fcckenmark verbundenen,\nM\u00fcllers Archiv 1842. Sehr merkw\u00fcrdige auf diesen Gegenstand bez\u00fcgliche Erfahrungen siehe bei Flourens, Heusingers Zeits. f\u00fcr org. Physik Bd. II. 1823.","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Gleichartigkeit der Nerven.\n97\nalso von der Peripherie getrennten Nervenst\u00fcmpfe angewendet werden; so bewerkstelligt hier niemals ein Erreger eines Bewegungsnerven Schmerz, ein Druck auf den Hautnerven erzeugt nur Schmerz, ein solcher auf den Opticus nur Lichtempfindung. \u2014 Diese \u00fcbrig bleibenden Unterschiede k\u00f6nnen aber immer noch auf eine besondere Art der Hirnendigung der Nerven, resp. auf eine Verschiedenheit der sog. Empfindungs- oder Willensorgane geschoben werden; und in Wirklichkeit treten die Nerven je nachdem sie bewegen oder empfinden auf eine ganz abweichende Weise in das Hirn und R\u00fcckenmark; und die verschiedenen Empfindungsnerven setzen sich selbst wieder ihren \u00f6rtlichen und histologischen Verh\u00e4ltnissen nach sehr verschiedentlich in das Hirn ein. \u2014 Wenn nun diese Reihe von Betrachtungen mindestens der Annahme nicht entgegensteht, dass der Nerv \u00fcberall identisch sei, so scheint endlich die letzte Beweisart mit Sicherheit diesen Satz hinzustellen. Denn offenbar wird man die Nerven \u00fcberall f\u00fcr identisch halten m\u00fcssen, wenn es durch kein ausserphysiologisches Pr\u00fcfungsmittel gelingt eine Verschiedenheit zwischen ihnen aufzudek-ken, mit andern Worten, wenn in wesentlichen Dingen keine auch noch so geringe Abweichung in der physikalischen und chemischen Constitution der Nerven besteht. So weit nun unsere chemischen und mikroskopischen Mittel reichen, finden wir, mit Ausnahme der wenigen in dem anatomischen Verhalten vorgef\u00fchrten Charaktere, keinen Unterschied zwischen den Nerven. Diese Gr\u00fcnde bedeuten nun freilich f\u00fcr sich wenig, da die chemische Untersuchung des Nerven noch sehr unvollkommen ist und da bei einer vollkommen identischen Form innerhalb des Nerven dennoch die mannigfaltigste Anordnung der kraftentwickelnden Elemente bestehen kann, so dass die Anatomie hier entweder gar nicht, oder nur sehr bedachtsam zur Entscheidung herbeigezogen werden darf. Aber als eine m\u00e4chtige Hilfe f\u00fcr die Indentit\u00e4ts-lehre der Nerven tritt uns endlich das Resultat der eJectrischen Untersuchung von du Bois entgegen, nach welchem aller Orten die Nerven dieselbe electrische Anordnung darbieten, eine Thatsache deren volle Bedeutung erst sp\u00e4ter einleuchten wird.\nDass \u00fcbrigens die M\u00f6glichkeit vorliegt, mit einer Art von Nerv, der mit verschiedenen \u00dfewegungs- und Empfindungswerkzeiigen verkn\u00fcpft ist, mannigfaltige Wirkungen zu erzeugen, begreift sogleich auch der Anf\u00e4nger, wenn er sich die einfachste aller Maschinen, einen Hebel bald mit dem Pendel einer Uhr, bald mit dem Hahn einer Dampfmaschine oder eines Feuergewehrs u. s. w. in Verbindung denkt. \u2014 Wir haben es unterlassen die der unsrigen entgegenstehende Vorstellung, nach welcher der Sehnerv ein anderer als der Geruchsnerv u. s. w. sei, der Kritik zu unterwerfen, da sie ausser der vieldeutigen Erscheinung verschiedener physiologischer Leistungen keinen Beweiss f\u00fcr sich vorzubringen vermag.\n3. Verschiedene Erregungszust\u00e4nde innerhalb desselben Nerven. Unabh\u00e4ngig von der Behauptung, dass der Nerv \u00fcberall derselbe sei, steht nat\u00fcrlich diejenige, dass ein und derselbe Nerv in\nLudwig, Physiolog. I.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nVerschiedene Erregungszut\u00e4nde.\nverschiedene innere Zust\u00e4nde gerathen und demgem\u00e4ss auch auf die ihm zugeordneten Organe verschiedenartig wirken k\u00f6nne. Dieser Voraussicht entspricht nun auch die Erfahrung insofern, als sie zeigt, dass bei Anwendung verschiedener Erregungsmittel auf dieselbe Stelle desselben Nerven sehr mannigfach abweichende physiologische Erfolge erzeugt werden. Diese Erfolge unterscheiden sich von einander theils qualitativ, theils quantitativ, d. h. entweder tritt, beim Wechsel des Erregers, derselbe Erfolg mit einer gr\u00f6sseren oder geringeren Intensit\u00e4t auf, oder es erscheinen Erfolge, die sich auch ausser der Intensit\u00e4t noch anderweit von einander unterscheiden*\nA.\tQualitativ verschiedene Erregungszust\u00e4nde. Mit R\u00fccksicht auf dieselben wissen wir weder anzugeben von welchen innern Bedingungen sie abh\u00e4ngen \u2014 denn bis auf wenige F\u00e4lle verl\u00e4sst uns hier auch vorerst noch die leitende Hand der Neuro-electrizit\u00e4t \u2014 noch auch nach welchen Gesetzen mit dem Wechsel des Erregers die des Zustandes sich \u00e4ndern. Als einzige im allgemeinen g\u00fctige Bemerkung darf nur die angesehen werden, dass durchaus keine Proportionalit\u00e4t zwischen den \u00fcbrigen Verschiedenheiten eines Erregers und seinen Wirkungen auf den Nerven besteht. Denn es bringen u. A. in der Retina verschiedene Wellenl\u00e4ngen des einen Licht\u00e4thers die gar nicht miteinander vergleichbaren Farbenempfindungen zum Vorschein, w\u00e4hrend ganz abweichende Erregungsmittel wie Electrizit\u00e4t, Druck und gemischte Aetherwellen das weisse Licht hervorrufen; so erzeugen hohe Temperaturgrade mit der Electrizit\u00e4t und dem Druck Schmerz, w\u00e4hrend Temperaturschwankungen in den Grenzen von -f- 10\u00b0 C {ns + 48\u00b0 C W\u00e4rme- und K\u00e4lteempfindung bedingen. \u2014 Hier bietet sich nun auch die bemerkenswerthe, auf die vorige Untersuchung influenzirende Erscheinung, dass einzelne Nerven wie die des Geh\u00f6rs, Gesichts, Geschmacks und Geruchs sehr vielf\u00e4ltige Erregungszust\u00e4nde zur Erscheinung bringen, w\u00e4hrend andere wie die Muskelnerven jede Erregung immer nur durch Muskelzuckung beantworten.\nB.\tQuantitativ verschiedene Erregungszust\u00e4nde. Die Thatsache, dass Empfindung, Bewegung und die von den Nerven abh\u00e4ngige Absonderung zu verschiedenen Zeiten und Umst\u00e4nden mit sehr wechseln-der St\u00e4rke vor sich gehen, kann m\u00f6glicherweise, wie eine kurze Ueberlegung ergibt, ebensowohl abh\u00e4ngig sein von dem jeweiligen Zustand der Organe an denen die Nervenerregung gemessen wird, als auch von einer gr\u00f6sserem oder geringeren F\u00e4higkeit der Nerven, den Eindr\u00fccken der Erreger Folge zu geben, als endlich von einer wechselnden St\u00e4rke der Erreger selbst. Um zu entscheiden von welchem dieser drei Faktoren die Erscheinung abh\u00e4ngig sei, hat man nat\u00fcrlich auf Mittel zu denken, die wechselnden St\u00e4rken der physiologischen Leistungen zu messen, w\u00e4hrend je zwei der erw\u00e4hnten","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Verschiedene Erregungszust\u00e4nde.\n99\nFaktoren sich constant erhalten, der dritte dagegen in willk\u00fcrlich bestimmbaren Ver\u00e4nderungen begriffen ist. Dieser allgemeine Grundsatz schreibt uns also drei Beobachtungsreihen vor; aber nur die Resultate zweier interessiren uns vorerst, n\u00e4mlich diejenigen, welche darauf ausgehen zu ermitteln, inwiefern der ver\u00e4nderliche quantitative Werth der Erregung abh\u00e4ngig sei, von den Zust\u00e4nden des Nerven und denen der Erreger. Es muss also in jedem Fall unsere Aufmerksamkeit darauf gerichtet sein, die aus der Empfindlichkeit der Hirnorgane, der Beweglichkeit der Muskeln u. s. w. herfiiessenden Variationen zu eliminiren, oder mit andern Worten, bei m\u00f6glichstem Wechsel der Erreger und der Erregbarkeit und m\u00f6glichst gleichbleibendem Zustand des Hirns, der Muskeln und Dr\u00fcsen, die St\u00e4rke der Empfindung, Bewegung u. s. w. zu bestimmen. Diesem Ziele n\u00e4hert man sich, wenn man in vergleichenden Versuchen immer dieselben Nervenr\u00f6hren und zwar in m\u00f6glichst rasch aufeinanderfolgenden Zeiten erregt; denn nur unter diesen Umst\u00e4nden darf man die Hoffnung hegen, den Einfluss der Einpflanzungstellen zu eliminiren, und die Organe der Empfindung, Bewegung und Absonderung in gleichen Zust\u00e4nden der Empf\u00e4nglichkeit zu treffen, da man ihnen kaum Zeit zur Ver\u00e4nderung geg\u00f6nnt hat.\nNach einer ann\u00e4hernden Erf\u00fcllung dieser obersten Forderung k\u00f6nnten wir nun dazu schreiten uns ein Maass f\u00fcr die Nervenerregung zu suchen, was nur dann zu finden sein w\u00fcrde, wenn wir noch \u00fcber zwei in Folgendem hervorzuhebende Punkte Auskunft zu erhalten im Stande w\u00e4ren. \u2014 Da wir die Nervenerregung messen wollen durch die Grade der von ihr abh\u00e4ngenden Empfindung, Bewegung und Absonderung, so m\u00fcsste eine Scala derselben festgestellt sein; mit andern Worten, es m\u00fcsste anzugeben sein, nicht allein wie stark jeder dieser Akte im einzelnen Fall in die Erscheinung tritt, sondern auch welche Summe von Kr\u00e4ften im Innern der Organe bei jeder ihrer zur Erscheinung kommenden Th\u00e4tigkeiten wirksam w\u00e4re. Eine solche Gra-duirung dieser Funktionen besitzen wir aber weder, noch er\u00f6ffnet sich irgend eine Aussicht demn\u00e4chst zu einer solchen zu gelangen. Somit besteht von dieser Seite aus betrachtet unsere Messung in nichts an-derm als in einer ungef\u00e4hren Sch\u00e4tzung, ob diese oder jene Bewegung, Empfindung oder Absonderung st\u00e4rker oder schw\u00e4cher sei als eine andere. Diese ungef\u00e4hre Vergleichung ist zudem nur zul\u00e4ssig zwischen verschiedenen Werthen gleichartiger Vorg\u00e4nge, d. h. es k\u00f6nnen nur zwei Lichtempfindungen, zwei Tastempfindungen, zwei Muskelbewegungen u. s. w. gegeneinander abgewogen werden, w\u00e4hrend zwei Werthe specifisch verschiedener Empfindungen ebenso incommen-surabel sind, als die einer Empfindung mit einer Bewegung u. s. w.\nDiese Armuth unsrer H\u00fclfsmittel zwingt uns die Vergleiche der Erregung sehr zu beschr\u00e4nken; aber immerhin w\u00fcrde die gewonnene Sch\u00e4tzung noch ungemein werthvoll sein, wenn ein anderer Umstand\n,\t7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nWechsel der Erregung mit der Erregbarkeit\u00bb\naufgekl\u00e4rt w\u00e4re, der n\u00e4mlich, in welchem Yerh\u00e4ltniss die in den Empfindungsorganen, Muskeln und Dr\u00fcsen entwickelten Kr\u00e4fte wachsen mit den sie erregenden Nervenkr\u00e4ften. Denn bei den Gegenwirkungen so compiicirter Apparate ist die Annahme sehr unwahrscheinlich, dass das Wachsthum ein direkt proportionales sei, in der Art, dass bei einer um den doppelten Werth gesteigerten Nervenerregung auch eine doppelt so starke Erh\u00f6hung einer durch sie veranlassten Muskelzusammenziehung, Empfindung oder Absonderung bewirkt werde. Im Gegentheil, man kann aus sp\u00e4ter zu erw\u00e4hnenden Erfahrungen wohl als gewiss annehmen, dass das gegenseitige Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4lt\u201c niss ein ganz anderes, wenn auch noch vollkommen unbekanntes ist. Somit m\u00f6chte der einzige Schluss, den wir wagen d\u00fcrfen, darin bestehen, dass der st\u00e4rkeren Erregung eines Nerven eine st\u00e4rkere Erregung der Empfindungsorgane, Muskeln und Dr\u00fcsen entspreche, als einer schw\u00e4cheren.\na) Wechsel der Erregung mit der Erregbarkeit ; Bedingungen der wechselnden Erregbarkeit. Die bis hierher gef\u00fchrten Betrachtungen haben \u00fcbereinstimmend gezeigt, dass die Nerven keine con-stanten sondern sehr ver\u00e4nderliche Apparate seien; wie sehr diese Ver\u00e4nderungen im Innern des Nerven, dieser Wechsel in seiner chemischen Zusammensetzung, in seiner W\u00e4rme, in seinen electrischen Gegens\u00e4tzen aufseine physiologische Leistungsf\u00e4higkeit von Einfluss, haben wir schon angedeutet, als erw\u00e4hnt wurde, dass das in seiner Form scheinbar noch unangetastete Primitivrohr bald erregbar und bald nicht mehr erregbar sei. Hier ist nun der Ort auf diesen Zusammenhang genauer einzugehen.\nUm dieses in ersch\u00f6pfender Weise m\u00f6glich zu machen, bed\u00fcrften wir eines Verfahrens, welches uns die ver\u00e4nderlichen Werthe der physiologischen Leistung zugleich mit den Ver\u00e4nderungen der Erregbarkeit messen oder sch\u00e4tzen lehrte; dass wir aber \u00fcber ein soi-\nc?\t7\ndies nicht gebieten, bedarf keiner besonderen Auseinandersetzung, sowie man sich nur in das Ged\u00e4chtniss zur\u00fcckruft, dass der Maassstab f\u00fcr die Modification der Erregbarkeit gegeben werden soll durch die gr\u00f6sseren oder geringeren Werthe der Absonderung, Bewegung oder Empfindung. Die messenden Versuche, welche wir also entweder \u00fcber den Einfluss der Erregbarkeit der Nerven auf die Gr\u00f6sse der physiologischen Leistung, oder \u00fcber den Einfluss irgend welcher anderweitiger Einwirkungen auf die Erregbarkeit des Nerven anstellen k\u00f6nnen, werden sich darauf beschr\u00e4nken m\u00fcssen ungef\u00e4hr sch\u00e4tzend anzugeben, ob der Intensit\u00e4tswechsel der physiologischen Leistung, welche ein und derselbe Nerv hervorzubringen im Stande ist, \u00fcberhaupt abh\u00e4ngig sei von einer Steigerung oder Schw\u00e4chung der Erregbarkeit, und ferner ob dieser oder jener auf den Nerven wirkende Einfluss oder","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Ver\u00e4nderung in der Erregbarkeit,\n101\nin ihm vorhandene Zustand seine physiologische Leistungsf\u00e4higkeit erh\u00f6he oder erniedrige.\nMit R\u00fccksicht auf den ersten Punkt lehrt nun die Erfahrung, dass h\u00e4ufig ganz verschiedene Intensit\u00e4ten der Bewegung, Empfindung und Absonderung erscheinen, selbst wenn wir ein und denselben Nerven an ein und derselben Stelle, in gleicher Ausdehnung zu verschiedener Zeit genau demselben erregenden Mittel unterwerfen, und zwar unter Umst\u00e4nden, in denen h\u00f6chst wahrscheinlich das zur Messung dienende physiologische Organ (Hirn, Dr\u00fcse, Muskel) keine Ver\u00e4nderung seines Zustandes erlitten hat. Da in diesen beiden F\u00e4llen alles \u00fcbrige sich gleich verhielt, so kann die sinkende oder steigende Ver\u00e4nderung an dem Werth der physiologischen Leistung nur abh\u00e4ngig gemacht werden von einem wechselnden Verhalten des Nerven, mit andern Worten von Ver\u00e4nderung seiner Erregbarkeit. Wir halten uns nun zu dem Schluss berechtigt, dass die Erregbarkeit von der einen zu der andern Zeit vermindert sei, wenn es nothwendig wird die Intensit\u00e4t des erregenden Mittels zu erh\u00f6hen, um bei einer zweiten Anwendung dieses letztem denselben Effekt zu erzeugen, den es in seiner ersten Anwendung schon bei einer geringeren Intensit\u00e4t hervorbrachte.\nDie zweite der uns hier ber\u00fchrenden Fragen, die n\u00e4mlich aus welchen n\u00e4heren oder entfernteren Gr\u00fcnden die Erregbarkeit steige und falle, w\u00e4re naturgem\u00e4ss dahin sch\u00e4rfer zu stellen, mit welchem Wasser-, Salz-, Fett-, Eiweissgehalt, welcher Temperatur, welchen electromotorischen Kr\u00e4ften u. s. w. nimmt das Verm\u00f6gen des Nerven in Erregung zu gerathen ab oder zu; leider macht der gegenw\u00e4rtige Stand der physikalischen und chemischen Nerven analyse, eine solche Fragestellung bis auf einen Punkt illusorisch. Dieser einzige betrifft aber wieder den Zusammenhang zwischen physiologischer und elec-tromotorischer Wirksamkeit des Nerven, den du Bois dahin festgestellt hat, dass die h\u00f6chsten und niedrigsten Werthe beider zusammenfallen, oder mit andern Worten ein Nerv, der die Angriffe des geringf\u00fcgigsten Erregungsmittels mit starken physiologischen Leistungen beantwortet, lenkt auch die Magnetnadel am betr\u00e4chtlichsten ab, und umgekehrt ein Nerv, der unter dem Einfluss der kr\u00e4ftigsten Erregungsmittel durchaus\u00bb keine physiologischen Leistungen mehr hervorruft, hat auch seinen electrischen Strom eingeb\u00fcsst. Dass nun diese Ueber-einstimmung beider Funktionen nicht allein f\u00fcr diese Grenzf\u00e4lle, sondern f\u00fcr alle in der Mitte liegenden gelte, wird dadurch gewiss, dass dieselben noch n\u00e4her zu besprechenden Umst\u00e4nde in gleicher Richtung, (schw\u00e4chend oder st\u00e4rkend) in welcher sie erregbarkeitsver\u00e4ndernd wirken, auch den ruhenden Nervenstrom affiziren.\nN\u00e4chst der so eben behandelten Stellung der Frage ist nun noch eine andere gestattet: in welcher Weise wird die Erregbarkeit ver\u00e4ndert durch die von aussen zum Nerven tretenden Einfl\u00fcsse, z, B,","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nBedingungen der ver\u00e4nderten Erregbarkeit.\nDruck, Temperatur, u. s, w., oder durch die im Nerven entwickelten Kr\u00e4fte (z. B. durch den ruhenden Nervenstrom, die Erregung selbst u. s. w#). Obwohl diese Art von Fragen weit weniger tief in den in-nern Zusammenhang der Erregbarkeitsver\u00e4nderung eindringcn, so sind sie immerhin von praktischer Bedeutung und theoretisch insofern wichtig, als sie zu Antworten f\u00fchren k\u00f6nnen, die vielleicht auch noch einen Schluss auf besondere Arten von molekularen Ver\u00e4nderungen innerhalb der Nerven erlauben.\nBevor wir nun aber zur Mittheilung der vorliegenden hierher ein-schl\u00e4glichen Thatsachen \u00fcbergehen, ist anzuf\u00fchren,* dass streng genommen nur die Resultate derjenigen Untersuchungen Ber\u00fccksi\u00e7hti-gung verdienen, bei denen man sich \u00fcberzeugt hat, dass der Einfluss, den man pr\u00fcfen wollte, der einzige besondere war, der auf den Nerven wirkte, oder dass man mindestens, wenn gleichzeitig der Nerv mehreren unterthan war, schon angeben konnte, in welcher Richtung die erregbarkeitsver\u00e4ndernden Eigenschaften eines jeden einzelnen liegen. \u2014 Ausserdem muss aber auch jede der fr\u00fcheren Yorsichtsmass-regeln (Erregung desselben Nervenst\u00fccks durch denselben Erreger) in Anwendung gebracht sein. \u2014 Dagegen ist es erlaubt und sogar r\u00e4thlich in den verschiedenen Versuchen die immer gleichstarken Erregungsmittel durch solche zu ersetzen, deren Intensit\u00e4t ungef\u00e4hr proportional der Ver\u00e4nderung der Erregbarkeit schwankt, so dass z. B. bei abnehmender Erregbarkeit des Nerven die St\u00e4rke des erregenden Mittels in dem Maasse gesteigert wird, um jedesmal einen ungef\u00e4hr gleichm\u00e4chtigen physiologischen Effekt zu erzielen. Diese Ver\u00e4nderung des Verfahrens gew\u00e4hrt den sch\u00e4tzenswerthen Vortheil die wechselnde St\u00e4rke der Erreger selbst als Kennzeichen f\u00fcr die Richtung, in welcher sich die Erregbarkeit \u00e4ndert, benutzen ziUk\u00f6nnen.\nDie Umst\u00e4nde, welche erfahrungsgem\u00e4ss die Erregbarkeit um\u00e4ndern sind:\na) Der Zustand der Erregung. Die hesondern Bedingungen, unter welchen die Richtigkeit der folgenden Mittheilungen gilt, bestehen darin, dass der erregte Zustand nicht durch Zeiten der Ruhe unterbrochen und ferner, dass der Nerv vollkommen den Einwirkungen des normalen Lebens z. B. des Blutstroms u. s. w. entzogen sei; dieses wird erreicht, wenn der Nerv entweder am get\u00f6dteten Thiere untersucht oder wenn der untersuchte Theil m\u00f6glichst von seiner Umgebung isolirt wird. Die Erregung mindert unter diesen Umst\u00e4nden in jedem Fall die Erregbarkeit; der Grad ihrer schw\u00e4chenden Wirkung ist aber abh\u00e4ngig von der Zeitdauer und St\u00e4rke der Erregung, und beide wirken wiederum auf den einen Nerven anders als auf den andern. \u2014 Alles andere ffleichge-setzt nimmt die Schw\u00e4chung zu mit der Zeitdauer der bestehenden Erregung; und ebenso verh\u00e4lt es sich auch mit der St\u00e4rke der Erre-","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"103\nI\nBedingungen der ver\u00e4nderten Erregbarkeit.\ngung, indem die kr\u00e4ftigere betr\u00e4chtlichere Schw\u00e4chungszust\u00e4nde hinterl\u00e4sst als die weniger kr\u00e4ftige, vorausgesetzt dass beidesmal die Erregung gleich lange andauerte. \u2014 Die Zeiten und Intensit\u00e4ten der Erregung, welche zwei verschiedene Nerven auf ein gleiches Maass der Ersch\u00f6pfung bringen, sind aber sehr ungleich; mit andern Worten, ein Nerv ist leichter ersch\u00f6pft als der andere. Angesichts der Anschauungen \u00e4lterer Physiologen \u00fcber die sog. Nervenkr\u00e4fte ist als Erfahrung von Bedeutung, dass die Schw\u00e4chung, welche die Erregung erzeugt, nicht Hand in Hand geht mit dem Grade der Erregbarkeit, welche vorhanden war, als die Erregung begann. Denn oft sind sehr erregbare Nerven fast momentan ersch\u00f6pft, w\u00e4hrend sie in andern F\u00e4llen betr\u00e4chtlich ausdauern; und im Gegensatz hierzu finden sich weniger erregbare Nerven (welche intensivere Erreger zur Erzeugung gleichwerthiger Leistungen bed\u00fcrfen) oft im Stande l\u00e4ngere Zeit die Erregung zu ertragen, w\u00e4hrend sie auch h\u00e4ufig rasch in der Erregung absterben.\nDas zuletzt erw\u00e4hnte Verhalten der Nervenr\u00f6bre hat \u00e4lteren Aerzten Veranlassung gegeben zur AufsteUung von mancherlei Arten der Nervenkr\u00e4fte die in dieser Art der Auffassung der Vergessenheit anheimzufallen verdienen. \u2014 Es darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass man die Schw\u00e4che der Erregbarkeit in dem Nervenst\u00fccke, welches dem Erreger unmittelbar ausgesetzt war, nicht zur Sch\u00e4tzung der durch die Erregung herbeigef\u00fchrten Schw\u00e4chung benutzen darf, da auf dieses neben der Erregung der meist noch spezifisch st\u00f6rende Einfluss des Erregungsmittels wirkte, und sich somit an diesem Orte zwei sch\u00e4dliche Wirkungen summirt haben.\u2014\n\u00df) Wie im erregten, so ist auch im ruhenden Zustand der Nerv in einer allm\u00e4ligen Ver\u00e4nderung seiner inneren Verh\u00e4ltnisse begriffen, selbst wenn er sich unter Umst\u00e4nden befindet, in denen scheinbar durchaus keine anderweitigen ver\u00e4ndernden Einfl\u00fcsse auf ihn wirken. Der aus seinem Zusammenhang mit dem lebenden Thier ge-l\u00f6sste Nerv erleidet w\u00e4hrend seiner Ruhe Ver\u00e4nderungen, in Folge deren die Erregbarkeit desselben sich bald zu heben und bald zu senken vermag. \u2014 Der erste Fall, die Hebung der Erregbarkeit, wird beobachtet, wenn der Nerv durch eine vorhergehende Erregung ersch\u00f6pft war; denn es stellt sich die in der Erregung vernichtete Erregbarkeit wieder her, wenn er einige Zeit der Ruhe \u00fcberlassen wurde. Dieser wiederherstellend\u2019e Einfluss der Ruhe macht sich aber nicht unter allen Umst\u00e4nden in gleichem Maasse geltend; namentlich ist es Thatsache dass die Leistungsf\u00e4higkeit des Nerven immer mehr und mehr abnimmt, je \u00f6fter sie in der Erregungspause wieder erlangt war, mit andern Worten, ein Nerv der nach einer ersten Erregung in der Ruhe sich rasch erholte, erh\u00e4lt in der auf eine zweite Erregung folgenden Ruhezeit seine Erregbarkeit nur in sehr unvollkommener Weise wieder, und erholt sich, wenn er zum dritten oder vierten Male ersch\u00f6pft war, gar nicht mehr. \u2014 Die Ruhe, welche nach der Erregung sich so wohl-th\u00e4tig erwiess, kann nun aber, vorausgesetzt, dass sie anhaltend ge-","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\tBedingungen der ver\u00e4nderten Erregbarkeit.\nnug wirkte, den erregbarsten Nerven abt\u00f6dten; diese Behauptung best\u00e4tigt sich nicht allein an dem ausgeschnittenen, sonst aber vor sch\u00e4dlichen Einfl\u00fcssen gesch\u00fctzten Nerven, sondern auch noch dann, wenn sich der Nerv unter den g\u00fcnstigsten Bedingungen findet, indem er auch innerhalb des lebenden Thiers seine Erregbarkeit einb\u00fcsst, vorausgesetzt dass er lange Zeit hindurch jeder Art von Erregung entzogen war. Der einzige Unterschied der zwischen dem ausgeschnittenen und dem normal gelagerten Nerven in dieser Beziehung vorkommt ist der, dass der erstere im Allgemeinen i;ascher abstirbt als der letztere. \u2014 Obwohl uns der Verlauf der Dinge, durch welchen im ruhenden Nerv die Erregbarkeit vernichtet wird, unbekannt ist, so d\u00fcrfen wir doch mindestens behaupten, dass dieses geschehe in Folge einer Zerst\u00f6rung des ganzen Nerven, welche w\u00e4hrend andauernder Ruhe eingeleitet wird. Denn es lehrt uns die mikroskopische Betrachtung, dass der ruhende Nerv allm\u00e4lig seine optischen Eigenschaften \u00e4ndere, und namentlich dass die homogene R\u00f6hre doppelte Contouren annimmt, indem sich ihr Inhalt in einen w\u00e4sserigen und \u00f6ligen Theil scheidet, und ihre H\u00fclle sich faltet. So weit uns das optische Verhalten Aufschluss gew\u00e4hrt, sind die ersten Stadien der Umsetzung auffallend \u00fcbereinstimmend, wenn auch die anderweitigen Bedingungen, unter denen der ruhige Nerv abstirbt, von einander sehr abweichen; denn sie sind dieselben, mag auch der Nerv im todten oder lebenden Thier seine Erregbarkeit aufgeben.\nWenn die unter \u00ab und \u00df vorgef\u00fchrten Beobachtungen beweissen, dass der Er-regungs- und Ruhezustand den Nerven zerst\u00f6ren, so zeigen sie aber auch zugleich, dass derinnere Hergang beider Zerst\u00f6rungsprozesse ein verschiedener sei. Zun\u00e4chst ist der in der Erregung vorgehende Zerst\u00f6rungsprozess viel intensiver als der in der Ruhe vorkommende; denn es kann der Nerv die Ruhe viell\u00e4nger ertragen, als das Gregentheil. \u2014 Dann aber heben sich auch die aus beiden Vorg\u00e4ngen zum Vorschein kommenden St\u00f6rungen gegenseitig auf, wie daraus einleuchtet, dass zur Erhaltung des normalen Nerven, das abwechselnde Erscheinen beider Zust\u00e4nde n\u00f6thigist. Dieses Aufheben der St\u00f6rungen darf jedoch nicht so aufgefasst werden, als ob die in der Erregung zu Stande gekommenen Umsetzungen unter Beih\u00fclfe der in der Ruhe erschienenen die Erregbarkeit wieder herzustellen verm\u00f6gten; denn w\u00e4re dieses der Fall, w\u00e4ren sie mit andern Wrorten nach entgegengesetzten Richtungen gehende Vorg\u00e4nge, so m\u00fcsste ohne Zuthun eines andern helfenden Umstandes, die Erregbarkeit sich in\u2019s Unendliche erhalten lassen, vorausgesetzt, dass nur Ruhe und Erregung auf zweckm\u00e4ssige Art mit einander wechselten. Da dieses nicht der Fall ist, so kann man sich h\u00f6chstens den Werth der Alternative f\u00fcr die Erhaltung der Erregbarkeit so vorstellen, dass durch dieselbe irgend welche Hemmungen entfernt werden, welche, wenn sie vorhanden sind, andern Prozessen, die die Erregbarkeit wieder herzustellen verm\u00f6gen, einen Widerstand entgegensetzen. Dieser Annahme entspricht nun die Thatsache, dass die Alternative um so g\u00fcnstiger wirkt, je mehr der Nerv mit normalem arteriellem Blut in Ber\u00fchrung ist. Concret ausgedr\u00fcckt w\u00fcrde der obige Satz dahin lauten, dass durch den V echsel von Ruhe und Erregung im Nerven sich\nUmst\u00e4nde bilden, welche die Neubildung der zersetzten Nerven aus dem Blute beg\u00fcnstigen.","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Bedingungen der ver\u00e4nderten Erregbarkeit,,\n105\nWie sich die Nerven r\u00fccksichtlich ihres Widerstandsverm\u00f6gens gegen die vernichtenden Einwirkungen der Erregung verschieden verhalten, so widerstehen sie auch mit verschiedener Energie den schw\u00e4chenden Einwirkungen der Prozesse, welche im physiologischen Ruhezustand in ihnen Vorgehen ; wir behaupten dieses darum, weil der eine Nerv in der Ruhe viel rascher seine Erregbarkeit verliert, als der andere. Vor allem zeichnen sich als leicht zerst\u00f6rbare die R\u00f6hren des Hirns, R\u00fcckenmarks und die der h\u00f6hern Sinnesnerven aus, w\u00e4hrend die Muskelnerven im allgemeinen l\u00e4nger ihre Erregbarkeit behaupten.\ny) Einen die Erregbarkeit des Nerven erhaltenden Einfluss \u00fcbt die Verbindung des Nervenrohres mit dem Hirn und R\u00fcckenmark. \u2014 Nach J. M\u00fcller\u2019s Entdeckung und den Best\u00e4tigungen zahlreicher anderer Beobachter steht es fest, dass das vom Hirn und R\u00fcckenmark getrennte St\u00fcck eines durchnittenen Nerven im lebenden Thier nach 5 bis 6 Tagen sein normales mikroskopisches Verhalten \u00e4ndert und seine Erregbarkeit vollkommen einb\u00fcsst. Da die Muskelnerven im lebenden Thiere vorzugsweise im Hirn (dem Sitze des willk\u00fchrlichen Verm\u00f6gens) und im R\u00fcckenmark und die Empfindungsnerven aber an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers mit den sie erregenden Mitteln in Verbindung sind, so complizirt sich f\u00fcr beide Durchschnitte an den Nerven der Fall in der Art, dass das vom Hirn und dem R\u00fcckenmark abgetrennte St\u00fcck des Muskelnerven auch noch dazu in eine stetige Ruhe versetzt wird; es summiren sich also hier zwei sch\u00e4dliche M\u00e4chte, w\u00e4hrend das abgeschnittene Ende des empfindlichen Nerven, das den gew\u00f6hnlichen erregenden Einfl\u00fcssen noch ausgesetzt ist nur unter der Trennung vom Hirn und R\u00fcckenmark leidet. Da nun, wie erw\u00e4hnt, dieses St\u00fcck seine Struktur (und somit seine Erregbarkeit) eingeb\u00fcsst hat, zu einer Zeit, in welcher das der Erregung entzogene, aber mit den nervigten Centralorganen in Verbindung befindliche St\u00fcck des Nerven sie noch besitzt, so scheint somit der sch\u00e4dliche Einfluss dieser Trennung erwiesen.\nSo bedeutungsvoll f\u00fcr die Erhaltung der Nerveneigeusehaften sich nun auch die Verbindung mit den Centralorganen erweist, so wenig ist sie (wie \u00e4ltere Aerzte glaubten) als der einzige Bestimmungsgrund derselben anzusehen, wie schon daraus sich ergiebt, dass auch das mit dem Hirn in Verbindung befindliche Ende der sensiblen Nerven allm\u00e4lig abstirbt, in Folge der ihm mangelnden Erregung.\nd) Die Einwirkung chemischer Stoffe auf die Nervensubstanz vermag, auch ohne eine Erregung zu erzeugen oder zu unterdr\u00fccken, die Erregbarkeit zu erh\u00f6hen oder zu erniedrigen, resp. zu vernichten, und dieses letztere zwar entweder nur momentan oder dauernd. Zuerst wird man nun schwerlich einen wesentlichen Irrthum begehen, wenn man die Stoffe f\u00fcr f\u00f6rdernde ansieht, welche im Stande sind, die normale chemische Zusammensetzung des Nerven zu erhalten ; bei der","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nBedingungen der ver\u00e4nderten Erregbarkeit.\neomplizirten Zusammensetzung des Nerven wird dieser Aufgabe wiederum nur eine Fl\u00fcssigkeit sehr zusammengesetzter Art gewachsen sein, welche nicht allein alle die wesentlichen Nervenstoffe, sondern sie auch in dem bestimmten Yerh\u00e4ltniss enth\u00e4lt, die es ihr erm\u00f6ff-liehen sie dem Nerven in dem der normalen Zusammensetzung entsprechenden Yerh\u00e4ltniss zu liefern, eine Fl\u00fcssigkeit, welche ferner so gestaltet ist, dass sie ihre Stoffe leicht an den Nerven abgibt, und die schliesslich auch die im Nerven entstandenen st\u00f6renden Umsez-zungsprodukte anzieht und somit aus dem Nerven entfernt. Diesen mannigfachen Bedingungen gen\u00fcgt, soweit wir durch Erfahrung wissen, nur eine Fl\u00fcssigkeit, das sog. arterielle Blut. Da diese Fl\u00fcssigkeit aber bei den zahlreichen Thierarten, die sich einer lebhaften Erregbarkeit erfreuen, neben grossen Aehnlichkeiten sehr betr\u00e4chtliche Verschiedenheiten bietet, so schliesst man mit Recht, dass entweder nicht alle das Blut constituirende Stoffe zur Erhaltung der Erregbarkeit n\u00f6thig, oder dass bei verschiedenen Thieren die Nervenzu-sammensetzung wechselnd sein m\u00fcsse. \u2014 Alle andere Fl\u00fcssigkeiten, die den gemachten Anforderungen nicht gen\u00fcgen, d\u00fcrften darum als sch\u00e4dliche angesehen werden, eine Annahme, die insofern durch die Erfahrung unterst\u00fctzt wird, als beobachtungsgem\u00e4ss schon ein Blut, wrelches wrenig oder gar keinen Sauerstoff enth\u00e4lt, reicher an Wasser, Kochsalz u. s. wr., ist, als ein normales sich zur Erhaltung der Erregbarkeit unf\u00e4hig, ja sogar vernichtend enveisst. \u2014 Wir besitzen nun eine grosse Zahl von Beobachtungen, welche das Verhalten chemischer Substanzen gegen den erregbaren Nerven betreffen. Aus ihnen ergibt sich, dass alle Stoffe, welche den Nerven allm\u00e4hlig aufl\u00f6sen, oder die, wrelche eine Verwandtschaft zu Fetten, Ehveissstoffen und dem Wasser zeigen, oder sie durch katalytische Wirkungen ver\u00e4ndern, die Erregbarkeit vernichten. Einige dieser ver\u00e4ndernden Stoffe zerst\u00f6ren bei ihrer Einwirkung den Nerven vollkommen, wie z. B. S\u00e4uren und Alkalien, so dass auch nach ihrer Entfernung der Nerv immer vollkommen todt zur\u00fcckbleibt, andere aber, wie das Kochsalz, nur so lange sie gegenw\u00e4rtig, indem der Nerv nach ihrer Entfernung wieder erregbar wird. \u2014 Ferner ist es eine aus chemischen Prinzipien leicht ableitbare und durch die Erfahrung best\u00e4tigte Folgerung, dass eine L\u00f6sung bei geringerem Prozentgehalt anders wirkt, als bei h\u00f6herem, und ferner, dass ein Stoff im Gemenge mit andern und namentlich im Gemenge mit den Blutbestandtheilen (wiegen eintretender secund\u00e4rer Zersetzungen) ganz anders wirkt, als f\u00fcr sich allein u. s. w\\ Das Einzelne gew\u00e4hrt bei dem niedrigen Stand unsrer chemischen Kenntnisse \u00fcber die Nervensubstanz ein geringes Interesse.\nAusser den schon genannten mineralischen und den meisten organischen S\u00e4uren lind Alkalien, zerst\u00f6ren die Nervenerregbarkeit namentlich Aether, Alkohol? w\u00e4ssrige Opiumtinktur, Kreosot, verd\u00fcnnte L\u00f6sungen der Metall - und dichtere der Neutral und","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Bedingungen dei* ver\u00e4nderten Erregbarkeit.\n107\nHaloidsalze; indifferenter erscheinen Blaus\u00e4ure, Strychninl\u00f6sung, Wasser und fette Oele, indem in diesen ein abgesehnittenes Nervenst\u00fcck seine Erregbarkeit nur um weniges fr\u00fcher einb\u00fcsst, als in einem vor Verdunstung gesch\u00fctzten Raume.\nVielleicht stehen mit den eben gemeldeten Thatsachen die Erscheinungen in Verbindung, dass die Erregbarkeit der Nerven mit den Jahreszeiten [welche das Futter und damit die Zusammensetzung des Blutes \u00e4ndern] ver\u00e4nderlich ist, wie denn die Fr\u00f6sche im Herbst und Fr\u00fchjahr (vor der Begattung) erregbarer sind, als im hohem Sommer oder tiefen Winter, ferner dass uns die Abend- und die Jugendzeit gew\u00f6hnlich erregbarer findet, als der Morgen und das Alter u. s. w. \u2014 s) Die W\u00e4rme, welche sich nach oben oder unten betr\u00e4chtlich von derjenigen entfernt, in welcher der Nerv im lebenden Thier sich findet, vernichtet die Erregbarkeit, selbst wenn sonst alle Bedingungen zur Erhaltung derselben gegeben sind. Eckhard*) legte, um die Erscheinungen zu studiren, die noch mit einem Muskel in Verbindung befindlichen Nerven eines Frosches in Wasser von verschiedenen aber jedesmal constanten Temperaturen und pr\u00fcfte dann von Zeit zu Zeit das Vorhandensein der Erregbarkeit mittelst eines elektrischen Schlages. Hier ergab sich, dass in Wasser von -f- 10\u00b0 bis -j- 20\u00b0 R., der Nerv nicht merklich rascher abstarb, als in feuchter Luft gleicher Temperatur. Im Wasser von 0\u00b0 starb der Nerv binnen 45 Sekunden und bei \u2014 3\u00b0 bis \u2014 5\u00b0 starb er momentan ab; in einer Temperatur von 30\u00b0 erhielt er sich 12 bis 15 Sekunden und in einer solchen von + 55\u00b0 bis + 60\u00b0 war er nur noch momentan erregbar. Aehnlich verhalten sich nach E. H. Webe r die Hautnerven des Menschen. Aus dem Mitgetheilten ergibt sich von selbst, dass nur enge W\u00e4rmegrenzen die Erhaltung der Erregbarkeit beg\u00fcnstigen. \u2014\nrj) Der elektrische Strom wirkt unter allen Umst\u00e4nden schw\u00e4chend auf den Nerven; diese Schw\u00e4chung geht jedoch nicht durchweg proportional der Dichtigkeit und Intensit\u00e4t derselben, denn obwohl dichtere und intensivere Str\u00f6me, gem\u00e4ss ihrer elektrolytischen Kraft, rascher den Nerven angreifen, als schwache und weniger dichte, so zeigt sich doch auch noch innerhalb gewisser Grenzen die Richtung, und durchgreifend die Schwankung, oder die Ver\u00e4nderlichkeit\nihrer St\u00e4rken w\u00e4hrend der Dauer ihrer Anwesenheit von Bedeutung.\n\u00a7 v\nNach Ritter sollen n\u00e4mlich schwache Str\u00f6me, wenn sie aufsteigend (von der Nervenendung gegen den Ursprung im Hirn und R\u00fcckenmark) den Nerven durchlaufen, eher die Erregbarkeit erh\u00f6hen als schw\u00e4chen, w\u00e4hrend die absteigenden schw\u00e4chen sollen. Die Erregbarkeit wird dagegen durch einen \u00e4usserst schwachen, durch gew\u00f6hn-\n*) lieber die Einwirkung der Temperatur etc. Heule u. Pfeufer X. Bd. 165. Die von Pickford im ersten Band der neuen Folge derselben Zeitschrift gegebenen Mittheilungen \u00fcber denselben Gegenstand k\u00f6nuen leider nicht benutzt werden, weil sie theils sich selbst widersprechen, vorzugsweise aber weil die Methoden, die zur Feststellung der Thatsachen benutzt wurden, vielfach mit Fehlern behaftet sind.","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nBedingungen der ver\u00e4nderten Erregbarkeit,\nliehe Galvanometer kaum messbaren Strom sehr herabgedr\u00fcckt, vorausgesetzt dass die Stromst\u00e4rke in einer best\u00e4ndigen Schwankung begriffen ist. Der Grund f\u00fcr diese scheinbar sonderbare Erscheinung liegt darin, dass eine solche Art des Stroms die lebhaftesten Erregerwirkungen besitzt, so dass also hier die Elektrizit\u00e4t indirekt die Schw\u00e4chung bedingt. (Siehe \u00fcber Erregbarkeitsver\u00e4nderung durch den elektrischen Strom den verk\u00fcrzten Zustand der Muskels.)\ni?) Schw\u00e4chend wirkt endlich auch eine Ersch\u00fctterung, oder eine Zerrung oder ein s an ft er D r u ck, selbst wjenn sie so allm\u00e4hlig geschehen, dass sie gar keine Erregung bedingen. Ein allgemein bekanntes Beispiel f\u00fcr die schw\u00e4chende Wirkung dieser mechanischen Eingriffe bietet das sog. Einschlafen der Glieder, welches meist bedingt ist durch einen sanften und anhaltenden Druck auf den Nervenstamm der zu den eingeschlafenen Muskeln oder Hautfl\u00e4chen sich begibt. Je anhaltender ein solcher Druck wirkte, um so intensiver und um so l\u00e4nger dauernd erscheint der Zustand des Gliederschlafs. \u2014\nDie \u00e4lteren Theoretiker erschlossen aus den Thatsaehen, dass die Erregung die Erregbarkeit vernichte, w\u00e4hrend sie in der darauffolgenden Ruhe sich wieder herstelle, auf die Gegenwart eines Nerven\u00e4thers, welcher in der Ruhe im Nerven in einem gespannten Zustand angeh\u00e4uft und in der Erregung frei werde. Diese Lehre empf\u00e4ngt aber den Todesstoss durch die Reihe von Thatsachen, nach welchen auch ohne Erregung, also ohne Verbrauch des angeh\u00e4uften Aethers die Schw\u00e4chung sich ereignet. Da aber alles w as die physikalische und chemische Constitution \u00e4ndert, den Nerven schw\u00e4cht und umgekehrt die Gegenwart solcher Einfl\u00fcsse, die des Blutes und der W\u00e4rme nemlich, welche die Entstehung des Nerven bedingten auch die Nerven st\u00e4rkt, so schliessen wir jetzt, dass ein Nerv durch die Erregung, zu lang dauernde Ruhe, Erhitzung, Erk\u00e4ltung, elektrische Str\u00f6me u. s. wr. mehr oder weniger zerst\u00f6rt werde, und dass daher die Ver\u00e4nderung in der Erregbarkeit abzuleiten sei.\nEine genauere Betrachtung der Erregbarkeitsverh\u00e4ltnisse, als wir denselben bisher zuTheil werden liessen, ergibt,\u2018dass die angef\u00fchrte Kategorie von Schw\u00e4chung und St\u00e4rkung der Erregung weitab nicht aus-reiehen, um Alles hierher einschlagende zu umspannen. \u2014 H\u00e4ufig ereignet es sich n\u00e4mlich, dass der Nerv auch in der Qualit\u00e4t seiner Erregbarkeit Ver\u00e4nderungen erleidet, indem ein sehr erregbarer Nerv sich unter Umst\u00e4nden gegen ein Mittel vollkommen wirkungslos verh\u00e4lt, das zu jeder andern Zeit ihn s^ehr intensiv erregt haben w\u00fcrde. Mit andern Worten, es kommen Zust\u00e4nde im Nerven vor, in denen er nur gegen einen seiner gew\u00f6hnlichen Erreger abgestumpft ist, w\u00e4hrend er die Angriffe aller andern beantwortet. Hierher geh\u00f6rt z. B. der bekannte Fall, dass die eine Farbe den Sehnerven nicht mehr zur Empfindung weckt, w\u00e4hrend er alle andern sehr lebhaft f\u00fchlt. Wir wissen \u00fcber die Ursachen dieses bemerkenswerthen Ph\u00e4nomens nur mit-zutheilen, dass anhaltende Dauer einer Einwirkung die Empf\u00e4nglichkeit des Nerven f\u00fcr dieselbe abstumpft. \u2014 Siehe hier\u00fcber u. A. subjective Farben beim Gesichtssinn.","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Wechsel der Erregung mit dem Erreger.\n109\n+\nb) Wechsel der Erregung mit dem Erreger. Die Beobachtung, welche sich bem\u00fcht, die gesetzm\u00e4ssigen Ver\u00e4nderlichkeiten der Erregungsst\u00e4rke als eine Folge der wechselnden Kraft des Erregers aufzufassen, hat zuerst die Aufgabe, w\u00e4hrend m\u00f6glichst wechselvoller Einwirkung des Erregers die Erregbarkeit entweder constant zu erhalten oder ihre Ver\u00e4nderungen zu eliminiren.\nDieser Forderung ist ann\u00e4hernd gen\u00fcgt 1) wenn man die Versuche in denen verschiedene Intensit\u00e4ten der Erreger auf den Nerven wirken, m\u00f6glichst rasch auf einander folgen l\u00e4sst, damit, (vorausgesetzt, es seien die Angriffe der Erreger nicht zu heftig gewesen) sich die Erregung von einem zum andern Versuch nicht wesentlich ver\u00e4ndern kann. Hierbei ist es Regel, die Versuchsreihe mit der schw\u00e4chsten Einwirkung beginnen zu lassen. Oder 2) man l\u00e4sst die zu pr\u00fcfenden in ihrer St\u00e4rke unterschiedenen Erreger zweimal in umgekehrter Reihenfolge auf den Nerven wirken, so dass man z. B. zuerst den Erreger der St\u00e4rke 1, dann den von der St\u00e4rke 2 anwendet und dann zum zweitenmal den von der St\u00e4rke 1. Man gewinnt dadurch f\u00fcr den ersten Erreger Beobachtungen aus zwei Erregungsstufen, von denen die eine h\u00f6her und die andere niedriger steht, als diejenige, bei welcher der zweite Erreger angriff; man glaubt sich darum berechtigt, das Mittel aus diesen beiden Beobachtungen mit dem Erfolg des zweiten Erregers vergleichen zu k\u00f6nnen.\nDer absolute Kraftwerth der Mittel, die wir als Erreger benutzen wollen, l\u00e4sst sich nun allerdings leicht variiren, aber damit ist noch nicht erreicht, dass auch diese Mittel in derselben St\u00e4rke oder in gleichem Verh\u00e4ltniss ihrer St\u00e4rke den Nerven treffen; dieses leuchtet sogleich ein, wenn wir diesen letztem in seiner nat\u00fcrlichen Lage der Erregung aussetzen, weil in diesem Falle die um denNerven liegenden Theile auf eine ganz unbestimmbare Weise dem Durchgang des Erregers einen Widerstand entgegensetzen. Um dieses klar zu machen, wollen wir hier nur einen der verst\u00e4ndlichsten F\u00e4lle herausgreifen, indem wir uns denken, es seien die Folgen von verschiedenen W\u00e4rmegraden auf den Hautnerven zu ermessen. Die hier in jedem Augenblicke zu dem Nerven dringende oder von ihm abgegebene W\u00e4rme ist geradezu abh\u00e4ngig von dem Unterschied der Temperaturen in der erregenden W\u00e4rmequelle und in der Haut und umgekehrt proportional dem Leitungswiderstand der Oberhaut. Da die Temperatur der Haut und der Leitungswiderstand constante Werthe sind, so wird, wie dem Anf\u00e4nger jede in Zahlen ausgef\u00fchrte Rechnung zeigt, das Verh\u00e4ltniss der auf den Nerven wirkenden W\u00e4rmemengen schon ein anderes als das der W\u00e4rmequellen; dazu kommt nun aber noch, dass die Nerven von Fl\u00fcssigkeiten (dem Blut u. s. w.) umsp\u00fclt sind, welche eine bestimmte Temperatur besitzen, die sie wegen ihres stetigen Wechsels erhalten. Diese fortlaufend wechselnden Fl\u00fcssigkeitsmassen sind","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nWechsel der Erregung mit dem Erreger.\ndemnach als K\u00fchl- oder W\u00e4rmeapparate zu betrachten, Je nachdem die erregende W\u00e4rmequelle h\u00f6her oder niedriger temperirt ist als das Blut. Nach der Geschwindigkeit des Blutlaufes, der Leitungsg\u00fcte der das Blut umgebenden Theile u. s. w. wird dieser Apparat in mannigfaltiger Abweichung mit eingreifen und es ist, selbst wenn man auf das AufFassen feiner Unterschiede verzichtet, vollkommen unm\u00f6glich anzugeben, welche W\u00e4rmemenge in jedem Falle aus der W\u00e4rmequelle auf den Nerven trifft. Solche Schwierigkeiten, wie die hier geschilderten, setzen sich nun \u00fcberall entgegen, die voji besonderer Natur sind je nach den Nervenh\u00fcllen und den Erregern.\nMan sollte nun denken, diese Fehler w\u00fcrden wegfallen, wenn man den biosgelegten Nerven unmittelbar der Einwirkung des Erregers aussetzte; aber auch hierdurch werden die Verh\u00e4ltnisse h\u00f6chstens weniger verwickelt; aber noch lange nicht einfach. Legt man z. B. an einen freiliegenden Nerven die Pole einer elektrischen S\u00e4ule an, so polarisiren sich ihre Enden. Diese Polarisation schw\u00e4cht sogleich den urspr\u00fcnglichen Strom und zwar um einen Werth, der keineswegs den ihrer Stromst\u00e4rke genau proportional geht. Aehnliches ereignet sich, wrenn man den Nerven in L\u00f6sungen desselben Salzes von verschiedenem Prozentgehalt legt; damit diese zu dem wirksamen Theile der Nerven dringen k\u00f6nnen, m\u00fcssen sie die Scheide durchwandern, und diese Scheide setzt ebenfalls dem Salze mannigfach wechselnden AViderstand entgegen u. s. w. Dazu kommen dann noch Nebenwirkungen jedes einzelnen Erregers, Zersetzung der Nerven-substanz, A7erSchrumpfung der Scheide u. s. w., die gar nicht in Rechnung zu bringen sind. Diese Darstellung lehrt, dass es vollkommen irrig ist, zu glauben, es steige oder falle genau wie die objektiv zu messende Kraft des als Erreger angewendeten Mittels, auch seine Wirkung auf den Nerven; man kann nur behaupten, dass letztere in einem noch unbekannten A7erh\u00e4ltniss steige oder falle mit der er-steren.\nAls eine nicht zu vers\u00e4umende Vorsichtsmassregel bei dieser und allen vorhergehenden Versuchsreihen gilt nun auch, dass die Erreger immer dieselbe Zahl und dieselbe L\u00e4nge der Nerven-f\u00e4den treffen m\u00fcssen. Mit einem AA7eehsel der Zahl geschieht aus bekannten anatomischen Gr\u00fcnden nicht allein eine A7er\u00e4nderung in der Summe der erregten Muskelschl\u00e4uche und Dr\u00fcsenr\u00f6hren, sondern mit der Zahl der Nervenr\u00f6hren steht auch, wie E. H. Weber gezeigt, die Intensit\u00e4t der Empfindung in der Beziehung, dass sie, alles andere gleichgesetzt, mit einer A7ermehrung derselben steigt und mit einer A7erminderung sinkt. Somit \u00e4ndert sich also durchgreifend die zum Ahrschein kommende Gr\u00f6sse der Bewegung, Menge der Absonderung und Intensit\u00e4t der Empfindung, selbst bei gleicher Intensit\u00e4t der Nervenerregung, so wie die Summe der erregten Nervenf\u00e4den eine andere","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Wechsel der Erregung mit dem Erreger,\n111\nwird. \u2014 Auf dieselbe L\u00e4nge der erregten Nervenstrecke muss aber gehalten werden, weil, wie wenigstens an einigen Nerven erwiesen, die St\u00e4rke der Erregung mit der eben erw\u00e4hnten L\u00e4nge w\u00e4chst\nSo grosse und zahlreiche Schwierigkeiten bietet die einfachste Versuchsreihe, und sie sind sicherlich hier vorerst weitaus zum geringsten Theil aufgez\u00e4hlt; ein gewandter Kopf wird in ihnen eher einen Sporn sie zu \u00fcberwinden sehen, als vor ihnen zur\u00fcckgeschreckt stehen bleiben; der halbwegs einsichtige wird aber die Versuche ganz unterlassen, wenn er nicht mit neuen, wirklich hilfreichen Mitteln hier eindringen kann.\nDie uns zu Gebote stehenden Erfahrungen \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit der Erregungsst\u00e4rken von dem Wechsel in der Kraft sowohl als an\u00bb dem Verh\u00e4ltnissen der Erreger, haben zu folgenden allgemeinen Ergebnissen gef\u00fchrt.\na) Eine gewisse Zahl von Mitteln erzeugt eine Erregung, wenn sie in constanter, oder in einer nach der Zeit sehr wenig schwankenden St\u00e4rke einwirkt ; dahin z\u00e4hlen die constanten Dr\u00fccke, welche auf den Seh- und den Hautnerven Licht- und Schmerzempfindung erzeugen; hohe und sehr niedere Temperaturen, welche nicht mehr W\u00e4rme-und K\u00e4lteempfindung, sondern Schmerz erzeugen, die den Geschmack und Geruch erweckenden chemischen Substanzen, ein constanter galvanischer Strom in den Empfindungsnerven und noch andere sp\u00e4ter besonders hervorzuhebende Mittel. Die Erregung ist von der Ver\u00e4nderung dieser Erreger insofern abh\u00e4ngig, als sie innerhalb gewisser Grenzen mit der St\u00e4rke des Erregers w\u00e4chst; bei einer gewissen H\u00f6he dieser letzteren erreicht die Erregung aber ein Maxi-, mum, welches. nicht \u00fcberschritten wird, mag der Erreger auch noch so betr\u00e4chtliche Zuw\u00e4chse an seiner Intensit\u00e4t erfahren.\n\u00df) Eine andere Reihe von Mitteln wird dagegen nur dann zu Erregern, wenn sie mit einer stetigen Ver\u00e4nderung in ihren Intensit\u00e4ten auf den Nerven wirkt. So erzeugt z. B. ein constanter Druck auf das Trommelfell niemals die Empfindung des Tons, der aber sogleich zu\nStande kommt so wie das Trommelfell in hin und hergehende Schwankungen von einer bestimmten Geschwindigkeit ger\u00e4th, wobei also der von demselben auf die innern Geh\u00f6rwerkzeuge ausge\u00fcbte Dfuek z. B. zuerst ein zusammenpressender und dann ein ausdehnender wird. Ebenso empf\u00e4ngt man die Empfindung der W\u00e4rme nicht durch eine constante Temperatur, sondern nur dann und so lange als die Temperatur der Haut von einem niederen zu einem h\u00f6heren Grade aufsteigt. Ein constanter electrischer Strom bringt den Muskelnerven niemals in einen Zustand, in welchem er eine Muskelzuckung hervorruft; dieses geschieht aber, wenn ihn ein Strom von stets ver\u00e4nderlicher an- oder absteigender St\u00e4rke durchfliesst. In diesen und zahlreichen andern F\u00e4llen steigt die Erregung 1. mit der Geschwindigkeit des Wechsels,","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nBeharrungsverm\u00f6gen des Nerven.\nden die Intensit\u00e4ten der Erreger w\u00e4hrend ihrer Einwirkung auf den Nerven erleiden ; mit andern Worten sie ist von der in der Zeiteinheit durchlaufenen Differenz der Erregerst\u00e4rke abh\u00e4ngig. Eine nothwen-dige Folgerung hieraus ist die, dass eine in der Zeiteinheit durchlaufene grosse Differenz zwischen absolut niederen Werthen der Erreger eine st\u00e4rkere Erregung erzeugt, als eine geringe Differenz absolut h\u00f6herer Werthe. So erscheint also z. B. wenn wir die Hand aus Wasser von 8\u00b0 pl\u00f6tzlich in das von 12\u00b0 f\u00fchren, dieses letztere uns w\u00e4rmer als das von 14\u00b0, wenn wir unmittelbar vorher die Hand in Wasser von 12\u00b0 getaucht hatten u. s. w. \u2014 Wenn aber 2. die Geschwindigkeit des Wechsels gleich ist, so steigt in einzelnen F\u00e4llen wenigstens die St\u00e4rke der Erregung mit der Intensit\u00e4t der erregenden Wirkung, so dass ein sich abgleichender gleich grosser Unterschied zwischen zwei intensiveren Erregern lebhafter wirkt, als derselbe zwischen weniger betr\u00e4chtlicheren Kr\u00e4ften. Doch gilt f\u00fcr diesen Fall ganz dasselbe, was f\u00fcr den unter 1) verzeichneten ausgesprochen wurde, dass nemlich nur bis zu einem gewissen Grade mit dem Wachsthum der Erregerintensit\u00e4t die St\u00e4rke der Erregung steigt, jenseits desselben aber constant bleibt, mag nun auch der Werth der ersteren noch so sehr steigen. Unbekannt ist es ob auch die von der Abgleichungsgeschwindigkeit herr\u00fchrende Erregung ein Maximum besitzt, \u00fcber das hinaus sie mit dem Erreger nicht mehr w\u00e4chst.\nSehr hemerkenswerth ist es noch f\u00fcr die Erregung durch constante sowohl als durch schwankende Kr\u00e4fte, dass durch ausserordentlich unbetr\u00e4chtliche, durch andere Mittel kaum messbare Einwirkungen in den Nerven schon nahebei die Maxima der Erregung erzeugt werden.\n4. Von dem Beharrungsverm\u00f6gen des Nerven oder von der Zeit, welche verstreicht bevor auf Anwendung eines Erregungsmittels auf den Nerven dieser selbst in merklichen Grad von Erregung gelangt, und derjenigen, welche der erregte Nerv bedarf um wieder zur Ruhe zu kommen nach Entfernung des Erregunsmittels. Trifft ein Erreger einen Nerven, so tritt, soweit uns bekannt, der Nerv an dem angegriffenen Orte sogleich in den Zustand der Erregung \u00fcber. \u2014 Die eingetretene Erregung verschwindet nun auch meist momentan mit der Entfernung des Erregers; dieses Verhalten ist jedoch kein allgemeines, indem namentlich einzelne Nerven wie die der Retina auch die Eigenschaft zeigen, l\u00e4ngere Zeit in dem Zustand zu verharren, in den sie durch einen intensiv oder anhaltend wirkenden Erreger versetzt sind. \u2014 Aber selbst in diesen Nerven ist f\u00fcr die Erregung von mittlerer St\u00e4rke das Problem gel\u00f6st, dass die inneren Zust\u00e4nde des Nerven der Zeit nach ein fast genauer Abdruck der Erreger sind, indem sie nahebei momentan mit dem Erreger erscheinen und verschwinden.","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Leitungen.\n113\n5/Gegenseitige Mittheilungen innerer Zust\u00e4nde\u00bb Leitungen.\nA. Im ruhigen (erregbaren) Zustande. In einer und derselben Nervenr\u00f6hre k\u00f6nnen an verschiedenen Orten ihres Verlaufs verschie-\ndene Grade der Erregbarkeit bestehen, so dass also an demselben Rohre Stellen von st\u00e4rkerer und schw\u00e4cherer Erregbarkeit mit einander abwechseln. Soweit gegenw\u00e4rtige Erfahrungen den Thatbestand aufgehellt haben, \u00fcben diese verschiedene Zust\u00e4nde keinen Einfluss aufeinander aus; doch fehlen ebensowohl noch Beobachtungen als, was viel schlimmer, Beobachtungswege, die diese Lehre aufzuhellen verm\u00f6chten.\nB. Im erregten Zustande. *)\na) Innerhalb einer und derselben Nervenr\u00f6hre. Wird ein aliquoter Theil einer Nervenprimitivr\u00f6hre in Erregung versetzt, so theilt sich dieser Zustand auch den \u00fcbrigen urspr\u00fcnglich nicht erregten Theilen des Nerveninhalts mit, so dass alle diesseits und jenseits der erregten Stelle liegenden R\u00f6hrenst\u00fccke ebenfalls aus ihrer Ruhe heraustreten. Durch einen einfachen Versuch l\u00e4sst sich zeigen, dass in allen ausserhalb der nerv\u00f6sen Centralorgane gelegenen Nervenr\u00f6hren diese Mittheilung der Erregung nur durch den R\u00f6hreninhalt und nicht durch die R\u00f6hrenscheide vermittelt wird, indem n\u00e4mlich ihre Weiterleitung von einem Nervenst\u00fcck auf das andere nur dann m\u00f6glich ist, wenn sich die Inhaltsmassen unmittelbar ber\u00fchren. Hieraus folgt das von E. H. Web er zuerst ausgesprochene wichtige Gesetz, dass die innerhalb einer Nervenprimitivr\u00f6hre geschehene Erregung in dieser isolirt bleibt.\nNoch vor Kurzem gab man allgemein vor, die Thatsachen verlangten die Annahme, dass alle Nervenr\u00f6hren ohne Ausnahme nur nach einer Richtung hin ihre Erregung weiter zu leiten verm\u00f6gen, dass dagegen ein Theil von ihnen, n\u00e4mlich die empfindungserzeugenden nur zur centripetalen (von den Sinnesorganen zum Hirn) und ein anderer, die bewegungserzengenden nur zur centrifugalen Leitung bef\u00e4higt seien. Die Thatsachen, welche jene Annahmen erzeugten, erl\u00e4utern sich aber s\u00e4mmt-lich auch ohne sie, wenn man bedenkt, dass nur im Hirn an den empfindenden und nur in der muskul\u00f6sen Peripherie an der bewegenden Nervenr\u00f6hre ein Apparat sich findet, aus dem die bestehende Erregung erkannt werden kann; die Richtigkeit der Annahme einer einf\u00f6rmigen Leitung war erst dann entscheidbar, als man ein Mittel fand um aller Orten in dem Nerven die vorhandene Erregung darzuthun; dieses Mittel ist aber der Multiplikator, welcher einen, jede Erregung constant begleitenden, Vorgang, die sogenannte negative Stromesschwankung, nachzuweisen vermag; du Bois hat nun in der That gezeigt, dass in jedem Nerven die disseits und jenseits der erregten Stelle liegenden Molekeln in die negative Schwankung gerathen.\nDer Versuch, welcher beweist, dass die Leitungsf\u00e4higkeit in den ausserhalb des R\u00fcckenmarks gelegenen Theilen an die Gegenwart des Nerveninhaltes sich kn\u00fcpft, ist schon sehr alt. Schon das vorige Jahrhundert wusste, dass wenn man die Schlinge\n*) Joh. M\u00fcll er/Lehrbuch der Physiologie. 4. \u00c0ufl. L'\u2014 Helmholtz, Messungen \u00fcber den zeitlichen Verlauf u. s. w. M\u00fcllers Archiv 1850.276. \u2014 du Bois Reymond Untersuchungen \u00fcber thier. Electr. Bd. IL p. 5\u00ce0 u. f. \u2014 E. H. Web er Artikel Tastsinn in Wagu er s Handw\u00f6rterbuch.\nLudwig, Physiologie I.\n8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nLeitung der Erregung.\neines Fadens um einen Nervenstrang legt und dieselbe gerade so fest zuzieht, dass an der betreffenden Stelle das Nervenmark ausgequetscht wird, die Scheiden aber noch in Ber\u00fchrung bleiben, so dass also durch den Faden der Nerv nicht durchgeschn\u00fcrt wird, die eingequetschte Stelle dem Fortgang der Erregung einen un\u00fcberwindlichen Widerstand entgegen setzt. Aus der anatomischen Thatsache, dass die Nervenr\u00f6hre, meist ohne sich zu theilen, von den nerv\u00f6sen Centren bis zu der Peripherie verlaufe, und aus der physiologischen Erfahrung, dass sowohl beschr\u00e4nkte Erregungen unserer Sinneswerkzeuge beschr\u00e4nkte Empfindungen bedingen, als dass auch unserm Willen es frei steht, ganz beschr\u00e4nkte Bewegungen einzuleiten, obwohl die einzelnen Nervenr\u00f6hren auf ihrem Verlauf zum Hirn in tausendfache Ber\u00fchrung\nmit anderen kommen, schloss mit gewohnter Feinheit E. H. Weber das oben aus gesprochene Gesetz, welches durch Versuche von J. M\u00fcller noch weiter best\u00e4tigt ist.\nDie Mittheilung des erregten Zustandes geschieht, wie Helmholtz\nin einer classlschen Arbeit gezeigt hat, mit endlicher Geschwindigkeit. Im Mittel verbreitet sich in den Haut- und Muskelnerven der lebenden Menschen die Erregung um 61,5 Meter in der Zeitsekunde weiter. Diese Leitungsgeschwindigkeit ist nun aber keineswegs eine constante, sondern eine mit inneren Zust\u00e4nden der Nerven wechselnde. Namentlich leitet das Nervenrohr im lebenden Menschen die Erregung dreifach rascher als im Frosch, und ferner ist das auf 0\u00b0 abgek\u00fchlte Nervenrohr des Frosches ein viel schlechterer Leiter als der normal (10 \u2014 12\u00b0) temperirte.\nDie Methode dieser Bestimmung beruht auf dem von P ouillet zuerst benutzten Prinzip der Messung kleiner Zeitr\u00e4ume durch den elektrischen Strom. Die Winkelgr\u00f6sse um die eine Magnetnadel innerhalb kleiner Zeiten durch einen elektrischen Strom abgelenkt wird, ist abh\u00e4ngig von der Intensit\u00e4t des Stromes und der Zeitdauer seiner Einwirkung, was sogleich verst\u00e4ndlich ist, wenn man die Wirkungen des elektrischen Stroms auf die Nadel als St\u00f6sse auffasst, welche in ununterbrochener\nReihenfolge auf dieselbe geschehen. Die Intensit\u00e4t des Stroms bedeutet dann soviel als die St\u00e4rke der St\u00f6sse und die Zeitdauer der Einwirkung die Zahl der St\u00f6sse; demnach ist die mechanische Leistung ein und desselben Stromes auf die Nadel proportional der Zeit seiner Einwirkung oder, mit Beziehung auf die Nadel gesprochen , es wird, wenn man die Nadel nur um sehr kleine Winkel schwingen l\u00e4sst, ihr Schwingungsbogen bei Einwirkung von gleich starken aber ungleich andauernaen Str\u00f6men direkt proportional der Zeit ausfallen. Diesem Prinzip gem\u00e4ss kann die Leitungsgeschwindigkeit der Nervenerregung, oder der Zeitraum, welcher verfliesst zwischen der Erregung eines Nervenst\u00fccks in bekannter Entfernung von einem Muskel und dem Anlangen der Erregung an dem Muskel selbst, bestimmt werden, wenn es gelingt einen um die Magnetnadel geleiteten Strom von bekannter Intensit\u00e4t, genau indem Momente zum Schluss zu bringen, in welchem die Erregung im Nerven beginnt und genau in dem Moment ihn zu \u00f6ffnen, in welchem die Erregung in dem Muskel oder dem Empfindungsorgan angelangt ist. Diese M\u00f6glichkeit, welche Helmholtz verwirklicht hat, wird uns durch folgendes Schema versinnlicht.\nln Fig. 26 stellten A und B zwei gleich starke galvanische S\u00e4ulen vor, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 leitende Dr\u00e4hte, a und b zwei isolirende St\u00e4bchen, M eine Magnetnadel mit umgewundenen Leitungsdr\u00e4hten (Multiplikator), Q ein Ouecksilbern\u00e4pfchen, E N ein Nerv, P sein zugeh\u00f6riger Muskel.\n, Dieses System von Apparaten kann entweder so zusammengestellt werden, dass beide gleichstarke galvanische S\u00e4ulen ihre Str\u00f6me in entgegengesetzter Richtung durch dieselben Leitungsbogen senden, so dass die resultirende W irkung beider auf","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Leitungsgesehwindigkeit der Erregung.\tH5\nFig. 26.\ndie Nadel gleich Null wird. Dieser Fall ereignet sich hei der gezeichneten Aufstellung, wenn n\u00e4mlich die Spitze hei 3 nicht in das Quecksilhern\u00e4pfchen taucht; oder es lassen sich unsere Apparate auch so stellen, dass zwei Str\u00f6me entstehen die sich an einem Punkte Q 3 ber\u00fchren, was eintritt, Avenn die Spitze 3 in das Quecksilber Q getaucht wird. Die eine Stromhahn, die wir die erregende nennen wollen, wird dargestellt durch J, 1, E, 2, 3, 0, 4 und die andere, welches die zeitmessende ist, wird gebildet von B, 8, My T, 6, 3, Q, 5. Beide Bahnen zeigen noch die w esentliche Einrichtung, dass sie eine Stelle besitzen, in der sie leicht unterbrochen werden k\u00f6nnen, die erregende bei 4, die zeitmessende bei 6.\nWill man den Versuch beginnen, so ordnet man den Apparat zun\u00e4chst in die erste Stellung, in der die resultirende des Stromes gleich Null ist, an, Nerv und Magnetnadel bleiben w\u00e4hrend desselben in Ruhe; dann st\u00f6sst man die Spitze 3 in den Ouecksilbernapf Q, wodurch man die bisher vereinigten Str\u00f6me in zwei spaltet, von denen der eine* gerade in dem Moment seine Erregung auf den Nerven beginnt, in welchem der andere (der zeitmessende) geschlossen wird. Da nun aber im erregenden Stromkreis durch Vorschieben der Spitze 3 zugleich der isolirende Stab vorgestossen und damit dies locker eingefugte St\u00fcck des Leiters 4 ausge-stossen wird, so dauert dieser Strom, was zur Erregung des Nerven hinreicht, nur momentan. \u2014 Der zeitmessende Strom, der, wie wir eben sahen, im Beginn der Nervenerregung geschlossen wurde, wird nun aber ge\u00f6ffnet, sowie der erregte Nerv N den Muskel P in Zuckung versetzt hat, indem dieser dann das Pl\u00e4ttchen bei 6 mittelst des isolirenden an ihn festgehefteten St\u00fcckes abhebt.\nDer zeitmessende Strom wurde also genau so lange geschlossen gehalten, als die Erregung Zeit bedurfte, um von dem Nervenst\u00fcck E zu dem Muskel zu gelangen und diesen selbst wieder in eine so kr\u00e4ftige Bewegung zu setzen, dass er den Strom\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nLeitmigsgeschwindigkeit der Erregung.\n\u00f6ffnen konnte. Der hierzun\u00f6tliigeZeitraum ist aber nicht der zu messende, denn es sollte ja nur die Zeit bestimmt werden, welche verstrich bis die Erregung an dem Muskel angelangt war. Um diese zu finden, ist es nothwendig auf diesen ersten Versuch einen zweiten folgen zu lassen, in dem man die Enden des erregenden Kreises m\u00f6glichst nahe an den Muskel bringt, sonst aber ihn gleich dem vorigen ausf\u00fchrt. Eine kurze Ueberlegung zeigt hier nun, dass die Zeitunterschiede, welche in beiden Versuchen durch die Magnetnadel gegeben werden, einzig und allein davon abh\u00e4ngen k\u00f6nnen, dass in dem ersten Versuch, der eine st\u00e4rkere Ablenkung der Nadel herbeif\u00fchrte, die Erregung eine l\u00e4ngere Nervenstrecke zu durchlaufen hatte als im zweiten Versuch, mit andern Worten: die Differenz der in beiden Versuchen erhaltenen Zeiten ist diejenige, welche die Mittheilung der Erregung durch das zwischen beiden Erregungsstellen liegende Nervenst\u00fcck bedurfte. Kennt man die leicht zu bestimmende L\u00e4nge dieser Entfernung, so ist damit die LeitungsgeschAvindigkeit gegeben.\nUeber die Einzelheiten dieses Verfahrens ist die Abhandlung von Helmholtz selbst nachzusehen, namentlich um Belehrung dar\u00fcber zu finden, durch welche sinnreiche Mittel dieser ausgezeichnete Gelehrte die so zahlreichen Fehlerquellen zu vermeiden wusste. \u2014 Ausser dieser hat er noch eine zweite Messungsmethode angegeben und angewendet. M\u00fcllers Archiv 1852. 199.\nb) Mittheilung der Erregung von einem Nervenfaden zu einem andern. Ouerleitung. *) Die Regel der isolirten Leitung ist, wenn auch weitaus die h\u00e4ufigste, doch keine allgemein g\u00fcltige; es finden sich einzelne Oertlichkeiten und einzelne Erregungszust\u00e4nde, bei denen die in einer Nervenr\u00f6hre urspr\u00fcnglich eingeleitete Erregung auch auf einen nebenliegende \u00fcb er gef\u00fchrt wird, so dass der erregte Nerv Erreger seines Nachbarn wird. Diese F\u00e4lle ereignen sich 1) wenn ein starker elektrischer Strom als Nervenerreger benutzt worden ist. Diese Erscheinung, welche du Bois entdeckt und auch sogleich in ihrem inneren Zusammenhang entwickelt hat, ist bei der Lehre vom electrotonischen Zustand ab gehandelt worden (siehe pag. 83). 2) An gewissen Lokalit\u00e4ten der Nervenmasse, z. B. im R\u00fcckenmark, Hirn, Herznerven u. s. w., k\u00f6nnen die auf jede beliebige Art erregten Nerven Erreger der Nachbarn werden. Bei den entsprechenden Apparaten wird auf die Erscheinungslehre dieses theoretisch noch dunklen Gegenstandes eingegangen werden.\nTodter Zustand des Nerven. Ein so geringes physiologisches Interesse die Untersuchung aller besonderen Erscheinungsformen des todten Nerven bieten kann, so wichtig ist, die bisher noch wenig ins Einzelne verfolgten Umst\u00e4nde und Bedingungen kennen zu lernen, unter denen ein Nerv aus dem lebenden in den todten Zustand ger\u00e4th.\nDer Eintritt des todten Zustandes ist von dem Zeitpunkt an gegeben, in welchem der Nerv seine Bef\u00e4higung f\u00fcr immer verloren hat in den erregten Zustand gerathen zu k\u00f6nnen ; hiernach unterscheidet sich der todte vom ersch\u00f6pften oder erm\u00fcdeten Nerv, durch seine\n*) Volkmann Artikel Nervenphysiologie.\u2014 Joh. M\u00fcllers Lehrbuch. \u2014 du Boi g Reymond\nthier. Electricit\u00e4t II. 529 u. f. u. 595 u. f.","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Todter Zustand des Nerven.\n117\nUnf\u00e4higkeit unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden seine Erregbarkeit wieder zu erlangen. Die allgemeinsten Bedingungen, unter denen der Nerventod sich ereignet, sind Zerst\u00f6rungen seiner Form, chemische Umwandlungen seiner wirksamen Substanz, wie z.B. Verseifung seiner Fette, vollkommene Entziehung seines Wassers, Gerinnung des Eiweisses u.s. w. und die damit in Verbindung stehende Einbusse seiner elektrischen Eigenschaften.\nDieser letzte Punkt ist uns durch du Bois zug\u00e4nglich gemacht; er zeigte, dass einen Nerven, der seine physiologischen Leistungen eingeb\u00fcsst hat, entweder nur noch ganz schwache elektrische Str\u00f6me in der urspr\u00fcnglichen Richtung durchkreisen, oder dass seine urspr\u00fcngliche Stromesrichtung sich umgekehrt hat, indem seine negative Fl\u00e4chen positiv und die positiven negativ geworden sind. Versucht man zu dieser Zeit die Bewegungserscheinungen der elektrischen Nervenmolekeln zu erzeugen, so gelingt es wohl noch in geringem Grade den sogenannten elektrotonischen Zustand, niemals aber die elektronegative Schwankung herbeizuf\u00fchren. Alle diese mit geringer Intensit\u00e4t auftretenden Erscheinungen \u00fcberdauern aber die physiologische Leistungsf\u00e4higkeit nur so kurze Zeit, dass man auch hier behaupten kann, diese und die elektrischen Gegens\u00e4tze gehen gleichzeitig zu Grunde. \u2014\nDas Absterben der Nerven kann sich selbstverst\u00e4ndlich im lebenden Organismus ereignen, wie es im todten eintreten muss, wTeil zu demselben nur die Bedingung geh\u00f6rt, dass die in der Zeit sich h\u00e4ufenden Summen der sch\u00e4dlichen Einfl\u00fcsse die der erhaltenden \u00fcberwiegen. Da aber im lebenden Organismus diejenigen Umst\u00e4nde, welche eine eingetretene St\u00f6rung auszugleichen verm\u00f6gen, zahlreich vorhanden sind, so ertr\u00e4gt w\u00e4hrend des Lebens der Nerv sehr auffallende Verletzung ohne anders als vor\u00fcbergehend zu erlahmen; das auffallendste Beispiel f\u00fcr diesen Satz bieten durchschnittene Nerven, welche wie wir in der Ern\u00e4hrungslehre erfahren werden, wieder zusammenheilen und damit ihre scheinbar schon vollst\u00e4ndig verlorenen Lebenseigenschaften wieder erhalten. \u2014\u2022 Aber auch im todten Organismus erscheint die F\u00e4higkeit sch\u00e4dlichen Einfl\u00fcssen zu widerstehen, sehr verschieden. Hier sind folgende allgemeine Regeln bemerkenswerth : 1) die erregbareren Nerven sterben unter sonst gleichen Bedingungen fr\u00fcher ab als die weniger erregbaren. In Uebereinstimmung hiermit erlischt die Erregbarkeit beim Warmbl\u00fcter schneller als beim Kaltbl\u00fcter; und ferner gehen die Nervenr\u00f6hren des Hirns, des R\u00fcckenmarks und des Gesichtssinnes fr\u00fcher zu Grunde als die R\u00f6hren der Nervenst\u00e4mme und namentlich derjenigen, welche in die Muskeln sich verzweigen. Hierher d\u00fcrfte auch die von St annius *) beobachtete That-\nStaniiius, M\u00fcllers Archiv 1847.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"11S\tZur Theorie der Nervenkr\u00e4fte.\nsache zu ziehen sein, dass die Nerven eines w\u00e4hrend des Lebens gel\u00e4hmten Gliedes nach dem Tode langsamer absterben, als die des ungel\u00e4hmten. 2) die Nerven, welche sich in bluthaltenden K\u00f6rpertheilen verzweigen, erhalten ihre Erregbarkeit l\u00e4nger als diejenigen der blutarmen oder blutleeren; der Blutreichthum todter thierischer Theile zeigt sich nach Kilian *) besonders auffallend, sowie man ihre Nerven sch\u00e4dlichen das Absterben beg\u00fcnstigenden Einfl\u00fcssen aussetzt. Wenn man z.B. aus dem einen Bein desselben todten Frosches das Blut aus den durchschnittenen Gef\u00e4ssen ausstreicht, w\u00e4hrend es in dem andern\ni\nerhalten wurde, und dann eine bestimmte Stelle ihrer zugeh\u00f6rigen Nerven so lange erregt bis keine Muskelzuckungen mehr eintreten, so erholen sich die Nervenst\u00fccke des bluthaltenden Schenkels in kurzer Zeit wieder bis zu einem solchen Grade, dass durch seine Erregung die Einleitung von Zuckungen gelingt, w\u00e4hrend der Nerv des blutarmen in todtem Zustand verharrt. 3) Die Muskelnerven sterben in der Richtung von ihrem Urspr\u00fcnge aus Hirn und R\u00fcckenmark nach den Muskeln hin ab, so dass von einem dem R\u00fcckenmark n\u00e4her gelegenen Theil derselben schon keine Zuckung mehr eingeleitet werden kann, wenn ein von ihm entfernterer sie noch zu erwecken vermag. Zu diesem von Ritter und Yalli aufgefundenen Gesetz f\u00fcgt du Bois die Thatsache, dass diese Reihenfolge des Absterbens weniger ausgepr\u00e4gt auftritt, wenn der Muskelnerv mit den nerv\u00f6sen Central-theilen in Verbindung bleibt. Dieses sog. Ritter-Valli\u2019sche Gesetz verdient umsomehr Zutrauen als nach du Bois auch der Nerv in der bezeichneten Reihenfolge seine F\u00e4higkeit verliert, in die elektronega-tive Stromesschwankung zu gerathen. Longet**) und Matteucci behaupten auch die umgekehrte Erscheinung von den Nerven der Gef\u00fchlswerkzeuge ; es sollen dieselben n\u00e4mlich von der Verbreitung in der Haut nach den Urspr\u00fcngen im Hirn und R\u00fcckenmark absterben, so dass die dem Ursprung n\u00e4her stehenden St\u00fccke l\u00e4nger erregbar bleiben, als die entfernter liegenden.\nAnf\u00e4nge und Bruchst\u00fccke zur Theorie der Nervenkr\u00e4fte. \u2014 Der Nerv stellt wie aus dem Vorhergehenden einleuchtet, einen sehr zusammengesetzten Apparat dar, dem keine der zahlreichen Bedingungen, die in ihn eingehen, fehlen darf, wenn er die sog. Lebenseigenschaften darbieten soll. Eine Theorie der Nervenkr\u00e4fte w\u00fcrde demnach zu entwickeln haben, wie aus allen den verschiedenen in die Nerven eingehenden Bedingungen gerade die ihnen zukommenden Erscheinungen mit Nothwendigkeit herfliessen. So weit nun die Wissenschaft auch noch entfernt ist von der Theorie in diesem strengen Sinne, so wenig darf sie unterlassen ihre jeweiligen Kenntnisse\n*) Versuche \u00fcber die Restitution der Nervenerregbarkeit nach dem Tode. Giessen 1847.\n**) Archiv, general, d. Med. 1847.","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Oiiellen der Nervenkr\u00e4fte.\n119\nzum Versuch und zu Anf\u00e4ngen einer solchen zusammenzufassen. In dieser Beschr\u00e4nkung mag Folgendes gelten.\n1)\tDer Nerv entwickelt zu allen Zeiten seines lebendigen Bestehens freie nach aussen hin \u00fcbertragbare Kr\u00e4fte. W\u00e4hrend des Lebens finden sich die den Nerven constituirenden Theile zu keiner Zeit im Gleichgewicht. W\u00e4re dieses der Fall, so m\u00fcssten die in ihn eingegangenen kraftentwickelnden Substanzen sich gegenseitig so gebunden halten, dass sie jenseits und innerhalb des Nerven keine fortlaufenden Ver\u00e4nderungen oder stets sich neu erzeugenden Bewegungen erwirken k\u00f6nnten. Im Widerspruch mit dieser Voraussetzung durchkreisen aber den Nerven stetig elektrische Str\u00f6me, die jenseits seiner Grenzen die Magnetnadel ablenken, und der Nerv selbst erf\u00e4hrt, wenn er anhaltend in dem Zustand sog. Ruhe oder sog. Th\u00e4tigkeit war, eine Umwandlung seiner chemischen und mechanischen Anordnung. Vorerst ist festzuhalten, dass nur nach einem mangelhaften Sprachgebrauch dem Nerven ein ruhiger im Gegensatz zu einem th\u00e4tigen Zustand zugeschrieben wird. So weit ersichtlich unterscheidet sich die Erregbarkeit (Ruhezustand) von der Erregung vielmehr nur dadurch, dass w\u00e4hrend derselben alle oder ein Theil der wirksamen Massen eine Bewegung oder Spannung gegeneinander annehmen, die sie unter den Bedingungen des gew\u00f6hnlichen Lebens mit einer gewissen Beharrlichkeit behaupten, indem sie aus derselben nur durch andere im gew\u00f6hnlichen Leben nicht vorhandene Einfl\u00fcsse zu entfernen sind und in welche sie mit gr\u00f6sserer oder geringerer Geschwindigkeit zur\u00fcckkehren, wenn sie aus derselben durch momentan wirkende Einfl\u00fcsse entfernt wurden.\n2)\tDie Quellen dieser Kr\u00e4fte sind chemische Umsetzungen. Die Ursachen der Kraftentwicklung in den Nerven ist wahrscheinlich in dem chemischen Umsatz der in ihnen enthaltenen Stoffe zu suchen; hierf\u00fcr spricht nicht allein die Thatsache, dass die Nerven nur dann erregbar sind, wenn sie eine bestimmte chemische Zusammensetzung besitzen, sondern noch mehr, dass die Nerven durch ihr lebensvolles Bestehen, im erregten, wie im unerregten Zustand diese ihre normale Zusammensetzung einb\u00fcssen.\nObwohl uns bis jetzt keine Analysen vorliegen, welche diese Behauptung geradezu erweisen k\u00f6nnten, so erscheint sie dennoch haltbar, wenn man bedenkt, dass\n1)\tjedes chemische oder physikalische Mittel die Erregbarkeit des Nerven vernichtet, welches die Zusammensetzung desselben betr\u00e4chtlich \u00e4ndert. In dieser Beziehung f\u00fchren ganz verschiedene Einwirkungen, die in diesem einen Puncte Zusammentreffen, zu ganz gleichem Ziel; denn es wirkt ebenso vernichtend die W\u00e4rme, welche das Wasser des Nerven verdunstet, als das Liegen im Wasser, welches ihm Salze und Eiweiss (?) entzieht, dasselbe bewirken die Stoffe^, welche seine eiweisshaltige Substanzen zum Gerinnen bringen, seine Fette angreifen u. s. w.\n2)\tDie mikroskopische Untersuchung eines Nerven, welcher w\u00e4hrend des Lebens f\u00fcr l\u00e4ngere Zeit dem Einfluss erregender Wirkungen entzogen war, lehrt, dass w\u00e4hrend dieses Zustandes sogenannten Ruhe eine chemische Zersetzung der Nervensubstanz","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nDie Nervenkr\u00e4fte sind electriscke.\nvor sich gegangen. Auf eine Zersetzung des Nerven im erregten Zustand deutet aber der Umstand, dass ein Nerv durch die Erregung seine Erregbarkeit um so rascher einb\u00fcsst, je weniger er mit Blut getr\u00e4nkt ist, oder wie wir uns im Sinne unserer Hypothese ausdr\u00fcck en k\u00f6nnten, je weniger Ersatzmittel f\u00fcr die durch die Erregung herbeigef\u00fchrten Verluste ihm geboten werden. \u2014 Aber selbst ohne diese Thatsachen w\u00fcrde ein jeder, dem es auch nur wahrscheinlich ist, dass dem thieri-schen K\u00f6rper die F\u00e4higkeit abgehe, Kr\u00e4fte aus einem Nichts zu erzeugen, zu unserem Schluss kommen, weil nach den vorliegenden Thatsachen eine andere M\u00f6glichkeit der Kraftentwicklung in den Nerven gar nicht gedacht werden kann.\n3. Die Kr\u00e4fte, welche durch den chemischen Prozess in denNerven frei werden, sind wahrscheinlich eie ctrische. Nach den unendlich zahlreichen Erfahrungen der Chemie ergibt sich als ausnahmslose Regel, dass durch den Act der chemischen Umsez-zung nur auf dreierlei Art Kr\u00e4fte entwickelt werden, welche jenseits der entstandenen Verbindung bewegende Effecte zu erzielen verm\u00f6gen. Diese drei Arten der Kraftentwicklung sind bedingt 1) durch Yolum-ver\u00e4nderungen der in die Verbindung ein- oder austretenden Stoffe, 2) durch Entwicklung von Licht (oder strahlender W\u00e4rme) und 3) durch Bindung oder Befreiung von Electricit\u00e4ten. Da nun bei der geschilderten Umsetzung des Nerven keine Yolumver\u00e4nderung eintritt, und auch der Nerv, wie Helmholtz *) dargethan, weder im Zustand der Erregbarkeit noch dem der Erregung nachweisbare Spuren von W\u00e4rme entwickelt, so gestattet die Analogie nur den Schluss, dass die Nervenkr\u00e4fte keine anderen als electrische seien.\nIn der That muss nun auch nach du Bois\u2019 Untersuchungen der\no\nNerv angesehen werden als eine Zusammenh\u00e4ufung von electrischen Molekeln, deren Ver\u00e4nderungen und Zust\u00e4nde den sogenannten physiologischen durchaus parallel gehen. Der einfachen Erregbarkeit entsprach die peripolare Anordnung der Molekeln, und es war dieselbe um so vollkommener je ausgesprochener der electrische Gegensatz in dieser Anordnung vorhanden war. W\u00e4hrend der physiologischen Vorg\u00e4nge im Nerven, welche Empfindung und Zuckung bedingten, trat aber nach Umst\u00e4nden entweder die dipolare Anordnung oder die negative Schwankung der Molekeln auf. Auch hier galt wie zwischen peripolarer Lagerung und der Erregbarkeit der Satz, dass genau wie die Intensit\u00e4t der physiologischen Wirkung die der elektronegativen Schwankung wuchs. Obgleich wir bei den Muskelnerven noch einmal auf dieses letzte Verh\u00e4ltnis^ zur\u00fcckkommen werden, so ist es doch hier schon schicklich folgendes anzumerken. Benutzen wir als Er-regungsmjttel der Muskelnerven den electrischen Strom, so ergibt sich, dass dieser den Nerv nur dann in den zuckungserregenden Zustand versetzt, wenn er von schwankender Dichtigkeit ist, nur unter dieser Voraussetzung tritt auch die electronegative Schwankung ein; die\n*D M\u00fcllers Archiv 1848. Heber die W\u00e4rmeentwickelung bei der Muskelaction.","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Die Nervenkr\u00e4fte sind electrische.\n121\nZuckung w\u00e4chst bis zu einer gewissen Grenze mit der Dichtigkeit des Stroms genau so auch die St\u00e4rke der electronegativen Schwankung; je l\u00e4nger das St\u00fcck, welches der erregende Strom durchfliesst, um so st\u00e4rker die Zuckung und electronegative Schwankung ; schneidet der erregende Strom die L\u00e4ngsachse der Nerven senkrecht, so verschwindet Zuckung und electronegative Schwankung ; die erregte Nervenstelle erzeugt nur so lange Zuckung als eine ununterbrochene Yerbin-dung des Nervenmarks von ihr bis zum Muskel besteht, unterbindet oder durchschneidet man den Nerven zwischen der erregten Stelle und seiner Einsenkung in den Muskel, so h\u00f6rt die Zuckung auf zu erscheinen, und ebenso jenseits der unterbundenen oder durchschnittenen\n\u25a0v\nStelle die electronegative Schwankung.\nWenn diese vielfache Uebereinstimmung, der nirgends ein Widerspruch entgegentritt, unzweifelhaft beweist, dass die lebendigen Aktionen des Nerven an die Gegenwart, an Bewegungen und Stellungen von Molekeln, die mit electrischen Gegens\u00e4tzen behaftet sind, sich binden, so liegt nun auch die Annahme nahe, dass die Stellung u. s. w. dieser Molekeln abh\u00e4ngig sei von ihren electrischen Anziehungen, von Anziehungen, die, wie besonders zu betonen, nur auf eine sehr beschr\u00e4nkte Entfernung hin ihre Wirksamkeit entfalten.\nIm vollkommenen Einklang mit dieser Annahme ist von den an dem Nerven selbst zu ermittelnden Thatsachen die Beobachtung von Helmholtz \u00fcber die verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig geringe Mittheilungsgeschwindigkeit des erregten Nervenzustandes, die sich vollkommen begreift, wenn man diese Mittheilung als eine successiv auf einander folgende Anordnung der Molekeln auffasst.\nDie Einw\u00fcrfe, welche man gegen diese Anschauung, die du Bois zwar niemals geradezu f\u00fcr die seinige erkl\u00e4rt, die aber in Allem, was Richtiges daran, die seinige ist und die er zur Theorie auszubilden berufen, vorbringt, sind aus Missverst\u00e4ndnissen erzeugt. Zun\u00e4chst glaubte man, es sei unvertr\u00e4glich mit dem Vorgetragenen, dass der durchschnittene und wieder aneinander gelegte oder mit einem feuchten Faden fest unterbundene Nerv wohl einen elektrischen Strom, nicht aber den Zustand der Nervenerregung weiter leite. Dieser Einwurf w\u00fcrde einen Sinn haben, wenn die vorgetragene Lehre die Nervenleitung von einem den Nerven durchlaufenden elektrischen Strom abh\u00e4ngig machte. Durch die du Bois\u2019schen Untersuchungen ist aber gferade erwiesen, dass die im Nerven entwickelten elektrischen Vorg\u00e4nge einen Strom erzeugen, der vorzugsweise die Molekeln umkreist und ferner, dass aus den um alle die einzelnen Molekeln gehenden Str\u00f6men kein Gesammt-strom resultirt, der als die Summe dieser Partialstr\u00f6me angesehen werden kann. \u2014 Hiermit f\u00e4llt auch ein zweiter oft geh\u00f6rter Einwand zusammen, der n\u00e4mlich, dass ein im Nervenmark entwickelter elektrischer Strom in ihm nicht isolirt bleiben k\u00f6nne, weil die Scheide desselben ein ebenso guter Leiter sei, als das Nervenmark selbst. In der That erreichen ja, wie aus den du Bois\u2019schen Beobachtungen hervorgeht, die Partialstr\u00f6me kaum die Scheide mit merklicher St\u00e4rke, w\u00e4hrend sie vielleicht in der unmittelbaren Umgebung der Molekeln mit ausserordentlicher St\u00e4rke verlaufen. Man vergisst hier, wie auch vorhin, dass die Theorie immer Molekeln verlangt, welche selbst schon polarisirt durch die Wirkung der unmittelbar neben-","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nDie Nervenkr\u00e4fte sind electrische.\nliegenden geri\u00e7htet werden. Demgem\u00e4ss w\u00fcrde .durch die Scheide hin die elektrische Wirkung sich nur dann verbreiten, wenn sie selbst aus anordnungsf\u00e4higen Molekeln best\u00fcnde. \u2014 Ebenso werthlos ist der Einwand, dass der Nerv, weil er ein schlechter E. Leiter sei, nicht durch elektrische Kr\u00e4fte Wirksam sein k\u00f6nne. In der That ist durch E. Weber\u2019s') genaue Untersuchungen ermittelt worden, dass der todte Nerv nur dann leitet, wenn er mit Wasser durchtr\u00e4nkt ist, und endlich wird ein so d\u00fcnner Wasserfaden einen sehr grossen Leitungswiderstand bieten; aber dieser Widerstand w\u00fcrde nur von Bedeutung f\u00fcr die physiologische Function sein, wenn diese statt von einer Anordnung elektrischer Molekeln von elektrischen Str\u00f6men abh\u00e4ngig w\u00e4re. \u2014\nDie Hypothesen, welche man der vorgetragenen entgegensetzt, sind insofern sie beachtenswerth nur unvollkommene Formen der eben entwickelten. Zu diesen geh\u00f6rt die von J. M\u00fcller'* **)) und Henle***) herr\u00fchrende, welche sich aus vor du Bois\u2019-scher Zeit herschreibt. Auch diese Gelehrten f\u00fchren die Thatsachen zu der richtigen Ansicht, dass der Nerv seiner Mischung und Form seine Kr\u00e4fte, und einer Um\u00e4nderung jener eine Umwandlung der Kr\u00e4fte verdanke. Hiebei Hessen Beide aber ganz uner\u00f6rtert, welche Art von Kr\u00e4ften durch diesen chemischen Akt entwickelt werden; diese Theorie enth\u00e4lt also die richtigen Anf\u00e4nge. Ganz anders verh\u00e4lt es sich mit der-jenigen, welche vom Nervenagens, Nerven\u00e4ther u. s. w. in der verschwommenen Art medizinischen Raisonnements spricht; die Vorstellung, dass in dem Nerven ein Fluidum, w elches dem Licht\u00e4ther vergleichbar w \u00e4re, sich bew ege, widersprechen die Entdeckungen von Helmholtz \u00fcber die Geschwindigkeit der Erregungsmittheilung vollkommen. Denn ein Aether w \u00e4re eben kein Aether, wenn sich so langsam sein Zustand mittheilte.\nNach diesen Darstellungen d\u00fcrften sich die besondern Fragen \u00fcber Nervenkr\u00e4fte nun so gestalten: 1) Wie erl\u00e4utern sich aus der chemischen Zusammensetzung resp. den chemischen Prozessen der Nerven die electrischen Eigenschaften derselben oder mit welcher chemischen Um\u00e4nderung steigt und f\u00e4llt die Erregbarkeit und die Erregung. 2) Auf welchem Wege bewirken die sogenannten Erregungsmittel eine electrische resp. chemische Ver\u00e4nderung der Nerven und endlich 3) wie werden durch die electrischen Wirkungen der Nerven die Acte der Empfindung, Bewegung und Absonderung erm\u00f6glicht.\nAuf die erste dieser Fragen haben wir beim gegenw\u00e4rtigen Stand der chemischen Kenntnisse weder eine Antwort noch auch nur Hoffnung demn\u00e4chst zu einer scharfem Fragestellung zu gelangen. Die zweite nach dem Warum und Wie der Ver\u00e4nderung, welche die Nerven durch die Erregungsmittel erfahren, h\u00e4ngt zu innig mit der ersten zusammen, um von ihr eine Erledigung erfahren zu k\u00f6nnen. Hier ist aber der Ort darauf aufmerksam zu machen, wie es mit der vorgetragenen Theorie im Einklang steht, dass electrische Str\u00f6me so allgemeine und so intensive Erregungsmittel der Nerven sind, und daran zu erinnern, wie wir eigentlich durch die Lehre vom electrotonischen Zustand, der als ein Object der Empfindung eine besondere Form der Erregung darstellt, f\u00fcr einen Fall in unserer Erkenntniss so weit gediehen sind, als dieses ohne chemische Kenntnisse m\u00f6glich, indem wir\n*) Ed. Weber. Qu\u00e6stiones physiologic\u00e6 de ph\u00e6iiomenis galvano-magueticis etc. 1836.\n**) Physiologie. IV. Aull. 544.\n***) Rationelle Pathologie I. Bd. 110.","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Die Nervenkr\u00e4fte sind electrische.\n123\naus der bekannten Wirkung des erregenden constanten electrischen Stromes und der Gegenwart der electrischen Nervenmolekeln die Ver\u00e4nderung des Nerven in einer den Thatsachen genau entsprechenden Weise ableiten konnten. \u2014 Aus den allgemeinen Umrissen, die wir vom lebenden Nerven zu geben verm\u00f6gen, gelingt es uns aber auch noch ersichtlich zu machen, warum die St\u00e4rke, Art und Zeitdauer der Erregung nicht in geradem Yerh\u00e4ltniss von den erregenden Einfl\u00fcssen abh\u00e4ngig ist. Denn es \u00fcbertragen die Erregungsmittel ihre Bewegungen, ihre Anziehungen n s. w. nicht auf eine ruhende Masse von einfacher Anordnung, sondern es treten ihre Wirkungen nur als neue zu einer gr\u00f6sseren Zahl schon vorhandener mannigfach geordneter theils freier theils gebundener Kr\u00e4fte hinzu. In einem solchen Falle k\u00f6nnen, je nachdem ein neuer Einfluss gebundene Kr\u00e4fte frei macht, oder je nachdem er vorhandene Bewegung hemmt, die mannigfachsten Folgen ein-treten. Gesetzt z. B. es best\u00e4nde das erregte Mittel aus gleichartigen Theilen, von denen ein jeder bei einer in ihnen eingeleiteten Ver\u00e4nderung selbst so viel Kr\u00e4fte entwickelte, um seinen Nachbar in den gleichen oder \u00e4hnlichen Zustand der Ver\u00e4nderung zu bringen, so w\u00fcrde ersichtlich ein Minimum \u00e4usserer Einwirkung, wie der Funken auf eine Pulvertonne gen\u00fcgen, um ausserordentliche Folgen zu erzeugen, die zwar augenblicklich mit dem Eintritt des \u00e4ussern Einflusses begonnen, aber einmal eingeleitet von diesem ganz unabh\u00e4ngig w\u00e4ren. Gerade unter diese Kategorie von Kraftanordnung scheint der Nerv zu geh\u00f6ren.\nDiese Disproportionalit\u00e4t zwischen Erregung und Erregungsmittel gab den \u00e4lteren Physiologen Veranlassung zu der Meinung, dass der Nerv r\u00fccksichtlich der nach einer empfangenen Kraftmittheilung entwickelten Bewegung ganz ausserhalb dem Bereich physikalischer Gesetze stehe, ln der That war die Erscheinung unerkl\u00e4rlich, so lange man den erregbaren Zustand des Nerven als einfache Folge eines mehr oder weniger angeh\u00e4uften Nervenfluidums ansah. Zu der Zeit, als den Physiologen die Erscheinung noch r\u00e4thselhaft war, bot die Technik schon eine Menge von analogen F\u00e4llen. Man hatte hier l\u00e4ngst erkannt, dass die Disproportionalit\u00e4t nur daher r\u00fchre, dass durch eine Einwirkung nicht einfache Kr\u00e4fte \u00fcbertragen, sondern bisher gebundene freigemacht wrurden. Die Technik bezeichnete darum diesen Fall mit dem Namen der Au s 1 \u00f6 sung der Kr\u00e4fte. Nachdem nun auch hier in der Nervenlehre der wahre Sachverhalt entwickelt ist, erscheint es unpassend auf die unklaren Vorstellungen \u00e4lterer Physiologen, die sie unter dem Worte Reaction zusamm'enfassen weiter einzugehen.\nDie dritte unserer allgemeinsten Aufgaben, wie die Ver\u00e4nderung des Nerven selbst Veranlassung zu derjenigen physiologisch beige-ordneter Organe werde, ist m\u00f6glicher Weise auch ohne die Erledigung der vorhergehenden zu einem gewissen Ziele zu f\u00fchren, wenn die> beigeordneten Organe nur selbst bekannt sind. Namentlich gew\u00e4hren hier die Muskeln (und die electrischen Organe der Fische) Hoffnung, indem es gelingen k\u00f6nnte das ganze Problem nur als ein electrisches aufzufassen, ohne Ber\u00fccksichtigung der besondern Stoffe, von denen die electrischen Wirkungen ausgehen.","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"B. Ganglienk\u00f6rper.\nDa die Ganglienk\u00f6rper noch nicht in der Menge isolirt worden sind, um sie auf ihren physikalischen und chemischen Eigenschaften zu pr\u00fcfen, so mag es auch hier unterbleiben eine anatomische Charakteristik derselben zu geben, welche man ausf\u00fchrlich in dem neuesten Lehrbuch der Elementaranatomie von K\u00f6Hiker findet.\nDie Physiologen schrieben dem Ganglienk\u00f6rper sehr mannigfache Verrichtungen innerhalb des Nervensystems zu; namentlich ist ausgesprochen worden, dass sie 1. auf die Nervenr\u00f6hren als Erreger zu wirken im Stande seien; 2. dass sie die Mittheilung der Erregung von einer Nervenr\u00f6hre auf eine andere vermittelten ; 3. dass sie die in einem Nerven vorhandene Erregung, ihrem Modus und ihrer Quantit\u00e4t nach zu ver\u00e4ndern bef\u00e4higt w\u00e4ren, entweder indem sie die im Nerven vorhandene tetanische Erregung in eine rhythmische umwandelten, oder eine momentane aber intensive in eine dauernde und schwache umlegten, oder dass sie der in einem Nerven vorhandenen Erregung in der Art entgegen zu wirken verm\u00f6chten, dass dieser seine ihm auf analoge anatomische Elementartheile zustehende Wirkung nicht aus\u00fcben k\u00f6nnte.\nDie Beweisse f\u00fcr die Behauptung so mannigfacher Leistungen der Ganglienk\u00f6rper sch\u00f6pft man aus den am Hirn und R\u00fcckenmark, in den Herznerven und im N. sympathicus beobachteten Thatsachen. An diesen Orten finden sich wie bekannt die Nervenr\u00f6hren mit Ganglienk\u00f6rpern in Verbindung und zugleich geschieht es, dass 1. die von diesen Orten ausgehenden Nervenr\u00f6hren in Erregung gerathen, ohne dass irgend einer der uns bekannten Erreger auf sie gewirkt habe ; 2. die Nervenr\u00f6hren, welche innerhalb dieser Orte liegen, \u00fcbertragen, ohne dass ein nachweislicher Zusammenhang ihrer lumina besteht (ohne dass sie sich also durch ihr Mark ber\u00fchren), ihre Erregungszust\u00e4nde aufeinander und endlich 3. bedingen tetanische Erregungen die auf Nervenr\u00f6hren treffen, welche durch diese Orte hindurchlaufen, keine anhaltende Muskelzusammenziehung, sondern zwischen Zusammenziehung und Verl\u00e4ngerung schwankende Bewegungen u. s. w., oder gar statt einer Verk\u00fcrzung eine Verl\u00e4ngerung des Muskels in welchen der Nerv tritt. Das Unzureichende dieses Beweises leuchtet aber sogleich ein, wenn man sich vor die Augen f\u00fchrt, dass keineswegs die einzige anatomische [ganz abgesehen von den uns unbekannten chemischen und physikalischen] Verschiedenheit, zwischen den Orten, welche jene physiologischen Eigenth\u00fcmlichkeiten darbieten und denjenigen, welchen sie fehlen, in der Gegenwart der Ganglienk\u00f6rper liegt. Noch weniger aber wird man geneigt jenen Behauptungen Glauben beizumessen, wenn man aus einer genauen Zergliede-","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Ganglienk\u00f6rper.\n125\nrung der Thatsache erf\u00e4hrt, dass die Nervenr\u00f6hren mit Ganglienk\u00f6rpern in Verbindung sein k\u00f6nnen, ohne dass die drei der vorbemerkten physiologischen Eigenth\u00fcmlichkeiten zugleich an ihr haften, ja dass es sogar Orte zu geben scheint, an denen sie mit keiner derselben begabt sind. In der speciellen Nervenphysiologie werden wir noch hierauf zur\u00fcckkommen, und wir wollen hier nur vormerken, dass in den Ganglien der hintern Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven, weder je Ueber-tragungen noch gar die selbsst\u00e4ndige Entstehung einer Erregung beobachtet ist; dass von den untern St\u00fccken des R\u00fcckenmarks, obwohl es so viele Ganglienk\u00f6rper enth\u00e4lt, ebenfalls keine selbstst\u00e4ndigen Bewegungsursachen ausgehen u. s. w.\nDiese Thatsachen w\u00fcrden nun den Zusatz zu den obigen Darstellungen, vorausgesetzt man wollte sie noch halten, erzwingen, dass verschiedene Ganglienkugeln einen verschiedenen Einfluss auf die Nervenr\u00f6hren aus\u00fcbten. In diesem Sinne k\u00f6nnte man, wie es von einzelnen Autoren auch geschehen, behaupten 1. der Ganglienk\u00f6rper entwickelt bei einer gewissen Yerbindungsart mit den Nervenr\u00f6hren die erregenden Einfl\u00fcsse. Die sog. einstrahligen Ganglien, diejenigen von web chen man die Nervenurspr\u00fcnge annimmt, deren Existenz aber \u00fcberhaupt noch zweifelhaft ist, sollen dieses vollf\u00fchren. 2. Die Erregungsmittheilung soll dagegen durch die vielstrahligen geschehen; man hat sich dieses nach Rud. Wagner so zu versinnlichen, dass eine Erregung, in welche der Nerv a ger\u00e4th (siehe Fig. 27) sich nach der\nGanglienzelle c fortpflanze und von da durch die Aeste zu c2 und c3 begebe, welche hinwiederum durch die Nerven d\\ d2, d3, auf die Muskeln e\\ e2, e3, wirken. Die Ganglienzellen w\u00e4ren demnach Knotenpunkte verschiedener R\u00f6hren. Diese Annahme, eine geringe Modifikation der Marshall-Hall\u2019 sehen reflectomotori-schen Hypothese hat, wie wir bei der Betrachtung der sogenannten Reflexbewegung sehen werden, viel gegen und wenig f\u00fcr sich. 3. Die Ver\u00e4nderungen, welche in der Art der Erregung eintreten, sollen von den zweistrahligen (oder in den Verlauf der Nervenr\u00f6hren eingelegten) Ganglienzellen abh\u00e4ngen? u. s. w.\nSei dem nun aber wie ihm wolle, jedenfalls ist eins der Grundprinzipien, aus welchem die letztere Betrachtungsweise hervorging, festzuhalten, dass n\u00e4mlich die sog. physiologischen Wirkungen der Ganglienk\u00f6rper verschiedenartig sind. Diese Unterschiede der Wirkung\nFig. 27.","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nAnatomisches Verhalten des R\u00fcckenmarks.\nk\u00f6nnen aber begreiflich entweder daher r\u00fchren, dass die Ganglienk\u00f6rper bei Gleichartigkeit der Nervenr\u00f6hren verschiedene Kr\u00e4fte entwickeln oder dass die Ganglienk\u00f6rper \u00fcberall identisch aber auf verschiedene Weise mit gleichartigen oder ungleichartigen Nervenr\u00f6hren in Ber\u00fchrung; gebracht sind. In beiden F\u00e4llen w\u00fcrde die Resultirende aus den Gegenwirkungen der Nervenr\u00f6hre und des Ganglienk\u00f6rpers, oder wie man dieselbe auch nennt, die physiologische Leistung des Ganglienk\u00f6rpers verschiedentlich ausfallen.\nII. Besondere Nervenphysiologie.\nA. R\u00fcckenmark und R\u00fcckenmarksnerven. **)\nAnatomisches Verhalten**). \u2014 Das R\u00fcckenmark enth\u00e4lt nach einigen Autoren feink\u00f6rnige Masse, kleine kern\u00e4hnliche Zeh len, Ganglienzellen und Nervenr\u00f6hren; nach andern kommen ihm nur die beiden letzteren Formen zu.\nDie Nervenr\u00f6hren wechseln innerhalb des R\u00fcckenmarks in ihrem Durchmesser; im Allgemeinen sind diejenigen der Nervenwurzeln breiter als die der weissen Substanz und die in dieser enthaltenen breiter als die der grauen. Da nun eine und dieselbe Nervenr\u00f6hre sich an den drei bezeichneten Orten findet, so scheint daraus hervorzugehen, dass sie auf ihrem Verlauf verschiedene Durchmesser annimmt. \u2014 Das Primitivband ist in den Nervenr\u00f6hren des R. M. sehr deutlich, nach einigen Angaben soll es sogar an bestimmten Stellen eine Scheide entbehrend den einzigen Bestandtheil des Nervenelementes ausmachen.\nDie pulverigen K\u00f6rner, kernartige Zellen und Ganglienk\u00f6rper finden sich nur in der grauen Substanz, und zwar so, dass erstere \u00fcberall in ihr, die zweiten in der substant. gelatinosa und der N\u00e4he des sog. Centralkanals, die dritten in den Vorderh\u00f6rnern, der Basis der Hinterh\u00f6rner und der grauen Commis sur Vorkommen.\n* Die Ganglienk\u00f6rper des R\u00fcckenmarkes tragen die diesem Elementartheile allgemein zukommenden Kennzeichen: Zellen, Mark und Scheide. Daneben unterscheiden sie sich aber mannigfach durch ihre Gr\u00f6sse, die Zahl der Zellen, die Form der Scheide und die F\u00e4rbung des Markes. \u2014 Die gr\u00f6ssten Ganglienk\u00f6rper nehmen die Vorder- und die\n*) In der folgenden Darstellung habe ich es h\u00e4ufig vermieden einen Gew\u00e4hrsmann f\u00fcr die vorgebrachten Thatsachen anzuf\u00fchren, nicht darum weil etwa nicht ein oder der andere Physiologe bekannt w\u00e4re, welcher diese oder jene Thatsache beobachtet h\u00e4tte, wohl aber dess-halb, weil der Entdecker, der einzige, dem die Ehre der Berufung geb\u00fchrt, nicht feststeht;* es schien mir desshalb vorz\u00fcglicher, lieber ganz zu schweigen als geradezu Unrecht zu thun\n**) K\u00f6lliker,Mikroskopische Anatomie IL Bd. 1. Abthlg.","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Faserung des R\u00fcckenmarks.\n12T\nBasis der Hinterh\u00f6rner ein; sie zeichnen sich noch besonders aus durch die meist starke Pigmentirung ihres Markes und die zahlreichen vielfach ver\u00e4stelten Forts\u00e4tze ihrer Scheide. Die kleinsten Ganglienk\u00f6rper liegen in der substantia gelatinosa und der Umgebung des Centralkanals oder in der ihn ausf\u00fcllenden Masse; sie sind pigmentlos, enthalten oft mehr Zellen, die Ausl\u00e4ufer ihrer Membrane sind bald mehr bald weniger zahlreich. \u2014 Zwischen den beschriebenen extremen Formen finden sich alle m\u00f6glichen Mittelstufen, namentlich in den hintern H\u00f6rnern eingestreut. \u2014 Die gr\u00f6ssten Widerspr\u00fcche bestehen r\u00fccksichtlich des Vorhandenseins der Eigenschaften und der Verbindung der Ganglienforts\u00e4tze. Da die Ganglienk\u00f6rper bald mit und bald ohne Forts\u00e4tze erscheinen, so erkl\u00e4rt die eine Reihe von Beobachtern die Fortsatzlosen f\u00fcr verst\u00fcmmelte Formen, w\u00e4hrend die andere Reihe sogenannter Forscher den Fortsatz als ein Kunstprodukt ansieht. \u2014 Die Forts\u00e4tze aber, insofern man ihre Existenz nicht bestreitet, erkl\u00e4rt man, wenn man von der Vorstellung ausgeht, dass die Forts\u00e4tze in die Nerven \u00fcbergehen, bald f\u00fcr die abgerissenen Nervenr\u00f6hren, bald aber auch nur f\u00fcr ein abgerissenes Primitivband; oder aber man h\u00e4lt sie f\u00fcr Gebilde, die von den Nerven vollkommen unabh\u00e4ngig sind, und die demnach entweder geschlossen endigen oder sich in die Forts\u00e4tze der anliegenden K\u00f6rper m\u00fcnden.\nLeber die Zusammenf\u00fcgung dieser anatomischen Bausteine im R\u00fcckenmark und ihre Verbindung mit andern Nervenmassen gehen mehrere Hypothesen. Bei mannigfachen Widerspr\u00fcchen der sie st\u00fcz-zenden Beobachtungen darf mit einiger Wahrscheinlichkeit als feststehend angenommen werden, dass jede in das R\u00fcckenmark eintretende Wurzelr\u00f6hre durch die zun\u00e4chst gelegene weisse in die graue Masse dringt, Stilling. Weiterhin gelangen dann die vorderen Wurzelr\u00f6hren zwischen die grossen vielstrahligen Ganglienk\u00f6rper, K\u00f6lliker, ziehen von da entweder s\u00e4mmtlich oder vielleicht nur theil-weise zur vordem weissen Commissur, Ed. Weber, und laufen in der entgegengesetzten R\u00fcckenmarksh\u00e4lfte entweder geradezu oder mittelst virtueller Fortsetzung (nach einer Unterbrechung) in das Hirn; auf diesem Wege sind entweder alle oder nur einige R\u00f6hren mit einer Ganglienzelle in solcher Verbindung, dass einer der Forts\u00e4tze in die Nervenr\u00f6hre unmittelbar \u00fcbergeht, Schilling. Die hintern Wurzelr\u00f6hren durchschneiden die feinen Ganglienzellen der gelatin\u00f6sen Substanz und kommen somit zwischen die etwas gr\u00f6sseren blassen der\nHinterh\u00f6rner; ihre Fortsetzung jenseits derselben ist unbekannt.\nNach S tilling und Volkmann bilden den Grundstock des R\u00fcckenmarks die R\u00f6hren des intermedi\u00e4ren Systems, oder mit andern Worten, R\u00f6hren, welche gestrebten Verlaufes vom Hirn bis zum Schluss des R\u00fcckenmarkes gehen und sich an die Elemente der Nervenwurzeln anlegen, ohne in diese \u00fcberzugehen. Senkrecht gegen das intermedi\u00e4re System verlaufen die Elementartheile der. Nervenwurzeln, welche also das R\u00fcckenmark vorzugsweise querdurchsetzen, und somit entweder gar nicht","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nFaserung des R\u00fcckenmarks.\noder nur auf kurze Strecke nach der L\u00e4ngeaxe des R\u00fcckenmarkes aufsteigen; sie sollen dann in der grauen Substanz auf eine noch unbekannte Art entspringen.\nDie Gr\u00fcnde f\u00fcr diese Annahme sollen darin gefunden werden: dass nachweislich quer- und l\u00e4ngslaufende Str\u00e4nge von Nervenr\u00f6hren im R\u00fcckenmark Vorkommen, von denen wohl die querlaufenden, keineswegs aber die l\u00e4ngslaufenden, in die Nervenwurzeln verfolgt werden k\u00f6nnen; dass die Dicke des weissen R\u00fcckenmarks in seinem Halstheile \u00fcberhaupt nicht hinreicht, um alle aus ihm entspringenden Nervenwurzeln zu beherbergen und dass die verschiedenen Anschwellungen des R\u00fcckenmarks an den Stellen, an welchen betr\u00e4chtliche Nervenmengen aus ihm austreten, sich leicht erl\u00e4utern, wenn man sie durch den hier liegenden Ursprung der Nervenr\u00f6hren erkl\u00e4rt. \u2014\t.\nDieser steht geradezu eine andere noch ins Genauere gehende Hypothese entgegen, welche von K\u00f6 Hiker zuerst scharf ausgesprochen ist, zu der aber von man-\nFig. 28.\nH . 0H\nC\nnigfachen Seiten her Thatsachen geliefert sind. Nach ihr Fig. 28, treten die Nervenr\u00f6hren der vordem Wurzeln V quer durch die weise Masse in die Vorderh\u00f6rner der grauen Substanz und fahren hierin zwei Hauptrichtungen auseinander; die eine von ihnen, die aus dem innern B\u00fcndel der Wurzeln besteht, geht aus der grauen Substanz in die vordere weisse Commissur zur entgegengesetzten R\u00fcckenmarksh\u00e4lfte und biegt, wenn sie diese erreicht, nach aufw\u00e4rts, um die sog. weissen Vorder-","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Faserung des R\u00fcckenmarks.\n129\nstr\u00e4nge zu bilden V C Fl. Der andere Zug dagegen dringt aus den grauen Vorderh\u00f6rnern in die Seitenstr\u00e4nge und steigt in diesen zum Hirn empor FS Vx. Die hintern Wurzeln H dringen durch die substant. gelatinosa in das hintere graue Horn, und verhalten sich hier ebenfalls verschieden. Ein Theil biegt sogleich aus den hintern H\u00f6rnern in die hintern Str\u00e4nge derselben Seite und verl\u00e4uft von da aufw\u00e4rts; ein anderer biegt etwas sp\u00e4ter aus den grauen H\u00f6rnern in die gleichseitigen Seitenstr\u00e4nge und verl\u00e4uft in diesen nach dem Hirn, in der Zeichnung ist nur der erstere Zug dargestellt (H LT1). Zweifelhaft bleibt es, ob endlich ein dritter Zug hinterer Wurzelfasern in der grauen Commissur zur entgegengesetzten Seite tritt und hier in der grauen Masse oder den Hinterstr\u00e4ngen aufw\u00e4rts dringt. \u2014 K \u00f6llik er l\u00e4sst es zweifelhaft, ob ein eigenthiimliches System von R\u00fcckenmarkfasern ein sog. intermedi\u00e4res vorhanden sei. \u2014 Diese Darstellung gr\u00fcndet sich darauf: dass der eben beschriebene Verlauf der Fasern aus Bildern von mikroscopisch feinen L\u00e4ngs- und Querschnitten des R\u00fcckenmarks, das in Chroms\u00e4ure oder chromsaurem Kali geh\u00e4rtet ist, abgeleitet werden kann; dass die mikroskopische Untersuchung der R\u00fcckenmarkselemente keine Nervenurspr\u00fcnge erweisst; dass wenn man die beim Eintritt in das R\u00fcckenmark zu Stande kommende Verschm\u00e4lerung der Nervenr\u00f6hren ber\u00fccksichtigt, der Durchmesser des R\u00fcckenmarks allerdings ausreicht, um alle in den Wurzeln enthaltenen Nervenr\u00f6hren aufzunehmen; dass in den Anschwellungen des R\u00fcckenmarkes, welche den Urspr\u00fcngen starker und zahlreicher Nervenwurzeln entsprechen, keineswegs die weisse, sondern nur die graue Substanz zunimmt; dass die Masse der weissen Substanz von unten nach oben stetig zunimmt und namentlich, dass die Punkte, aus denen die sog. vordem Nervenwurzeln kommen, um so weiter von \u2022 der vordem Mittellinie des Markes sich entfernen, je mehr nach oben sie liegen, w\u00e4hrend sie am con. terminal, die Mittellinie erreichen.\nBruchst\u00fccke zu einer Vorstellung \u00fcber den Bau des R\u00fcckenmarks, die sich nur theilweise mit jeder der beiden ersteren Anschauungen vereinigen lassen, geben die Untersuchungen von Schilling*). Der Grundstock des R\u00fcckenmarks besteht nach ihm in der weissen Masse aus L\u00e4ngsr\u00f6hren und in der grauen Masse, wozu er auch die vordere Commissur z\u00e4hlt, aus Querr\u00f6hren. Diejenigen L\u00e4ngsr\u00f6hren, welche auf der Oberfl\u00e4che das R\u00fcckenmark nach Art eines Mantels umkleiden, verlaufen ohne nachweisbares Ende vom Hirn zum Conus; diejenigen, welche zwischen diesem Mantel und der grauen Masse eingeschlossen sind, nehmen dagegen an Zahl von oben nach unten hin ab, ungef\u00e4hr, proportional der Menge von fortlaufend aus dem R\u00fcckenmark austretenden Wurzelr\u00f6hren; da sie jedoch in die letztem nicht \u00fcbergehen, so enden sie wahrscheinlich in den Ganglienk\u00f6rpern der grauen Masse. Die Ouerfasern verkn\u00fcpfen, da sie wahrscheinlich gar nicht (und wenn nur zum kleinsten Theil hinten) in Wurzelr\u00f6hren \u00fcbergehen, ebenfalls die Ganglienk\u00f6rper miteinander. Zwischen dieses, dem R\u00fcckenmark insbesondere angeh\u00f6rige Flechtwerk treten nun die hinteren und vorderen Nervenwurzeln ein und dringen sogleich in die zun\u00e4chst gelegene graue Substanz; dort biegen die erstem, ohne sich mit den gegen-\n\u00fcberliegenden zu kreuzen, alsbald in den hintern H\u00f6rnern aufw \u00e4rts, um wahrscheinlich ohne Aufenthalt zum Hirn zu laufen, w\u00e4hrend die vordem Wurzeln naclnveiss-lich in die vielstrahligen Ganglienzellen der Vorderh\u00f6rner m\u00fcnden. \u2014 Die Gr\u00fcnde, welche Schilling f\u00fcr seinen Bauplan geltend macht, liegen, ausser der Ueberein-stimmung mit den von ihm gefundenen mikroskopischen Bildern, theils in dem Zweifel, dass die K \u00f6llik er\u2019sehen Messungen und Annahmen \u00fcber das Verh\u00e4ltniss der Querschnittssumme s\u00e4mintliclier Nerveirwurzeln zu derjenigen des w^eissen Halsmarkes auf richtigen Voraussetzungen fussen, theils darin, dass die weisse Masse von unten nach oben auf dem Querschnitte nicht in dem Maasse zunimmt, in welchem die eintretenden Nervenwurzeln sich mehren. Im Gegentheil soll der Querschnitt des w^eissen Markes periodisch an Umfang zu- und abnehmen, gerade so wie die Menge\n*) De medullas spinalis textura ratione inprim. etc. Dorp. 1852, Ludwig, Physiologie I,\n9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nPeripherischer Verbreitungshezirh der R\u00fcckenmarksnerven.\nder aus einem Umfang allstretenden Wurzelr\u00f6hren, und nicht minder soll die Menge des auf einem Querschnitt vorhandenen grauen Markes im Verh\u00e4ltniss zu der jeweiligen Zahl von Wurzelurspr\u00fcngen stehen, welche aus dem Umfang treten.\nDiese drei Annahmen stehen sich r\u00fccksichtlich ihrer Wahrscheinlichkeit so lange noch gleichberechtigt gegen\u00fcber, als die Untersuchungen, aus denen sie erschlossen sind, keinen h\u00f6heren Grad von Genauigkeit beanspruchen k\u00f6nnen.\nDas Widersprechende und Zweifelhafte in der Anatomie des R\u00fcckenmarkes findet seine hinreichende Erkl\u00e4rung, weil man die Fehlerquellen der Methoden gar keiner Diskussion unterwirft. Namentlich vermisst man Mittheilungen dar\u00fcber, wie sich durch das R\u00fcckenmark hindurch pia mater und Gef\u00e4sse verhalten; wie es gelungen sei, den gemessenen Schnitt immer senkrecht gegen die L\u00e4ngsachse des R\u00fcckenmarks zu f\u00fchren; ob die H\u00e4rtungsmittel ein \u00fcberall proportionales Schrumpfen, namentlich an Nervenst\u00e4mmen und dem R\u00fcckenmark erzeugen; auf wie zahlreichen und genauen Messungen sich die mittlere Verh\u00e4ltnisszahl gr\u00fcnde, die das Yerschm\u00e4lern der Nervenr\u00f6hren im R\u00fcckenmark ausdr\u00fcckt; welche Mittel daf\u00fcr B\u00fcrgschaft leisten, dass die Nervenr\u00f6hren von normalem Durchmesser der Messung unterworfen wurden; wie angen\u00e4hert die hypothetische Form, die man bei der Rechnung f\u00fcr das R\u00fcckenmark zu Grunde legte, mit der wahren \u00fcbereinstimmt u. s. wr. u. s. w. \u2014 Ferner ist es sehr nat\u00fcrlich, dass die willk\u00fcrlich, nicht genau nach dem Faserverlauf angefertigten Durchschnitte Bilder zum Vorschein bringen, welche sich in der Vorstellung auf das Mannigfachste verkn\u00fcpfen lassen; man muss sich nur dar\u00fcber wundern, dass die Zahl der hypothetischen Strukturen nicht schon zahlreicher ist.\nPhysiologisches Verhalten. \u2014 Die vom R\u00fcckenmarke ausgehenden Nervenr\u00f6hren stellen Bindeglieder zwischen ihm und den peripherischen Yerbreitungsbezirken dar, durch die irgend welche Erregung erzeugende Zust\u00e4nde des R\u00fcckenmarkes den \u00e4ussern Organen und umgekehrt solche der \u00e4ussern Organe dem R\u00fcckenmarke mitgethei\u00eet werden k\u00f6nnen. Da nun ferner das R\u00fcckenmark die wirklichen oder virtuellen Fortsetzungen der Wurzelr\u00f6hren enth\u00e4lt, so m\u00fcssen auch die Erregungszust\u00e4nde dieser sich dem Hirn und die des Hirnes sich den\nNervenwurzeln mittheilen ; in diesem Sinne ist es zu nehmen, wenn das R\u00fcckenmark Leitungsorgan genannt wird. Ausser dieser Abstraction, welche die anatomische Erfahrung an die Hand gibt, deckt aber der physiologische Versuch noch anderweite Eigenth\u00fcmlichkeiten des R\u00fcckenmarkes auf, die sie beziehen auf eine besondere Art von Verbreitung resp. Mittheilung der Erregung, auf eine eigene Weise gegenseitiger Lagerung der Nervenr\u00f6hren, auf ein spezifisches Verhalten gegen Erregungsmittel respective auf eigenth\u00fcmliche Verh\u00e4ltnisse der Erregbarkeit. \u2014 Unsere Darstellung der Nervenwurzeln und des R\u00fcckenmarkes wird die aufgez\u00e4hlten Eigenschaften der Reihe nach in Betracht ziehen.\n1. Verbreitungsbezirk der R\u00fcckenmarksnerven in der Peripherie.*) \u2014 Um den Verbreitungsbezirk einer Nervenwurzel mit absoluter Sch\u00e4rfe zu erfahren, ist es nothwendig, ihre Nervenr\u00f6hren in\n*) Longet, Anatomie et Physiologie du syst\u00e8me nerveux de Fhomme etc. 1.1842. \u2014 Volkmann, Artikel Nervenphysiologie in Wagners Handw\u00f6rterbuch II. Bd. \u2014 Eckhard, Ueber Reflexbewegung der vier letzten Nervenpaare des Frosches. Henle u. Pfeufer VII. Bd. \u2014 Staunius, das peripherische Nervensystem der Fische 1849.","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Peripherischer Verbreitungsbezirk der R\u00fcckeiimarksnerven.\n131'\nErregung* zu versetzen und diese in jenen isolirt zu erhalten, w\u00e4hrend die Nervenr\u00f6hren und das Organ, auf das sie nach der Voraussetzung sichtlich einwirken, sich in vollkommen lebenskr\u00e4ftigem und namentlich im erregbarem Zustand befindet, und der Nerv mit dem betreffenden Organ in normaler Ber\u00fchrung steht. \u2014 Diesen Anforderungen ist nicht \u00fcberall Gen\u00fcge zu leisten.\nZur Erzielung der Erregung bedient man sich der bekannten Mittel; unter diesen wurden f\u00fcr unsere Zwecke chemische und mechanische vorzuziehen sein, wenn sie nicht den Nachtheil mit sich f\u00fchrten, dass sie das unmittelbar getroffene Nervenst\u00fcck entweder meist vollkommen abt\u00f6dteten oder es nicht erlaubten, die Erregung \u00f6rtlich nach Willk\u00fcr zu beschr\u00e4nken. Wir sind demnach vorzugsweise auf den elektrischen Strom angewiesen; er bietet namentlich den Vortheil, dass man bei seiner Anwendung denselben Versuch oft wiederholen und damit das Ergebniss des Versuchs fester stellen kann. Seine Benutzung ist darum in allen F\u00e4llen anznrathen, wenn es m\u00f6glich ist, den Nerven mit schwachen galvanischen Str\u00f6men, die vermittelst verschiedener Hilfsmittel, die ihre Wirkung auf den Nerven isoliren, zur Entwicklung seiner physiologischen Kr\u00e4fte zu veranlassen. Ein schwacher galvanischer Strom wird, wie aus fr\u00fcherem erhellt, nothwendig, weil hierdurch die unipolare und die paradoxe Wirkung abgehalten wird. Behufs der Isolation des angewendeten elektrischen Stroms auf den Nerven l\u00e4sst man den ersteren durch m\u00f6glichst feine und einander m\u00f6glichst gen\u00e4herte, unmittelbar auf den Nerven angewendete Spitzen ausstr\u00f6men, nachdem man den Nerven vorher auf eine elektrisch isolirende Grundlage (Glas, Glimmer, Wachstafft u. s.w.) gebracht hat. In vielen F\u00e4llen gelingt es, trotz Anwendung aller dieser Hiilfsmittel nicht, die Erregung innerhalb einer bestimmten, urspr\u00fcnglich abgesondert in Th\u00e4tigkeit gesetzten Zahl von Nervenr\u00f6hren gebunden zu erhalten, weil die nat\u00fcrliche, f\u00fcr unsere Kunstmittel unl\u00f6sbare Verbindung derselben mit andern Nervenr\u00f6hren derartig angelegt ist, dass der erregte Zustand des einen Nervenrohrs Erregungsmittel f\u00fcr die andern nebenliegenden wird. In diesem Fall folgt unfehlbar auf Erregung eines Theils des Systems eine physiologischen Wirkung in allen urspr\u00fcnglich auch nicht erregten Gliedern desselben, wobei begreiflich der Nachweiss gar nicht geliefert werden kann, ob \u00fcberhaupt der urspr\u00fcnglich erregte Nerv in die physiologisch reagirenden Organe sich begibt.\nSchliesslich sind die erw\u00e4hnten Versuche oft mit einer betr\u00e4chtlichen Unsicherheit behaftet, weil nicht immer entschieden werden kann, ob das Ausbleiben eines Erfolges von der urspr\u00fcnglichen Anlage des Nerven, oder von einer Ersch\u00f6pfung der Leistungsf\u00e4higkeit des Nerven oder des entsprechenden Gewebes abh\u00e4ngt. Dieser Uebelstand wird von um so gr\u00f6sserer Bedeutung, wenn es in die Lebensfunktionen eines Organes mit eingerechnet ist, unter gewissen noch nicht n\u00e4her bekannten Umst\u00e4nden zeitweise dem Einfluss der Nerven entzogen zu sein. Ein negatives Resultat wird darum nur erst durch zahlreiche unter verschiedenen Umst\u00e4nden an-* gestellte und immei* gleichlautende Ergebnisse werthvoll. Man muss sich, um zur vollkommenen Einsicht in die Bedeutung der vorliegenden Untersuchungsmethode zu gelangen, einpr\u00e4gen, dass selbst im gl\u00fccklichsten Falle nur der Nachweisseiner gewissen schliesslichen Vertheilung des Nerven geliefert, dagegen \u00fcber den ganzen Verlauf des Nerven keine Auskunft ertheilt wird. Die physiologische Methodik hat noch keinen Versuch gemacht, diese letztere Frage experimental zu l\u00f6sen, wozu vielleicht der elektrotonische Zustand dienen k\u00f6nnte.\nBez\u00fcglich des Yerbreitungsbezirkes der R\u00fcckenmarksnerven hat es sich als ein unzweifelhaftes Resultat erg*eben, dass alle Muskeln des Rumpfes, so weit sie \u00fcberhaupt von dem R\u00fcckenmark abh\u00e4ngig sind, nur durch die sog. vordem R\u00fcckenmarkswurzeln in Be-\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nBell\u2019s Gesetz.\nwegung versetzt werden; dass dagegen alle Nervenr\u00f6hren, welche die einzelnen Rumpftheile mit den empfindenden Stellen des Hirnes verbinden, durch die sog. hintern Wurzeln aus dem R\u00fcckenmark hervortreten. Dieser Satz, welcher unter dem Namen des BelTschen Gesetzes bekannt ist, wird gew\u00f6hnlich auch in der Weise ausgedr\u00fcckt, dass man die hintern Wurzeln die sensibeln, die vorderen die motorischen nennt. Diese kurze Bezeichnung darf mit vollem Rechte insofern aufgenommen werden, als es erwiesen ist, dass durch die hintern Wurzeln keine Nervenr\u00f6hren austreten, welche sich mit den Muskeln in solcher Verbindung befinden, vermittelst welcher sie Bewegungen derselben veranlassen k\u00f6nnten; und weiter, dass durch Erregung der vordem mit dem Gehirn in Verbindung stehenden Wurzeln niemals Empfindungen bewerkstelligt werden k\u00f6nnten. \u2014 Der Gegensatz zwischen motorisch und sensibel findet demgem\u00e4ss in der vollkommensten Weise statt. Unerwiesen ist es dagegen, ob nicht noch Nervenr\u00f6hren in einer oder in beiden Wurzeln laufen, welche andere physiologische Funktionen als die der Empfindung und der Mus-kelkontraction anzuregen im Stande sind ; es darf demnach der Ausdruck sensible und motorische Wurzel nicht im exclusiven Sinne gebraucht werden.\nDieses Gesetz ist f\u00fcr alle Wirbelthierklassen best\u00e4tigt. Denn: darehschneidet man bei erhaltener Verbindung des R\u00fcckenmarkes mit dem Hirn die vorderen Wurzeln eines bestimmten Theils, so ist alle willk\u00fcrliche Bewegung in ihm erloschen, die Empfindung desselben dagegen vollkommen erhalten, so dass durch entsprechende Einwirkungen (Druck, Brennen, Aetzen der Haut) Aeusserungen des lebhaftesten Schmerzes (Schreien, Fluchtversuche u. s. w.) von dem in Bezug auf seine Muskelverrichtungen gel\u00e4hmten Theile eingeleitet werden k\u00f6nnen. Hat man dagegen die hintern Wurzeln mit Erhaltung der vordem durchschnitten, so tritt die umgekehrte Reihe der Erscheinungen hervor, indem nun das Glied dem Willen vollkommen unterthan ist, aber von keinem Punkt desselben aus auch nur die geringste Schmerzens\u00e4usserung erregt werden kann; jede selbst sanfte Ber\u00fchrung der mit dem R\u00fcckenmark in Verbindung befindlichen St\u00fcmpfe der hintern Wurzeln erzeugt dagegen lebhafte Schmerzen.\t- -\u00absr\u00bb\nDie Erscheinungen am durchschnittenen, vom Hirn getrennten R\u00fcckenmark erg\u00e4nzen die ebengegebenen vollkommen; durchschneidet man die vordem Wurzeln an einem solchen Stumpfe, so ist keine Erregung dieses letzteren im Stande, Muskelzuckungen zu bewerkstelligen, die aber augenblicklich hervortreten, wenn man die St\u00fccke der vordem Nervenwurzeln, welche mit den Muskeln noch in Verbindung sind, den erregenden Einfl\u00fcssen aussetzt. Durchschneidet man aber nur die hintern Wurzeln eines solchen Stumpfes, so folgt jedem Eingriff auf das Mark eine Bewegung; sie bleibt dagegen vollkommeu aus, sowie man die mit dem Gliedmaasse in Verbindung stehenden hinteren Wurzeln den Einwirkungen mechanischer, elektrischer etc. Effekte aussetzt.\nLonget*) machte und widerrief aber sp\u00e4ter eine Beobachtung, welche im Stande gewesen w\u00e4re, die ausschliessliche Geltung des Bell\u2019schen Gesetzes aufzuheben. Nach ihr sollten n\u00e4mlich auch die vordem Wurzeln empfindlich sein;\n*) Longet, Trait\u00e9 de physiologie. Paris 1850. II. Bd. 2e part. 274. \u2014 S chiff, Archiv f\u00fcr physiol. Heilkunde X. Bd. 133.","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Meugenverh\u00e4ltniss der hinteren und vorderen Wurzelr\u00f6hren.\t133\nMagendie, der Longet\u2019s Beobachtungen wiederaufnahm, erkl\u00e4rte darauf, dass diese Empfindlichkeit den vordem Wurzeln mitgetheilt werde durch R\u00f6hren, welche mit den hintern Wurzeln aus dem R\u00fcckenmark treten, sich dann an der Verbindungsstelle beider Nerv en wurzeln umbiegen; denn es wurde nach Mag en die die Empfiii-lichkeit der vordem Wurzeln vernichtet, wenn die entsprechenden hintern durchschnitten waren.\nDie einfache Auslegung, welche die Thatsachen erfahren, wenn man aus ihnen erschliesst, dass die vordem Wurzeln mit den zugeh\u00f6rigen Nerven zu den Verbindungsgliedern zwischen Seele (oder Willensorgan) und den Muskeln, und dass die hintern Wurzeln zu den Bindegliedern bestimmter empfindlicher K\u00f6rperregionen und der Seele (oder dem Empfindungsorgan) geh\u00f6ren, ist nicht allseitig anerkannt. Man schliesst (oder schloss) gew\u00f6hnlicher, dass durch diese Versuche eine spezifische Natur de^\u2019 Nerven erwiesen werde, verm\u00f6ge deren jede Art der Nerven entweder \u00fcberhaupt nur zu einer ganz spezifischen Art der Reaktion bef\u00e4higt w\u00e4ro, d. h entweder nur einen Bewegungs- oder einen Empfindungsakt einleiten k\u00f6nne, oder verm\u00f6ge deren ein f\u00fcr beide F\u00e4lle gleichartiger innerer Zustand in den motorischen Wurzeln nur nach der Peripherie (centrifugal, rechtl\u00e4ufig), in den sensiblen dagegen nur nach dem R\u00fcckenmark und Hirn (centripetal, r\u00fcckl\u00e4ufig) geleitet werden k\u00f6nne. An einer andern Stelle kann erst die Seite 95 begonnene Widerlegung der ersten dieser beiden Vorstellungen vollendet werden, w\u00e4hrend die der letzteren schon S. 113 gegeben ist.\nEine Vergleichung des Umfangs s\u00e4mmtlicher hinteren und vorderen Wurzeln \u00fcberzeugt uns, dass die hintern Wurzeln \u00fcberwiegend mehr Fasern enthalten, als die vordem. Diese Behauptung w\u00fcrde schon richtig sein, wenn beide Wurzelmassen Nervenr\u00f6hren von gleichem Durchmesser enthielten ; denn es verh\u00e4lt sich der Querschnitt der vordem Wurzeln zu dem der hintern nach Blandin und K \u00f6 11 ik e r : Am Halsmark = 1 : 2 oder = 1 : 2,9 mit Ausnahirfe des ersten Halsnerven.\n\u201e Dorsalmark =1:1 oder = 1 : 2,0 \u201e Lenden- und\nSacralmark = 2:3 oder = 1: 2,2 bis zum dritten Sacralnervenincl.\nDieses Yerh\u00e4ltniss der Zahl von distinkt aus dem R\u00fcckenmark austretenden Fasern steigert sich dagegen noch sehr zu Gunsten der hintern Wurzeln, wenn man bedenkt, dass der mittlere Durchmesser der einzelnen R\u00f6hren in den vordem Wurzeln 0,0060\"' p. in der hintern dagegen nur 0,004\"' p. betr\u00e4gt. Ob dagegen die Summe der wirksamen Partikeln des Nervenmarks in den vordem R\u00f6hren auf einen entsprechenden Querschnitt beider Wurzeln geringer sei als in den hintern bleibt wegen der vermehrten Primitivscheiden ungewiss.\nObgleich allseitig die physiologische Bedeutung der \u00fcberwiegenden Zahl sensibler R\u00f6hren nicht ermittelt ist, so d\u00fcrfte mindestens durch dieselben das Ziel erreicht sein, dass vermittelst der hintern Wurzeln ein gr\u00f6ssere Zahl distinkter Puncte unserer Organe auf isolirte Weise und mit dem R\u00fcckenmarke in Beziehung gesetzt sind als durch die vordem.","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\tWeitere Verbreitimgsgesetze der K\u00fcekeiimarksnerven.\nNach dem Erkennen dieser Gesetze gestaltet sich nun die n\u00e4chste Aufgabe dahin, den Yerbreitungsbezirken jedes einzelnen Wurzelb\u00fcndels ( da dieses f\u00fcr die einzelnen Nervenr\u00f6hre nicht \u00ab*e-schehen kann) , in der Reihenfolge, in welcher sie vom R\u00fcckenmark austreten, aufzusuchen.\nDie ausserordentliche Unregelm\u00e4ssigkeit, die hei der Zusammenfassung der Wurzelb\u00fcndelxzu Nerven waltet, l\u00e4sst die Bestimmung der Verbreitungsbezirke einer ganzen Wurzel weniger werthvoll erscheinen. \u2014 Die anatomische Methode der Ner-venpr\u00e4paration leistet zu obigem Zwecke, wegen der vielfachen Verschlingung der feinen Nervenelemente, bei der Bildung von sogenannten Nervenst\u00e4mmen, Plexus und Aesten bekanntermasseu nichts. Die physiologische Pr\u00e4paration, deren wir uns schon zur Darstellung der verschiedenen Funktionen der hintern und vordem Wurzeln bedienten, gibt uns dagegen in einer gewissen Beschr\u00e4nkung bei Anwendung der n\u00f6thigen Vorsicht und Ausdauer sichern Aufschluss. \u2014 Die Verfolgung der motorischen R\u00f6hren, die auf ihrem Wege nicht in eine physiologisch complizirte Funktion zu andern Nervenparthieen treten, und in quergestreiften Muskeln von normaler Erregbarkeit enden, denen keine andere Bewegungsursache in-haerirt, gelingt dadurch, dass man vom R\u00fcckenmark die Wurzel vollkommen elektrisch isolirt und vermittelst derselben den Kreis einer nicht zu kr\u00e4ftigen, einfachen galvanischen Kette schliesst, nachdem man noch den Muskel, in welchem man Bewegung erwartet/ bloss gelegt hat. Nachdem man die Wirkung des betreffend en Nerven unter dem Einfluss der Elektrizit\u00e4t ermittelt hat, muss man zur Contr\u00f4le desselben nie vers\u00e4umen, noch schliesslich einen mechanischen oder chemischen Einfluss auf den Nerven wirken zu lassen* Je erregbarer der Nerv und Muskel, um so sicherer ist der Erfolg, der bei Warmbl\u00fctern nur kurze Zeit nach dem Erl\u00f6schen des Blutlaufs, bei Kaltbl\u00fctern dagegen oft noch viele Stunden nach dem Stillstand des Herzens erwartet werden kann. Besondere im Einzelnen zu erw\u00e4hnende Schwierig:-keiten bietet dagegen die Untersuchung der Abh\u00e4ngigkeit des Herzens und der Eiu-geweidemuskeln von bestimmten Nervenwurzeln. \u2014 Die Untersuchung der Verbreitung sensibler Nervenr\u00f6hren gelingt schwieriger. Die allgemeinste Vorbereitung des Versuchs besteht darin, dass man von den in das R\u00fcckenmark gehenden hintern Wurzeln nur die eine zu untersuchende mit dem R\u00fcckenmark in Verbindung l\u00e4sst, alle \u00fcbrigen hintern dagegen, oder wenigstens alle in der N\u00e4he entspringenden durchschneidet, und nun den vermuthlichen Verbreitungsbezirk mit schw\u00e4chern oder starkem Empfindung erregenden Einfl\u00fcssen (schwachen Kalien oder S\u00e4uren, Salzl\u00f6sungen, h\u00f6herer Temperatur etc.) angreift.\nDie Aenderung, welche die Schmerzhaftigkeit des Angriffs bezeugt, f\u00e4llt verschieden aus, je nachdem das R\u00fcckenmark noch unter dem Einfl\u00fcsse der sogenannten Seelenwirkungen steht oder diesen (durch Bet\u00e4ubung des Thiers mit Opium, Durchschneiden des R\u00fcckenmarks etc.) entzogen ist. Im ersten Falle sind die hier eintretenden Zeichen des Schmerzes (dessen Aeusserungen, abgesehen von ihrer Zweideutigkeit, auch noch an die Willk\u00fcr des Thieres gebunden sind) so unsicher, dass die zweite Method\u00ea unbedingt den Vorzug verdient. Die Anwendung des vom Hirn getrennten R\u00fcckenmarkes ist auf die Erfahrung basirt, dass jede durch ein hinteres Nervenrohr eintretende Erregung verm\u00f6ge einer eigent\u00fcmlichen Combination desselben mit den Ausl\u00e4ufern der vordem Wurzeln in das Mark auch eine Erregung in diesen, resp. eine Muskelzuckung bewerksteHigt, vorausgesetzt, dass sie dem Willenseinflusse entzogen sind. Die auf Ermittlung dieser Verh\u00e4ltnisse gerichteten Beobachtungen bed\u00fcrfen einer zahlreichen Wiederholung, weil die Erregbarkeit der sensiblen Fasern noch viel rascher nach dem Tode erlischt als die der motorischen-\nEine solche Versuchsreihe (f\u00fcr motorische und sensible Fasern) m\u00fcsste nun f\u00fcr ein der menschlichen Organisation n\u00e4her stehendes S\u00e4ugethier durchgef\u00fchrt werden","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Weitere Verbreitimgsgesetze der R\u00fcckenmarksnerven.\n135\n\nund dann erst d\u00fcrfte man Hoffnung haben, aus der Beobachtung zuf\u00e4llig eintretender Verletzungen einzelner Nerven und R\u00fcckenmarkstheile eine vollkommene Einsicht in die Vertheilung der R\u00fcckenmarksnerven des Menschen zu gewinnen. \u2014 Eine solche Reihe steht leider der Wissenschaft noch nicht zu Gebote.\nEine Zusammenstellung der bei verschiedenen Thieren gewonnenen Thatsachen \u00fcber die Verbreitung der R\u00fcckenmarkswurzeln ergibt:\na.\tDie von einer H\u00e4lfte des R\u00fcckenmarks entspringenden Wurzeln versorgen nur Bestandteile derselben K\u00f6rperh\u00e4lfte vorausgesetzt, dass ihr Verbreitungsbezirk nicht in die Eingeweide f\u00e4llt. \u2014\nb.\tJede grosse r\u00e4umlich oder functioned geschiedene Gruppe von Bewegungsorganen erh\u00e4lt von einer begrenzten Abtheilung des R\u00fck-kenmarks ihre Nervenr\u00f6hren, ohne Ber\u00fccksichtigung ihrer relativen Lage zum R\u00fcckenmark. Nach den bis dahin bekannten Beobachtungen k\u00f6nnten in diesem Sinne die Nervenwurzeln in vier Gruppen gebracht werden: a) Nerven der Wirbels\u00e4ule-, resp. der Rippen- und Bauchmuskeln, insofern diese f\u00fcr die Bewegung der Wirbels\u00e4ule benutzt werden ; dieses System l\u00e4uft durch das ganze R\u00fcckenmark von oben bis unten, so dass sich s\u00e4mmtliche Nervenwurzeln in einem gewissen Umfangan ihm betheiligen. \u2014 \u00df) Einathmungsnerven, zu diesem Gliede d\u00fcrfte zum Theil der 3. bis 6. (7.?) Halsnerv gez\u00e4hlt werden k\u00f6nnen; die Muskeln, welche versorgt werden, sind wenn auch wenige (Mm. scaleni, sternomastoidei, Diaphragma) doch sehr auseinander gelegte, so dass sie sich ziemlich scharf ausschei-den; ob und welche andere zu dieser Abtheilung noch geh\u00f6ren m\u00f6chten, muss zu entscheiden sp\u00e4teren Untersuchungen \u00fcberlassen bleiben. \u2014 y) Nerven der obern Extremit\u00e4t, zu denen bekanntlich der gr\u00f6sste Theil der Wurzeln f\u00fcr den plexus brachialis z\u00e4hlt und der mit seinen Aesten ebenso wie die vorhergehende Gruppe tief an den Rumpf heruntergreift, um die an den Bewegungen des Schulterger\u00fcstes oder Armes betheiligten Muskeln zu versorgen. \u2014 d) Nerven der Gehwerkzeuge; ein grosser Theil der Wurzeln des plexus lumbalis und sacralis. \u2014 Ausser diesen Gruppen d\u00fcrfte eine weitere Untersuchung wahrscheinlich noch andere, die sich auf Bewegung des Kopfs, der Zunge und des Kehlkopfs, der Muskeln zur Koth- und Harnentleerung und endlich des Geschlechtsapparats beziehen, aufstellen.\nc.\tDerselbe Muskel und dieselbe Hautstelle ( oder \u00fcberhaupt empfindliche Fl\u00e4che ?) wird gleichzeitig von R\u00f6hren versorgt, welche durch verschiedene Wurzeln aus dem R\u00fcckenmark austreten, und umgekehrt aus derselben Wurzel begeben sich an verschiedene (zu einer gr\u00f6sseren Gruppe geh\u00f6rige?) Muskeln und Hautstellen Nervenzweige Eckhard.\nAus diesen Vertheilungsgesetzen, welche mit der h\u00f6chsten Wahrscheinlichkeit als \u00fcberall bestehende angesehen werden d\u00fcrfen, ergibt sich die Nothwendigkeit und die Bedeutung der Plexusbildung","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nCentrale Verbreitung der R\u00fcekenmarksnerven.\nf\u00fcr die Muskel- und Hautnerven der grossem Bewegungswerkzeuge, besonders wenn man noch hinzuf\u00fcgt, dass die in den verschiedenen Wurzeln liegenden, aber f\u00fcr dieselben Regionen, Muskeln u. s. w. bestimmten R\u00f6hren in einen Nerven zusammengefasst werden m\u00fcssen. Zugleich wird hierdurch der einzelne sog. Nervenast als ein Lager von R\u00f6hren verschiedenartigen Ursprungs bezeichnet. \u2014\nDie Beziehungen der Nervemviirzeln zu den Muskeln und empfindenden Fl\u00e4chen der Eingeweide werden bei der Darstellung des sog. nerv, sympathicus behandelt werden.\ni\n2. Verbreitung der Wurzelr\u00f6hren in dem R\u00fcckenmark *). Nach der Feststellung des BelFschen Gesetzes vermuthete man sogleich, dass in den Vorder str\u00e4ngen des R\u00fcckenmarks die motorischen und in den Hinter str\u00e4ngen die sensiblen Nerven aufsteigen m\u00f6chten. Diese Vermuthung hat sich insofern best\u00e4tigt, als erwiesen ist, dass die Hinterstr\u00e4nge der Marksubstanz und die hintern grauen H\u00f6rner ausserordentlich empfindlich sind, w\u00e4hrend die vordem Markstr\u00e4nge im Erregungszustand motorisch wirken, niemals aber Empfindungen erzeugen ; ausserdem hat man in den Seitenstr\u00e4ngen motorische niemals aber sensible Nervenmassen gefunden. \u2014\nDie physiologische Erfahrung glaubt sich berechtigt zu diesen allgemeinen Angaben noch folgende besondere beif\u00fcgen zu k\u00f6nnen. Die in die Vorderstr\u00e4nge eingetretenen Nervenr\u00f6hren dringen (entweder direct oder durch die sie repr\u00e4sentirenden Fortsetzungen des intermedi\u00e4ren Systems) zum gr\u00f6ssten Theil in dem gleichseitigen Vorderstrang zum Hirn aufw\u00e4rts, der kleinere Theil aber begibt sich in den entgegengesetztseitigen Vorderstrang, nachdem auch er zuerst w\u00e4hrend einer l\u00e4ngeren Strecke in dem gleichseitigen verlaufen war. \u2014 Aehnlich verhalten sich die sensiblen Bindeglieder zwischen Hirn und Nervenwurzeln ; denn es verbleibt auch von diesen letztem im R\u00fcckenmark nur ein Theil auf der Seite, in welche sie eintraten,\nw\u00e4hrend ein anderer Theil zur entgegengesetzten Seite \u00fcbergeht\nDie eben vorgetragenen S\u00e4tze gr\u00fcnden sich auf folgende Thatsaclien. Durch-sckneidet man ein R\u00fcckenmark an beliebiger Stelle aber vollst\u00e4ndig, so sind alle Muskeln, welche ihre Nerven aus den Wurzeln enthalten, die unterhalb des Schnittes aus dem R\u00fcckenmark austreten dem Willenseinfluss entzogen, w\u00e4hrend die Muskeln, die ihre Nerven auch aus oberhalb des Schnittes abtreteuden Wurzeln erhalten, ihm noch vollkommen unterthan sind. Erregt man dann auf beschr\u00e4nkte Weise die vorderen Str\u00e4nge an der Schnittfl\u00e4che des untern R\u00fcckenmarkstumpfes, so erscheinen in allen Muskeln, deren Nerven unterhalb der Schnittstelle entspringen, Bewegungen in \u00e4hnlicher Weise, als ob man die Wurzeln selbst erregt haben w\u00fcrde. Diese Thatsache beweist unzweideutig das Aufsteigen der Wurzelr\u00f6hren\nAusser der fr\u00fcher angef\u00fchrten Literatur Ei genbrod, Ueber die Leitungsgesetze im R\u00fcckenmark; Giessen 1849. \u2014 K\u00f6lliker, mikroskop. Anatomie II. 1.439. \u2014Brown \u2014 Se'quard de la transmission des impressions sensitives etc. Compt. rend. 1850. XXXI. Bd. \u2014 L. T\u00fcrk, Ueber den Zustand der Sensibilit\u00e4t. Wien. Zeitschrift f\u00fcr d. G. d. A. M\u00e4rz 1851. \u2014 Ergebnisse phy-siolog. Untersuchungen, Sitzungsberichte der Wiener Akadem. Apr. 1851. \u2014 Ueber secund\u00e4re Erkrankung einzelner R\u00fcckenmarksstr\u00e4nge und ihrer Fortsetzung. Ibid. M\u00e4rz 1851.","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Hintere R\u00fcckemnarksstr\u00e4uge.\n13T\noder ihrer virtuellen Fortsetzung in den' vorderen Str\u00e4ngen. \u2014 Zweideutig sind die Beobachtungen ausgefallen, welche die theilweise Kreutzung der motorischen R\u00f6hren im R\u00fcckenmark beweisen sollen. Nach einigen Beobachtern soll ein einseitiger (bis zu den L\u00e4ngenfurchen gef\u00fchrter) Querschnitt einzig eine vollkommene L\u00e4hmung der gleichseitigen Muskeln, und eine isolirte Erregung der durchschnittenen Markh\u00e4lfte nur Bewegung in den Muskeln der dem Schnitt entsprechenden Seite hervorrufen. \u2014 Diese Thatsache w\u00fcrde der Annahme einer Kreuzung widersprechen. \u2014 Andere Beobachter versichern dagegen, dass einseitige Durchschneidung auf der gleichen Seite vollkommene und auf der entgegengesetzten Seite unvollkommene L\u00e4hmung herbeif\u00fchren; dieses Resultat ist gar keiner Deutung f\u00e4hig, denn wenn auch die Halbl\u00e4hmung der Muskeln in der dem R\u00fcckenmarkschnitte entgegengesetzten Seite f\u00fcr Kreuzung spricht, so ist doch die vollkommene L\u00e4hmung auf dergleichen Seite aus der Kreuzung vollkommen unklar. \u2014 Endlich behauptet eine dritte Reihe von Beobachtern, dass halbseitige Durchschneidung des R\u00fcckenmarks Halbl\u00e4hmung in beiden K\u00f6rperh\u00e4lften bedinge, so jedoch, dass die auf der Seite des Schnittes gelegenen Muskeln dem Willen mehr entzogen seien, als die an der entgegengesetzten Seite befindlichen. \u2014 Vielleicht erkl\u00e4rt sich die Verschiedenheit der Resultate, welche die ersten und dritten Beobachter erhielten, dadurch, dass sie verschiedene Thiere dem Versuch unterwarfen und den Schnitt in ungleichem Abstand von den Nervenwurzeln f\u00fchrten. \u2014 Beim Frosche n\u00e4mlich ist der Befund g\u00fcnstiger f\u00fcr die Hypothese der Kreuzung als beim S\u00e4ugethier; und je h\u00f6her man den Schnitt \u00fcber den Wurzeln f\u00fcr die unteren Extremit\u00e4ten beim S\u00e4ugethier anbrachte , um somehr scheinen sie ebenfalls f\u00fcr die Annahme theilweiser Kreuzung zu passen. \u2014 Keine Beobachtung best\u00e4tigt dagegen die aus den anatomischen Beobachtungen gezogenen Schl\u00fcsse, wonach die Kreuzung der motorischen Elemente nahe oder unmittelbar \u00fcber dem Wurzeleintritt geschehen soll. \u2014 In wie weit alles vorstehende auf das R\u00fcckenmark des Menschen \u00fcbertragbar sei, m\u00fcssen noch gute pathologische Beobachtungen lehren; f\u00fcr jetzt scheint aus diesen letzten nur mit Sicherheit geschlossen werden zu d\u00fcrfen, dass die Vorderstr\u00e4nge die motorischen R\u00f6hren enthalten. \u2014\nDie Resultate, welche die Versuche an den hinteren Str\u00e4ngen liefern, sind auf den ersten Blick noch viel zweideutiger. Eine Erregung derselben auf einem mit dem Hirn verbundenen Querschnitt bewerkstelligt allerdings lebhafte Schmerzens-\u00e4usserungen, und nach Durchschneidung der hintern (und eines Theils der seitlichen?) Str\u00e4nge des R\u00fcckenmarks verhalten sich allerdings alle Rumpftheile, welche ihre sensiblen Nerven aus dem vom Hirn getrennten St\u00fccke beziehen, vollkommen empfindungslos. Mit der Erregung treten dagegen fast unter allen Umst\u00e4nden Bewegungen hervor, so dass auf den ersten Blick die Hinterstr\u00e4nge ausser den sensiblen R\u00f6hren auch noch motorische zu enthalten scheinen. Eine genauere Vergleichung der Bewegungen und der Umst\u00e4nde unter4welchen nach Erregung der Hinterstr\u00e4nge Bewegung eintritt, lehrt bald, dass die Versuche auf keine unmittelbare und einfache, sondern auf eiiie sehr complizirte Beziehung zwischen Hinterstr\u00e4ngen und motorischen Functionen h\u00fcrweisen. Denn 1) nach oberfl\u00e4chlicher Erregung eines Querschnitts an dem Stumpfe, der mit dem Hirn in Verbindung steht, (centraler Stumpf) treten Bewegungen in Muskeln ein, deren Nerven w eit oberhalb des Schnittes entspringen, obwohl alle Beobachtungen darin \u00fcbereinstimmen, dass niemals die motorischen Wurzeln im R\u00fcckenmark abw\u00e4rts, sondern immer aufw\u00e4rts laufen.\u2014 2) Eine Erregung auf dem Querschnitt des Hinterstrangs am peripherischen (vom Hirn getrennten) Stumpfe f\u00fchrt ebenfalls zu Bew egungen, aber erst dann, wenn die Erregung in die Tiefe eindrang, w\u00e4hrend schon viel n\u00e4her an der Oberfl\u00e4che des Querschnittes der vordem Str\u00e4nge das erregende Mittel Bewegung einleitet. \u2014 3) Wenn in einem Thiere die Erregbarkeit der empfindenden R\u00f6hren abgestorben ist, wras nach dem Tode immer fr\u00fcher geschieht, als das Absterben der motorischen, so gelingt es","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nHintere R\u00fcckenmarksstr\u00e4nge. Grane Masse.\nnicht mehr von den hintern Str\u00e4ngen aus Bewegung zu erwirken, w\u00e4hrend sie die erregten vordem Str\u00e4nge noch auszul\u00f6sen verm\u00f6gen. \u2014 4) Endlich sind die Bewegungen, welche auf Erregung der Hinterstr\u00e4nge eintreten, weder momentane Folgen derselben, noch kann eine so innige Beziehung zwischen Intensit\u00e4t und Dauer der Erregung und Bewegung festgestellt werden, wie diess unter gleichen Umst\u00e4nden hei den Vorderstr\u00e4ngen m\u00f6glich ist. Die in den Muskeln eintretende Bewegung ist keine constante, auf gewisse Muskeln (die sogleich vom Beginn der Erregung an ergriffen waren) beschr\u00e4nkte, sondern sie wechselt in einer gewissen Folge allm\u00e4-lig zwischen allen einzelnen Muskeln des Rumpfes, (sog. klonischer Krampf), so dass mit steigender Dauer und steigender Intensit\u00e4t der Erregung einer bestimmten Stelle nicht dieselben Muskeln in eine intensivere und dauerndere Bewegung versetzt werden, sondern die Bewegungen in immer gr\u00f6sseren Kreisen (\u00fcber mehr und mehr Muskeln) sich ausbreiten, und die sich bewegenden Muskeln in eine immer raschere Contractionsfolge gerathen. \u2014 Diesen Befund erg\u00e4nzen nun einzelne pathologische Beobachtungen beim Menschen, in welchen eine intensive Zerst\u00f6rung beider Hinterstr\u00e4nge vorhanden war; in diesen F\u00e4llen ist die dem zerst\u00f6rten R\u00fcckenmarkst\u00fcck entsprechende Rumpfabtheilung vollkommen gef\u00fchllos; alle willk\u00fcrlichen Bewegungen in diesen Theilen sind dagegen vorhanden, ln allen F\u00e4llen ist aber die Bewegung des entsprechenden Rumpftheils gest\u00f6rt, insofern sie unbewusst geschieht, und namentlich insofern sich einzelne Muskelgruppen zu einer Bewegung combiniren, so dass z. B. der Gang, insofern er nicht mit besonderer Aufmerksamkeit des Geistes ausgef\u00fchrt ist, schwankend und unsicher wird. \u2014 Aus allem diesen darf darum wohl mit vollkommener Berechtigung geschlossen werden, dass die Hinterstr\u00e4nge nicht die Bindeglieder zwischen Seele und Muskeln enthalten; wie die Beziehungen zwischen Muskelnerven und Hinterstr\u00e4ngen aufzufassen sind, werden wir alsbald ausf\u00fchrlicher darlegen.\nF\u00fcr die Annahme, dass die beiden hinteren Str\u00e4nge ihre R\u00f6hren austauschen, spricht das Resultat des Versuchs, dass nach vollkommener Durchschneidung einer R\u00fcckenmarksh\u00e4lfte die Empfindung der Oertlichkeit in den von dem abgetrennten R\u00fcckenmark versorgten Rumpfst\u00fccken noch erhalten bleibt Inwiefern zum vollkommenen Beweis einer Faserkreuzung nicht \u00fcberhaupt Empfindung, sondern auch die der Oertlichkeit verlangt wird, muss einer erst sp\u00e4ter verst\u00e4ndlichen Begr\u00fcndung \u00fcberlassen bleiben; dass aber das Gef\u00fchl der Oertlichkeit besteht, geht daraus hervor, dass die Thiere bei Verletzungen gegen die verletzte Stelle sich wenden und mit den willk\u00fcrlich beweglichen Theilen den verletzenden Gegenstand zu entfernen suchen. Diese Kreuzung geschieht keinenfalls in einer dem Wurzeleintritt nahen Horizontalebene, sondern in einiger Entfernung \u00fcber demselben, weil die Empfindlichkeit in allen Theilen vollkommen verschwindet, \u00fcber deren zugeh\u00f6rigen Nervenwurzelu der Schnitt unmittelbar durch das R\u00fcckenmark gef\u00fchrt ist, sich dagegen um so lebhafter erh\u00e4lt, je h\u00f6her \u00fcber den erregten ^urzelfaden der Schnitt liegt. \u2014\nDie Seitenstr\u00e4nge und namentlich ihr an die Vorderstr\u00e4nge grenzender Theil f\u00fchren jedenfalls motorische Fasern; dass die Seitenstr\u00e4nge und namentlich in den Grenzparthieen gegen die Hinterstr\u00e4nge sensible f\u00fchren, ist mindestens nicht erwiesen, und insofern nicht widerlegt, als die Versuche an S\u00e4ugethieren den Einwand erlauben, dass wegen einer durch die eingreifende Operation herbeigef\u00fchrte Empfindungslosigkeit geringe Mengen sensibler Fasern \u00fcbersehen werden k\u00f6nnten. \u2014\nIn die graue Substanz treten nach \u00fcbereinstimmenden Angaben guter Autoren, welche hierf\u00fcr den Beweis durch directe Erregung der Querschnitte des R\u00fcckenmarks zu f\u00fchren suchten, keine motorischen R\u00f6hren ein; dieser Beweis scheint kaum durch die Erscheinungen der willk\u00fcrlichen L\u00e4hmung nach Durchschneidung der ganzen vorderen H\u00e4lfte des R\u00fcckenmarks ersch\u00fcttert werdeif zu k\u00f6nnen. Nach dieser Operation bestehen allerdings noch schwache willk\u00fcrliche Einfl\u00fcsse auf die unterhalb des Schnittes gelegenen Nerven, aber es bleibt auch nach dieser Operation","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Leitung der Erregung im R\u00fcckenmark.\n139\nneben der grauen Substanz noch ein grosser Rest der Seitenstr\u00e4nge unverletzt \u00fcbrig, die erwiesener Maassen motorische Fasern enthalten.\u2014Sensible R\u00f6hren werden dagegen von der grauen Substanz und zun\u00e4chst von den Hinterh\u00f6rnern aufgenommen, denn diese zeigen sich bei directer Erregung empfindlich; es scheinen aber auch die sensiblen Fasern in die Vorderh\u00f6rner einzudringen, weil nach Durchschneidung der hintern H\u00e4lfte des R\u00fcckenmarks in den unterhalb liegenden Parthieen Empfindung besteht, so lange \u00fcberhaupt eine Br\u00fccke von grauer Substanz zwischen dem untern und obern R\u00fcckenmarkst\u00fcck erhalten ist, die aber sogleich verschwindet, wenn man den letzten Rest der Vorderh\u00f6rner abgetrennt hat. \u2014 Eine nicht zu vernachl\u00e4ssigende Andeutung f\u00fcr den Gang weiterer Untersuchungen \u00fcber die relative Lage der Ner-venurspriinge zur R\u00fcckenmarksfurche besteht darin, dass die vordem Wurzeln um so weiter von derselben entfernt entspringen, je h\u00f6her sie abtreten, so dass sie am untern Ende unmittelbar aus der vordem Furche kommen, w\u00e4hrend die hintern Wurzeln \u00fcberall in ann\u00e4hernd gleicher Entfernung von der hintern L\u00e4ngsspalte austreten.\n3. Mittheilung der Erregungszust\u00e4nde in den Nerven-r\u00f6hren des R\u00fcckenmarks*).\nDie Erregung, welche innerhalb der Nervenr\u00f6hren des R\u00fcckenmarks besteht, kann sich auf verschiedene Art verbreiten; sie ist verm\u00f6gend sich entweder innerhalb der erregten R\u00f6hren zu isoliren, so dass die Leitung des erregten Zustandes nur an den Ber\u00fchrungsstellen des Nervenmarkes vor sich geht, oder sie kann sich von einem Rohr auf ein anderes verbreiten, so dass dann die Leitung durch die Scheiden hindurch geschieht.\nAuf die Gegenwart des ersten Falles, der sog. L\u00e4ngenleitung schliessen wir, weil vom Willen aus ganz beschr\u00e4nkte Bewegungen ausgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, und weil ganz eng umgrenzte erregende Einwirkungen auf empfindliche Fl\u00e4chen ebenso beschr\u00e4nkte Empfindungen erzeugen. Beides w\u00e4re unm\u00f6glich, wenn die Erregung auf dem Wege von oder nach dem Hirn nicht vollkommen isolirte Bahnen f\u00e4nde.\nAnderntheils kann aber auch eine von beschr\u00e4nkten Stellen in das R\u00fcckenmark eintretende Erregung sich einem grossen Theil desselben mittheilen, ohne dass wir eine Kommunikation der Lumina der urspr\u00fcnglich und der secund\u00e4r erregten R\u00f6hren nachweisen oder auch nur wahrscheinlich machen k\u00f6nnen. Wir setzen also in diesem Fall voraus, dass die Erregung einer R\u00f6hre die Veranlassung zur Erregung der nebenliegenden gegeben habe. Querleitung. \u2014 Diesen gegenseitig erregenden Einfluss \u00fcben entschieden die sensiblen auf motorische R\u00f6hren; ein Gleiches vermuthet man zwischen motorischen und motorischen, sensiblen und sensiblen, motorischen und sensiblen.\nA. Mittheilung der Erregung von sensiblen R\u00f6hren auf motorische. Reflectorische Erregung, Reflexbewegung. Die Bedingungen zum\n*) K\u00fcrschner, Uebersetzung vou Marshall Hall\u2019s Abhandlungen \u00fcber das Nervensystem. Marb. 1840. \u2014 Volkmanns Artikel Nerveuphysiologie. Wagners Handw\u00f6rterb. II. 529,\u2014 He nie, rationelle Pathologie I. Bd. 204.","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nReflexbewegung.\nEintritt dieser Bewegungen b\u00e9stehen im allgemeinen in einem g\u00fcnstigen Zustand der Erregbarkeit aller in Betracht kommenden Nerven- und Muskeltheile, einer zweckm\u00e4ssigen Anlegung der Erregungsmittel, und einer m\u00f6glichst vollst\u00e4ndigen Vernichtung des ^Yi\u00fcenseinflusses auf das R\u00fcckenmark.\nDie Versuche, welche die reflektorische Erregung darthun, gestalten sich sehr einfach. Man dekapitirt ein Thier und erregt auf irgend eine Art einen sensiblen Nerven mit der Vorsicht, keinen motorischen zu treffen. Die Folge dieser Erregung ist fast aller Orts eine Bewegung gewisser Muskeln oder Muskelgruppen. \u2014 Zum Beweiss, dass diese Uebertragung der Erregung nur mit Hilfe des R\u00fcckenmarks geschieht, trennt man die sensible Wurzel von diesem ab 3 nach dieser Operation bleiben die wie fr\u00fcher angewendeten Erregungsmittel ohne Erfolg, der aber sogleich wieder in der urspr\u00fcnglichen Weise hervortritt, wenn man den noch mit dem R\u00fcckenmark verbundenen Stumpf der sensiblen Wurzel auf passende Weise erregt. Die Gegenwart des ganzen und unverletzten R\u00fcckenmarks ist dagegen nicht n\u00f6thig; es scheint als Regel ausgesprochen werden zu k\u00f6nnen, dass beim Bestehen aller andern Bedingungen so lange Reflexbewegung erweckt werden kann, als eine sensible mit einer motorisehe 11 Wurzel noch durch ein St\u00fcckchen unverletzten R\u00fcckenmarks in Verbindung steht; die einzige Beschr\u00e4nkung, die dieser Satz zu erleiden hat, m\u00f6chte darin bestehen, dass der Schnitt, durch welchen man das R\u00fcckenmark verst\u00fcmmelt hat, nicht zu nahe am Austritt der Nervenwurzeln gef\u00fchrt sein d\u00fcrfe, durch welche die Erregung in das R\u00fcckenmark ein- und austritt. Denn: bei vollkommener L\u00e4ngstheilung des R\u00fcckenmarks erh\u00e4lt sich die Reflexbewegung, aber nat\u00fcrlich nur auf einer Seite; l\u00e4sst man eine selbst kurze Verbindungsbr\u00fccke zwischen beiden H\u00e4lften, so kann von einer Seite die ganze andere in Bewegung gesetzt werden ; die Durchschneidung nur einer seitlichen hintern oder vordem H\u00e4lfte des R\u00fcckenmarks verhindert nicht das Erscheinen der Reflexbewegung in den gleichen Par-thien jenseits des Schnittes; eben so wenig ist das Erscheinen der Reflexbewegung auf Erregung der Schwimmhaut des Frosches in der obern Extremit\u00e4t beeintr\u00e4chtigt, wenn man oberhalb der Nervenwurzeln f\u00fcr die untern Extremit\u00e4ten eine seitliche H\u00e4lfte des R\u00fcckenmarkes und kurz unterhalb der Wurzeln f\u00fcr die obern Extremit\u00e4ten die entgegengesetzte H\u00e4lfte durchschnitten hat.\nDer Versuch gelingt \u00fcberhaupt um so leichter, je h\u00f6her die Erregbarkeit des ganzen Nervensystems steht, namentlich bei jungen S\u00e4ugethieren, deren Grosshirn man mit Vorsicht entfernt hat, so dass der Blutkreislauf noch besteht, dann bei Amphibien, besonders im Fr\u00fchjahr und Herbst und endlich vorzugsweise nach Vergiftung (\u00f6rtlicher oder allgemeiner) mit Strychnin und Opium; nach ihrer Einwirkung gen\u00fcgt ein Minimum des Erregungsmittels um die lebhaftesten Bewegungen zu erzielen. \u2014\nDie Wahl der Erregungsmittel und des Orts seiner Applikation an demselben Nerven und demselben Thier erscheint ebenfalls von Bedeutung. Zu den Erfordernissen des Gelingens ist in diesem Sinne zu rechnen, die Anordnung eines dauernd wirkenden Erregungsmittels ; sehr kurz vor\u00fcbergehende Eingriffe auf die sensiblen Nerven erzielen keinen Erfolg, wo Anwendung von S\u00e4uren, Alkalien oder l\u00e4nger dauernde Einwirkung der elektrischen Inductionsstr\u00f6me ihn noch sichern. Dasselbe Erregungsmittel auf die Nerven in ihrer Verbreitung auf Hautfl\u00e4chen angewendet, ist wirksamer als auf den entsprechenden Nervenstamm, wenigstens bei Anwendung von Dr\u00fccken; bei Benutzung des Inductionsapparates erscheint dagegen der Unterschied zweifelhaft. Hierher geh\u00f6rt schliesslich auch die Thatsache, dass eine sehr verbreitete (z. B. ein kaltes Bad) oder eine sehr intensive (z. B. das Gl\u00fcheisen) Einwirkung in allen F\u00e4llen Reflexe erzielt. \u2014-","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Charakter der Reflexbewegung.\n141\nSehr bemerkenswerth ist der Einfluss, welchen die Schw\u00e4chung oder Vernichtung einer gewissen Hirnwirkung auf das R\u00fcckenmark bei dem Entstehen der Reflexbewegungen \u00fcbt. Man kann den .Werth desselben beim Versuch an Thiereil und durch Beobachtung des gesunden oder kranken Menschen ermessen; sehr h\u00e4ufig treten bei unverletzten Fr\u00f6schen auf Einwirkung entsprechender Erregung keine den reflectorischen auch nur entfernt \u00e4hnliche Bewegungen ein, w\u00e4hrend sie unfehlbar erscheinen, so wie man die Thiere dekapitirt; noch auffallender gestaltet sich dieses bei S\u00e4ugethieren ; so lange man sie nicht enthirnt oder ihr R\u00fcckenmark vom Hirn nicht getrennt; hat, geh\u00f6ren die Reflexbewegungen in den Extremit\u00e4ten zu den Seltenheiten, sie kommen dagegen nach den erw\u00e4hnten Operationen ganz regelm\u00e4ssig zum Vorschein, gerade so wie bei vollkommen selbstbewussten Menschen nur Reflexbewegungen in Theilen beobachtet werden, welche entweder normal oder abnorm ganz oder theilweise dem Willenseinfluss entzogen sind. \u2014 Eine Reihe von Thatsachen zeigt nun, dass es nicht das Hirn im Allgemeinen sondern nur beschr\u00e4nkte Region ist, welches diesen st\u00f6renden Einfluss auf die Reflexbewegungen \u00fcbt; schlafende, trunkene, ohnm\u00e4chtige Personen, bei denen noch eine betr\u00e4chtliche Zahl von Hirn-th\u00e4tigkeiten bestehen, sind nichts destoweniger im g\u00fcnstigsten Zustande des Reflexes, und eine Beobachtung an uns selbst lehrt, dass gewisse Reflexe nur nach langer Hebung der Willensst\u00e4rke niedergehalten werden k\u00f6nnen, und dass viele von ihnen, die wir in aufmerksamen und geisteskr\u00e4ftigen Augenblicken niederzuhalten im Stande sind, in Zust\u00e4nden geistiger Schw\u00e4che erscheinen.\nDer Charakter der Reflexbewegung ist insofern ein spezifischer, als dieselbe niemals in einer stetigen Muskelzusammenziehung besteht, welche die Erregungsdauer des sensiblen Nerven ununterbrochen begleitet. Im Gegentheil, mit dem Eintritt der Erregung oder kurze Zeit nach derselben beginnt ein wechselndes Spiel eintretender und nachlassender Muskelzusammenziehung, wenn sich die Bewegung nur auf einen oder mehrere ungef\u00e4hr gleichartig wirkende Muskeln erstreckt; dehnt sie sich auf alle Muskeln einer zu gewissen Funktionen zusammengeordneten Muskelgruppe aus, wie z. B. auf Athem-, Schling-, Geruch-, Gehmuskeln etc. so wechseln die Zusammenziehungen der einzelnen Bestandtheile derselben in regelm\u00e4ssiger Reihenfolge ab und gestalten sich r\u00e4umlich und zeitlich derartig, dass harmonische, nach einem gewissen Plane zusammengef\u00fcgte Bewegungen zu Stande kommen.\nDiese r\u00e4umliche und zeitliche Combination der Muskeln veranlasst sehr h\u00e4ufig Bewegungen, deren Effect in ganz bestimmter Beziehung zu dem einwirkenden Erregungsmittel steht, so d$ss das enthauptete Thier z. B, die mit S\u00e4ure getr\u00e4nkte Stelle mit Hinter- oder Vorderpfoten reibt, das dr\u00fcckende Instrument wegzustossen oder gar zu entfliehen etc. sucht. Die Bewegung nimmt mit andern Worten in diesen F\u00e4llen den Schein der Zweckm\u00e4ssigkeit, resp. der auf Empfindung folgenden willk\u00fcrlichen Selbstbestimmung an.\nDie besondere Form der Bewegung, d. h. die Zahl und Combination der in Bewegung gesetzten Muskeln wird durch die Oertliclikeit, Dauer, und Intensit\u00e4t der Erregung des sensiblen Nerven bestimmt. Auf eine weniger intensive Erregung einer bestimmten sensiblen Fl\u00e4che erfolgt mit maschinenm\u00e4ssiger Regelm\u00e4ssigkeit, vorausgesetzt dass normale Verh\u00e4ltnisse bestehen, eine ganz bestimmte Bewegung.","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nCharakter der Reflexbewegung.\nEs w\u00e4re von grossem Interesse die reflektorisch zusammengeh\u00f6rigen sensiblen und motorischen Nerven zu kennen ; leider sind die hierzu nothigen Arbeiten kaum begonnen. Man weiss nur, dass Erregung des unteren Theils der hintern Extremit\u00e4ten eine Spring- (Frosch, Kaninchen) oder Streckbewegung hervorruft; Erregung der Aftergegend das Einziehen des Schwanzes (Kaninchen, Hund) oder ein Strecken und R\u00fcckw\u00e4rtsschlagen der Oberschenkel (Frosch) ; das Betupfen der Bauchhaut mit S\u00e4ure ein Streichen des Unterschenkels gegen denselben (Frosch); das Kneipen der Achselgrube ein Anziehen der Oberextremit\u00e4t u. s. w. bedingt. Ferner, dass eine Erregung in sensiblen Nerven eine Muskelbewegung auf derselben K\u00f6rperh\u00e4lfte ausl\u00f6st, vorausgesezt, dass die Bewegungswerkzeuge paarig vorhanden sind. Aus diesen Erfahrungen kann wegen der Mannigfaltigkeit d\u00e7r in alle diese Parthieen dringenden Nerven gar kein Schluss auf die Zusammengeh\u00f6rigkeit gewisser sensibler und motorischer R\u00f6hren gemacht werden.\nWirkt dagegen die erregende Ursache dauernder oder mit gr\u00f6sserer Intensit\u00e4t ein, so kann wahrscheinlich von allen Theilen der \u00e4usseren Hautfl\u00e4chen eine Bewegung in allen Skeletmuskeln hervorgerufen werden, eine allgemeine Bewegung, die aber wahrscheinlich immer mit der Contraktion derjenigen Muskeln eingeleitet wird, welche in der n\u00e4chsten reflectorischen Beziehung zu den affizirten Hautstellen stehen. Den Beweiss, dass diese Erregung aller Skeletmuskeln von einem Hautst\u00fccke aus unmittelbar vermittelst des R\u00fcckenmarkes, und nicht etwa durch Erregung neuer Hautst\u00fccke vermittelst der eingeleiteten Bewegungen geschehen, liefert die Thatsache, dass von einem *Gliede dessen zugeh\u00f6rige sensible Fasern noch erhalten, dessen mo-totorische dagegen durchschnitten sind, Reflexbewegung in allen andern noch mit dem R\u00fcckenmark in Verbindung stehenden Skeletmuskeln hervorgerufen werden kann.\nWie erw\u00e4hnt gestalten sich die zeitlichen Beziehungen der Erregung des motorischen zu der des sensiblen Nerven mannigfach. Bald treten gleichzeitig mit der Erregung des sensiblen Nerven, bald sp\u00e4ter als diese die Bewegungen auf, bald enden sie mit der sensiblen Erregung, bald \u00fcberdauern sie dieselbe betr\u00e4chtlich. Es darf wahrscheinlich als Regel aufgestellt werden, dass die vom R\u00fcckenmark ausgehenden reflektorischen Effekte um so intensiver und von der Gr\u00f6sse des Eingriffs auf den sensiblen Nerven um so unabh\u00e4ngiger ausfallen, je h\u00f6her die Erregbarkeit des R\u00fcckenmarks steht.\nIm Fr\u00fchjahr und Herbst und namentMck nach Vergiftung mit Strychnin k\u00f6nnen durch sehr unbetr\u00e4chtliche und vor\u00fcbergehende Eingriffe sehr andauernde Reflexbewegungen ausgel\u00f6st werden.\nEine Theorie der Reflexbewegung, selbst in den allgemeinsten Umrissen gehalten, l\u00e4sst sich nicht geben ; mit andern Worten, es l\u00e4sst sich nicht nachweisen, warum die in Erregung versetzten Nervenr\u00f6hren gewisser Abtheilungen des R\u00fcckenmarks unter Umst\u00e4nden gerade in der bezeichneten Weise auf eine beschr\u00e4nkte Zahl R\u00f6hren eines andern Theils wirken muss.","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Reflexbewegung. R\u00f6hrencommumkation.\t143\nFolgende mit der Theorie der Reflexbewegung in Verbindung stehende Fragen hat man aufgeworfen, und zu l\u00f6sen versucht. \u2014\na) Wirken im R\u00fcckenmark die innerhalb des Nervenmarks ausser Gleichgewicht gesetzten Kr\u00e4fte \u00fcber die Scheide hinaus und welche Bedingungen veranlassen diese Fernwirkung der Nervenkr\u00e4fte im R\u00fcckenmark? \u2014 Bevor es bekannt -war, dass die in den Nervenr\u00f6hren entwickelten Kr\u00e4fte eine Wirkung nach aussen \u00fcben konnten, vermittelst deren sie anliegende R\u00f6hren in Erregung zu setzen im Stande waren, suchte man die Meinung zu behaupten, dass die Reflexe von R\u00f6hren-communikationen eines besonderen dem Willen nicht unterworfenen Systems (excito-motorischen) abh\u00e4ngig seien; das R\u00fcckenmark sollte nach dieser Hypothese bestehen aus willk\u00fcrlich motorischen und empfindungerzeugenden Fasern, deren centrale Enden im Hirn gesucht werden m\u00fcssen, und ausserdem aus Fasern, welche gewisse Eindr\u00fccke in das R\u00fcckenmark f\u00fchren (excitores), die in andere bewegungserzeugenden (motores) unmittelbar \u00fcbergehen. Diese Hypothese ist als vollkommen verfehlt anzusehen, wreil nach ihr jede empfindende Fl\u00e4che mit jedem Skeletmuskel durch Ner-venkommunikatiou in Verbindung stehen m\u00fcsste; eine solche Complikation der Nervenr\u00f6hren ist nicht nachgewiesen; ja sie kann geradezu als nicht vorhanden angesehen w erden, weil keine motorische Nervenr\u00f6hre beobachtet sind, wrelche von einer unteren Stelle des R\u00fcckenmarks aufw\u00e4rts gegen h\u00f6her gelegene Muskeln steigen, obgleich in diesem Sinne die Reflexbewegungen sehr leicht erregt werden k\u00f6nnen. Hiernach ist es nicht n\u00f6thig noch darauf aufmerksam zu machen, dass diese Hypothese es geradezu unm\u00f6glich macht zu erl\u00e4utern, warum unter dem Willenseinfluss die Reflexe nicht erfolgen, warum eine stetige sensible Erregung eine variable motorische bewerkstelligt und endlich -warum auf eine beschr\u00e4nkte Erregung nicht jedesmal, sondern nur unter ganz gewissen Bedingungen eine allgemeine Bewegung erfolgt.\nDiese soeben er\u00f6rterte Annahme wird man um so bereitwilliger aufgeben, seitdem thats\u00e4cblicli erwiesen ist, dass die Nervenkr\u00e4fte in gewissen Zust\u00e4nden der Erregung, wie z. B. bei der dipolaren Anordnung der elektromotorischen Molekeln \u00fcber die Scheide hinaus erregend auf nebenliegende R\u00f6hren zu wirken im Stande sind, und somit werden wir geneigt sein die Behauptung aufzustellen, dass die Nervenkr\u00e4fte der R\u00fcckenmarksr\u00f6hre \u00fcber ihre Scheide hinaus auf andere erregend zu wirken imstande sind. Die Bedingungen nun aber, welche vorzugsweise in den R\u00fcckenmarksr\u00f6hren vorhanden sind, um das h\u00e4ufige Erscheinen dieser Wirkung selbst unter Umst\u00e4nden zu erzielen, unter denen sie in andern Nervenr\u00f6hren nicht erscheinen, kann nicht angegeben werden.\nBegreiflich fehlt es aber nicht an Erkl\u00e4rungsversuchen; zu ihnen z\u00e4hlen : das Nervenmark soll in den Spinalr\u00f6hren erregbarer sein; die d\u00fcnne Scheide soll der Gegenwirkung geringeren Widerstand entgegensetzen; die Ganglienk\u00f6rper sollen die Vermittler der Erregungs\u00fcbertragung sein; die Nervenr\u00f6hren seien eigenth\u00fcmlich zueinander gelagert u. s, w. Diese Annahmen bed\u00fcrfen keiner Widerlegung, so lange man, wie bisher keinen Versuch gemacht hat, sie zu beweisen. Will man den Werth dieser Angaben hoch anschlagen, so sind sie als Ausgangspunkte neuer Untersuchungen anzusehen. \u2014\nb) Wovon h\u00e4ngt es ab, dass der Erregung jedes besondern sensiblen Nerven einer ganz bestimmten Bewegung entspricht, und warum ist diese Bewegung immer eine geordnete? Indem man den Reflex als ein Leitungsph\u00e4nomen auffasst, findet man es nat\u00fcrlich, dass die Erregung einer sensiblen R\u00f6hre sich zuerst auf seine Nachbarn und von da ab auch auf entfernter liegende Nerven erstreckt, je nach der Intensit\u00e4t, die die Erregung zuerst besass. Wie und wo die-","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nGril pp iron g der Nervenr\u00d6hren.\nses Weiterschreiten geschieht, ist nun freilich vollkommen unklar; deutlich ist nur, dass bei dieser Annahme es sich allerdings erl\u00e4utert, wie von bestimmten sensiblen Orten aus immer dieselben Muskeln in Anregung gesetzt werden, wie jedem sensiblen Nerven ferner ein bestimmter motorischer reflectorisch entspricht und endlich wie ein sensibler Nerv je nach der Intensit\u00e4t der in ihm vorhandenen Erregung sehr vielfache motorische zu erregen vermag, aber warum auch diese Erregung immer nach einer gewissen Reihenfolge von Muskel zu Muskeln \u00fcbergeht. \u2014 Um die harmonische Zusammenf\u00fcgung der Muskeln, ihr Zusammengreifen zu bestimmten Bewegungen in Folge der Reflexe zu erl\u00e4utern, setzt man voraus, es sei dieser letztere nur m\u00f6glich an Orten, in denen die den einzelnen Muskeln entsprechenden Nerven, in einer gewissen Ordnung zusammengefasst seien, indem man sich den motorischen Theil des R\u00fcckenmarks vorstellt als eine sehr vielfache Yerschlingung von R\u00f6hren, deren Knotenpunkte in passender Art auf die sensiblen aufgereiht sind. Diese scheinbar sehr annehmbare und zugleich biegsame Hypothese empf\u00e4ngt aber einen schweren Stoss durch die Erscheinung, dass sich eine dauernde sensible in eine variable motorische Erregung umsetzt, und noch mehr dass die motorische Erregung so h\u00e4ufig die sensible \u00fcberdauert. Diese Thatsachen zeigen, dass von einer einfachen Leitung, einer Uebertragung der Kr\u00e4fte nicht die Rede sein kann, sondern dass offenbar noch durch irgend welche Zwischenglieder die Erregung von den sensiblen auf die motorischen Nerven \u00fcbertragen wird. Geister, die der Mystik zugewendet sind, haben auch sogleich als Zwischenglied eine besondere R\u00fcckenmarksseele angenommen, die denn freilich etwas ganz anderes sein m\u00fcsste, als die denkende und bewusste Hirnseele, da durch deren Dazwischentreten gerade die Reflexe gehemmt statt beg\u00fcnstigt werden.\nc) R\u00fccksichtlich des Einflusses der Seelenth\u00e4tigkeiten auf die reflektorischen Apparate ist es vielleicht von Wichtigkeit sich zu erinnern, dass bei einer nachl\u00e4ssigen Haltung des Geistes Empfindung und Reflexbewegung von einer und derselben beschr\u00e4nkt wirkenden Erregung (z. B. einem Nadelstich) veranlasst werden ; hieraus scheint fast gefolgert werden zu k\u00f6nnen, dass die willk\u00fcrliche Reflexhemmung nicht geschieht, weil durch gewisse Seelenvorg\u00e4nge die Leitung der Erregung nach der L\u00e4nge der sensiblen R\u00f6hren beg\u00fcnstigt wird, und somit die nach jeder andern Seite geschw\u00e4cht, sondern vielmehr dadurch, dass der \u00fcbertragende oder der angestossene Apparat, d. h. die Zwischenglieder zwischen sensiblen und motorischen R\u00f6hren oder diese letztem selbst, durch die Aufmerksamkeit mit einem gewissen Widerstandsverm\u00f6gen ausger\u00fcstet werden.\nDie Bedeutung, welche die Reflexerregung f\u00fcr den Organismus gewinnt, zeigt sich darin, dass durch dieselbe unabh\u00e4ngig vom","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Mitbewegung\n143\nWillen und dem Bewusstsein eine grosse Zahl sehr wohlberechneter Bewegungen ausgef\u00fchrt werden, deren regelm\u00e4ssige Wiederkehr f\u00fcr die normale Funktion vieler wichtiger Organe unumg\u00e4nglich nothwen-dig ist; und dann darin, dass die stetigen Erregungen sensibler Nerven, welche nicht alle gleichzeitig von der Seele aufgenommen werden\nk\u00f6nnen, schon im R\u00fcckenmark innerhalb der motorischen Parthieen\n\\\nstetige Spannungen und Erregungen herbeif\u00fchren. \u2014\nUnter die Bewegungen, welche in Folge der Reflexe am Rumpf sehr regelm\u00e4ssig ausgef\u00fchrt werden, z\u00e4hlt man: Athembewegung, Husten, Koth- und Harnentleerung; bei der eigenthiimlichen Stellung der Seele zum Organismus, verm\u00f6ge deren sie in langen Zeitr\u00e4umen \u00fcberhaupt nicht auf Bewegungsorgane wirkt (wie im Schlaf) oder nach welcher sie, wenn sie in wirksamer Beziehung zum Organismus steht, nur ein Bewegungsorgan gleichzeitig anzuregen im Stande ist, w\u00fcrden ohne H\u00fclfe der Reflexe die Athembewegungen u. s. w. die betr\u00e4chtlichsten St\u00f6rungen erleiden, oder die Seele zum blossen Diener vegetativer Prozesse herabsinken. Noch mehr: es w\u00fcrde wahrscheinlich das Leben des Neugeborenen (vorausgesetzt, dass die thierische Organisation sich in den uns bekannten Schranken bewegte) in der gr\u00f6ssten Gefahr schweben, wenn er die complizirten Muskelfunktionen, die wir erw\u00e4hnten, erst m\u00fchsam erlernen m\u00fcsste. \u2014\nWie wichtig fernerhin die stetigen in das R\u00fcckenmark eindringenden Erregungen f\u00fcr das sichere Erscheinen selbst willk\u00fcrlicher Muskelfunktionen sind, geht daraus hervor, dass das Gehen z. B. ausserordentlich beeintr\u00e4chtigt wird, wenn die hintern Str\u00e4nge des R\u00fcckenmarks in ausgebreiteter Weise leiden. Obgleich dann alle Gehbewegungen noch willk\u00fcrlich ansgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, so erh\u00e4lt doch der Gang etwas unsicheres und schwankendes. Man hat somit nicht ohne Schein der Wahrheit die Vermuthung ausgesprochen, dass zur Erhaltung des Gleichgewichtes unseres Rumpfes die grossen Mengen sensibler Fasern, die sich in der Fusssohle verbreiten von Einfluss seien.\nB. Mittheilung der Erregung von motorischen R\u00f6hren auf motorische. Mi tb e w e g u n g *). Nach einer verbreiteten Annahme sollen auch die in einem motorischen Nervenrohr des R\u00fcckenmarks erweckten Erregungen auf die nebenliegenden motorischen \u00fcbertreten k\u00f6nnen, mit andern Worten, es soll auch Ouerleitung bestehen zwischen den Elementen der Yorderstr\u00e4nge des R\u00fcckenmarks. Eine sorgf\u00e4ltige Zergliederung der Thatsachen f\u00fchrt aber keineswegs zu der Ueberzeu-gung, dass diese Art der Erregungsmittheilung besteht. \u2014- Man z\u00e4hlt zu den die Mitbewegung beweisenden, resp. sie widerlegenden Thatsachen, folgende : 1. Neben einer vom Willen beabsichtigten Bewegung tritt eine andere nicht beabsichtigte in willk\u00fcrlich beweglichen Muskeln auf, z. B. einer beabsichtigten Bewegung eines Fingers folgt gleichzeitig die mehrerer anderer u. s. w. Man hat l\u00e4ngst versucht diese Art von Mitbewegung aus einer Ungeschicklichkeit der Seele zu erkl\u00e4ren, in Folge deren sie vollkommen oder nahebei gleichzeitig neben den wirklich beabsichtigten auch noch andere nicht beabsichtigte Bewegungen einleitet. Der Werth dieser letztem Erkl\u00e4rung ist um so\n*) M\u00fcller 1. c. I. p. 587 u. II. 85. Henle ration. Pathol. I. 205 \u00fc. f. Ludwig, Physiologie I.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nMitbewegung.\neinleuchtender, als es in der That durch Hebung gelingt, Bewegungen, die der Wille fr\u00fcher immer gemeinsam ausf\u00fchrte, voneinander zu sondern. 2. An das Eintreten einer unwillk\u00fcrlichen Bewegung kn\u00fcpft sich h\u00e4ufig eine andere unwillk\u00fcrliche, ohne dass es gel\u00e4nge nachzuweisen, es habe auf beide bewegte Theile gleichzeitig eine gesonderte Erregungsursache gewirkt. Diese Erscheinung beobachtet man namentlich \u00f6fter bei Hemiplegischen, d. h. bei solchen Individuen, deren eine K\u00f6rperh\u00e4lfte durch Bluterg\u00fcsse in das Hirn dem Willenseinfluss entzogen ist; bei diesen Kranken begleitet \u00f6fter das G\u00e4hnen, Niessen, Husten die Bewegung eines Beins oder Arms an der dem Willen nicht mehr untergebenen Seite. Begreiflich w\u00fcrden diese That Sachen aber nur dann f\u00fcr Mitbewegung sprechen, wenn man dar\u00ab zuthun verm\u00f6chte, dass die das G\u00e4hnen u. s. w. veranlassende Ursache nur auf den motorischen Nerven des Kiefers u. s. w. wirkte; denn verbreitet sich die Erregung auch in sensible Nerven, so ist es erlaubt den vorliegenden Fall auch unter die Reflexe zu suhsummiren, umsomehr als Glieder, die dem Seeleneinfluss nicht mehr gehorchen, zu Reflexen geneigt sind. 3. Anscheinend viel beweisender sind die F\u00e4lle, wo auf eine vom Willen ausgehende Bewegung auch andere normal oder abnorm unwillk\u00fcrlich bewegliche Muskeln in Th\u00e4tigkeit kommen. So erscheinen z. B. bei Hemiplegischen in Folge von willk\u00fcrlichen Bewegungen der nicht gel\u00e4hmten Glieder gleichzeitig Bewegungen in der gel\u00e4hmten, dem Willen vollkommen entzogenen K\u00f6rperh\u00e4lfte. Einige den erw\u00e4hnten sehr analogen Beobachtungen aus dem normalen Leben werden wir bei der Betrachtung der Hirnfunktionen noch vorf\u00fchren. \u2014 An diese Beobachtungen schliessen sich dann noch mehrere (weniger zuverl\u00e4ssige?) Ergebnisse der Versuche beim S\u00e4ugethier an; in diesen werden, nachdem die Durchschneidung einer seitk R\u00fcckenmarksh\u00e4lfte in ihren obern an das verl\u00e4ngerte Mark grenzenden Theilen eine L\u00e4hmung der entsprechenden K\u00f6rperh\u00e4lfte herbeigef\u00fchrt hatte, die Glieder der gel\u00e4hmtenSeite bei energischen Bewegungen der entsprechenden Abtheilungen der anderen nicht gel\u00e4hmten H\u00e4lfte mitbewegt. Diese letzteren Thatsachen w\u00fcrden unzweifelhaft das Gesetz der Mitbewegung im oben ausgesprochenen Sinne beweisen, wenn unsere Vorstellungen vom Gang der durch die Willenseinfl\u00fcsse herbeigef\u00fchrten Erregungen zweifellos festst\u00e4nden, und wenn wir den nur einseitigen Verlauf der Bewegungsfasern durch das R\u00fcckenmark des S\u00e4ugethiers mit derselben Bestimmtheit behaupten k\u00f6nnten wie wir ihn beim Frosch zu verneinen verm\u00f6gen. Wer gibt uns die Gewissheit, dass der Willen ohne alle Zwischenorgane die Enden der motorischen Primitivr\u00f6hren anregt ? und wenn in der That solche Zwischenorgane vorhanden, wie \u00e4ndern sie sich bei sog. einseitigen L\u00e4hmungen ? Man w\u00fcrde aber diese scheinbar zur Seite liegenden Fragen nicht aufwerfen, wenn nicht 4. durch eine \u00fcberwiegende Zahl von Beobachtungen","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Mitempfindung.\ngerade Erscheinungen zu Tage gefordert worden w\u00e4ren, die sich mit der Theorie der Mitbewegungen in Folge sog. Querleitung in keiner Weise vereinigen lassen. Zu diesen z\u00e4hlen wir dass nach einseitigen Durchschneidungen des R\u00fcckenmarks in sehr zahlreichen F\u00e4llen bei S\u00e4ugethieren keine Mitbewegungen in Folge des Willenseinflusses beobachtet sind, und dass nach vorsichtiger Erregung eines Yorder-strangs auf seinem Querschnitt nur eine Bewegung in den zum erregten Strang geh\u00f6rigen, und noch von ihm abw\u00e4rts versorgten Muskeln eintritt. \u2014 Der Erfolg dieses letzten Versuchs und zwar namentlich die Abwesenheit der Bewegung in den Gliedmassen der nicht direct erregten H\u00e4lfte, in Verbindung mit der Thatsache, dass an solchen St\u00fcmpfen noch mit Leichtigkeit eine nach allen Seiten hin sich verbreitende Reflexerregung von den hintern Str\u00e4ngen hervorgerufen werden kann, macht es einleuchtend, dass wenn (was noch zu bestreiten ist) in der That eine sog. Mitbewegung stattfindet, diese auf ganz andern Bedingungen beruhen muss, als die Reflexerregung, mit andern Worten, dass sie einen von diesen verschiedenen Prozess vorstellL \u2014\nC. Uebertragung der Erregung von sensiblen auf sensible Nerven. Mit e mp fin du ng. \u2014 Man hat fernerhin auch der Vorstellung gehuldigt, dass eine in die hintern Str\u00e4nge eintretende partielle Erregung sich auf andere urspr\u00fcnglich nicht erregte sensible Theile auszubreiten verm\u00f6ge und dadurch die Erscheinung der Mitempfindung veranlasse. Es kann nicht geleugnet werden, dass ziemlich constant mit Erregung gewisser Hautstellen auch Empfindungen in nicht erregten sensiblen Regionen auftreten ; ob diese aber durch einfache Uebertragung der Erregung zwischen den constituirenden Bestandtheilen der hintern Str\u00e4nge entsteht oder auf einem complicirteren Wege, ist aus den Beobachtungen nicht ersichtlich, ja meistens nicht einmal wahrscheinlich.\nOffenbar muss von den Beweismitteln f\u00fcr Mitempfindung die ganze Reihe von Erscheinungen ausgeschieden werden, bei welchen die sog. Mitempfindung in sensiblen Fl\u00e4chen auftritt, die gleichzeitig mit einem Muskelapparat, dessen Bewegung selbst Empfindungen anregt, versehen sind; denn wenn nach einer sanften Ber\u00fchrung der Nackenhaut eine eigenth\u00fcmliche Empfindung \u00fcber die Haut des R\u00fcckens, der Schulter und der unteren Extremit\u00e4ten eingeleitet wird, so kann diess sich als eine Folge von einer reflektorischen Bewegung der Muskeln in den Dr\u00fcsen und Haarb\u00e4lgen (die sog. G\u00e4nsehaut) darstellen; ebenso die Empfindung des Hustenreizes, resp. der Husten selbst, Welcher bei Ber\u00fchrung der Verzweigungen des ram. auric, vagi eintritt ii.s. w. \u2014 Scheidet man diese Beobachtungen aus, so bleiben nur einzelne Thatsa-clien \u00fcbrig, die zudem nicht einmal von allen gesunden Menschen empfunden werden; hierher geh\u00f6ren z. B. Schmerzen in der Schulter bei Gegenwart schmerzhafter Bl\u00e4hungen im Darmkanal, Erscheinungen, die so complizirter Natur zu sein scheinen, dass es mindestens sehr gewagt ist, aus ihnen den bezeichneten Schluss zu ziehen. Die Beobachtungen, welche man am Krankenbette als sog. Beweisse f\u00fcr die Mitempfindung gefunden zu haben glaubt, sind noch problematischer. Dahin geh\u00f6ren vorzugsweise die Ausbreitungen schmerzhafter Empfindungen nach schweren Verletzungen und Neuralgien; Zust\u00e4nde, bei denen man trotz naheliegender Aufforderungen nicht einmal den Versuch gemacht nach andern Ursachen der Schmerzensausbreitung zu\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"Reflexempfindung.\nsuchen. H\u00e4lt man solchen vagen Thatsachen die Erscheinung gegen\u00fcber, dass jeder gesunde Mensch in tausend unbeobachteten zum Entstehen der Reflexbewegungen geschickten Augenblicken eine eindringende Erregung nur ganz \u00f6rtlich f\u00fchlt, dass also in den der Ouerleitung g\u00fcnstigen Zust\u00e4nden des R\u00fcckenmarks die Mitempfindungen dennoch nicht auf treten, so m\u00f6chte man sehr geneigt sein, diese Lehre in der bezeichneten Form ganz abzuweisen.\nD. Ueb ertragung der Erregung von motorischen auf sensible R\u00f6hren. Reflexempfindung. *) Mit dem Namen der Reflexempfindung f\u00fchrte man endlich noch eine vierte Art Ouerleitung in die Wissenschaft ein; nach dieser Hypothese sollen auch die motorischen R\u00fcckenmarksr\u00f6hren ihre Erregungszust\u00e4nde auf die sensiblen Fasern \u00fcbertragen; mit andern Worten bei der Reflexempfindung soll die Mittheilung der Erregung zwischen den R\u00f6hrenelementen des R\u00fcckenmarks auf demselben Wege aber in umgekehrter Richtung m\u00f6glich sein, auf dem sie bei der Reflexbewegung geschieht. Der Beweis ihres Bestehens ist abgesehen von allen andern Folgen schon des Mechanismus der Reflexbewegung wegen von ausserordentlicher Wichtigkeit. Er ist in der That aber so wenig gef\u00fchrt, dass selbst die Anh\u00e4nger der Hypothese von Mitempfindung und Mitbewegung sich gegen die Annahme einer Reflexempfindung aussprechen.\nDie Thatsachen, aus welchen man die Reflexempfindung erschloss, sind. a. Nach Durchschneidung der Sehne eines Jahre lang verk\u00fcrzten Muskels entsteht das eigen -th\u00fcmliche Gef\u00fchl eingeschlafener Glieder, obwohl durch die Operation kein Nerv verletzt wurde. Man interpretirt dieses Gef\u00fchl des Eingeschlafenseins dahin, dass der Nerv des dauernd contrahirten Muskels seine Erregung im R\u00fcckenmark auf die sensiblen Nerven \u00fcbertragen habe, im Moment der Durchschneidung der Sehne werde nun zugleich der motorische Nerv aus dem Zustand der Erregung in den der Abspannung versetzt und damit auch die Reflexerregung des sensiblen Nerven aufgehoben. Diese Erscheinung, welche nicht constant beobachtet wurde, erl\u00e4utert sich mindestens ebenso einfach dadurch, dass die Nerven eines Gliedes, das nach Durchschneidung der verk\u00fcrzten Sehne in eine andere Lage gebracht wird, einer Zerrung unterworfen oder aus einer bisher vorhandenen gezerrten Stellung wieder befreit werden. Gesetzt aber, es sei auch diese Erkl\u00e4rung f\u00fcr die Erscheinung unbrauchbar, so m\u00fcsste, ehe die obige gelten sollte, erst noch gezeigt werden, dass ein Muskel, resp. ein Nerv sich Jahre lang im Zustand der Erregung befinden kann, ohne zu erm\u00fcden ; ferner dass die Durchschneiduug seiner Sehne den Muskel unf\u00e4hig zur Con-traktion macht, obgleich ausserhalb des Organismus ein Muskel noch in Bewegung versetzt werden kann und Muskeln der Amputationsst\u00fcmpfe sich weit zur\u00fcckziehen oder erschlaffen, je nach Umst\u00e4nden ; und endlich, dass wenn ein Muskel unf\u00e4hig zur Con-traktion sei, in seinen zugeh\u00f6rigen Nerven kein Erregungszustand mehr bestehen k\u00f6nne u. s. f. \u2014 b. Bei Verkr\u00fcmmungen der Glieder in Folge von Muskelverk\u00fcrzungen findet sich h\u00e4ufig ein heftiger Schmerz an einem Theile des verkr\u00fcmmten Gliedes, ohne dass der diesen Theil versorgende sensible Nerv gedr\u00fcckt ist (?). Nach Durchschneidung der Sehne des verk\u00fcrzten Muskels hebt sich der Schmerz. Nach der eben gegebenen Auseinandersetzung bedarf diese Thatsache keiner weiteren Beleuchtung \u2014 c. Man bringt ferner das Gef\u00fchl der Anstrengung, welches w\u00e4hrend\nD Strom ey er de combinatione actionis nervorum et motoriomm et sensoriorum. Erl. 1839.\u2014 Valentin, Lehrbuch der Physiologie. II. b. 492.\u2014 Volkmann, Nervenphysiologie Wagners Handw\u00f6rt. 11. B. 530. \u2014 Heule, rationelle Pathologie 1. c.","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Grtippirimg der N er veil r\u00f6hren im R\u00fcckenmark,\n149\noder nach einer kr\u00e4ftigen Muskelwirkimg beobachtet wird, in Verbindung mit unserer Hypothese; da es nun aber feststeht, dass in die Muskeln sensible Nervenfasern eingehen, so ist es mindestens wahrscheinlicher, dass das Gef\u00fchl von ihnen abh\u00e4ngig sei, um so mehr, als sich beim Beginn der Muskelkontraktion die Empfindung nur \u00fcber den verk\u00fcrzten Muskel erstreckt und erst sp\u00e4ter, vielleicht in Folge einer Ver\u00e4nderung des Blutlaufes oder der Spannungen und Dr\u00fccke auf den anliegenden Nerven oder dergl. andere Gef\u00fchle hinzutreten.\nGegen diese wenigen und noch dazu so wenig beweisenden Thatsachen erhebt sich nun aber die allbekannte Erfahrung, dass wir tausendmal Bewegungen bei unvollkommener Selbstbeherrschung ausf\u00fchren, ohne die geringste sie begleitende Empfindung. Wer m\u00f6chte es da noch \u00fcber sich nehmen, die Hypothese von den Reflexempfindungen zu vertheidigen?\nGesetzt aber, es bestehe auch der Vorgang der Reflexempfindung, so w\u00fcrde ihr Auftreten doch jedenfalls zu den Seltenheiten geh\u00f6ren, und darum sich mindestens der Ausspruch rechtfertigen, dass die Erregungsmittheilung zwischen denselben R\u00f6hren nach einer Richtung (von hinten nach vorn) viel leichter geschehe, als nach der andern (von vorn nach hinten). Diese Erscheinung macht uns mehr als Alles darauf aufmerksam, dass die Ouerleitungserscheinungen nicht aus allgemeinen Eigenschaften der Nervenr\u00f6hren, sondern aus besonderen Veranstaltungen z. B. ihrer Lagerung u. s. f. abzuleiten seien.\nDiese besondern Einrichtungen m\u00fcssten in reichlichem Maasse vorhanden sein, wenn sich die anatomische Beobachtung feststellen w\u00fcrde, dass ein intermedi\u00e4res System von R\u00f6hren best\u00fcnde, welches die innerhalb des R\u00fcckenmarks in ihrer Continuit\u00e4t unterbrochenen sensiblen und willk\u00fcrlich bewegenden Nervenwurzeln mit dem Hirn verbindet ; damit w\u00fcrde zugleich die Nothwendigkeit der Annahme gesetzt, dass die Verbindungsstellen intermedi\u00e4rer- und Wurzelr\u00f6hren eine Einrichtung bes\u00e4ssen, wonach nicht allein eine gegenseitige Mittheilung der Erregungszust\u00e4nde m\u00f6glich w\u00e4re, sondern wodurch es auch bewirkt w\u00fcrde, dass die zwischen beiden Systemen stattfindenden Beziehungen r\u00e4umlich begrenzt w\u00fcrden. Mit andern Worten, es m\u00fcsste die von einzelnen Wurzelr\u00f6hren in das R\u00fcckenmark getragene Erregung nur auf einzelne und zwar ganz bestimmte intermedi\u00e4re R\u00f6hren und umgekehrt \u00fcbergehen, weil sonst die in gewissen Grenzen isolirte Willens- und Empfindungserregung nicht m\u00f6glich w\u00e4re. \u2014 Eine solche Anordnung w\u00fcrde schon nach unsern gegenw\u00e4rtigen Einsichten keine un\u00fcbersteigliche Schwierigkeit haben; es fehlt uns aber vorerst noch jede Art des Nachweises derselben.\n4. Besondere Gruppirung der Nervenr\u00f6hren im R\u00fck-kenmark *). Die motorischen Fasern des R\u00fcckenmarks sollen sowohl unter sich als mit den sensiblen R\u00f6hren zu mannigfaltigen Gruppen geordnet sein, der Art, dass bei Erregung einer oder\n*) K\u00fcrschner in der Uebersetzung von Marshall Hall\u2019s Abhandlung \u00fcber Reflexbewegung. Marburg 1840.\u2014 /olkmann, Artikel Nervenphysiologie. \u2014 Todd and Bowmaun, physiologie and physiological anatomy I. 320 u. f.","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nEigenth\u00fcmliche Erregbarkeit\ndes R\u00fcckenmarks.\nmehrerer in eine solche Gruppe eintretender R\u00f6hren, alle andere zugeh\u00f6rige in Erregung gerathen. Man erschliesst diese Construction der motorischen Abtheilungen des R\u00fcckenmarks aus den Bewegungen, welche nach Reflexerregung und directer Erregung der vorderen Str\u00e4nge auftreten, indem hier nach beschr\u00e4nkten prim\u00e4ren Erregungen verbreitete und geordnete Bewegungen hervortreten, und sucht Unter-\nst\u00fctzungsmittel f\u00fcr diese Hypothese aus den bis jetzt vorliegenden anatomischen Untersuchungen des R. M. (?). \u2014 Ueber die besondere\nVerbindung der einzelnen Glieder zu Gruppen ist nichts bekannt.\n5. Eigenth\u00fcmliche Erregbarkeit des R\u00fcckenmarks. Im Allgemeinen stimmen die Erregbarkeitserscheinungen, welche die Elementartheile des R\u00fcckenmarkes darbieten, sehr \u00fcberein mit denjenigen, welche wir als den Nervenr\u00f6hren eigenth\u00fcmlich beschrieben haben; dennoch weichen sie in einigen Puncten immerhin so betr\u00e4chtlich von einander ab, dass man auf eine besondere Anordnung der kleinsten Theilchen in den anatomischen Elementen des\nR\u00fcckenmarks schliessen darf,\nA. Gewisse Umst\u00e4nde verm\u00f6gen die nerv\u00f6sen Elementartheile und namentlich die Nervenr\u00f6hren des R\u00fcckenmarks noch in Erregung zu versetzen, welche sich gegen die in den Nerven (ausserhalb des R\u00fcckenmarks ) enthaltenen Elementartheile unwirksam erweisen.\na. Strychninkr\u00e4mpfe*). Durchtr\u00e4nkt man das lebende mit seinen peripherischen Theilen (Nerven und Muskeln) in Verbindung ste-- he tide R\u00fcckenmark mit einer L\u00f6sung von Strychnin oder Strychninsalzen, so gerathen mit dem Beginne der Einverleibung s\u00e4mmtliche Rumpfund Gliedermuskeln in gleichzeitige und gleichstarke Zusammenziehungen. Tonischer Krampf. F\u00fcr die Stellung, die ein Glied unter diesen Voraussetzungen einnimmt, folgt begreiflich, dass sie jedesmal diejenige ist, welche ihm die an Kraft \u00fcberwiegenden Muskeln zu geben veim\u00f6gen, so dass z. B. wenn die Strecker eines Gliedes kr\u00e4ftiger sind als die Beuger, dieses in dem Krampfanfall gestreckt wird, eine Streckung, die sich aber sogleich in eine Beugung umwandelt, wenn man die Sehnen des Extensoren durchschneidet. Diese Kr\u00e4mpfe lassen nun aber w\u00e4hrend der fortschreitenden Vergiftung nach, um sich nach einei gewissen Zeit von neuem einzustellen. Alles andere gleichgesetzt ist aber die Dauer der Anf\u00e4lle im AVachsen begriffen mit dei* St\u00e4rke der Vergiftung, w\u00e4hrend umgekehrt die Dauer der zwischen den Anf\u00e4llen liegenden Zeit mit ihr abnimmt; mit andern Wollen, bei steigender Vergiftung kehren heftigere und anhaltendere Anf\u00e4lle in kurz aufeinander folgenden Zeiten wieder, bis in einem derselben der Tod erfoM.\nStannius, M\u00f6llers Archiv 1837 u. 1852. \u2014 Stilling, Untersuchungen \u00fcber die Funktion des R\u00fcckenmarks. \u2014 Yalentin, Lehrbuch der Physiologie. 2. Auf. II. Bd. 6. \u2014 H. Meyer, Ueber die Natur des durch Strychnin erzeugten Tetanus. Henle u. Pfeufer Bd. V. 257, \u2014","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"151\nEigenlh\u00fcmliehe Erregbarkeit des R\u00fcckenmarks.\nDer Beweis daf\u00fcr, dass das Gift nur mittelst des R\u00fcckenmarkes den tonischen Krampf hervorruft, liegt einfach darin, dass man wohl durch \u00f6rtliche Anwendung auf das R\u00fcckenmark eines Thieres (dessen Blutlauf durch das Ausschneiden des Herzens unterbrochen ist) die Kr\u00e4mpfe erwecken kann, niemals aber durch Eintauchen des Nerven in die Giftl\u00f6sung, und ferner, dass niemals die Glieder eines sonst unversehrten vergifteten Thieres in den Krampf gerathen, deren motorische Nerven vom R\u00fcckenmark getrennt sind*\nEs erhebt sich aber nun die Frage, auf welchen Theil das Gift vorzugsweise seine Wirkung \u00fcbt, oh auf motorische, ob auf sensible Nerven, oder auf den beide zur Reflexbewegung verkn\u00fcpfenden hypothetischen Apparat z.B. die Ganglienk\u00f6rper. Hier kann nach S tannius und Meyer mit Sicherheit behauptet werden, dass das Gift nicht unmittelbar als Erreger der motorischen Nerven wirke, sondern die Kr\u00e4mpfe durch Steigerung des reflectorischen Verm\u00f6gens erzeuge, denn 1. Alles andere gleichgesetzt, treten die Kr\u00e4mpfe um so seltener hervor, d. h. das Thier stirbt, ohne in auffallende Kr\u00e4mpfe zu gerathen, ab, je weniger es w\u00e4hrend der Vergiftung Einfl\u00fcssen ausgesetzt war, welche Reflexbewegung erzeugen. Demnach werden die Kr\u00e4mpfe vermindert, nach Durchschneidung aller sensiblen Nervenwurzeln und umgekehrt vermehrt, resp. jedesmal hervorgerufen, wenn man die Haut des ver- * gifteten, aber sonst unversehrten Thieres kneipt oder anderweitig erregt. 2. Das reflektorische Verm\u00f6gen des Thieres in der Vergiftung ist ausserordentlich gesteigert, indem schon nach den sanftesten Ber\u00fchrungen die heftigsten und allgemeinsten Zusammenziehungen ein-treten. 3. Die Beziehung zwischen Strychninvergiftung und reflektorischen Verm\u00f6gen macht sich auch dadurch geltend, dass hei ersterer die normalen Formen der Bewegung wesentlich ge\u00e4ndert werden, indem auf Ber\u00fchrung einer bestimmten Hautstelle sich die Bewegung nicht auf die Muskeln beschr\u00e4nkt, welche in reflektorischer Beziehung zu ihr stehen, sondern sich auch weiter verbreitet und namentlich, dass statt des im normalen Zustand eintretenden Wechsels der Bewegung unter den ergriffenen Muskeln eine gleichzeitige Bewegung aller ergriffenen eintritt. 4. Endlich ist es bemerkenswerth, dass das erste Symptom des durch Strychnin herbeigef\u00fchrten Todes darin besteht, dass das Thier sein reflektorisches Verm\u00f6gen schon eingeb\u00fcsst hat, w\u00e4hrend seine motorischen Nerven noch erregbar sind, so dass also auf directe Erregung der motorischen Nerven noch Zuckungen erfolgen, w\u00e4hrend sie von den sensiblen Nerven aus nicht mehr zu erwecken sind.\nDie Versuche von Stannins verdienen mannigfaltige Ab\u00e4nderungen, sie versprechen, mit Umsicht angestellt, noch sehr bemerkenswerthe Aufschl\u00fcsse.\nZur Beobachtung der Erscheinungen von Strychninvergiftung eignet sich am besten der Frosch. Die Vergiftung kann entweder vorgenommen werden durch unmittelbare Anwendung der L\u00f6sung von essig- oder salpetersaurem Strychnin auf das","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nTonus\u00bb\nbiosgelegte R\u00fcckenmark eines herzlosen Thieres, oder durch Einbringen der L\u00f6sung in den Blutlauf, indem man einige Tropfen der L\u00f6sung in den Magen oder in einen Schnitt unter die Haut bringt. \u2014 Die Erscheinungen treten um so intensiver hervor, je lebenskr\u00e4ftiger das vergiftete Thier war und'je genauer man die Dosis getroffen, welche gerade hinreicht, um das Thier zu t\u00f6dten.\nVon Bedeutung f\u00fcr die Aufhellung der R\u00fcckenmarksfunktionen d\u00fcrften auch die Vergiftungserscheinungen werden, welche Opium, Upas, Blaus\u00e4ure u. s. w. erzeugen.\nb. Tonus *). Nach einer allgemeinen Annahme sollen alle mit dem R\u00fcckenmark noch in Verbindung stehenden Nerven in einem dauernden, wenn auch niedern Grad von Erregung erhalten werden. Wenn diese Annahme sich auf vollkommen sichere Thatsachen st\u00fctzte, so w\u00fcrde daraus folgen, dass im R\u00fcckenmark entweder die gew\u00f6hnlichen Lebensbedingungen (Blutlauf, Anwesenheit sauerstoffhaltiger Fl\u00fcssigkeiten u. s. w.) schon als Erregungsmittel wirkten, oder dass neue und besonders erregende Ursachen dort vorhanden seien. Die Thatsachen zwingen aber zu dieser Annahme vorerst noch keineswegs.\nDie Vertheidiger des Tonus f\u00fchren f\u00fcr diesen an: 1. Wenn im lebenden Thier die Sehne eines Muskels durchschnitten wird, dessen Nerv noch mit dem R\u00fcckenmark in Verbindung steht, so ziehen sich die Schnittenden der Sehne auseinander. Man darf diese Erscheinung aber mit vollkommenem Rechte f\u00fcr eine Folge elastischer Spannung ansehen, weil sie sich auch ereignet nach Zerst\u00f6rung des R\u00fcckenmarks, bevor die Todtenstarre im Muskel eingetreten. Ed. Weber. \u2014 2. Ein gek\u00f6pfter Frosch nimmt, so lange sein R\u00fcckenmark lebenskr\u00e4ftig ist, immer eine sitzende Stellung an, und behauptet dieselbe trotz aller Versuche, ihn daraus zu verdr\u00e4ngen; diese Beobachtung beweist aber nicht, dass der Frosch in dieser Stellung seinen Muskeln eine dauernde Zusammenziehung ertheilt. Dass dieses letztere in Wahrheit nicht geschieht, geht daraus hervor, dass wenn alle Nerven des Schenkels in ein gleichm\u00e4ssige Spannung versetzt w\u00fcrden, ein gestreckte und nicht eine gebeugte Lage des Gliedes erzeugt w\u00fcrde; ferner ergibt sich der Mangel an dauernder Erregung auch daraus, dass der Rumpf auf dem angezogenen Schenkel nicht getragen wird, sondern platt auf der jeweiligen Unterlage liegt; diese Lage nimmt ferner der Frosch nur in horizontaler Stellung des Rumpfs und der Glieder an, denn w enn man den Frosch an seinem Vordertheil aufh\u00e4ngt, so zieht er w^ohl dann und wann einmal die Schenkel an, meist aber h\u00e4ngen sie, der Schw ere entsprechend, herab, vorausgesetzt, dass man die Haut abgetrocknet hat, so dass die feuchten Fl\u00e4chen nicht verkleben k\u00f6nnen; ferner m\u00fcsste in Folge des Tonus nach Durchschneidung der Schenkelbeuger das Glied in stetig gestreckter Lage verharren, w as nicht der Fall. Der Grund des Anziehens Hegt offenbar nur in Reflexbew egungen, denn der Schenkel bleibt in jeder beliebigen Lage, wenn man alle hintern Wurzeln eines R\u00fcckenmarkes abgetrennt hat ; und der Grund des Verharrens in der Beugung besteht einfach darin, dass der Schenkel durch keine neue Muskelbewegung oder anderweitige Ursache aus ihr gedr\u00e4ngt wird. Zudem w\u00fcrde der Tonus nur f\u00fcr das Froschr\u00fcckenmark gelten, da sich \u00e4hnliches nicht bei Hunden und andern S\u00e4ugethieren, deren R\u00fcckenmark vom Hirn getrennt ist, findet. \u2014 3. Die Bauchmuskeln eines gek\u00f6pften Frosches sollen sich noch so spannen, dass der Unterleib seine runde Form erh\u00e4lt? In welcher Lage befand sich das Thier w\u00e4hrend der Beobachtung? \u2014 4. Der m. sphincter ani einer gek\u00f6pften Schildkr\u00f6te soll noch so fest geschlossen bleiben, dass die in\n*) Heule, Allgemeine Anatomie. Leipzig 1840. 727.","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Ver\u00e4nderung der Erregbarkeit im Verlaufe der Nervenr. d. R\u00fcckenmarks. 153\n\\\nihren Mastdarm eingebrachten Fl\u00fcssigkeiten nicht aus ihm ausfliessen. Dann aber verh\u00e4lt sich der Afterschliesser ganz anders als der des Menschen, da nach Verletzungen in Hals- und Brusttheilen des R\u00fcckenmarkes (also nach Abtrennung des Lendenmarkes vom Hirn) der Afterschliesser vollkommen erschlafft, so dass der Koth unwillk\u00fcrlich abgeht.\nBringt man nun schliesslich in Erw\u00e4gung, dass die Muskeln und Nerven auch die geringste Anstrengung nicht ertragen, vorausgesetzt, dass sie eine dauernde ist, so wird man mit Recht fragen, welche Hilfsmittel sie besitzen, um unter dem tonischen Verm\u00f6gen des R\u00fcckenmarks nicht zu erm\u00fcden?\nB.\tDie durch das R\u00fcckenmark tretenden Wurzelr\u00f6hren, resp. ihre Fortsetzung im intermedi\u00e4ren System, m\u00fcssen auf dem Verlauf durch das R\u00fcckenmark an ganz constanten Orten ihres Wegs mit einem geringem Grade von Erregbarkeit begabt sein, als an andern*).\nDiese Annahme sind wir n\u00e4mlich zu machen gen\u00f6thigt, wenn sich die Beobachtung best\u00e4tigen sollte, wonach eine den Gesammtquerschnitt des R\u00fcckenmarks gleich heftig treffende Erregung eine verschiedene Stellung der hinteren und vorderen Extremit\u00e4ten erzeugt, je nachdem der erregte Querschnitt n\u00e4her oder entfernter vom Hirn gew\u00e4hlt war. Wenn, wie die anatomischen und physiologischen Beobachtungen beweissen, die Wurzelr\u00f6hren durch das R\u00fcckenmark aufw\u00e4rts zum Hirn dringen (wobei es begreiflich gleichgiltig erscheint, ob sie vollkommen ununterbrochen oder an einer Stelle unterbrochen verlaufen) so muss eine Erregung jedes Querschnittes, vorausgesetzt, dass dieser schon alle zu einer Extremit\u00e4t geh\u00f6renden Nervenwurzeln gefasst hat und alle Nervenr\u00f6hren \u00fcberall gleich erregbar sind, immer dieselben Erfolge f\u00fcr die Stellung einer Extremit\u00e4t herbeif\u00fchren. Dieses soll aber nicht eiiitref-fen, indem Erregung eines Querschnittes in einer den unteren R\u00fcckenmarksenden n\u00e4hern Gegend, Streckung, in einer h\u00f6heren Beugung erzeugt; wenn in der That das Erregungsmittel alle Nerven in den verschiedenen Versuchen gleich stark getroffen hat, so w\u00fcrde das nichts anderes bedeuten k\u00f6nnen als: im Lendenmark \u00fcberwiegt die Erregbarkeit der Streknerven und im Halsmark die der Beugenerven.\nC.\tIm R\u00fcckenmark gibt es Stellen, welche trotzdem, dass sie nerv\u00f6se Elemente enthalten, dennoch unter dem Angriff der gew\u00f6hnlichen Erreger gar keine sichtbare Erregungserscheinung veranlassen**). Nach Angabe der bessern Beobachter z\u00e4hlt hierzu \u00fcbereinstimmend die allern\u00e4chste Umgebung des sogen. Centralkanals, obwohl hier nicht allein Ganglienkugeln (kleine Art. K\u00f6lliker), sondern auch, wenn gleich sparsam, Nervenr\u00f6hren Vorkommen.\nD.\tDas Zeitverh\u00e4ltniss ***), welches zwischen der Einwirkungsdauer eines erregenden Einflusses und der durch ihn erzeugten Erregung besteht, gestaltet sich im R\u00fcckenmark anders, als in den Ner-ven; in diesen letztem kommt und vergeht ann\u00e4hernd gleichzeitig mit dem Erregungsmittel die Erregung, w\u00e4hrend in ersterm die Erregung gew\u00f6hnlich die Anwesenheit des Erregungsmittels lange \u00fcberdauert ; die Nachwirkungen des erregenden Mittels sind mit einem Worte im\n*) Engelhard, M\u00fcllers Archiv 1841.\u2014 Harless ibid. 1845. \u2014 Siehe auch Budge, Untersuchungen \u00fcber das Nervensystem. \u2014 Volkmann, M\u00fcllers Archiv 1845.\n**) Siehe bei K\u00fcrschner und Eigenbrodt.\n***) Volkmann, Beitrag zur n\u00e4hern Kenntniss der motorischen Nebenwirkungen, M\u00fcllers Archiv 1845.","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nHirn und Hirnnerven. \u2014 N. olfaclorius.\nR\u00fcckenmark betr\u00e4chtlicher* Dieses Ueberdauern der Erregung \u00fcber das Erregungsmittel tritt ein, mag man dieses letztere geradezu aut* das Mark oder durch den sensiblen Nerven hindurch (reflektorisch) angewendet haben. \u2014 Am \u00fcberraschendsten gestaltet sich diese Nachwirkung, wenn sie sich rhythmisch einstellt, d. h. ihr Bestehen von Zeitr\u00e4umen, in denen sie fehlt, unterbrochen wird. So hinterl\u00e4sst z. B. ein Druck auf das R\u00fcckenmark auch nach seiner Entfernung h\u00e4ufig wechselnd gesteigerte und nachlassende Bewegungen der Hinterbeine, so dass in der St\u00e4rke der zur\u00fcckbl\u00e7ibenden Erregung sich gleichsam Wellenbewegungen sichtbar machen.\nE. Die Verschiedenheit der innern Zust\u00e4nde in den nerv\u00f6sen Elementartheilen des Markes von den gleichen der Nervenst\u00e4mme macht sich nun endlich auch noch durch zwei andere Erscheinungen geltend, die uns aber nur andeutungsweise bekannt sind. \u2014 Zuerst n\u00e4mlich soll sich die Erregbarkeit des motorischen Nerven unter dem Einfluss constanter elektrischer Str\u00f6me ganz anders gestalten, wenn der Nerv noch in Verbindung mit dem R\u00fcckenmark ist, als dann wenn er aus dieser Verbindung gel\u00f6st wurde. Siehe hier\u00fcber den verk\u00fcrzten Muskel ; Ver-\n\u00e4nderungen der Erregbarkeit durch den elektrischen Strom. \u2014 Zwei-tens aber sollen nach dem Aufh\u00f6ren des Blutlaufs die im R\u00fcckenmark befindlichen Nervenr\u00f6hren theils rascher, theils langsamer absterben als die in den Nerven enthaltenen; die sensiblen Nerven sollen n\u00e4mlich fr\u00fcher ihre Lebenseigenschaften einb\u00fcssen, als die hintern Str\u00e4nge, Longet, und die motorischen Nerven sp\u00e4ter als die motorischen Str\u00e4nge, Valli, Ritter, so dass in dem sensiblen Gebilde der Tod auf \u2014 und in dem motorischen absteigt. Diese letzte Thatsache ist begreiflich\nnur aus urspr\u00fcnglicher Abweichung der Widerstandsf\u00e4higkeit in den\nverschiedenen Nervenr\u00f6hren gegen die Todeseinfl\u00fcsse abzuleiten.\nB. Hirn und Hirnnerven.\n1. Ausbreitungsbezirke und Funktionen der Hirn-\nA-\nn erve n.\nDie Hirnnerven betheiligen sich nicht allein an den Vorg\u00e4ngen, welche Muskelbewegung, Absonderung und Gef\u00fchlsempfindung bedingen, sondern auch an der Licht-, Ton-, Geruchs- und Geschmacksempfindung.\nNerv, olfactorius*).\nDie nerv\u00f6sen Elemente des n. olfactorius sind eigenth\u00fcmliche, blasse, kernhaltige, platte, marklose R\u00f6hren (oder Fasern?), welche sich hirnaufw\u00e4rts nicht weiter als in den sogenannten Riechkolben\nTodcl and Bo wmann physiological anatomy and physiology III. p. 9.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"N. opticus.\n155\nverfolgen lassen. \u2014 Innerhalb der Nase verbreiten sich seine Fasern, so weit bekannt, nur auf die convexe Fl\u00e4che der beiden obern Nasenmuscheln und den obern Theil der Scheidewand*\nNach seiner Verletzung beim Menschen ist der Geruch vollkom-men zerst\u00f6rt, man darf ihn demnach f\u00fcr den einzigen Geruchsnerven ansprechen. Zudem scheint er auch ausschliesslich Geruchsnerv zu sein, da seine Verletzung bei Thieren keine Schmerzeiis\u00e4usserun-gen hervorruft.\nNervusopticus*).\nDer Tractus und N. opticus bis zur Retina setzen sich aus feinen Nervenr\u00f6hren zusammen; in seiner Ausbreitung als Retina finden sich Nuclearmassen und verzweigte Nervenzellen an die Nerven-r\u00f6hren abgelagert. Der Ursprung des Tractus kann bis in die Vierh\u00fcgel, das corpus geniculatum externum und den Sehh\u00fcgel verfolgt werden, auf seinem weiteren Verlauf legt er sich innigst an den Gross-liirnstamm, das tuber einereum und die lamina terminalis an; ob er von diesen Gebilden R\u00f6hren aufnimmt, ist zweifelhaft. Im sogenannten chiasma findet eine theilweise Kreuzung der Nervenr\u00f6hren statt, der Art, dass die nach aussen gelegenen jedes Tractus zum gleichseitigen, die inneren eines jeden dagegen in den entgegengesetzt liegenden Nervenstamm treten. Ausserdem laufen an der vordem und hintern Kante des Chiasma Commissurenfasern. Jeder N. opticus tr\u00e4gt demgem\u00e4ss in beiden Augen zur Bildung der Retina bei.\nDie Verletzung des Sehnerven bedingt vollkommene Blindheit; die Durchschneidung des Stammes oder eine mechanische Verletzung der Ausbreitung erzeugt beim Menschen keine Schmerzempfindungen.\nDie Einsenkung und Kreuzung des Sehstreifens bis in die bezeichneten Stellen wird ausser der anatomischen Pr\u00e4paration durch pathologische F\u00e4lle constatirt, in w elchen ein Schwinden des N. opticus in Folge einer Zerst\u00f6rung der Retina eingetreten war; in ihnen findet sich, w enn die Verk\u00fcmmerung \u00fcber das Chiasma hinaus bis in denSehstreifen sich erstreckt, entw eder der gleich- oder der gegenseitige oder auch die beiden Streifen ver\u00e4ndert. Diese wechselnd vorkommenden Resultate lassen sich nur aus obiger Hypothese erl\u00e4utern, wenn sie noch den Zusatz erf\u00e4hrt, dass ein alle R\u00f6hren des Nerven vor dem Chiasma treffender pathologischer Zustand sich nicht gleichm\u00e4ssig durch da$ Chiasma hindurchzuerstrecken braucht. In einzelnen F\u00e4llen auffallenden Schwindens kann man die eingesunkenen Massen bis in die bezeichneten Hirnstellen verfolgen. \u2014 Die relative Menge der gekreutzten und nicht ge-kreutzten R\u00f6hren f\u00e4llt bei verschiedenen Thieren (wahrscheinlich je nach der Au-genstellung) sehr verschieden aus, w eshalb die vergleichend anatomischen Thatsa-chen zu keinem Schluss f\u00fcr die menschliche Anatomie berechtigen. Ob die am hintern Rand gelegene Commissur des Chiasma in Beziehung zum Sehnerven steht, kann aus vergleichend anatomischen Gr\u00fcnden bezweifelt werden. S. Todd und Bowns ann loc. cit\u00e2t.\n*) Longet, Anatomie et Physiologie du Syst\u00e8me etc. II. 50. \u2014 Todd and Bovvmann 1. c. 39. Fo ville, Anatomie du syst\u00e8me cerebrospinal I. p. 510. \u2014 Br\u00fccke, das Auge. Berlin 1847. \u2014 K\u00f6lliker, mikroskop. Anatomie II. 1. 480 u. 517. \u2014 Hannover, im Jahresbericht \u00fcber spe-ereile Anatomie f\u00fcr das Jahr 1851 v. Heule p. 01,","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nN. acusticus; N. ociiloinotorius.\nNervus acusticus*).\nSeine r\u00fchrigen Bestandteile sind schmal, leicht zerst\u00f6rbar; in dem nervus vestibuli finden sich Ganglienkugeln mit Forts\u00e4tzen, die in Nervenr\u00f6hren \u00fcbergehen, eingestreut, und zwar sowohl im Verlaufe desselben, als in der Endigung auf Ampullen und S\u00e4ckchen. In der Ausbreitung des n. cochleae auf dem kn\u00f6chernen Spiralblatt der Scheide finden sich bipolare, in der Nervenscheide eingelagerte Ganglienk\u00f6rper Seine Wurzeln stammen nach verschiedenen Angaben aus sehr verschiedenen Theilen des kleinen Gehirns und verl\u00e4ngerten Marks. Man\n\u00a9\nhat sich, so viel abweichende Meinungen auch bestehen, mindestens dar\u00fcber geeinigt, dass er seine Wurzeln von den Querfasern, die \u00fcber die Pyramide streichen (fibrae arcuatae), dann aus dem Boden der vierten Hirnh\u00f6hle (striae medull\u00e4res) und endlich aus dem corpus res-tiforme bezieht. Diese Fasern kreuzen sich nachweislich zum Theil in der Mittellinie des Hirnes. Im weitem Verlauf ist er mit der Flocke verbunden.\nSeine Zerst\u00f6rung bedingt vollkommene Taubheit; durch den Akt\nder Verletzung wird kein Schmerz hervorgerufen.\nZur Bestimmung seiner Wurzelurspr\u00fcnge hat man sich des h\u00e4ufig vorkommenden Schwindens des Nerven noch nicht bedient. \u2014 Ausser den oben angegeben Wurzel\u00e4sten nennt man speciell noch den \u00e4ussersten Mark\u00fcbergang der Br\u00fccke, den grauen .Ueberzug \u00fcber den Boden des vierten Ventrikels vom calamus scriptor. bis zum aqduct. Sylvii, das velum posterius, die inneren Ouerfasern der pons, den grauen Kern des kleinen Gehirns u. s. w. \u2014 Ueber die verschiedene Bedeutung des nerv, vestibuli und cochleae siehe das Geh\u00f6rorgan.\nNerv, oculomotorius**).\nNach \u00fcbereinstimmenden Angaben lassen sich seine Wurzelf\u00e4den durch die Grosshirnstiele bis nahe unter den Boden des aquaeductus Sylvii verfolgen, und treten in die dort vorhandene graue Substanz ; ob sie sich an diesem Ort, wo sie der Mittellinie sehr nahe liegen, kreuzen, be-darf noch weiterer Best\u00e4tigung. Die R\u00f6hren \u00e4ndern ihren Durchmesser, wenn sie aus der grauen in die weisse Substanz treten, nach Art der motorischen R\u00fcckenmarksnerven. Beim Menschen f\u00fchrt der Nervenstamm 15000 und zwar nur breite R\u00f6hren. Seine Verletzung innerhalb der Sch\u00e4delh\u00f6hle soll nach einzelnen Angaben schmerzlos, nach anderen schmerzhaft sein; innerhalb seines Verlaufs durch die Augenh\u00f6hle ist der oculomotorius offenbar empfindlich. Je nachdem man dem einen oder andern Befund mehr Zutrauen schenkt, l\u00e4sst man den Nervenstamm schon von seinem Ursprung an mit sensiblen Fasern versehen sein, oder erl\u00e4utert seine Empfindlichkeit aus der bekannten Anastomose, welche er mit dem n. trigeminus eingeht.\n*3 Zu den angef\u00fchrten Werken noch Papp en heim u. Corti in K\u00f6llik er s mikroskopischer Anatomie II, 1. 519. \u2014 Czermak ibidem. \u2014 Corti recherches sur l\u2019organe de l\u2019ouie etc. Zeitschrift f\u00fcr wissenschaftl. Zoologie 1851. 134.\n\" -**) Stillin g, Bau des Hirnknotens. Jena 1846.\u2014-Rosenthal de num\u00e9ro atquc mensura micros -copica fibrillarum. Breslau 1845.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"N. trochlearis; N. abducent\n15 T\nWenn nicht ganz, so ist wenigstens unser Nerv seinem gr\u00f6ssten Theile nach motorisch. Abh\u00e4ngig sind von ihm die Bewegungen der\nm.\tm. rectus superior, r. internus, r. inferior, obliquus inferior, des Yerengerers der Pupille, wahrscheinlich des musc, t\u00ebnsor ehoroideae und endlich des m. levator palpebrae sup\u00e8rioris.\nDer n. oculomotorius der S\u00e4ugethiere weicht bez\u00fcglich seiner Verkeilung vom menschlichen sehr ab; bei ihnen begibt er sich n\u00e4mlich nachweislich auch noch zum muse, rectus externus, musc, obliquus superior und dem eigenthiimlichen retractor bulbi; dass er beim Menschen nicht noch den m. rect. extern, und den m. obliq. sup. versorgt, geht ausser der anatomischen Untersuchung auch noch daraus hervor, dass bei L\u00e4hmungen des n. oculomotorius das Auge kr\u00e4ftig nach aussen gerichtet ist, und um seine L\u00e4ngsachse (die sog. Sehachse) gedreht werden kann. Diese L\u00e4hmungen liefern auch den Beweiss, dass er bei Menschen die Pupille verengert, weil unter diesen Umst\u00e4nden die Pupille zwar nicht besonders erweitert ist, aber durchaus nicht mehr verengert werden kann. Die allgemeine Annahme, dass er Verengerer der Pupille sei, wird auch noch dadurch unterst\u00fctzt, dass bei intensiv - willk\u00fcrlichen Erregungen des n. oculomotorius und namentlich bei der Einw\u00e4rtsstellung des Augapfels der Durchmesser der Pupille sich verkleinert. \u2014 In wiefern seine L\u00e4hmungserscheinungen beweissen, dass er auf den tensor ehoroideae wirkt, kann erst sp\u00e4ter er\u00f6rtert werden; seine sehr bemerkenswerthe Stellung zu verschiedenen Hirntheilen, wird ebenfalls erst sp\u00e4ter in Frage kommen.\nNervus trochlearis*).\nDie Wurzelf\u00e4den des Nerven kommen theils aus dem obern Ende\ni\nder grauen Substanz, welche den Boden der vierten Hirnh\u00f6hle bedeckt und mit einem zweiten B\u00fcndel aus einer grauen Masse am Boden des aquaeductus Sylvii. Sie treten dann \u00fcber die Mittellinie hinaus auf die entgegengesetzte Seite und kreuzen sich bevor sie die Hirnmasse verlassen mit den gegen\u00fcberliegenden Nerven im velum anterius. Der\n\u00d6 \u00d6\to\nStamm f\u00fchrt breite R\u00f6hren, ihre Gesammtzahl betr\u00e4gt 1100 bis 1200. Der Nerv versorgt wahrscheinlich nur den musc, trochlearis mit motorischen Fasern.\nAusser dieser als gewiss anzugebenden Funktion schreibt man ihm zuweilen auch noch eine sensible zu. Seine physiologische Stellung zu den andern Hirntheilen siehe beim Sehorgan.\nNervus abducens.\nSeine Wurzelfasern sollen durch die L\u00e4ngs- und Ouerfasern der Br\u00fccke hindurch verfolgt werden k\u00f6nnen bis in eine graue Masse, welche am Boden der vierten Hirnh\u00f6hle gelegen ist. Der Stamm enth\u00e4lt 2000 bis 2500 breite R\u00f6hren.\nSeiner Yertheilung gem\u00e4ss ist seine einzige Funktion in einer\no o\t\u00f6\t,\nBewegung des m. rect. externus zu suchen; sensible Fasern besitzt er nicht.\nWas seine Verbindung mit sympathischen Zweigen im sinus cavernosus und die Aestchen zu bedeuten haben, w elche er \u00f6fter an das ganglion ciliare oder die Ciliarnerven schickt ist unbekannt. \u2014 Bei S\u00e4ugethieren versorgt er zugleich mit dem\nn.\toculomotorius noch den m. retractor bulbi.\n*) E d. Weber, Artikel Muskelbevregung In Wagners Handw\u00f6rterb. III. 2. Abth. \u2014 Stilling,\nder Bau des Hirnknotens, Jena 184\u00f6.","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nN. trigeminus.\nNervus trigeminus *). \u2014\nDie sogenannte grosse Wurzel verfolgt man mit Sicherheit bis in das corp. restiforme; eine andere Abtheilung soll auch bis in die graue Substanz am hinteren Ende der Rautengrube sich erstrecken und hier o\u2019eo\u2019en die Mittellinie sich verlieren. Die grosse Wurzel enth\u00e4lt feine und grobe R\u00f6hren im Gemenge. \u2014 Die kleine Wurzel dringt nach allgemeiner Angabe ebenfalls gegen und in die graue Substanz am hin-\ntern Ende der Rautengrube. Sie f\u00fchrt im Stamm 9000 bis 10,000 breite (aber keine feinen) R\u00f6hren. \u2014 In seinem Verlauf ausserhalb des Hirns enth\u00e4lt er das Ganglion semilunare, welches sich vorzugsweise an die Fortsetzung der grossen Wurzel anschliesst. Nach einigen Angaben liegen in diesem Ganglion alle Ganglienk\u00f6rper in den Nervenr\u00f6hren, nach andern soll dieses Vorkommen nur selten sein und die Ganglienkugeln entweder zu den apolaren oder unipolaren zu z\u00e4hlen sein. \u2014 Der \u00fcbrige Verlauf des Nerven ist bekannt. \u2014\nDer Nerv, trigeminus vermittelt die Empfindlichkeit der vordem Fl\u00e4che des Ohrs und Geh\u00f6rgangs, der Stirn, der Schl\u00e4fen und Gesichtshaut, der Augenh\u00f6hle und des Auges, der inneren Nasenfl\u00e4che, des Gaumens, des Zungenk\u00f6rpers, des Bodens der Mundh\u00f6hle, der Z\u00e4hne und der dura mater (?), ob ein Theil der Geschmacksempfindung von ihm anh\u00e4ngig, bleibt noch zweifelhaft. \u2014\nAbh\u00e4ngig sind ferner von ihm mm. temporalis , masseter, ptery-goidei, mylohyoideus, digastricus anterior, tensor palati mollis und tensor tympani. \u2014 Nachweislich wirkt er ferner auf die Verengerung der Gef\u00e4sse in der m. conjunctiva, iris (der Nasenfl\u00e4che und des Zahnfleisches?). \u2014 Ferner die Absonderung des Speichels in gl. parotis und submaxillaris, und der Thr\u00e4nen in der gl. lacrymalis. Ans Versuchen an Thieren geht hervor, dass die grosse Wurzel nur sensible und die kleine alle motorischen Elemente enth\u00e4lt. \u2014\nOb der Nerv auch die Nasenschleimabsonderung und die Funktion der \u00fcbrigen Speicheldr\u00fcsen vermittelt, ist wahrscheinlich, aber noch nicht erwiesen. Wenn man bei L\u00e4hmungen des Nerven am Menschen die entsprechenden Schleimh\u00e4ute trocken fand, oder umgekehrt bei heftigen krankaften Erregungen (Hyper\u00e4sthesie), Speichel- oder Nasenschleimfluss, so kann dies auch aus reflektorischer Wirkung\nabgeleitet werden. Die Controverse \u00fcber die theilweise Abh\u00e4ngigkeit des Geschmacksinnes siehe denn.glossopharyngeus und Geschmacksinn. Die eigenth\u00fcmlichenEinfl\u00fcsse des Nerven auf die Gef\u00e4sse und die Muskeln der Iris werden in der Ern\u00e4hrungslehre und beim Auge betrachtet werden. \u2014 Zur Ausmittlung der Funktionen dieses Nerven bedient man sich einer eigenth\u00fcmlichen, nur f\u00fcr diesen Nerven mit einiger Sicherheit anwendbaren Diirclischneidungsmethode. Man durchbohrt mit einem eigends con-struirten Messer, dem sogenannten Neurotom**), den Sch\u00e4del zwischen Ohr\u00f6ffnung und Augenwinkel, f\u00e4hrt auf der Sch\u00e4delbasis hin gegen die Ausbreitung des Nerven\n*) Romberg, Lehrbuch der Nervenkrankheiten LBd. 33 u. 215. \u2014 Rahn, Untersuchungen \u2019 \u00fcber Wurzeln und Bahnen u. s. w. Heule u. Pfeufer, Neue Folge. I. Bd.\nVid. Valentin, Lehrbuch der Physiologie II. \u00d6. 3\u00f62.","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"N. facialis.\n159\nauf dem grossen Keilbeinfl\u00fcgel und durchschneidet mit nach hinten und unten gewendeter Schneide den Nerven. Obgleich sehr h\u00e4ufig der Erfolg durch Verwundung von Himtheilen, der Carotis, des sinus cavernosus etc. getr\u00fcbt und \u00f6fter der ram. Ill (wegen seines fr\u00fchen Eintretens in den Knochen) nicht durchschnitten wird, so gelingt es bei grosser Hebung doch \u00f6fter und was werthvoller ist, sicher nur den n. trigeminus zu durchschneiden und das Thier bis zu 8 Tagen, ja monatelang am Leben zu erhalten.\nNervus facialis *).\nBei seinem Austritt aus dem Hirn ist er aus zwei deutlich verschiedenen B\u00fcndeln zusammengesetzt, einem grossem und einem kleinern, der sogenannten portio intermedia Wrisbergi*\u2014An das Hirn hinein sollen sich seine R\u00f6hren bis gegen die graue Substanz am Boden der Hirnh\u00f6hle verfolgen lassen und theilweise gegen die Mittellinie dringen. \u2014 Her Stamm setzt sich aus 4000 bis 4500 breiten R\u00f6hren zusam-men. Ein Angriff auf den Nerven vor seinem Eintritt in den meatus auditorius internus soll keine Schmerzen erzeugen; die Empfindlichkeit, welche der Nerv nach seinem Austritt aus dem foram. styloma-stoideum darbietet, muss demgem\u00e4ss durch Nervenr\u00f6hren bedingt sein, welche aus andern Wurzeln stammend, in Anastomosen ihm beigemengt werden. Am wahrscheinlichsten geh\u00f6ren diese Fasern urspr\u00fcnglich dem n. trigeminus und vielleicht dem n. vagus an. \u2014 Der Nerv ist vorzugsweise ein motorischer ; es h\u00e4ngen von ihm ab, s\u00e4mmt-liehe zur concha auris geh\u00f6rige Muskeln, m. stapedius, m. frontalis und occipitalis (?), m. corrugator supercilii, m. orbicularis palpebrarum, ferner s\u00e4mmtliche Hautmuskeln der Nase, der Mundes mit Einschluss des m. buecinatorius, und die des Kinns; das platysma myoides, m. stylohyoideus, der hintere Bauch der m. digastricus, m. levator palati mollis. Endlich leitet seine Erregung auch die Absonderung des Speichels in der glandula parotis und submaxillaris ein.\nDer Nachweiss, dass keine sensiblen Fasern in den Wurzeln des n. facialis enthalten seien, ist nach einigen Autoren dadurch gef\u00fchrt, dass nach Durchschneidung des nerv, trigeminus in der Sch\u00e4delh\u00f6hle auch der Stamm des n. facialis bei seinem Austritt aus dem foramen stylomastoideum aufh\u00f6rt, empfindlich zu sein, \u2014 Einige am Menschen beobachtete Thatsachen scheinen diese Angabe zu best\u00e4tigen; denn nach einer auf den n. facialis beschr\u00e4nkten L\u00e4hmung ist an keinem Orte die Empfindung verschwunden, und umgekehrt nach einer auf den n. trigeminus beschr\u00e4nkten L\u00e4hmung ist in den gemeinschaftlichen Regionen beider nirgends eine Spur von Empfindung erhalten. Die Behauptung, dass ihm der n. vagus durch seinen ram. auri-cularis Empfindungsfasern zutheile, ruht auf keiner Beobachtung. \u2014 Die bemerkens-werthe Anastomose zwischen n. acusticus und portio intermedia Wrisbergi ist in ihrer Bedeutung nicht erl\u00e4utert. \u2014 Die Angabe, dass die chorda tympani die Muskeln der Ausf\u00fchrungsg\u00e4nge der Speicheldr\u00fcse versorge, ist darum ungegr\u00fcndet, weil diesen G\u00e4ngen das Muskelgewebe fehlt. \u2014 Die Bedeutung unseres Nerven f\u00fcr die Sinneswerkzeuge siehe bei diesen.\nNuhn, Versuche \u00fcber den Einfluss d. N. facialis auf die Bewegungen des Gaumensegels in dessen Untersuchungen u, Beobachtungen aus dem Gebiete der Anatomie etc. Heidelb, 1849,","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nN. glossopharyngeus.\nNervus glossopliaryngeus*).\nVom Boden der Rautengrube, unmittelbar \u00fcber dem calamus scrip-torius dringen aus der grauen Substanz die Wurzeln des Nerven durch die corpora restiformia; eine Kreuzung der Ursprungsfasern im Hirn ist noch nicht sicher beobachtet, wohl aber vermuthet. \u2014 Es ist wahrscheinlich, dass die Grenzb\u00fcndel zwischen n. glossopharyngeus und n, vagus bald in den einen und bald in den andern Nerven gefasst werden. Der Stamm ist aus 3500 bis 4000 R\u00f6hren dargestellt. Ausser in den bekannten Stammganglien finden sich an seiner Verbreitung in der Zunge Ganglienkugeln an ihn gelagert.\nDer Nerv enth\u00e4lt \u00f6fter, wenn nicht immer, motorische Fasern, welche zu den m. stylopharyngeus, constrictor faucium m\u00e9dius, rn. levator palati mollis und m. azygosuvulae treten.\nFasern, deren Erregung Tastempfindung erzeugt, scheint der Nerv wenige zu f\u00fchren, indem seine Verletzung bei empfindlichen Thieren nur geringe Schmerzens\u00e4usserungen erzeugt; die peripherische Verbreitung der sensiblen Elemente d\u00fcrfte auf dieselben Stellen, wie die der schmeckenden geschehen. Vorzugsweise ist er dagegen Geschmacksnerv, und namentlich scheint er die Geschmacksempfindung\nder Zungenwurzel und des weichen Gaumens zu vermitteln.\nDie verschiedenen Angaben bez\u00fcglich der motorischen Wirkungen unseres Nerven k\u00f6nnen nur aus Verschiedenheiten in der Zusammenfassung der Wurzelb\u00fcndel erl\u00e4utert werden. \u2014 Der Mangel oder vielmehr die geringe Menge sensibler Fasern im m. glossopharyngeus erhellt deutlich aus den Resultaten seiner Durchschneidung; ein gleicher schmerzerzeugender Angriff auf gleichgrosse Aeste des trigeminus oder den ramus laryngeus superior n. vagi erzeugt viel heftigere Schmerzens\u00e4usserungen. Das Verschwinden einiger reflektorischer Bewegungen nach Durchschneidung des n. glossopharyngeus beweisst nichts f\u00fcr die speziell empfindliche Natur der betreffenden Nervenr\u00f6hren, weil auch die Geschmacksnerven Reflexbewegungen, analog den Wirkungen aller Sinnesnerven, ausl\u00f6sen k\u00f6nnen. Nach neueren Untersuchungen wird es mehr als nur wahrscheinlich, dass der n. glossopharyngeus der einzige Geschmacksnerv gewisser S\u00e4ugethiere, z. B. der Katzen, ist. Denn ans allen guten Versuchen erhellt, dass widerlich bitter schmeckende , geruchlose Substanzen (Chinin, Coloquin-thenabsud) von dem Thier, dessen trigeminus durchschnitten war, selbst nach l\u00e4ngerem Fasten niemals genossen werden, so lange der n. glossopharyngeus erhalten ist; diese Substanzen werden dagegen ohne den geringsten Widerwillen aufgenomraen, sowie man den n. glossopharyngeus durchschnitten und den n. trigeminus erhalten hat. Beim Menschen sind die Thatsachen zweifelhafter. Hier sind allerdings F\u00e4lle bekannt, wo nach alleiniger und scheinbar vollkommener L\u00e4hmung des n. trigeminus die Geschmacksempfindung der Zungenspitze erhalten war; es stehen ihnen aber andere entgegen, wo unter gleichen Umst\u00e4nden sie erloschen gefunden wurde. Wenn man als Gegenbeweis gegen die Geschmacksfunktion des n. trigeminus geltend macht, dass man bei sogenannten Hyper\u00e4sthesien des n. trigeminus (d. h. bei vom Hirn ausgehenden krankhaften Erregungen) keine subjektiven Geschmacks-\n*) Stannius. Ueber die Funktionen der Zun gennerven. M\u00fcllers Archiv 1848. \u2014 Ro mb erg, Nervenkrankheiten. I. Bd. 256. \u2014 Mayer, diss. sistens paralyseos nervi trigemini casum. Fref. ad. Moen. 1847. \u2014 K\u00f6lliker, Mikroskop. Anatomie IT. b. 33. u. Verhandlungen d. physik. medizinischen Gesellschaft II. 169. \u2014 Riffi u. Morganti, Su i nervi della lingua etc. in Va-lentin, Jahresbericht \u00fcber 1846.197,","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"161\nN. vagus; N. accessorius Willisii.\nempfindmigen der Kranken beobachtete, so m\u00fcsste erst erwiesen sein, dass diese besondere Natur der Erregung \u00fcberhaupt Geschmacksempfindungen bewerkstelligen kann. Die wenigen pathologischen F\u00e4lle, in welchen eine Zerst\u00f6rung des n. glossopha-ryngeus beim Menschen beobachtet wurde, sind entweder mit andern Verletzungen zu sehr complizirt oder nicht genau genug beobachtet, um Schl\u00fcsse zu erlauben. Alle gegen die Geschmacksfunction des n. trigeminus vorgebrachten Gr\u00fcnde werden wenig \u00fcberzeugend sein, so lange nicht erwiesen ist, dass sich Fasern des n. glosso-pharyngeus in die so empfindlich schmeckende Zungenspitze begeben, welche nach den vorliegenden anatomischen Untersuchungen allein vom n. trigeminus beherrscht wird. \u2014 Die Frage, ob die Fasern der Zungenspitze andere Geschmacksempfindungen\nvermitteln, als die der Zungenwuzel, wird bei dem Geschmackssinn besprochen.\u201d_\nDie Bedeutung des ram. tympanicus (Jacobs onii) ist vollkommen unbekannt. \u2014 Die Behauptung, dass der n. glossopharyngeus der Absonderung des Rachenschleims\nvorstehe, bedarf besserer Beweise als die bis dahin vorgebrachten,\n\\ \u00ab\nNervus vagus und n. accessorius Willisii.\nDie innige anatomische Beziehung zwischen beiden Nerven macht es zum Theil schwierig, zum Theil unm\u00f6glich, die jedem einzelnen zugeh\u00f6rige Funktion zu ermitteln. Den vorliegenden Thatsachen entsprechend wird hier zuerst jeder Nerv, so weit es angeht, gesondert, und dann beide gemeinsam behandelt.\na. N. vagus. Seine Wurzeln treten zwischen Oliven und hintern Str\u00e4ngen (corpora restiformia) durch die hier noch vorhandenen Reste der gelatin\u00f6sen Substanz in eine auf dem Boden der vierten Hirnh\u00f6hle liegende graue Masse (die Fortsetzung der grauen Substanz des R\u00fcckenmarks); indem sie in diese eintreten, werden die Nervenr\u00f6hren so blass und zart, dass sie sich nicht weiter verfolgen lassen. Seine Wurzeln f\u00fchren ungef\u00e4hr 4000 d\u00fcnne und 5000 dicke R\u00f6hren.\nEine isolirte Erregung seiner Wurzelb\u00fcndel bedingt eine Bewegung des m. levator palati mollis, m. azygos uvulae, arcus pharyngo-palatinus, constrictor pharyngis supremus, m\u00e9dius (?), infimus, des Oesophagus und des Magens, der mm. cricothyreoideus, cricoarytenoi-deus posticus, lateralis und hyothyreoideus.\nAusserdem erregt eine Ber\u00fchrung seiner Wurzelf\u00e4den sehr heftige Schmerzen; es fehlen aber noch die Angaben \u00fcber die Endfl\u00e4chen, in welche sich diese sensiblen Fasern verbreiten.\nb. N. accessorius Willisii*). Seine vom R\u00fcckenmark entspringenden Wurzeln gehen durch die Seitenstr\u00e4nge in eine Anh\u00e4ufung grauer Substanz, welche den Vorderh\u00f6rnern entspricht, von hier gegen die commissura anterior und die Pyramidenkreuzung, wo sie \u00fcber die Mittellinie hinaustreten und in die entgegengesetzte Markh\u00e4lfte eingehen ; in dem verl\u00e4ngertem Marke verhalten sich die entspringenden R\u00f6hren, wie die Vagusurspr\u00fcnge, an die sich die oberen -W urzeln so anschliessen, dass sie nicht von ihnen unterschieden wer-\nf\n*) Claude Bernard. Recherches experimental es sur les fonctions du nerf spinal etc. Archiv, ge'ne'ral, 1844.\nLudwig, Physiolog. I.\n11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nN. vagus ; N. accessorius Willisii.\nden k\u00f6nnen. Beim Eintritt in die graue Substanz verd\u00fcnnen sich die Fasern auffallend. Die meisten R\u00f6hren der ausgetretenen Wurzeln an Zahl 2000 bis 2500 geh\u00f6ren zu den st\u00e4rkeren; ausserdem f\u00fchren sie noch d\u00fcnne.\nSeine unteren (R\u00fcckenmarks-) Wurzeln sollen, wie sie ihrem Ursprung nach den vordem R\u00fcckenmarkswurzeln entsprechen, sich vollkommen unempfindlich verhalten; die obern sollen empfindlich sein.\nSeine motorischen Funktionen erstrecken sich auf die mm. levator palati mollis, tensor palati mollis, azygos uvulae, die Muskeln des pharynx und den Oesophagus und einige noch nicht n\u00e4her bestimmte Muskeln des larynx. Ausserdem wirkt der Nerv motorisch auf die mm. sternocleido - mastoideus und cucullaris. \u2014 Es ist bemerkens-werth, dass verschiedene Wurzelb\u00fcndel zu denselben Muskeln Zweige absenden.\nDie Isolation der in Vagus- und Accessoriuswurzeln Ibehufs der Erregung unternimmt man entweder dadurch, dass man die Sch\u00e4delh\u00f6hle des lebenden oder eben get\u00f6dteten Thieres \u00f6ffnet, oder dadurch, dass man bei Kaninchen und Katzen (nicht bei Hunden) am hintern Ast des n. accessorius empordringt und ihn m\u00f6glichst nahe am for. jugulare mit einer stumpfen Pinzette ausreisst. \u2014 Bei Anwendung der ersten Methode sterben wegen Verblutung oder Lufteintritt in die Venen die Thiere bald und nur unter besonderer Vorsicht ist es gelungen, die Thiere kurze Zeit am Leben zu erhalten. Bei der zweiten sollen die Thiere l\u00e4nger am Leben bleiben; es fehlt aber vollkommene Gewissheit ob man alle Wurzelfasern des n. accessorius und nur diese, und nicht zugleich Vaguswurzeln mit ansgerissen hat.\nc. Gemeinsamer Stamm des N. vagus und accessorius *) \u2014 Die empfindlichen Fl\u00e4chen, welche von beiden Nerven, ohne dass sie einem von ihnen besonders zugewiesen werden konnten, versorgt werden, liegen an der hintern Wand des weichen Gaumens (?) im Schlund, in der Speiser\u00f6hre, dem Magen, Kehlkopf, der Luftr\u00f6hre, den Lungen und dem Herzen.\nAusser den unter a und b erw\u00e4hnten Muskeln regen die zum gemeinsamen Stamm vereinigten Nerven noch zur Bewegung an: die kleinen Muskeln der Trachea, die des Lungengewebes (?) den D\u00fcnndarm und Uterus (?). Ausserdem aber wirkt er in einer ganz eigen-th\u00fcmlichen Art auf die Herzmuskulatur ein; Ed. Weber; denn es ruft eine Erregung der rami cardiaci keine Zusammenziehung des verl\u00e4ngerten, sondern vielmehr eine Erschlaffung des zusammengezogenen Herzmuskels hervor, so dass der n. vagus dem Herzen gegen\u00fcber zu gerade den entgegengesetzten Leistungen, die alle anderen Nerven auf die Muskeln verm\u00f6gen, geschickt ist. Bei der Betrachtung der Herzbewegungen wird es sich jedoch herausstellen, dass dieser spezifische Einfluss nur mit Hilfe von Zwischenapparaten erreicht wer-\n*) Donders. Onderzoekinge gedaan in het physiologisch Laboratorium der utrechtsche Hooge-school 2. Jaar 1849. p. 9 in der Abhandlung \u00fcber den Zusammenhang zwischen Blutlauf und Athemholen.\u2014 Kilian. Einfluss d. medull. oblongata etc. Ilenlo u. Pfeufer. Neue Folge 11. Bd. \u2014 Fo welin de causa mortis post nerv\u00f6s vagos dissectos. Dorpati 1851.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"N. hypoglossus.\n163\nden kann, so dass genauer ausgedr\u00fcckt, die erschlaffende Wirkung der Yagus\u00e4ste nicht auf die Muskelfasern, sondern auf diese Zwischenapparate geht.\nAusserdem schreibt man dem gemeinsamen Stamme noch einen direkten Einfluss auf die Absonderungsth\u00e4tigkeit der Magensaftdr\u00fcsen und die Verengerung der Capillargef\u00e4sse der arter. pulmonalis oder\na. bronchialis zu ; ob mit Recht, ist noch nicht erwiesen.\nMan hat in Anbetracht, dass Zweige der nn. vagus und accessorius (?) zum Magen sich begeben, von ihnen das Hungergef\u00fchl abh\u00e4ngig gemacht. Diese aus anatomischen Gr\u00fcnden wahrscheinliche Hypothese werden wir bei der Verdauung besprechen. Dort wird auch die Frage \u00fcber den Einfluss der Nerven auf die Verdauung abgehandelt. Nach Durchschneidung beider Vagusst\u00e4mme am Hals f\u00fcllen sich die Lungenbl\u00e4schen bald mit einer eigenth\u00fcmlichen Fl\u00fcssigkeit an, welche durch St\u00f6rung des Athemgesch\u00e4ftes den Tod herbeif\u00fchrt. Es bleibt ungewiss ob diese Fl\u00fcssigkeit von den Lungen abgesondert wird, weil ihre Capillargef\u00e4sse ver\u00e4ndert oder weil die Intensit\u00e4t der Herz Wirkung en vermehrt ist, oder ob sie aus der Mundh\u00f6hle durch die gel\u00e4hmte Stimmritze dringen; die verschiedenen Hypothesen und deren Begr\u00fcndung wird bei den Athemfunctionen genauer mitgetheilt.\nAm Oesophagus, Herz und wahrscheinlich auch an den Lungen dringt der Nerv jeder Seite auf beide H\u00e4lften der genannten Organe.\nDen Einfluss, den die Pulmonal\u00e4ste des n. vagus auf die kleinen Muskeln der Lungen aus\u00fcben, studirte man auf die Art, dass man in die Luftr\u00f6hre ein heberf\u00f6rmig gebogenes, mit etwas Wasser gef\u00fclltes Glasrohr luftdicht einband und darauf den Stamm der n. vagi erregte. Wurde durch deren Erregung Zusammenziehung der Lungenmuskeln bedingt, so wurde die Lungenluft zusammengedr\u00fcckt, in das Glasrohr getrieben und das Wasser gehoben. Den \u00e4lteren Beobachtungen von Willis und Volkmann gegen\u00fcber leugnet Donders den erregenden Einfluss des n. vagus.\nNervus Hypoglossus.\nSo weit er verfolgbar, tritt er aus einer grauen Masse, die am Boden des calamus scriptorius liegt, aus, kreuzt sich vollkommen, so dass die urspr\u00fcnglich rechten Fasern zur linken Seite und umgekehrt treten und erscheint zwischen Olive und Pyramide auf der untern Fl\u00e4che des verl\u00e4ngerten Markes; seine R\u00fchren verd\u00fcnnen sich auffallend innerhalb ihres Verlaufs durch die graue Masse. Im Stamm f\u00fchrt es nur breite Fasern gegen 4500 bis 5000.\nInder Sch\u00e4delh\u00f6hle f\u00fchrt er keine (?) sensiblen Elemente ; auf seinem weitern Verlauf wird er dagegen durch Beimengung von R\u00f6hren aus verschiedenen Nerven sehr empfindlich.\nSeine motorischen Funktionen beziehen sich vorzugsweise auf die Zunge; die besondern Muskeln, die er versorgt, sind bald nur mm, styloglossus, hyoglossus, genioglossus, lingualis, thyreohyoideus, dann n\u00e4chst diesen auch sternohyoideus, omohyoideus ? und sterno-thyreoideus ?\nDass die Zunge noch aus andern Quellen als den hier erw\u00e4hnten Wurzeln motorische R\u00f6hren erh\u00e4lt, werden wir sp\u00e4ter noch erfahren. \u2014\nW\u00e4hrend *) der Darstellung der Verbreitungsbezirke aller Hirn-\n*) Volkmann, Artikel Nervenphysiologie. \u2014 Budge, Neurolog. Mittheilungen, Zeitschrift f\u00fcr\nwissenschaftl, Zoologie 1851. \u2014- Compt. rend. 1851. 33. Bd.\n11*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nVerlauf der motorischen Nervenr\u00f6hren durch das Hirn.\nnervenwurzelu haben wir schon wiederholt darauf hingewiesen, dass sich durch den weitern Verlauf stetige Verflechtungen und Mengungen gesondert entspringender R\u00f6hren ereignen; hier ist nun schliesslich noch darauf hinzuweisen, dass auch die R\u00fcckenmarksnerven vielfach in das Gebiet der Hirnwurzeln eingreifen ; namentlich dringen 1. durch den Halsstamm des N. sympathicus Zweige in das Ganglion ciliare aus dem untern Halsmark ; \u2014 2. sendet wahrscheinlich aus dem Dorsalmark der Sympathicus Zweige in den ram. recurrens vaai ; \u2014 3. Communiziren die obersten Halsgerven mit den Hirn-nerven und namentlich Iter und 2ter Halsnerv mit nn. vagus, accessorius und hypoglossus.\n2. Verlauf der motorischen Nervenr\u00f6hren durch das Hirn*). \u2014 Bevor zu einer Mittheilung der Thatsachen geschritten werden darf, ist es hier vor Allem n\u00f6thig, die Schwierigkeiten, die sich ihrem Erwerb entgegensetzen, in Erw\u00e4gung zu ziehen. \u2014 a. Auf Erregung eines jeden bewegungerweckenden Hirntheils, erh\u00e4lt man stets Bewegungen complicirter Art; denn niemals sind es einfache stetige Zusammenziehungen eines oder mehrerer Muskeln, welche genau so lange sich erhalten, als die Einwirkung des Erregers dauert, sondern immer Bewegungen von Muskelgruppen, deren einzelne Abtheilungen nach einer solchen Reihefolge in die Zusammenziehung ein-und aus ihr austreten, dass z. B. eine scheinbar auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Bewegung einer Gliedmasse oder \u00e4hnliches zu Stande kommt. Da auf direkte Erregung der Hirnmasse diese Erscheinungen auch eintreten ohne irgend welches Zeichen von Schmerzhaftigkeit, so f\u00fchren sie zu dem Schluss, entweder dass die motorischen R\u00f6hren im Hirn, verm\u00f6ge ihrer Lagerung und ihrer Erregbarkeitsverh\u00e4ltnisse, schon f\u00fcr sich in eine solche Anordnung gebracht seien, dass eine ausgedehnte (Gruppen von Nervenr\u00f6hren treffende) Erregung jedesmal eine sogenannte zweckm\u00e4ssige und rhythmische Bewegung erzeuge, \u2014 oder dass es im Hirn unempfindliche reflektorische Fasern gebe. Weil uns kein Mittel zu Gebote steht, diese Zweideutigkeit wegzur\u00e4umen, so geben die Erfolge direkter Erregung zweifelhaften Aufschluss \u00fcber die gerade Fortsetzung des R\u00f6hrenverlaufs durch das Hirn. \u2014 b. Auf ihrem Verlauf durch das Hirn sind die zu einem Muskel geh\u00f6rigen Nerven mit verschiedenen Erregerqueilen in Verbindung, mit seelischen, automatischen, reflektorischen; r\u00fccksichtlich der Stellung eines Muskels zu diesen verschiedenen nat\u00fcrlichen Erregern, erscheint es vorerst gleichgiltig ob derselbe aus drei oder noch mehr verschiedenen Orten verschiedene Nerven erh\u00e4lt, oder ob die Besonderen Erregerquellen auf verschiedenen Stellen des Verlaufes eines und desselben Nerven angebracht sind, denn immer folgt aus\n*) Longet, Anatomie et physiologie etc. i. Bd. \u2014 Volkmaiin, Artikel Hirn in Wagners\nHandw\u00f6rterbuch 1. Bd, \u2014 Valentin, Lehrbuch der Physiologie % Aufl. II. Bd. b\u00ab","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Schwierigkeit seiner Auffindung.\t165\nder einen wie aus der andern Anordnung, dass Durchschnitte durch das Hirn, welche selbst einen oder den andern zu einem Muskel gehenden Nerven treffen, dennoch keine vollkommene L\u00e4hmung des Muskels erwirken. Weil uns nun aber bei Thier en nur gar zu h\u00e4ufig das Crit\u00e9rium fehlt, ob eine Bewegung auf die eine oder die andere \u00c0rt urspr\u00fcnglich erregt sei, so wird ohne eine genauere Untersuchung, als man sie bisher anzustellen gew\u00f6hnt war, \u00fcberhaupt die den Durchschnitt des Nerven begleitende L\u00e4hmung \u00fcbersehen werden k\u00f6nnen ; und somit erweist sich auch der Versuch zweifelhaft, welcher aus der den Durchschnitt begleitenden L\u00e4hmung, den Verlauf der motorischen Nervenr\u00f6hren zu erschlossen sucht. \u2014 c. Die Nervenr\u00f6hren sind in ihrem Verlauf durch das Hirn nun offenbar auch mit solchen Apparaten in Verbindung, welche den erregten zuckungerzeugenden Zustand des Nerven dahin umzusetzen verm\u00f6gen, dass der Nerv statt Zuk-kung Muskelruhe erzeugt; mit andern Worten, es gibt im Hirn Vorrichtungen deren erregende Kr\u00e4fte dazu verwendet werden den schon anderweitig erregten Nerven zu beruhigen. Alle Nerven die in einen solchen Apparat eingehen, werden aber in Folge ihrer direkten Erregung Erschlaffung eines zusammengezogenen Muskels und umgekehrt nach ihrem Durchschneiden am passenden Orte Zusammenziehung eines erschlafften Muskels erzeugen. Auf diese eigenth\u00fcmliche Stellung des Nerven ist man bis dahin ebenfalls noch nicht aufmerksam genug gewesen. \u2014 d. Die an den Individuen einer Species oder Gattung gewonnenen Thatsachen d\u00fcrfen nicht unmittelbar auch als g\u00fcltig angesehen werden f\u00fcr diejenigen anderer Familien oder gar anderer Classen von Thieren. Denn wenn auch die bisherigen physiologischen Versuche \u00fcber das Hirn wenig lehrreich waren, so haben sie uns doch mindestens die Versicherung gegeben, dass es eine ganz willk\u00fcrliche Fiktion ist, aus \u00e4usserlicher Form\u00e4hnlichkeit gewisser Hirntheile bei verschiedenen Thieren auf eine functioneile Gleichartigkeit derselben schliessen zu wollen. \u2014 e. Zu diesen im Hirnbau liegenden Schwierigkeiten kommt nun eine andere Reihe, welche eingef\u00fchrt werden durch die Operationsmethoden, Schwierigkeiten, auf deren Beseitigung man bis heute noch nicht gedrungen hat ; zu ihn\u00e9n z\u00e4hlt, dass man, um zu tiefer gelegenen Hirn-parthieen zu gelangen, den Sch\u00e4del \u00f6ffnen, das Hirn abk\u00fchlen, Blutungen erzeugen und anderseits den Kreislauf des Blutes unterbrechen muss. Wie unmessbar sind diese St\u00f6rungen. Endlich sind die bis jetzt angewendeten Erregermethoden weder in ihrer r\u00e4umlichen Verbreitung, noch in ihrer Intensit\u00e4t abgestuft genug um Gew\u00e4hr zu leisten, dass man nur die Nervenmassen erregt habe, mit denen der erregende Apparat sich in unmittelbarer Ber\u00fchrung befand.\nWem die zahllosen Schwierigkeiten vor Augen treten, welche sich hier der Untersuchung entgegen werfen, und wer, im Geiste den wun-","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nKreuzung motorischer K\u00f6hren im Hirn.\nderbaren Bau des Hirns schauend, von Staunen ergriffen ist \u00fcber die Leistungen dieses zarten und verschlungenen Gef\u00fcges, der wird gewiss mit Abscheu sich wegwenden von den rohen Versuchen jener Classe von Henkern, welche blindlings durch den Sch\u00e4del hindurch mit Nadeln und Messern in das feinste aller Gebilde stechen und schneiden, unter dem dreisten Vorgeben, der Wissenschaft einen Dienst zu leisten. Das Beginnen dieser Hirnbohrer ist kaum weniger sinnvoll als das Bestreben, durch Sch\u00fcsse aus Flinten und Pistolen, die man in eine Cylinderuhr sendet, die Funktionen ihrer R\u00e4der und Federn zu ermitteln.\nNach diesen Einleitungen bitten wir, mit der h\u00f6chsten Vorsicht folgende Mittheilungen aufzunehmen.\na. Die motorischen Nervenr\u00f6hren, deren St\u00fcmpfe in das Hirn steigen, erleiden, insofern dieses nicht schon im R\u00fcckenmark geschehen, eine totale Kreuzung, die, in den Pyramiden beginnend, innerhalb der Br\u00fccke vollendet wird, so dass alle Rumpf-und Extremit\u00e4tennerven in den sogenannten Grosshirnschenkeln auf der ihrer Ausbreitung in den Muskeln entgegengesetzten K\u00f6rperh\u00e4lfte verlaufen. Oberhalb der Grosshirnschenkel lassen sich die R\u00f6hren nicht weiter mit Sicherheit als continuirliche verfolgen; dringen sie in der That von hier aus noch in ununterbrochener Fortsetzung durch Seh-und Streifenh\u00fcgel zu den Grosshirnlappen, so m\u00fcssen sie in Beziehung auf ihre Erregbarkeit betr\u00e4chtliche Modifikationen erfahren.\nDen Durchgang der motor. R\u00fcckenmarksr\u00f6hren durch die Pyramiden erschlossen wir f\u00fcr den Menschen aus pathologischen Thatsachen, nach welchen eine nur auf die Bewegungsorgane beschr\u00e4nkte L\u00e4hmung des Rumpfes eintritt, wenn Geschw\u00fclste, die an der vorderen Wand des R\u00fcckgrathkanals gelegen sind, die Pyramiden zusammengedr\u00fcckt resp. zum Schwinden gebracht haben; dass in ihnen eine Kreutzung der Nerven vor sich geht, wird dadurch bewiesen, dass das Fehlen nur einer Pyramide, sei es eine Folge urspr\u00fcnglicher Entwicklung oder nachtr\u00e4glichen Schwindens, eine L\u00e4hmung der Muskeln auf der entgegengesetzten Rumpfh\u00e4lfte zur Folge hat. Versuche an h\u00f6her stehenden S\u00e4ugethieren, namentlich dem Hunde, bei denen ebenfalls eine Kreuzung der Pyramiden auf anatomischem und physiologischem Wege erwiesen ist, machen es nun f\u00fcr den Menschen wahrscheinlich, dass die Kreuzung allm\u00e4lig geschieht, indem eine Verletzung des unteren Theils der Pyramide zugleich gegen- und gleichseitige L\u00e4hmung nach sich zieht. \u2014 Verletzungen des Hirns in der Br\u00fccke und in dem Grosshirnschenkel l\u00e4hmen nach ganz \u00fcbereinstimmenden Angaben der bessern Pathologen immer die entgegengesetzte Rumpfh\u00e4lfte; dass sich bis zu diesen Punkten die Hirnfasern als mehr oder weniger unmittelbare Fortsetzungen der R\u00fcckenmarksfasern gestalten, schliessen wir, Aveil direkte Erregung derselben bei hohem S\u00e4uge-thieren, selbst nach Erl\u00f6schen aller reflektorischen Wirkungen, eine lebhafte Bewegung in den Gliedern der entgegengesetzten Seite hervorbringt. \u2014 Die physiologischen Versuche berechtigen nun aber vorerst nicht zu der Annahme, dass sich die Fasern aus den Grosshirnschenkeln ununterbrochen durch Seh- und Streifenh\u00fcgel in die Grosshirnhemisph\u00e4ren erstrecken, wreil bei den h\u00f6herstehenden S\u00e4ugethieren und namentlich dem Hunde durch die Erregung der letzteren Gebilde keine Bewegung des Rumpfs eingeleitet wrerden kann; jedenfalls stehen aber beide er-","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Verlauf der sensiblen Nervenr\u00f6hren durch das Hirn.\t167\nw\u00e4hnte Hirnganglien und ebenso das Dach der Seitenventrikel in einer bestimmten Beziehung zur Bewegung einer ganzen K\u00f6rperh\u00e4lfte, wTie die folgenden Bemerkungen lehren werden. \u2014\nb. Vom Verlauf der motorischen Kopfnerven innerhalb des Hirns ist nur bekannt, das der n. hypoglossus in Erregung gesetzt werden kann, wenn man den Boden der vierten Hirnh\u00f6hle an seiner hinteren Spitze mit mechanischen Mitteln angreift; Stilling, und ferner, dass die Augenmuskelnerven durch Einstechen in die Yierhugel in Th\u00e4tigkeit gerathen. \u2014 Wie die Nerven des Rumpfs so erfahren auch die des Kopfs eine totale Kreuzung.\nDie Angabe \u00e4lterer Pathologen, wronach die Kopfnerven entweder nur eine unvollkommene oder gar keine Kreuzung im Gehirn erfahren sollten, wurde durch Beobachtungen veranlasst, in welchen dr\u00fcckende K\u00f6rper, die sich in der Sch\u00e4delh\u00f6hle entwickelten, gleichzeitig auf die Rumpfnerven in ihrem Verlaufe durch das Gehirn, und auf die Kopfnerven, nachdem sie aus dem Gehirn getreten wraren, einwirkten, so dass L\u00e4hmung des Rumpfes und des Gesichtes gleichzeitig aber auf entgegengesetzten Seiten bestand. Romberg*\n3. Verlauf der s ensiblen Nervenr\u00f6hren durch das Hirn.\nDie sensiblen Nerven hat man im Einzelnen noch nicht durch das Gehirn verfolgt; man weiss nur, dass Ber\u00fchrung einer gewissen Anzahl von Theilen im Allgemeinen die Zeichen des Schmerzes erweckt, w\u00e4hrend eine Ber\u00fchrung anderer Theile diese Folge nicht nach sich zieht. Zu den schmerzhaften Hirnparthien z\u00e4hlt man allgemein: corpora restiformia und olivaria, den Boden der vierten Hirnh\u00f6hle mit Ausnahme des calamus scriptorius und des aquaeductus Sylvii, crura ce-rebelli ad corpor. quadrigemina, pedunculi cerebri. \u2014 Ueber die Empfindlichkeit der Pyramiden und der unteren Fl\u00e4che der Br\u00fccke besteht noch Controverse; in die Vierh\u00fcgel kann der n. opticus physiologisch verfolgt werden.\n4. Mittheilung der Erregungszust\u00e4nde in den Nervenr\u00f6hren des Hirns.\nA. Reflektorische Erregung.\nWie das R\u00fcckenmark vermag auch das Hirn die Reflexbewegung zu vermittlen ; dieselben charakteristischen Merkmale wie dort bietet sie auch hier. Wir bestimmen eine vom Hirn ausgehende Bewegung als eine reflektorische, vorzugsweise dann, wenn sie gegen den Willen erfolgt oder wenn sie nach vorausgegangenen sinnlichen Eindr\u00fccken in unwillk\u00fcrlich beweglichen Muskeln hervortritt.\nDie reflektorischen Bewegungen, welche die sensiblen Hirnnerven erwecken, erstrecken sich nicht allein auf die Nerven des Hirns, sondern auch auf die des R\u00fcckenmarks. Eine gr\u00fcndliche Untersuchung ist diesen wichtigen Verh\u00e4ltnissen noch nicht zu Theil geworden. \u2014 Folgende reflektorische Beziehungen sind als die wichtigsten unter den bekannteren hervorzuheben.","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nReflectorische Hirnbezirke.\na.\tDer n. opticus steht in n\u00e4chster Beziehung zu den Zweigen des n. oculomotorius, welche die Pupille versorgen; wirkt der Lichteindruck st\u00e4rker, so erstreckt sich auch sein Einfluss auf den ramus nerv, facialis pro orbiculo palpebrarum. \u2014 Ob er auf die Nerven der Thr\u00e4nen-dr\u00fcse einwirkt, steht noch dahin.\nDie Erscheinung, dass nach l\u00e4ngerem Sehen in die Sonne Messen erregt wird, kann wegen des Abflusses der Thr\u00e4nen in die Nasenh\u00f6hle, und darum, weil sich auf der den warmen Sonnenstrahlen ausgesetzten vorderen Augenfl\u00e4che Zweige des n. trigeminus verbreiten, nicht als Beweiss gelten, dass der n. opticus auf reflektorischem Wege diesen complizirten Muskelakt hervorrufe.\nb.\tYon der portio major nerv, trigemini findet sich der Ast f\u00fcr die conjunctiva in Beziehung zum ram. pro orbiculo palpebrarum des n. facialis und zu dem n. lacrymalis. \u2014 Seine Aeste f\u00fcr die innere Nasenfl\u00e4che vermitteln auf reflektorischem Wege das Niessen und wirken demnach auf die Nasen\u00e4ste des facialis, die Nerven f\u00fcr den arcus gloss op alatinus (?), die Inspirations- und die Exspirationsmuskeln, und zwar auf alle diese in der eigenth\u00fcmlichen Combination, dass auf eine volle und tiefe Inspiration, eine kr\u00e4ftige und pl\u00f6tzliche Exspiration w\u00e4hrend vollkommen offener Stimmritze bei Abschluss der Mundh\u00f6hle von den Athemwegen erfolgt. \u2014 Der ram. lingualis soll reflektorisch auf den nerv, hypoglossus und die portio minor n. trigemini wirken.\nc.\tNerv, acusticus soll die Muskeln der sogenannten Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen reflektorisch affiziren (?).\nd.\tNerv, glossopharyngeus erregt reflektorisch die Speichelnerven und die obern Muskeln des Schlingapparats, d. h. den ram. pharyngeus des n. vagus und ram. stylopharyngeus des n. glossopharyngeus.\ne.\tUnter den sensiblen Portionen des nerv, vagus und accessorius steht der ram. laryngeus superior in inniger Beziehung zu dem ram. recurrens vagi und den Exspirationsmuskeln, welche er nach seiner Erregung zur sogenannten Hustenbewegung combinirt, ein Akt, bei welchem pl\u00f6tzliche stossweise Exspirationen bei zusammengelegter aber nicht gespannter Stimmritze geschehen. \u2014 Der ramus pulmonalis \u00fcbertr\u00e4gt seine Erregung auf die Inspirationsmuskeln und zwar bei gesteigerter Erregung in ganz gewisser Reihenfolge, so dass die Inspiration zuerst nur mit dem Zwerchfell und dann allm\u00e4lig auch mit den mm. scaleni, serratus posticus superior, intercostales, levatores costarum u. s. w. vollf\u00fchrt wird, bis in den Bewegungsakt endlich auch die Schulterblatt- und Oberarmmuskeln gezogen werden. Der Schlund- oder Magenast soll im erregten Zustande auf die den Brechakt bewerkstelligenden Muskeln seine Erregung reflectiren.\nEinzelne dieser Reflexbewegungen gehen vollkommen beschr\u00e4nkt nur zwischen ganz bestimmten Nerven vor sich ; so erzeugt nur der n. opticus, nie der n. acusticus oder n. glossopharyngeus eine Pupillenerregung; niemals wird durch Ber\u00fchrung der \u00e4usseren Nase Niesen,","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Mitbewegung; Mitempfin dung.\n169\noder durch Ber\u00fchrung der Zunge Husten eingeleitet. Bemerkenswerth ist es ferner, dass dieselben Muskeln von verschiedenen sensiblen Nerven in ganz verschiedener r\u00e4umlicher oder zeitlicher Combination erregt werden. \u2014 Nicht minder wichtig erscheint es, dass einzelne Reflexbewegungen auch bei einseitiger Erregung des sensiblen Nerven immer doppelseitig erscheinen, wie die Pupillenverengerung, Husten und Niessbewegung, w\u00e4hrend andere nur einseitig Vorkommen, wie z. B. der Schluss des m. orbiculus palpebrar. \u2014 Die Muskeln, in welchen selbst bei gr\u00f6sster geistiger Aufmerksamkeit Reflexe erfolgen, sind entweder \u00fcberhaupt unwillk\u00fcrlich beweglich, wie die Pupille, oder mindestens in der gerade auftretenden Combination vom Willen schwer oder gar nicht anzuregen.\nDie Hirntheile, in welchen die env\u00e4hnten und \u00fcberhaupt die re-flectorischen Uebertragungen zwischen Kopfnerven geschehen, sind das verl\u00e4ngerte Mark und die Yierh\u00fcgel; letztere enthalten vorzugsweise den reflecktorischen Apparat f\u00fcr das Auge und werden darum das Centralorgan des Gesichtssinnes genannt. Der Nachweis, dass die\nbezeichneten Hirntheile die reflektorischen Herde darstellen, geht\n\\\ndaraus hervor, dass die Uebertragung noch geschieht, wenn man alle \u00fcbrigen Hirntheile ausser ihnen entfernt hat, ja dass sie dann am sichersten vorkommt.\nEs bedarf kaum der Erinnerung an die bekannte Thatsache, dass alle Kopfnerven bei h\u00f6heren Erregungen schliesslich reflektorische Kr\u00e4mpfe fast aller Muskeln des menschlichen K\u00f6rpers bewerkstelligen k\u00f6nnen,\nB. Mitbewegung, Mitempfindung und Reflexempfindung sollen ebenfalls die Hirnnerven zu erzeugen im Stande sein ; es ist aber hier so wenig als am R\u00fcckenmark ein scharfer Beweis f\u00fcr ihr Bestehen zu\nliefern.\n1)\tMitbewegung. \u2014 Mit Uebergehung aller andern gar nicht einmal zum Be-weissverfahren zul\u00e4ssiger Thatsachen ist hier nur zu erw\u00e4hnen, dass zwei unwillk\u00fcrlich bewegliche Organe, das Herz und die Pupille von der Seele aus eine Ver\u00e4nderung ihrer Erregung erleiden k\u00f6nnen, wenn gleichzeitig eine gewisse Zahl von andern willk\u00fcrlich motorischen Theilen in Bewegung kommt.\nSo k\u00f6nnen wir z. B. die Pupille nicht gesondert verengern, sogleich aber verengert sie sich, wenn wir das Auge nach innen und oben stellen. Ob in diesem Fall wirklich die Erregung aus den willk\u00fcrlich beweglichen Aesten des n. oculomo-torius auf den Irisast \u00fcbergeht, oder ob in dieser Combination der Irisast direkt von der Seele erregt werden kann, ist nicht zu entscheiden. Siehe hier\u00fcber Pupillen und Herzbewegung.\n2)\tMitempfindung. \u2014 Sehen in dasLicht, ein Sandk\u00f6rnchen in der Conjunction soll Kitzeln in der Nase hervorrufen? Hat man in diesem FaUe die Thr\u00e4nen von der Nase abgehalten, und den Kopf so gestellt, dass nicht zugleich die Sonne in die Nasen\u00f6ffnung schien? Oder ist hierbei gar eine Absonderung des Schleims in der Nase \u00fcbersehen worden? Nach Ber\u00fchrung des \u00e4ussern Geh\u00f6rgangs entsteht ein eigenth\u00fcm\u00fcches Kitzelgef\u00fchl im Kehlkopf und Neigung zum Husten, ist das nicht vielmehr ein Reflex auf die Muskeln der Stimmritze ? \u2014 H\u00f6ren eines Tons nach Streicheln der Wange kann ebenso als Reflex auf die Muskeln der'Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen gedeutet werden u. s. w. Die einzige Erscheinung, welche vorerst keine andere Deu-","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nVerbindungsmassen zwischen den Nerven-\ntung zu erlauben scheint, ist die, dass nach dem H\u00f6ren besonderer T\u00f6ne ein eigen-thiimliches Gef\u00fchl in den Z\u00e4hnen entsteht.\n3.) Reflexempfindling. \u2014 Ein schielendes Auge soH lichtscheu sein; hat es etwas auffallendes, dass ein wenig gebrauchtes Auge besonders empfindlich ist?\nMan sieht aus dieser Musterung der Thatsachen, dass kaum eine derselben auch nur die Hypothese wahrscheinlich macht, gegen\u00fcber den tausenden von F\u00e4llen in denen isolirte Empfindung und Bewegung in den Hirnnerven vorkommt.\n5. Verbin dungs mass en zwischen den Fortsetzungen der Nervenwurzein und den Organen der Willk\u00fcr.\nEine gr\u00f6ssere Zahl von Hirntheilen \u00fcbt, ohne dass durch ihre di-rekte Erregung im physiologischen Versuch eine Muskelbewegung eingeleitet werden kann, dennoch im Leben einen entschiedenen Einfluss auf dieselbe und besonders insofern die Bewegungen vom Willen abh\u00e4ngig sind. Dieser Einfluss \u00e4ussert sich in verschiedenen Hirnmassen verschieden.\na. Verletzung einiger Hirntheile zieht die Folge nach sich, dass die vom Willen veranlassten Ortsbewegungen immer eine ganz bestimmte Form annehmen. Nach Durchschneidung des Streifen-und Sehh\u00fcgels, eines Br\u00fcckenschenkels oder Seitentheils vom cerebellum entstehen bei S\u00e4ugethieren keine L\u00e4hmungen, insofern sich die Thiere b\u00e9i vollkommener Ruhe auf ihre Gliedmassen wie im unverletzten Zustand zu st\u00fctzen verm\u00f6gen; sowie die Thiere sich aber zu bewegen streben, tritt die eigenth\u00fcmliche Erscheinung hervor, dass sie nur nach einer bestimmten Richtung hin sich zu bewegen im Stande sind, so dass es scheint, als sei dem Willen die F\u00e4higkeit geraubt, andere als diese eine Combination der Muskeln zur Bewegung hervorzurufen. \u2014 Diese an S\u00e4ugethieren gewonnenen Erfahrungen werden (?) auch durch pathologische Beobachtungen am Menschen best\u00e4tigt, indem auch bei\nihnen sogenannte Zwangsbewegungen beobachtet sein sollen.\nDieses Feld, der breite Tummelplatz des Dilettantismus, ist noch wenig bekannt und die Fr\u00fcchte seines bisherigen Anbaues sind h\u00f6chst zweifelhafter Natur. \u2014 Nach Durchschneidung des Sehh\u00fcgels in seinen vordem Theilen soll das Thier eine Kreisbewegung vollf\u00fchren, in der Art, dass die verletzte Seite gegen den Mittelpunkt des Kreises gerichtet ist; nach Durchschneidung des hintern Sehh\u00fcgelabschnittes und des Grosshirnstamms entsteht dieselbe Bewegung aber nach der entgegengesetzten Seite; w\u00e4hrend dieser Bewegungen ist zugleich der Hals des Thieres nach der Richtung der Drehung hin verzogen. \u2014 Durchschneidung der Br\u00fcckenschenkel und Seitentheile des kleinen Hirns bedingt eine W\u00e4lzung des Rumpfs um seine L\u00e4ngsachse, verkn\u00fcpft mit stark divergirender (ausw\u00e4rts schielender) Augenstellung. Verletzung des Streifenh\u00fcgels soll nach einzelnen noch bestrittenen Angaben die Thiere nach vorn zu laufen zwingen. Die Behauptung, dass Ausreissen dejs nerv, facialis aus dem for. stylomastoideum bei Kaninchen Drehbewegung erzeuge, ist nicht richtig. \u2014 Beim Menschen sollen krankhafte Umwandlungen oder Schwund der Br\u00fcckenschenkel zwangsartige Drehbewegungen des Rumpfs um seine L\u00e4ngsachse bedingen. Die eigenth\u00fcmlichen Drehungen, die man bei Thieren nach Verletzung der Sehh\u00fcgel u. s. w. beobachtet, kommen beim Menschen nicht vor; wohl aber L\u00e4hmungen von Muskeln, welche immer auf der dem verletzten Sehh\u00fcgel entgegengesetzten K\u00f6rperh\u00e4lfte liegen, und neben diesen Verziehungen des Halses nach der gel\u00e4hmten Seite.","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"wurzeln und den Organen der Willk\u00fclir.\n171\nDie diesen dunklen Ph\u00e4nomenen untergeschobenen Deutungen sind mindestens unbedeutend; ihre Giltigkeit ist nicht erwiesen; so glaubt man, dass die Erscheinungen der Drehbewegung von einseitiger L\u00e4hmung des Willens auf eine Seite abzuleiten sei, oder von gleichzeitiger L\u00e4hmung des Adduktoren einer- und der Abduktoren andererseits u. sw. \u2014 Am geratensten w\u00fcrde es sein, den Gegenstand vorerst ganz liegen zu lassen.\nb. Verletzung anderer Theile, von denen aus im physiologischen Erregungsversuch unter keinen Umst\u00e4nden Bewegung eingeleitet werden kann, vernichtet die Abh\u00e4ngigkeit gewisser Nervenr\u00f6hren von dem Willen und der Empfindung vollst\u00e4ndig, obwohl hiebei die Seelenfunktionen und die Erregbarkeit der Nerven bis ins verl\u00e4ngerte Mark hinein vollkommen unangetastet bleiben, wie dieses letztere namentlich aus dem Bestehen der Reflexbewegungen hervorgeht. Zu diesen Hirnbestandtheilen geh\u00f6ren beim Menschen die Grosshirnhemisph\u00e4ren, deren Verletzung gew\u00f6hnlich eine L\u00e4hmung der Empfindung und Bewegung, und zwar immer in gekreuzter Weise (d. h. in der Seite, welche der verletzten Hemisph\u00e4re entgegengesetzt liegt) begleitet. Es scheint zugleich, als ob best\u00e4ndig den lokalen Verletzungen der Hemisph\u00e4ren lokale L\u00e4hmungen der Nervenwurzeln entspr\u00e4chen ; die sich deckenden Punkte sind aber noch nicht ermittelt. Alle auf diese That-sachenreihe bez\u00fcglichen Erscheinungen erl\u00e4utern sich nur, wenn man die ganz gewagte Annahme macht, dass zwischen den Nervenwurzeln (die im verl\u00e4ngerten Mark enden ?) und den Seelenorganen ein System von Nervenr\u00f6hren u. s. w. gelegen sei, deren Erregbarkeit eine andere sei, als diejenige der meisten \u00fcbrigen Nervenr\u00f6hren, so dass sie von dem Willen, aber nicht durch die gew\u00f6hnlichen Erreger\nin Th\u00e4tigkeit versetzt werden k\u00f6nnten.\nDie Erfahrungen \u00fcber die Leistungen der menschlichen Grosshirnlappen k\u00f6nnen nur aus pathologischem Befunde am Menschenhirn gemacht werden, weil die Grosshirnlappen nach den vorliegenden Versuchen bei verschiedenen Thieren eine verschiedene Bedeutung haben. Hier scheint als Gesetz zu gelten, dass je geringer die Ausbildung der Hirnlappen ist, um so unbetr\u00e4chtlicher auch ihr Einfluss auf willk\u00fcrliche Bewegung und Empfindung ausf\u00e4llt. \u2014 Einem Frosch z. B. kann man die sog. Grosshirnlappen ohne alle sichtbaren Folgen entfernen; bei den V\u00f6geln erzielt Wegnahme derselben kaum irgend eine St\u00f6rung der Bewegung; die Thiere stehen, fliegen, sehen u. s. w. Bei Kaninchen bewirkt die Entfernung derselben ebenfalls keine L\u00e4hmungserscheinung und erst der Hund f\u00e4llt nach Verletzung derselben gel\u00e4hmt zu Boden. Die durch Krankheitsprodukte herbeigef\u00fchrten Hirnver\u00e4nderungen werden aber, abgesehen davon, dass sie meist an und f\u00fcr sich wenig lokalisirt sind, noch dadurch vielseitig, dass sie ausser der \u00f6rtlichen Zerst\u00f6rung, die sie herbeif\u00fchren, mannigfache accessorische Wirkungen, z. B. durch Ver\u00e4nderung des Blutlaufs, allgemeinen Hirndruck durch vermehrte Anf\u00fcllung der Sch\u00e4delh\u00f6hle u. s. w. herbeif\u00fchren.\nMan muss es f\u00fcr gewiss halten, dass einzelne Stellen der Grosshirnlappen nur mit bestimmten Nerven in Beziehung stehen, weil die Beobachtungen nicht selten sind, in denen auf eine beschr\u00e4nkte Verletzung in erstem entweder nur die Empfindung oder seltener nur die Bewegung, oder nur die Bewegungsorgane des Rumpfs, oder einzelner Glieder oder gar nur diejenigen eines einzigen Nerven gel\u00e4hmt sind. \u2014 Es hat aber trotz dieser Beobachtungen und der entsprechenden Hirnsektionen nicht gelingen wollen, die zusammengeh\u00f6rigen Theile zu ermitteln, weil eine AfFektion","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nEigent\u00fcmliche Erregbarkeit des Hirns.\ndesselben Nerven durch Krankheit der hintern, mittlern und vordem Grosshirnlappen beobachtet wurde. Man muss nach dieser Beobachtung annehmen, dass die einer Nervenfaser entsprechende Grosshirnfaser ununterbrochen durch die ganze Hemisph\u00e4re in mannigfachen Windungen hinzieht. \u2014 Hier ist auch die wichtige Beobachtung anzureihen, dass ein nach dem L\u00e4ngendurchmesser der Hemisph\u00e4ren gef\u00fchrter Schnitt weit weniger sch\u00e4dlich wirkt, als ein Querschnitt \u2014 Den beim Menschen erschlossenen Zusammenhang kann man auch bei S\u00e4ugethieren darstellen, wenn man einzelne sensible Nervenst\u00e4mme unterbindet und dauernden, schmerzhaften Erregungen aussetzt. In diesem Fall treten \u00f6fter beschr\u00e4nkte Entz\u00fcndungen und Eiterungen in einem Grosshirnlappen hervor, welche auf der der urspr\u00fcnglichen Verletzung entgegengesetzten Seite liegen. \u2014 Wir schliessen auf pin besonderes intermedi\u00e4res R\u00f6hrensystem (intermedi\u00e4r zwischen verl\u00e4ngertem Marke und Seelenorganen [?] ) daraus, dass in Folge von Zerst\u00f6rung oder angebornem Mangel irgend welcher St\u00fccke der Grosshirnlappen, vorausgesetzt, dass das Leben l\u00e4ngere Zeit dabei bestand, immer ein theilweises Schwinden der Faserz\u00fcge beobachtet wird, die sich von ihnen aus durch die Grosshirnst\u00e4mme, in die Br\u00fccke bis zu den Pyramiden erstrecken, w\u00e4hrend im R\u00fcckenmarke kein Schwinden irgend eines Stranges zu beobachten ist. \u2014 Vollkommen unklar ist es noch, warum sich bei einzelnen sog. Hemiplegien Contrakturen, d. h. dauernde Verk\u00fcrzungen einzelner Muskeln, namentlich der Flexoren finden, w\u00e4hrend sie andermale fehlen; sind hier die Einfl\u00fcsse muskelerschlaffender Hirnorgane vernichtet ?\nc. Obgleich nach theilweisen Zerst\u00f6rungen der ebenfalls unempfindlichen und auf direkte Erregung keine Bewegung veranlassenden Kleinhirnhemisph\u00e4ren \u00f6fter einseitige mehr oder weniger ausgebreitete L\u00e4hmungen entstehen, so m\u00fcssen wir doch nach der Gesammtsumme der vorliegenden Thatsachen behaupten, dass sie nicht wie die Grosshirnhemisph\u00e4ren weder im Ganzen noch im Einzelnen Vermittler zwischen der Seele und den Nerven sind. Diese Behauptung rechtfertigt sich vollkommen, wenn man erf\u00e4hrt, dass zahlreiche F\u00e4lle von fast vollkommener Zerst\u00f6rung des kleinen Gehirns und sogar einer von Mangel desselben beobachtet wurden, ohne dass Empfindung und willk\u00fcrliche Bewegung auch in nur einem K\u00f6rpertheile fehlte. Wenn also in einzelnen F\u00e4llen neben Zerst\u00f6rung des Kleinhirns L\u00e4hmungen beobachtet werden, so m\u00fcssen sie demgem\u00e4ss Folgen anderer begleitender Hirnver\u00e4nderungen sein.\nDie bekannten und oft wiederholten Versuche an V\u00f6geln, wornach die Abtragung des kleinen Gehirns die willk\u00fcrlich ausgef\u00fchrten Bewegungen schwach und ungeschickt, den Gang schwankend machen, sind f\u00fcr die Physiologie des Menschen ganz uninteressant, da man nie etwas \u00e4hnliches nach Verletzung seines Kleinhirns beobachtete.\n6. Ei g enth\u00fcmliche Erregbarkeitsverh\u00e4ltnisse im Hirn.\nAlle die Erscheinungen, welche wir unter der gleichen Ueber-schrift im R\u00fcckenmark beschrieben haben, finden sich auch im Hirn wieder, und namentlich zeigt sich, dass gewisse Gifte in derselben Weise hier wie dort wirken; dass trotz der Gegenwart nerv\u00f6ser Elemente dennoch einzelne St\u00fccke des Hirns in keine sichtbare Erregung durch die gew\u00f6hnlichen Erreger zu versetzen sind, und endlich, dass das Yerh\u00e4ltniss der Andauer zwischen der Erregung und der","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Selbsterregung.\n173\nsie einleitenden Erregerwirkung sich \u00e4hnlich wie im R\u00fcckenmark gestaltet. \u2014 Als eine Besonderheit des Hirns vor dem R\u00fcckenmark ist aber noch hervorzuheben, dass es eine eigenth\u00fcmliche Art unwillk\u00fcrlicher Erregungsquellen in sich f\u00fchrt, auf deren Betrachtung wir im Folgenden eingehen.\nSelbsterregung, Automatie. Vom Hirn aus werden ohne Zuthun des Willens und ohne dass auch eine reflektorische Ursache vorl\u00e4ge, eine Reihe von Bewegungen erregt; wir sind darum gezwungen, noch einige besondere, Erregung erzeugende Umst\u00e4nde in ihm anzunehmen, die wir in Ermanglung sch\u00e4rferer Bezeichnung mit den obigen Namen belegen. Die besondern Erscheinungen, unter denen die Selbsterregung auftritt, sind folgende: a) Die Orte des Hirns, von welchem die automatischen Erregungen ausgehen, sind ganz beschr\u00e4nkt, \u2014 b) Jede automatische Erregung erstreckt sich nicht auf einen, sondern immer auf eine Zahl von Muskeln; diese Muskeln werden immer nur in einer und derselben, r\u00e4umlich und zeitlich genau geordneten Weise erregt, so dass der aus ihnen hervorgehende Bewegungseffekt als ein solcher erscheint, der auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist; als Beispiele solcher Bewegungen dienen die Athem- und Schlingbewegungen. \u2014 c) Die Erregung stellt sich in mehr oder weniger regelm\u00e4ssigen Zwischenr\u00e4umen wieder ein, oder sie ist, wie man sich ausdr\u00fcckt, eine rhythmisch wiederkehrende. Auf die Beschleunigung, resp. die Verlangsamung des Rhythmus sind von Einfluss: der Willen, indem es diesem gelingt, den selbsterregenden Apparaten einen Anstoss zu geben, in Folge dessen die Bewegung in gew\u00f6hnlicher Reihenfolge eintritt; die eigenth\u00fcmliche Stellung des Willens zu diesen Apparaten liegt darin ausgesprochen, dass es uns f\u00fcr einzelne automatisch bewegte Apparate, wie in denen f\u00fcr den Schlingakt, nicht gelingt, die Ordnung, in der die Muskeln sich zusammenziehen, umzukehren, wenn wir die Gesammtbewegung auch willk\u00fcrlich einleiten k\u00f6nnen. Ferner wirkt auf den Rhythmus der Reflex, wie am deutlichsten aus den Athembewegungen sichtbar wird, welche durch Erregungen der empfindlichen Haut- und Lungennerven sehr beschleunigt werden k\u00f6nnen. Ferner \u00fcbt auf die Beschleunigung des Rhythmus einenEinfluss aus eine gewisseZusammensetzung des Blutes, indem bei Anwesenheit gewisser Stoffe (wie z.B. der Kohlens\u00e4ure?) sich die Athembewegung beschleunigt, w\u00e4hrend bei Gegenwart anderer, wie des Opiums, sie sich verlangsamt. \u2014 d) Zwischen St\u00e4rke und Zeitfolge der Bewegung scheint die Beziehung zu bestehen, dass die Intensit\u00e4t der Erregung mit der steigenden Beschleunigung der Aufeinanderfolge abnimmt; mit andern Worten, die Bewegungen werden um so weniger kr\u00e4ftig, je rascher sie folgen, wie uns am deutlichsten die Athembewegungen zeigen. Eine durch die Erfahrung best\u00e4tigte Folgerung dieses Satzes besteht darin, dass die zwei aufeinanderfol-","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\tErregende Orte der Athem- und Schlingbewegung.\ngende Bewegungen unterbrechende Pause niemals verschwinden kann. \u2014 e) Das wirkungsvolle Bestehen der Selbsterreger kn\u00fcpft sich an die Gegenwart normal zusammengesetzten Arterienblutes im Hirn; wird dieses den automatischen Hirnstellen nur kurze Zeit entzogen, so b\u00fcssen sie ihre physiologischen Leistungsf\u00e4higkeiten vollkommen ein.\nDiese Thatsachen, welche mehr vor\u00fcbergehend als in Folge gr\u00fcndlicher, eigens zur Erkennung der Selbsterregung unternommener Versuche gewonnen sind, gen\u00fcgen begreiflich nicht, um eine Theorie der den Erscheinungen zu Grunde liegenden molekularen Ver\u00e4nderungen zu geben\u00bb\nDie,einzigen etwas genauer gekannten Orte, die der Selbsterregung theilhaftig sind, befinden sich im verl\u00e4ngerten Mark ; sie beherrschen a) die Athembewegung* *). Die Hirnstelle, welche die Athembewegungen anregt, liegt im verl\u00e4ngerten Mark, Legallois, unmittelbar um die Wurzelfasern des nervus vagus und der obern des nerv, accessorius. Ihre Ausdehnung betr\u00e4gt der L\u00e4nge nach kaum eine Linie, Flourens; sie nimmt die Dicke des verl\u00e4ngerten Markes nicht ein, indem man die corpora restiformia und die Pyramiden abtragen kann, ohne dass der Rhythmus der Athembewegungen beeintr\u00e4chtigt wird, Longet; zugleich erstreckt sie sich nicht \u00fcber die 1 Mittellinie des verl\u00e4ngerten Markes, da nach einer L\u00e4ngsspaltung desselben die Athembewegungen noch fortdauern, Longet. Von dieser Stelle aus werden erregt das Zwerchfell, die mm. thyreoarytenoidei postici, levatores, alae narium, scaleni, levafcores costarum, intercostales externi, sternocleido-mastoidei, und fast s\u00e4mmtliche Schulterblatt-Rumpfmuskeln und Armheber.\nWie jeder, auch der Anf\u00e4nger weiss, werden nicht bei jeder Athembewegung alle erw\u00e4hnten Muskeln inTh\u00e4tigkeit gebracht. Die n\u00e4heren Umst\u00e4nde, unter denen bald eine gr\u00f6ssere, bald eine kleinere Zahl von ihnen in den Kreis der Th\u00e4tigkeit gezogen wird, sind in der Athemlehre angegeben.\n\u00df) Die Schlingbewegung*). Die automatische Erregungsstelle der Schlingnerven muss ebenfalls im verl\u00e4ngerten Mark gesucht werden; von ihr sind abh\u00e4ngig mm. stylohyoidei, styloglossi, stylo-\npharyngei, und constrictor es faucium supremi et medii.\nDie Schlingbewegung tritt ebenfalls noch nach Wegnahme des kleinen und grossen Gehirns ein, selbst wenn durch Bestreichen des Gaumens keine Reflexbewegung mehr erzielt werden kann. \u2014 Das Genauere bei der Verdauungslehre.\nDie auf die Seelen er sch ei nun gen sich beziehenden Mittheilungen sind an das Ende dieses Bandes gelegt.\nDie Hirnbewegung wird in der Lehre vom Blutkreislauf abgehandelt werden.\n*) Flourens, determination du point vital de la moelle allonge'e compt. rend. XXXIII. 43T. \u2014 Longet, Traite' de physiologie. Paris 1850. Il Vol. deux. part. p. 209.\n*0 Wild, Ueber die peristal tische Bewegung des Oesophagus u. s. w. Henl eu. Pfeufer V.Bd.76","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"1T5\nC. Sympathischer Nerv.\n1. Bestimmung seiner Grenzen; anatomische Einleitung* *). \u2014 Die Anatomen definiren den n. sympathicus noch immer verschieden ; die einen erkl\u00e4ren ihn f\u00fcr einen m\u00e4chtigen und verwickelten Plexus cerebrospinaler Nerven in dem an verschiedenen Stellen und auf verschiedene Weise Ganglienkugeln eingelagert sind, die andern setzen hierzu noch die Erg\u00e4nzung, dass von diesen Ganglienkugeln zahlreiche neue R\u00f6hren ausgehen, welche entweder \u00fcberhaupt oder mindestens kein sogenannt centrales Ende im Hirn undR\u00fck-kenmarke finden. Diese letzteren Anatomen sind dann geneigt, nur die neuentspringenden R\u00f6hren als sympathische zu bezeichnen. Indem wir unentschieden lassen m\u00fcssen, welche von beiden Ansichten die berechtigte sei, werden wir hier die Funktionen abhandeln, welche dem n* sympathicus im weitern Wortsinne zukommen.\nDie Elementartheile, welche dem nerv. sympathicus zukommen, sind: 1) R\u00f6hren von breiterem und feinerem Durchmesser; nach der ber\u00fchmten Untersuchung; von Bidder und Volkmann glaubte man sich berechtigt, die feinen R\u00f6hren f\u00fcr die dem Sympathicus spezifisch zukommenden, in ihm entspringenden ansehen zu m\u00fcssen ; neue Untersuchungen, welche die feinen R\u00f6hren auch als einen unzweifelhaften Bestandtheil des cerobrospinalen Systems nach weisen, haben diese Meinung sehr ersch\u00fcttert und dahin eingeschr\u00e4nkt, dass wenn die breiten Fasern auch ausschliesslich cerebrospinal sind, die feinen wenigstens nicht ausschliesslich als sympathische angesehen werden k\u00f6nnen (Stannins, K\u00f6lliker). \u2014 2) Ganglienkugeln in sehr betr\u00e4chtlichem Zahl; diese sollen rings geschlossen zwei- und zuweilen dreistrahlig sein. Die anatomische Controverse \u00fcber diesen Punkt hat sich dahin gestaltet, dass einige Anatomen die Gegenwart s\u00e4mmtlicher Formen behaupten, andere nur die ringsgeschlossenen und einstrahligen, andere nur die geschlossenen und zweistrahligen als vorhanden ansehen. Der bestimmende Grund f\u00fcr die \u00fcbereinstimmende Annahme astloser Ganglienk\u00f6rper liegt darin, dass h\u00e4ufig die Zahl der Ganglienk\u00f6rper, welche zu einem Haufen vereinigt einen Nerven umgeben, viel betr\u00e4chtlicher ist, als die Zahl der zwischen ihnen verlaufenden Nervenr\u00f6hren und zugleich die gegenseitige Lagerung beider Elemente eine solche, dass der Verdacht nicht entstehen kann, als ob ein, Nervenrohr mehrere Ganglienkugeln durchsetze. \u2014 Die Annahme einstrahliger Kugeln gr\u00fcndet sich wesentlich auf die von Bidder und Volkmann entdeckte Thatsache, dass der auf der einen Seite in ein Ganglion eintretende Nervenstamm viel weniger R\u00f6hren enth\u00e4lt, als der austretende; die innerhalb des Ganglions demnach geschehene Faservermehrung glaubt man sich am einfachsten unter der Voraussetzung von R\u00f6hrenurspr\u00fcngen aus den Ganglienkugeln erl\u00e4utern zu k\u00f6nnen. Dieser Grund ist aber begreiflich nicht bindend, weil die R\u00f6hrenmehrung auch noch durch mancherlei andere, zum Theil durch die Beobachtung best\u00e4tigte Begebnisse erl\u00e4utert werden kann, wie durch Theilung der R\u00f6hren, durch die Anwesenheit dreistrahliger Ganglienzellen, von denen regelm\u00e4ssig nur ein Fortsatz in den eintretenden, zwei andere dagegen in den austretendeu Nerven verlaufen, und endlich auch durch die Gegenwart von zweistrahligen Ganglienkugeln, deren Aeste nach einer\nc*- aww t.\t\u2014 b\u2014\t,,-r-\n*) K \u00f6llik er, Mikroskop. Anatomie II. a. p. 522. \u2014 R. W agner, Bericht \u00fcber die gemeinschaftl. etc. angestellle Beobachtung. G\u00f6ttinger, gelehrte Anzeigen 1851, Nr. 14.\u2014 Stannius, Neurolog. Erfahrungen, \u2014 G\u00f6ttinger, gelehrte Anzeigen 1851. Nr. 17. p. 235.","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nAnatomisches Verhalten des N. Sympathicus.\nSeite hin dringen. Das Vorkommen einstrahliger Ganglienzellen bleibt darum so lange zweifelhaft, als man sie nicht in Pr\u00e4paraten nachgewiesen hat, die mittelst Methoden dargestellt sind, welche die M\u00e4ngel der bisher angewendeten vermeiden. \u2014 Zur exclusiven Annahme der zweistrahligen Ganglienkugeln (neben den geschlossenen) glaubt man sich berechtigt, weil bei den Thieren, deren Ganglienhaufen wegen der Deutlichkeit der Elementartheile sich leicht zergliedern lassen, \u00fcberwiegend nur zweistrahlige nachgewiesen sind; die einstrahligen, welche man bei andern Thieren sehr h\u00e4ufig findet, glaubt man desshalb als Kunstprodukte ansehen zu m\u00fcssen; welche aus den zweistrahligen in Folge der schwierigen Pr\u00e4paration entstanden sind. \u2014 3) In einigen Ganglien finden sichK\u00f6rnerhaufen einer Molekularmasse. \u2014 4) Endlich rechnet man zu den wesentlichen sympathischen Theilen die Remakschen Fasern. Ob diese beiden und namentlich die letzteren Bestandtheilein der That nerv\u00f6se seien, muss so lange unentschieden bleiben, biss man dargethan, ob diese Fasern, deren Aeusseres von dem der Nervenr\u00f6hren ganz abweicht, die \u00fcbrigen physiologischen und physikalischen Besonderheiten der Nerven darbieten. \u2014 Die Zusammenlagerung der verschiedenen (der cerebrospinalen und sympathischen) R\u00f6hren sowohl untereinander als auch dieser mit den Ganglienkugeln schildern die Autoren nicht mit Uebereinstim-mung. Die Verbindungsf\u00e4den zwischen R\u00fcckenmark und Grenzstrang sollen bald nur reine Cerebrospinalnerven sein, die als Wurzeln des Grenzstrangs vom R\u00fcckenmark ausgehen; bald aber neben diesen auch sympathische Fasern enthalten, die aus den Ganglien des Grenzstrangs entspringend in die R\u00fcckenmarksnerven einlaufen.\u2014 Neuerlichst scheint ein sicheres Mittel f\u00fcr die Entscheidung dieser wichtigen Frage gefunden zu sein ; es gr\u00fcndet sich dasselbe auf die Erfahrung, dass die sensiblen und motorischen R\u00f6hren, welche von ihren Centraltheilen l\u00e4ngere Zeit hindurch getrennt sind, atrophisch d. h. in ihrem Bau ver\u00e4ndert werden. Durchschneidet man die Verbindungszweige des R\u00fcckenmarknerven und des Grenzstranges, oder zerst\u00f6rt man gar das R\u00fcckenmark, w\u00e4hrend man das Leben des Thieres erh\u00e4lt, so wird man aus der Lagerung der atrophischen R\u00f6hren auf die Stelle ihres Ursprung zu schliessen im Stande sein, Budge*). S chiff **), der sich dieser Methode bediente, behauptet, dass nach Zerst\u00f6rung des R\u00fcckenmarks bei einer Taube alle innerhalb der erw\u00e4hnten Verbindungszweige liegende R\u00f6hren atrophisch geworden seien, so dass also keine aus dem Sympathicus entspringende R\u00f6hre in diesen Verbindungsstr\u00e4ngen laufen.\nDiese R\u00f6hren laufen nun in dem Grenzstrang auf- und abw\u00e4rts, meist durch mehrere Ganglien und treten dann gegen die Eingeweide ; auf diesem Wege mehrt sich nun die Zahl der R\u00f6hren ( wie wenigstens bei Amphibien erwiesen ), ob durch Theiiung oder neue Urspr\u00fcnge aus den Ganglienzellen ist unentschieden.\nDen Nervenr\u00f6hren des Grenzstrangs und den an ihm oder seinen Zweigen liegenden Ganglienmassen verhalten sich physiologisch auch noch andere Nervenmassen sehr \u00e4hnlich. Man z\u00e4hlt sie darum wohl zuweilen ebenfalls zu dem sympathischen System. Hierher geh\u00f6ren vorzugsweise die Aeste des n. vagus in der Herzsubstanz. Die Ganglia submaxillaria, ciliaria u. s. w., die man ebenfalls hierher zu z\u00e4hlen geneigt war, geben dazu mindestens durch ihre physiologischen Eigenschaften keine Berechtigung. Auf diese Nerven werden wir hier nicht eingehen. \u2014\nPhysiologisches Verhalten. \u2014 Im Bereiche des sympathischen Nerven wiederholen sich mit Ausnahme der auf die Seele bez\u00fcglichen Verh\u00e4ltnisse s\u00e4mmtliche Erscheinungen des Hirns. Insbesondere f\u00fchrt er die drei spezifisch verschieden wirksamen R\u00f6hren-gattungenjmotorische, sensibel-reflektorische, absondernde; zwischen seinen R\u00f6hren theilt sich die Erregung durch Ouerleitung mit ; die Er-\nBudge. Neurolog. Mittheilungen. Ztschrift f. wiss. Zoolog. III. Bd.\n**) Schiff \u00fcber d. anatom. Charakter etc. Archiv f\u00fcr physiologische Heilkunde. IX, Bd. 145.","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Verbreitungsbezirke der motorischen R\u00f6hren.\n177\nregbarkeit seiner R\u00f6hren sind eigenth\u00fcmliche ; seine bewegenden R\u00f6hren wirken nach besondern Combinationen und endlich enth\u00e4lt er selbsterregende Stellen.\n1. Verbr eitungsb ezirke der motorischen R\u00f6hren. \u2014 Die Untersuchung, weiche die Urspr\u00fcnge und Yerbr eitungsb ezirke der motorischen R\u00f6hren aufzudecken trachtet, hat mit besondern weitaus noch nicht \u00fcberwundenen Schwierigkeiten zu k\u00e4mpfen. Denn abgesehen davon, dass einige Thatsachen die Wahrscheinlichkeit erheben, es m\u00f6gten viele Muskelnerven im Sympathicus statt einer verk\u00fcrzenden eine erschlaffende Wirkung auf ihre zugeh\u00f6rigen Muskeln \u00fcben, \u2014 eine M\u00f6glichkeit, welche alle bisherigen Untersuchungen noch \u00fcbersehen haben \u2014 stellen sich auch nachweislich folgende Hemmnisse dem Beobachter entgegen: a. die Nerven sind w\u00e4hrend des vollkommen gesunden Bestehens eines Thieres nicht immer in einem solchen Zustande, dass sie die ihnen zukommende verk\u00fcrzende Wirkung einleiten k\u00f6nnen, Wild. \u2014 b. Innerhalb des sympathischen Systems finden \"sich automatische Einrichtungen, welche unter noch unbekannte Bedingungen selbstst\u00e4ndige Bewegungen einleiten; treten demnach Bewegungen nach einem erregenden Einfluss auf, so kann nicht entschieden werden, ob sie von diesem letzteren oder vom automatischen Organ erzeugt worden sind. Diese Fehlerquelle ist um so einflussreicher, als man meist unter Umst\u00e4nden zu operiren gezwungen ist, (nach Er\u00f6ffnung der Bauchh\u00f6hle u. s. w.) unter denen wahrscheinlich auch eine verbreitete Erregung der automatischen Organe eintritt. \u2014 c. Die auf eine tetanische oder momentane Erregung eines sympathischen Nerven eintretende Muskelverk\u00fcrzung beginnt weder in einer bestimmten und kurzen Zeit nach der Erregung, noch schhesst sie mit derselben, noch geht sie endlich ihrem Modus parallel, indem selbst auf dauernde Erregung eines Nerven der Muskel sich wechselnd bald verk\u00fcrzt, bald verl\u00e4ngert. Aus diesen Gr\u00fcnden wird der Schluss auf die Zusammengeh\u00f6rigkeit des Erregers und der Bewegung getr\u00fcbt. -\u2014 d. Die Bewegung, welche in einem Abschnitt eines zum n. sympathicus geh\u00f6renden Muskelapparates eingeleitet wurde, bleibt innerhalb desselben niejit isolirt, sondern erstreckt sich auf mannigfache Weise durch reflektorische Beziehungen weiter. Hieraus folgt, dass wir nicht mit Sicherheit angeben k\u00f6nnen, welche Muskeln direkt von diesem oder jenem Nerven abh\u00e4ngig sind. Diese Fehlerquelle wird umso bedeutender, da, wie sich aus c. ergibt, das Crit\u00e9rium im sympathischen System fehlt, durch welches sich meist in cerebrospinalen die reflektorischen von den geradezu erregten unterscheiden. \u2014 Gegen diese Uebeist\u00e4nde hat man, obwohl man sich ihrer mehr oder weniger deutlich bewusst war, keine Abhilfegesucht oder gefunden, mit der einzigen Ausnahme, dass man die Bewegung der Eingeweide dem Auge sichtbar zu machen suchte, ohne dieselben zu entbl\u00f6ssen, wodurch allerdings\nLudwig Physiologie I.\t12","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nMotorische Wirkungen des Grenzstranges.\ndie Gr\u00f6sse der unter b. erw\u00e4hnten Fehlerquelle geschw\u00e4cht wird* Mittel, die man zu diesem Behuf anwendet bestehen: in Anlegen von Darmfisteln; Blosslegung der Baucheingeweide ohne Oeffnung der Pe-riton\u00e4alh\u00f6hle u. s. w. \u2014 N\u00e4chst diesen M\u00e4ngeln ist aber an der Methodik der bisherigen Arbeiten \u00fcber unsern Gegenstand noch der zu beklagen, dass man nicht einmal den n. sympathicus nach einer strengen \u00f6rtlichen Reihenfolge erregt hat, so dass man z. B. zuerst ermittelt h\u00e4tte, welche Erscheinungen treten ein nach Erregung der Verbindungs\u00e4ste der R\u00fcckenmarksnerven und des Greuzstranges ; welche darauf nach Erregung der Aeste des Grenzstrangs, welche nach Erregung der Hauptganglien dieser Aeste u. s. w. \u2014 Nach diesen Angaben wird man auf die Unsicherheit der \u00fcber den vorliegenden Gegenstand geschehenen Mittheilungen schliessen k\u00f6nnen.\nAuf Erregung des Grenzstranges am Halse erfolgt Verk\u00fcrzung:\na) des Radialmuskels der Pupille Petit. Biffi*). An der Richtigkeit dieser Thatsache kann kein Zweifel bestehen, da auf tetanische Erregung des Nerven tetanische Erweiterung der Pupille erscheint. Budge**) hat die Wurzeln der pupillenerweiternden Nerven des Grenzstranges bis in das R\u00fcckenmark verfolgt und dort ihren Ursprung in der Gegend des 5. bis 6. Halswirbels gefunden.\n\u00df) Verk\u00fcrzung der Verengerer der Blutgef\u00e4sse am Kopf. Bernard***) schliesst dieses, weil nach Durchschneiden des Grenzstranges am Hals bei Kaninchen die Haut des Gesichts dauernd eine h\u00f6here Temperatur annimmt, was allerdings auf vermehrte Blutzufuhr durch die erweiterten Gef\u00e4sse hindeutet.\n7) Nach Angabe vieler Autoren soll nach Anspruch des Halstheils vom Sympathicus noch erfolgen i. beschleunigte Zusammenziehung des Herzens ; f\u00fcr das Kaninchen ist diese Behauptung vollkommen irr-th\u00fcmlich; wie ich nach einer unter meinen Augen von Weinmann angestellten gr\u00fcndlichen Untersuchung behaupten kann. Siehe hier\u00fcber Herzbewegungen.\nd) Verk\u00fcrzung der Speiser\u00f6hre, eine Beobachtung, die aber noch sehr zweifelhaft ist.\nR\u00fcckentheil des Sympathicus.\na) Auf Erregung des Grenzstranges selbst sollen in peristaltische Bewegungen kommen: das Herz, eine Thatsache die noch sehr zu bezweifeln; die Speiser\u00f6hre (?), die Verengerer der grossen Arterien (?), die Galleng\u00e4nge, Valentin, Magen und D\u00fcnndarm, J. M\u00fcller\n*3 Valentin It. a. 424.\n**3 Zeitschrift f\u00fcr Wissenschaft!. Zoologie III. Bd. S. 347, \u2014 V alentin, Jahresbericht f\u00fcr 1851. *p. 173 n. f.\n***) Compt. rend. 1852 Febr,","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Motorische Wirkungen des Grenzstranges.\n179\nund Valentin, Uterus und Blase, Kilian*; die Wurzeln der Nerven, welche die drei letzten der genannten Organe in Bewegung sez-zen, hat Kilian bis in die Medulla oblongata und spinalis auf physiologischem Wege verfolgt.\n\u00df) Auf Erregung der plexus coeliacus und mesaraicus sollen pe^ ristaltische Bewegungen im D\u00fcnndarm eintreten.\nLenden und Sacral the il des Syinpathicus.\na) Yon allen Orten dieser Abtheilung soll zur peristaltischen Bewegung veranlasst werden k\u00f6nnen der ganze Darmkanal mit Ausnahme des Magens; Valentin. Kilian gibt an auch diese Wurzeln bis in den R\u00fccken- und Lendentheil des R\u00fcckenmarks verfolgt zu haben.\n\u00df) Vom mittlern und untern St\u00fcck des Grenzstranges der Lenden soll in Verk\u00fcrzung gebracht werden der Harnleiter.\n7) Vom untern Lenden und obern Sacralst\u00fcck endlich Harnblase, Mastdarm, Samenleiter, Samenblase, Eileiter, Geb\u00e4rmutter.\nUm mit Sicherheit den Ursprung der im R\u00fccken- und Lendentheil des Grenzstrangs enthaltenen bewegenden Nervenr\u00f6hren darzuthun und um zugleich den Verdacht abzuschneiden, als ob die medulla oblongata mittelst des die Eingeweide ebenfalls beherrschenden n. vagus die Bewegung derselben bewirke, durchschnitt Kilian den n. vagus und zugleich das R\u00fcckenmark an der Grenze des Halses und der Brust und erregte dann nacheinander den Hals- und Brusttheil desselben.\nObwohl durch die Critik der Methoden den hier vorgef\u00fchrten scheinbar so reichhaltigen Thatsachen schon ihr wahrer Werth angewiesen ist, so scheint es dennoch pflichtgem\u00e4ss noch einmal besonders der Erw\u00e4gung zu \u00fcbergeben, dass die Bewegung, welche auf Erregung des vom Halstheil abw\u00e4rts liegenden Grenzstranges erfolgt, niemals momentan oder auch nur sehr kurze Zeit nach dem Beginn derselben, ja h\u00e4ufig erst nach dem Schluss einer l\u00e4nger dauernden Einwirkung der electrischen Schl\u00e4ge erscheint, und ferner dass namentlich die Bewegung der Baucheingeweide, welche nach Er\u00f6ffnung der Bauchh\u00f6hle spontan auftritt, in vollkommenster Ausbildung erscheiht, wenn die Erregbarkeit des R\u00fcckenmarks abgeschlossen oder ganz vernichtet ist. Beide Thatsachen k\u00f6nnen die Deutung erfahren, dass alle oder ein Theil der vom R\u00fcckenmark zu den Ganglien zweiter Ordnung sich erstreckende R\u00f6hren zu den bewegungshemmenden zu z\u00e4hlen seien.\n2. Verbreitungsbezirke der empfindenden und reflektorischen N erven. \u2014 Die vom n. sympathicus versorgten Regionen sind mit Empfindungen begabt ; diese Empfindungen treten im gesunden\n*) Heule u. Pfeufer. Neue Folge. % Bd. pag. 1 u. f.\n12*","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180 Empfindende, reflectorisclie u. absonderungerweckende R\u00f6hren.\nLeben nicht mit Lebhaftigkeit hervor, sie steigern sich erst zu einer merklichen bis zur Schmerzhaftigkeit gehenden H\u00f6he dann, wenn sehr f heftige Bewegungen (Durchfall, Bl\u00e4hungen, Geburtswehen) oder krankhafte Ern\u00e4hrungserscheinungen in den Eingeweiden statt haben. \u2014-Diese Empfindungen zeichnen sich ferner dadurch aus, dass sie nicht das Gef\u00fchl einer bestimmten Oertlichkeit erwecken. Aus Krankheitserscheinungen und quetschenden Unterbindungen der Nerven von S\u00e4ugethieren ergibt sich, dass die Nerven des Periton\u00e4ums, der Leber, des plex. coeliacus und der Nieren empfindungerregende R\u00f6hren enthalten. Yon welchen R\u00fcckenmarksstellen diese Nerven entspringen und welchen Yerlauf sie nehmen ist nicht ermittelt worden.\nMan glaubt sich berechtigt ausser diesen, bewusste Empfindungen erregenden Nervenr\u00f6hren, auch noch besondere reflektorische, aber nicht Empfindung erzeugende, annehmen zu d\u00fcrfen. Die Gr\u00fcnde hierf\u00fcr findet man in der Thatsache, dass \u00f6fter Bewegungen, weiche den Charakter der reflektorischen tragen in den Muskeln der Eingeweide zu Stande kommen, ohne dass diese von Empfindlingen begleitet werden.\nS. Yerbreitungsbezirk der Absonderungsnerven. Man findet es wahrscheinlich, dass einzelne Dr\u00fcsen, namentlich das Pancreas, die Nieren und die in das vas deferens eingelegten Schl\u00e4uche ihre S\u00e4fte unter dem Einfluss der Nerven bilden. Da in diese Dr\u00fcsen nun in der That aus dem sympathischen Systemen Nerven ein treten, so glaubt man sich berechtigt ihnen jene hypothetische Funktion zuschreiben zu d\u00fcrfen. Ueber den Werth dieser Yermuthungen soll bei den betreffenden Organen eines Weiteren die Rede sein.\n4. Mittheilung der Erregung zwischen den einzelnen Bestandteilen des sympathischen Systems und denjenigen des sympathischen und c er ebrospinal en.\nReflexbewegung. Sie erscheint a. zwischen den sensiblen sympathischen und motorischen cerebrospinalen R\u00f6hren, wie die Erscheinungen des Erbrechens, der Kothentleerung u. s. w. darthun. NachYersuchenan Fr\u00f6schen, Pickford*), liegt der reflektorische Herd in der medulla oblongata. Ein genaueres Studium der Bahnen ist noch nicht vorgenommen \u2014 b. AlsReflexe von sensiblen cerebrospinalen auf motorische sympathische R\u00f6hren deutet man die Bewegung des vas deferens (?) und der Samenbl\u00e4schen bei der Samenjakulation, die Darmbewegung nach Kitzel am After u. s. w. \u2014 c. Die Erscheinungen endlich, welche man als reflektorische innerhalb des sympathischen Systems, von einem zum andern Rohr auffasst, sind besonders darum noch unklar, weil sie sich nicht nach Belieben hersteilen lassen, indem nur zeitweise der Darm, die Geschlechtswerkzeuge u.\n*) Ho s er n. Wund erlichs Archiv, II. Bel.","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"181\nMitteilung der Erregung; Beharrungsverm\u00f6gen.\ns. w. sich in sogenannter reflektorischer Disposition finden. Aus diesem Grunde bleibt es in der That zweifelhaft, ob im reinen Gebiete des n. sympathicus Reflexe eintreten; dieser Zweifel wird sehr gest\u00fctzt durch die anderweitige Betrachtung, dass alle Thatsachen aus denen man den Reflex ableitet auch noch andere Deutungen erfahren k\u00f6nnen. Zu den Beispielen, welche man gew\u00f6hnlich als Beweisse der Gegenwart reflektorischer Leistungen im Kreise des n. sympathies vorf\u00fchrt, z\u00e4hlen: dass nach einer lokalen Einwirkung von Erregern auf das periton\u00e4um oder auf die Darmschleimhaut verbreitete Beweo\u2019uno\u2019en in den Darmmuskeln u. s. w. eintreten. Diese That-Sachen w\u00fcrden hier einen dem Reflex analogen Vorgang aber nur dann wahrscheinlich machen, wenn eine Sicherung vorl\u00e4ge, dass die eben erw\u00e4hnten Erreger ausschliesslich nur solche Nervenr\u00f6hren getroffen h\u00e4tten, welche nicht geradezu mit Muskeln in Verbindung stehen ; dazu kommt, dass herausgeschnittene St\u00fccke eines Darmes, dessen Nerven untereinander nur noch mittelst der St\u00e4mme in Ber\u00fchrung sein k\u00f6nnen, unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden ebenfalls auf ganz lokale Einwirkung in eine successiv fortschreitende und sich wieder l\u00f6sende Zusammenziehung verfallen, in eine Bewegung die alle \u00e4usserlichen Charaktere der reflektorischen darbietet.\nMi temp fin dun g, Mitbewegung. Die Thatsachen, welche man unter dieser Aufschrift aus dem Bereich der Wirkungen des n. sympathicus vorf\u00fchrt, sind sehr vager Natur. Nach Leiden der Leber\nC/\tA\nund des Colons, Bl\u00e4hungen u. s. w. treten Schmerzen in der Schulter, bei Gegenwart von Eingeweidew\u00fcrmern Jucken in der Nase auf u. s. w. Vf as soll, vorausgesetzt selbst dass ein constanter Zusammenhang zwischen jenen Affektionen und diesen Schmerzen besteht, den Be-weiss liefern, dass er durch eine unmittelbare Uebertragung der Erregung von diesem zu jenem Nervenrohr geschehe ?\n5. Verh\u00e4ltniss der Zeiten zwischen der Andauer der Erregerwirkung und der durch sie im sympathischen System ver anl as st en Bewegung. Da sich s\u00e4mmtliche sympathische Nerven in glatte Muskeln begeben, so wird ein momentan wirkender Erreger immer eine ajlm\u00e4hlig steigende und sich allm\u00e4hlig l\u00f6sende Muskelverk\u00fcrzung veranlassen; ausser dieser von der Muskeleigenth\u00fcm-lichkeit herr\u00fchrenden Erscheinung, welche hier, wo es sich um Ner-venwirkungen handelt, nicht besonders er\u00f6rtert werden soll*), ist aber die andere hervorzuheben, dass nach einer tetanischen sowohl als einer momentanen Erregerwirkung eine rhythmische Bewegung in den normalen sympathischen Nerven auftritt, mit andern Worten der einmal in Verk\u00fcrzung gebrachte Muskelort erschlafft, verk\u00fcrzt sich dann von Neuem, erschlafft wiederum u. s. w. \u2014 Der einzige Unterschied der\n*) Siehe hier\u00fcber in der allgemeinen Muskellehre die glatte Muskelfaser.","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"/\n182\tAnordnung der Bewegungen.\nhier zwischen tetanischer und momentaner Erregung besteht, liegt darin, dass nach tetanischer Erregung die rhythmische Bewegung statt der erwarteten tetanischen Verk\u00fcrzung immer zum Vorschein kommt, w\u00e4hrend die momentane Erregung h\u00e4ufig auch nur eine einzige Zusammenziehung zum Gefolge hat; \u2014 bei gr\u00f6sserer Erregbarkeit und intensiven Erregern scheint der Rhythmus ein beschleunigterer zu sein als bei entgegengesetzten Verh\u00e4ltnissen.\nDiese Erscheinung bemerkt man sehr h\u00e4ufig auch noch in kleinen St\u00fccken der vom sympathischen Nerven beherrschten Muskelapparate, in denen man beil\u00e4ufig auch nach genauester mikroskopischer Zergliederung keine Ganglien wahrnehmen kann; w. z. B. am Schlund der H\u00fchner.\n6.\tVerkettung der Einzelbewegungen zu einer zusammengeh\u00f6rigen Reihenfolge von Bewegungen. Wenn in einer der gr\u00f6sseren, funktionell zueinander geh\u00f6rigen Abtheilungen, welche im sympathischen System enthalten sind, w\u00e4hrend eines h\u00f6hern Erregbarkeitsgrades derselben eine Bewegung eingeleitet wird, so beschr\u00e4nkt sich meistentheils die Zusammenziehung nicht auf die Oertlichkeit, in welcher sie zuerst auftrat. Dieses Umsichgreifen der Zusammenziehung geschieht nach zwei verschiedenen Weisen, und zwar entweder wie im Harn-, im Eileiter, dem Fruchthalter und auch h\u00e4ufig im Darm nach dem sogenannten peristaltischen oder wie gew\u00f6hnlich im Darm nach dem sogenannten pendulirenden Modus. Im ersteren der beiden verbreitet sich nach einer Richtung hin die Verk\u00fcrzung von der urspr\u00fcnglich ergriffenen auf unmittelbar angrenzende Stellen, w\u00e4hrend sie, nachdem dieses geschehen, sich von den urspr\u00fcnglich ergriffenen zur\u00fcckzieht. Diesem gem\u00e4ss ger\u00e4th auf Veranlassung einer \u00f6rtlichen Erregung die gesammte Muskelsubstanz einer der angegebenen Can\u00e4le nach einer zeitlichen Reihenfolge in Zusammenziehung, in der Art, dass gleichzeitig jedesmal nur ein kleiner begrenzter Abschnitt sich in dem bezeichneten Zustand befindet. Die Richtung in welcher diese Bewegung fortschreitet geht immer von oben nach unten also vom Magen, Nieren, Eierst\u00f6cken nach dem After, der Blase, der Scheide. \u2014 Im pendelnden Modus schreitet die Verk\u00fcrzung nicht continuirlich sondern sprungweise fort, so dass die der Zeit nach aufeinander folgenden Zusammenziehungen \u00f6rtlich nicht unmittelbar aneinander grenzen, sondern an Stellen vor sich gehen, welche durch ruhige St\u00fccke von einander getrennt sind. Gew\u00f6hnlich kehrt im pendelnden Modus jede Einzelbewegung rhythmisch, d. h. nach einiger Zeit, wieder, so dass das ruhige zwischen den zusammengezogenen Stellen liegende St\u00fcck wie ein Pendel bald nach dieser und bald nach jener Seite gef\u00fchrt wird.\n7.\tAutomatische Erregung. Die bewegungserzeugenden Nerven des sympathischen Systems gerathen in Erregung selbst dann noch, wenn keines der Mittel, welche wir als Erreger kennen lernten, nach- |","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"Automatische Erregung.\n183\nweislich auf sie einwirkt, und sogar noch dann, wenn sie vom Hirn und R\u00fcckenmark getrennt sind. Die durch diese automatische Erregung veranlassten Bewegungen sind nicht allein rhythmische, sondern auch regelm\u00e4ssig verkettete. Das Verm\u00f6gen, automatische Bewegungen einzuleiten, ist innerhalb der nerv\u00f6sen Apparate nicht zu jeder Zeit, sondern nur mit Unterbrechungen vorhanden. Diese Pause , meist noch besonders bemerkenswert!!, weil w\u00e4hrend derselben vom Nerven aus durch die bekannten Erreger keine Bewegungen eingeleitet werden k\u00f6nnen, ist an den verschiedenen Organen von sehr wechselnder Dauer. Am Darm scheint nur einigemal des Tages die Zeit automatischer Erregung einzutreten; Schwarzenberg*), w\u00e4hrend des Bestehens dieser automatischen Erregungsperiode erfolgt jedoch nicht nur eine, sondern in k\u00fcrzeren aufeinanderfolgenden Pausen mehrere Bewegungen des Darms. Am Ureter kehren dagegen die automatischen Bewegungen, \u00e4hnlich der Herzbewegung, nach kurzen Pausen regelm\u00e4ssig wieder und man bemerkt in gleicher Zeit eine gr\u00f6ssere Zahl, wenn die Menge des abgesonderten Urines steigt. Wie sich die Tuben und der Uterus verhalten, ist unbekannt.\nDie veranlassenden Momente dieser Erregung k\u00f6nnen, ganz allgemein betrachtet, eTbenso wohl darin bestehen, dass in Folge bestimmt angeordneter Ern\u00e4hrungsverh\u00e4ltnisse die Erregbarkeit der Nerven einem periodischen Steigen und Sinken unterworfen ist, so dass in dem eintretenden Maximum der Erregbarkeit nun schon sehr schwache, unserer Aufmerksamkeit entgehende Erreger die Veranlassung zur Ausl\u00f6sung der Kr\u00e4fte geben; oder es k\u00f6nnen bei gleichbleibender aber spezifi -scher andern Nerven nicht eigent\u00fcmlicher Erregbarkeit zu gewissen Zeiten im Blutkreislauf sich ganz besondere Erreger bilden; oder endlich es k\u00f6nnen durch den Stoffwechsel in dem Nerven selbst Ver\u00e4nderungen eintreten, welche unmittelbar die Zust\u00e4nde der Erregung darstellen u. s. w.**). Zudem k\u00f6nnen diese erregenden Momente sich auf dem ganzen Verlauf des Nerven oder nur in irgend welchen Abschnitten desselben entwickeln. Diese letztere Meinung erfreut sich gegenw\u00e4rtig zahlreicher Anh\u00e4nger, welche als den besondern Sitz der sich bildenden Erreger, die im sympathischen System enthaltenen Ganglienkugeln ansehen. Diese Meinung gr\u00fcndet sich vornehmlich auf die Beobachtung, dass nach Durchschneidung der wesentlichen zu den Darmnerven geh\u00f6rigen Ganglien die automatischen Erregungen aus-bleiben. Dieser Versuch w\u00fcrde beweisskr\u00e4ftig sein, wenn es gel\u00e4nge, die Durchschneidung der Ganglienk\u00f6rper vorzunehmen, ohne dass man noch anderweitige Verletzungen einf\u00fchrte,, wie das bei dem jetzigen Verfahren geschieht. \u2014 Zu der Annahme, dass die Ganglien die Erreger seien, f\u00fcgt man gew\u00f6hnlich noch eine weitere, die n\u00e4mlich, dass eine gr\u00f6ssere Zahl von zusammengeh\u00e4uften Ganglienkugeln jedesmal in einer innigen Beziehung zu einander stehen und dass diese zusammenge * ordnete Nervenmasse auch jedesmal einen zusammengeh\u00f6rigen Muskelapparat beherrsche. Diese hypothetischen Organe nennt man die Centralorgane der Eingeweide. \u2014 Da sich die automatischen Bewegungen der Harn -, Geschlechts- und Verdauungswerkzeuge unabh\u00e4ngig von einander gestalten, so schreibt man endlich jeder Organgruppe ein Centralorgan zu.\n*) Heil le u. Pfeuf er. VII. Bd.\n**) Siehe hier\u00fcber auch die Beobachtungen vou Schiff, wonach Compression der Aorte die automatischen Organe des Unterleibs erregen soll \u2014 Froriep, Tagesberichte 1851. Nr. 32T.","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nStellung der motorischen R\u00f6hren zum Willen.\n/\nDie Einpflanzung von Bedingungen zur Erzeugung von geordneten Bewegungen im sympathischen System ist f\u00fcr die Lebensvorg\u00e4nge insofern von Wichtigkeit, als die von ihnen angeregten Organe bis zu einem gewissen Grade unabh\u00e4ngig vom Hirn und R\u00fcckenmark werden. Die Ueberzeugung von der Wahrheit dieser Behauptung ist uns durch eine sehr bemerkenswerthe Versuchsreihe, welche Bidder*) anstellte, zu Theil geworden. Er zerst\u00f6rte bei einigen Fr\u00f6schen das Hirn, bei anderen das R\u00fcckenmark, bei noch andern das verl\u00e4ngerte Mark oder endlich gleichzeitig Hirn und R\u00fcckenmark; nach dieser Operation gingen die Akte der Verdauung und namentlich die Weiterschaffung der Darmkontenta, des Harnes u. s. w. noch l\u00e4ngere Zeit ungest\u00f6rt vor sich.\n5. Stellung der bewegenden Nervenr\u00f6hren des n. sym-pathicus zum Willen und zu andern erregenden Hirnstellen. Kein Theil des n. sympathicus ist dem Willen unbedingt unterworfen; in dem Zustande leidenschaftlicher Erregung ist dagegen die Seele verm\u00f6gend, einen betr\u00e4chtlichen Einfluss auf die meisten, wenn nicht alle motorischen Fasern des n. sympathicus zu \u00fcben. Dieser Einfluss , welchen die Seele in der Angst, dem geschlechtlichen Verlangen u. s. w. gewinnt, unterliegt mehreren Beschr\u00e4nkungen; zu diesen geh\u00f6rt, dass ein und dieselbe Leidenschaft nicht beliebig jeden, sondern immer nur einen und denselben oder h\u00f6chstens wechselnd zwei Bewegungsapparate in Erregung zu bringen vermag, so dass, wie die Leidenschaften in den Gesichtsmuskeln, sie somit auch in dem Bereich des sympathischen Systems ihren bestimmten Ausdruck finden. Eine andere Besonderheit in der Beziehung zwischen leidenschaftlich erregter Seele und dem sympathischen Bereich liegt darin, dass die erstere einen Apparat, auf den sie einmal einwirkt, immer nur in seiner Gesammtheit und in seinem Bewegungstypus erregt, so dass die leidenschaftliche Erregung sich weder auf einzelne St\u00fccke zu beschr\u00e4nken, noch auch die gew\u00f6hnlich in ihm vorkommende Reihenfolge der Bewegungen umzudrehen vermag. An eine Theorie dieser Erscheinungen kann nat\u00fcrlich gar nicht gedacht werden\u00bb\nDie K\u00fcrze der vorstehenden Darstellung des sympathischen Systems findet ihren Grund weder darin, dass eine zu geringe Menge von Versuchen \u00fcber denn. Sympathikus angestellt ist, noch auch darin, dass man wenige Meinungen \u00fcber die Funktionen des Sympathikus ausgesprochen hat; im Gegentheil, die Litteratur \u00fcber den n. Sympathikus gibt an Stattlichkeit keiner andern nach; so dass, wollte man auch noch so kurz ihren wesentlichen Inhalt wiedergeben, man leicht einen\n*) M\u00fcllers Archiv 1844. Erfahrungen \u00fcber die funktionelle Selbstst\u00e4ndigkeit u. s.w. Aehnliche -Beobachtungen an Schildkr\u00f6ten, Fr\u00f6schen und Tauben haben Bro wn - Sequard. Compt. rend. Tom. XXX. (Gazette medicale 1851, Nr. 26 u. 30) und Schiff angestellt, die aber nichts Neues \u00fcber diesen Gegenstand lehren.","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Aeussere Bewegiingswerkzeiige des Auges.\n185\nBand f\u00fcllen k\u00f6nnte. Aber, was w\u00fcrde man erreicht haben ? Nichts anderes als die Erz\u00e4hlung mangelhaft angestellter Versuche und die Angabe von luftigen oder dilettantenhaften Schl\u00fcssen. Das Bestreben eines Lehrbuchs scheint vorerst dahin gehen zu m\u00fcssen, mehr die gr\u00f6bsten Irrth\u00fcmer zu meiden, als alle ver\u00f6ffentlichten Thatsachen\nO\n'- )\nvorzulegen.\nD. Der Gesichtssinn.\nDie Grundbedingung dieses Sinnes ist gegeben durch die Gegenwart des nervus opticus, der seine Erregungszust\u00e4nde als Licht zur Empfindung bringt ; unser Sinn dehnt aber seine Wirksamkeit \u00fcber die engen Grenzen der Lichtempfindung weit aus, denn er unterscheidet auch, ob derjenige seiner Erreger, welchen die Physiker Aether-weilen nennen, von Punkten oder Fl\u00e4chen ausgeht, und in welcher Richtung und Entfernung vom Auge diese leuchtenden Orte gelegen sind. u. s. w. Diese weiteren Funktionen sind eine Folge der brechenden und spiegelnden Fl\u00e4chen und Medien und der Be-\nweglichkeit des Gesammtauges oder einzelner seiner Theile gegen einander. \u2014\nDiesen Thatsachen gem\u00e4ss wird unsere Darstellung zuerst die Leistungen der Muskeln, des dioptrisch katoptrischen Apparates und der Nerven' f\u00fcr sich und dann diejenigen zu betrachten haben, die aus den gegenseitigen Beziehungen jener Organbestandtheile fliessen.\nAeussere BewegungsWerkzeuge d\u00e8s Auges.\nDie Bewegungen des Auges, die durch den \u00e4usseren Muskelapparat desselben ausgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, sind entweder Bewegungen des Augapfels im Ganzen, und zwar sowohl Drehungen um einen festen Mittelpunkt, als Ortsver\u00e4nderungen des Augapfels mit Verschiebung des Mittelpunktes, oder aber Bewegungen einzelner Theile des Augapfels gegeneinander, Formver\u00e4nderungen desselben.\nDie Bewegungen des Auges im Ganzen sind gleichzeitig als Dreh- und Ortsbewegungen m\u00f6glich, weil die an dem hintern Umfang des Augapfels liegenden Massen f\u00fcr sich eine hinreichende Steifigkeit besitzen und an den Augapfel locker genug angeheftet sind, um bei bestimmten Arten des Zugs> die auf den Augapfel wirken, unverr\u00fcckt zu bleiben und zugleich als Widerlage f\u00fcr die Sclerotica zu dienen, und andererseits doch nicht steif genug, um nicht bei anderen Verh\u00e4ltnissen der auf das Auge wirkenden Z\u00fcge verr\u00fcckt zu werden. Die Eigenth\u00fcmlichkeit der Gesammlbewegimg des Auges l\u00e4sst sich also dahin ausdr\u00fccken, dass das Auge in einer Gelenkpfanne gehe, welche selbst verschiebbar ist. \u2014","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"\u2666\n186\t-\tGelenkkopf, Drehpunkt; Gelenkgrube; B\u00e4nder.\n1. Drehbewegungen *).\na) Gelenkkopf, Gelenkgrube, B\u00e4nder. Der Gelenkkopf wird durch die hintere Fl\u00e4che der Sclerotica gebildet, welche wahrscheinlich nach einem Kugelabschnitt gekr\u00fcmmt ist; als Gelenkgrube dient das Fettpolster, welches die orbita ausf\u00fcllt; wie man sieht, verdient dieses Polster nur insofern den Namen einer Gelenkgrube, als sich in der That an der Grenze des Fettes und der Sclerotica eine freiere Verbindung vorfindet. Als B\u00e4nder, welche theils hemmend, theils richtungsbestimmend auf die Bewegung wirken, sind anzuf\u00fchren, der federartig gestellte n. opticus, die Conjunctivafalte, die sich aufrollenden Augenmuskeln, einige von der Scleroticafl\u00e4che zum umliegenden Fettpolster gehende Gef\u00e4sse und Bindegewebsstr\u00e4nge. Eine genauere Angabe der Wirkungen dieser Gebilde, und namentlich den Werth der Hemmung, den sie den Bewegungen entgegenstellen, l\u00e4sst sich nach vorliegenden Untersuchungen nicht geben.\nDer Drehpunkt des Gelenkes liegt nach Bestimmungen von Yolkin an n in der Mitte der Sehachse, d. h. einer Linie, welche man vom Scheitel der cornea gegen den Mittelpunkt des gelben Fleckes sich gezogen denken muss.\nDie empirische Bestimmung des Drehpuncts am lebenden Auge wird m\u00f6glich, weil wir bei jeder beliebigen Stellung dieses letztem die Richtung der Sehachse anzugeben verm\u00f6gen. Dieses gelingt darum, weil wir, wenn wir einen leuchtenden Punkt scharf betrachten (visiren), das Auge so stellen, dass das Bild des Punktes auf die Ber\u00fchrungsstelle von Retina und Sehachse f\u00e4llt, und weil alle Objecte, die auf der Verl\u00e4ngerung der Sehachse im Raume liegen, ihre Bilder s\u00e4mmtlich auf diese Ber\u00fchrungsstelle werfen, so dass von zweien in der Richtung der,Sehachse liegenden Punkten der dem Auge n\u00e4here immer den dem Auge ferneren deckt. Daraus folgt, dass man f\u00fcr jede beliebige Stellung des Auges die Richtung der in dem Raume verl\u00e4ngerten Sehachse bestimmen kann, wenn man einen leuchtenden Punkt scharf visirt und zwischen ihn und das Auge einen andern in eine solche Lage bringt, in welcher er den erstem deckt. Bestimmt man bei festgestelltem Kopf in mehr als zwei von einander abweichenden Augenstellungen die Richtungen der Sehachse und verl\u00e4ngert dann s\u00e4mmtliche Linien nach ihrer conver-girenden Richtung, so schneiden sie sich in einem Puncte, woraus ohne Weiteres folgt, dass die Visirlinie ein Radius sei, der um diesen Punct bei den verschiedenen Augenstellungen \u2019\u2019gedreht wird. \u2014 Aus diesen Angaben folgt f\u00fcr die Bestimmung des Drehpunkts in jeder Ebene am lebenden Auge nun sogleich folgendes Verfahren, welches in Fig. 29 versinnlicht ist. Man bringe vor das Auge, der h\u00f6chsten Erhabenheit der Cornea gegen\u00fcber, eine horizontale oder senkrechte Tafel und visire unter der entsprechenden Augenstellung nach einem leuchtenden Punkte 2 (z B. einer Nadelspitze), f\u00fchre darauf einen zweiten leuchtenden Punkt 1 vor den ersten bis er diesen genau deckt ; dasselbe vollf\u00fchre man bei festgestellten Kopfe aber einer andern Augenstellungmit\n*) Tourtual, Beobachtungen an einem Auge mit einer seltenen Difformit\u00e4t. M\u00fcllers Arch. 1846.\u2014 Volkmann, Artikel Sehen in Wagn er s Handw\u00f6rterbuch III. a.\u2014 DondersBei-trag zur Lehre von den Bewegungen des menschl. Auges. Holland. Beitr\u00e4ge I. 105. \u2014 Ruete, Lehrbuch d. Ophthalmologie. G\u00f6ttingen 1845. p. 8. \u2014 Bernh. Gudden qu\u00e6stiones demotu oculi humani. Diss. inaugur. Hall. 1848.","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"Augenmuskeln, Dr ehb ewegungen.\n187\nden Punkten 4, 3 und messe hierauf den Abstand des Punktes 3 oder 1 von der h\u00f6chsten Erhabenheit der Cornea. \u2014 Da 1, 2 und 3, 4 je zwei Punkte auf der Sehachse fur die verschiedenen Lagen des Auges darstellen, so kann man sogleich die Linien 2, 1,1. und 3, 4, II ziehen, welche sich in D dem Drehungspunkte des Auges schneiden. Kennt man die Entfernung, in welcher sich 3 vom Auge befand, so ist damit auch der Abstand D von der h\u00f6chsten Hornhauterhabenheit gegeben.\nDie Mittel, welche bei den bis jetzt unternommenen Messungen von Volkmann, Burow, Valentin in Anwendung gebracht sind, n\u00e4hern sich jedoch nur sehr entfernt der m\u00f6glichen Genauigkeit an; indess fand man \u00fcbereinstimmend, dass der Drehpunkt 11,0 bis 14,1 M. M. von der vordem Hornhautfl\u00e4che entfernt liege, woraus der im Text gegebene Schluss \u00fcber die Lage des Drehpunktes allerdings scheint abgeleitet werden zu d\u00fcrfen, da die halbe L\u00e4nge der Sehachse (die hintere Augenwand mitgerechnet) bekanntlich 11,9 M. M. im Mittel betr\u00e4gt.\nb. Augenmuskeln. Man nimmt an, dass alle Augenmuskeln in ihrer normalen L\u00e4nge befindlich seien, so dass keiner von ihnen ziehend auf den bulbus wirke, (Ruhestand des Auges, Nullpunkt der Bewegung) wenn die Irisfl\u00e4che senkrecht gegen den Boden und zugleich parallel mit der senkrecht gerichteten Angesichtsfl\u00e4che gestellt ist; zur vollkommenen Bestimmung der Augenstellung fehlt dieser Angabe, wie ersichtlich, noch ein Zusatz \u00fcber die Lage eines Punktes auf der Peripherie des Iriskreises zu einem beliebigen Theile des Gesichts. Weicht von dieser Lage das Auge so ab, dass sich die Ebene der Iris senkrecht gegen den Boden erh\u00e4lt, sich dagegen unter irgend einem Winkel mit der Antlitzebene, deren Lage man sich unver\u00e4ndert denkt, schneidet, so ist das Auge ein - oder ausw\u00e4rts gedreht ; in diesem Fall beh\u00e4lt die Sehachse ihre horizontale Lage, weicht aber mit ihrem freien in den Raum hineinragenden Ende gegen die Nase (Einw\u00e4rtsdrehung) oder das Ohr (Ausw\u00e4rtsdrehung) hin ab. Das Auge ist erhoben oder gesenkt, wenn die Irisfl\u00e4cke ihre senkrechte Richtung gegen den Boden aufgegeben hat; hierbei ist die Sehachse gegen den ob\u00e9ra (Aufw\u00e4rtsdrehung) oder den untern (Abw\u00e4rtsdrehung ) Augenh\u00f6hlenrand gerichtet. Erh\u00e4lt sich endlich die Ebene der Iris parallel zur Gesichts- und senkrecht zur Bodenfl\u00e4che, dreht sie sich aber so, dass einem beliebigen Punkte der Orbita immer andere Punkte der Irisfl\u00e4che gegen\u00fcbertreten, w\u00e4hrend\nFig. 29.","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nAugenmuskeln ? Drehbewegungen.\ndie Lage der Sehachse unge\u00e4ndert bleibt, so hat man das Auge gerollt; und zwar geschah'das Rollen einw\u00e4rts, wenn ein Punkt der Irisperipherie, der bisher \u00fcber dem innern Augenwinkel lag, unter denselben gef\u00fchrt wurde, w\u00e4hrend beim Ausw\u00e4rtsrollen das Auge ent-\ngegengesetzt l\u00e4uft.\nDiese Bewegungen sollen nun\n\u00e4ngig sein von den Muskeln in folgender Art: aufw\u00e4rts: m. rectus superior, m. obliq. inferior; \u2014 abw\u00e4rts: m. rectus inferior, m. obliquus superior; \u2014 einw\u00e4rts m. rectus internus, m. rectus superior; m. obliquus inferior (?); \u2014 ausw\u00e4rts m. rectus externus, m. obliq. superior; \u2014 einw\u00e4rts rollend* m. obliquus superior u. rectus superior (?) ; \u2014 ausw\u00e4rts rollend m. obliquus inferior u. rectus inferior (?). \u2014\nDie Beobachtungsmethode, auf welche sich diese Angaben gr\u00fcnden, sind die zur Bestimmung der Muskel Wirkung gebr\u00e4uchlichen. \u2014 Siehe die besondere Muskellehre.\nWer nun aber auch nur mit den ersten Anf\u00e4ngen der Mechanik vertraut ist, wird das Ziel, nach dem die obigen Angaben, welches die gebr\u00e4uchlichen sind, ringen als ein sehr unvollkommenes ansehen m\u00fcssen. Um dem Anf\u00e4nger einen Begriff von dem Problem, welches in den Augenmuskeln vergraben ist, und von seiner L\u00f6sung zu geben, wollen wir in Folgendem eine Zergliederung eines ganz einfachen Falles vornehmen.\nUm zu einer Bestimmung des Nullpunktes, der Gr\u00f6sse und Richtung der Bewegung zu gelangen, nehmen wir an, es sei ein doppeltes rechtwinkliges Coordinaten-System durch das Auge gelegt, deren gemeinschaftlicher Nullpunkt in den Dre-hnngspimkt des Anges f\u00e4llt, und die sich nur darin unterscheiden, dass das eine in der Orbita als feststehend angesehen wird, w\u00e4hrend das andere mit dem Auge beweglich ist, so dass in der Ruhelage des Auges die zu beiden Systemen geh\u00f6rigen Achsen zusammenfallen. \u2014 Die Achsen selbst werden aber gegeben durch folgende Bestimmungen. Die Richtung der Querachse sei dargestellt durch die Verbindungslinie der Drehungspunkte beider Augen; die Tiefenachse durch die Sehachse, wenn beide Augen nach Vorw\u00e4rts stieren; die H\u00f6henachse schneide in der Richtung vom Scheitel zur Fusssohie den Schnittpunkt der beiden vorhergehenden in ihrer horizontalen Lage senkrecht. \u2014 Denken wir uns nun, wie angegeben, das eine System feststehend, das andere mit den Augen beweglich, so w\u00fcrde jetzt offenbar jede Augeu-drehung ihre Gr\u00f6sse und Richtung nach mit aller Sch\u00e4rfe durch die Winkel ausge-driickt werden k\u00f6nnen, welche die Achsen beider Coordinatensysteme miteinander bilden. Um die aus diesen Bestimmungen hervorgellenden Angaben praktisch brauchbar zu machen, m\u00fcssten an den sichtbaren Theilen der Orbita und des Augapfels Kennzeichen gesucht werden, deren Bewegung sich in einer bestimmten Relation zu derjenigen der Achsen f\u00e4nden und hierzu k\u00f6nnte ein Theil der gew\u00f6hnlichen Bestimmungen benutzt werden.\nDie Wirkung, welche einem Augenmuskel zukommt, ist sehr verschieden, je nachdem er allein ohne jegliche weitere Bestimmung das Auge dreht, oder je nachdem sich noch andere Umst\u00e4nde, wie z. B. Widerst\u00e4nde der Bewegung, gleichzeitige Wirklingen anderer Muskeln u. s. w. einmengen. \u2014 Zu unserer Zergliederung w\u00e4hlen wir nun zun\u00e4chst den einfachsten Fall den, dass auf das Auge nur ein Muskel wirke, w\u00e4hrend gar keine Widerst\u00e4nde sich der Drehung entgegenstellen ; wenn auch dieser Fall in der That niemals vorkommt, so ist er dennoch von Bedeutung, weil die Kenntniss dieses einfachsten der aller \u00fcbrigen vorausgehen muss. \u2014 Da die Muskeln Werkzeuge sind, welche in der Richtung ihrer Fasern ziehen, so ist es zur L\u00f6sung","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"Augenmuskeln ; Drehbewegungen.\n189\naller der Fragen, welche sich bez\u00fcglich seiner Wirkung aufwerfen lassen, n\u00f6thig zu wissen: wie die Ansatz- und Endpunkte aller Fasern des Muskels zu den Achsen der vorbeschriebenen Coordinatensysteme gelagert seien, wieviel Fasern resp. welchen Querschnitt der Muskel besitze und welche L\u00e4nge jeder Faser zukomme. Aus diesen Angaben liesse sich zun\u00e4chst bestimmen die resultirende Wirkung, weiche aus s\u00e4mmt-lichen einzelnen zu dem Muskel geh\u00f6rigen Fasern hervorginge. Leber die Bestimmung dieser Resultirenden siehe die besondere Muskellehre. Wir v ollen amiehmen, es sei diese Resultirende gefunden worden, wobei sich ergeben habe, dass sie genau in eine der Ebenen falle, welche durch zwei Coordinatenachsen bestimmt werden; dann w\u00fcrde das Problem folgende Gestalt gewinnen, siehe Fig. 30. In ihr bedeutet der Kreis einen\nF\u00fcr. 30.\ny\nX\nAu g e n dur ch s chnit t, de r bestimmt wird durch den Drehpunkt D und die Coordinatenachsen \u0153 und y. Die Resultirende des Muskels M\u2018, deren U rsp ru n gsp u nkt bei U liegt, greift das Auge bei A* an. Gesetzt nun,die Linie J/',welche die Resultirende vorstellt, sei nach einem L\u00e4ngenmaass getheilt, in der Art, dass ihre L\u00e4nge die Gesammt-\nkraft der Resultirenden \u00abbedeute, so l\u00e4sst sich mittelst des Parallellogramms der Kr\u00e4fte .)/' in zwei andere Kr\u00e4fte zerlegen, aus denen sie nach Richtung und Kraft hervorgegangen sein k\u00f6nnte. Man bewerkstelligt diese Zerlegung f\u00fcr unsere Zwecke am besten dadurch, dass man die eine Kraft in die Verl\u00e4ngerung des Radius A' D und die andere A' F senkrecht auf den Radius legt. Da der Voraussetzung nach der Drehpunkt D unverr\u00fccklich ist und jeder Punkt der Augenperipherie an seine Umgebung hinreichend festgeheftet ist, um durch einen Muskelzug nicht aus dem Zusam-menhang mit derselben gel\u00f6st werden zu k\u00f6nnep, so wird jeder in der Richtung Ar D wirkende Zug durch den Widerstand der Coh\u00e4sion und der Mittelpunktsbefesti-gung aufgehoben. Umgekehrt aber wird die auf den Radius senkrecht wirkende Zugrichtung A' F, die am Kreis tangirende, zur vollkommenen Wirksamkeit gelangen, da gerade darum, weil der Kreiss nur um den Mittelpunkt drehbar ist, die einzelnen Punkte der Pheripherie nur nach der Tangente beweglich sind. Demnach wird der Antheil der Gesammtkraft des Muskels, welcher bei der gegebenen Lage der Resul-tirenden zur Augendrehung verwendet werden kann, durch die Linie A'F ausgedr\u00fcckt. Mit diesem Werth ist die Resultirende aber in Wahrheit nur so lange wirksam, als das Auge die bezeichnete Stellung beh\u00e4lt; denn w\u00e4re z. B. diese Stellung dahin ver\u00e4ndert, dass nun der Resultirenden die Lage FA\u201c zuk\u00e4me, so w\u00fcrde ihr Gesammtzug in der Verl\u00e4ngerung des Radius A\"D wirksam sein und darum w\u00fcrde er, vorausgesetzt, dass der Punct An durch Coh\u00e4sion mit dem Mittelpunkte hinreichend befestigt w\u00e4re, gar keine Bewegung erzeugen. Bef\u00e4nde sich aber umgekehrt die Resultirende in der Lage FA111 d. h. l\u00e4ge sie in der Verl\u00e4ngerung der Tangente, so w\u00fcrde sie nun ihre Gesammtkraft auf die Drehung verwenden. Sehr wahrscheinlich ist nun am Auge in der That der Resultirende aus den einzelnen Muskelfasern diese letztere Lage zugeh\u00f6rig und zugleich scheint der Muskelsehne eine solche Einrichtung zu Theil geworden zu sein, dass w\u00e4hrend des ganzen Raumes, um welchen sich ein Augenmuskel \u00fcberhaupt verk\u00fcrzen kann, der Ansatz diese Stellung beh\u00e4lt. Die-","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nOrts- und formver\u00e4ndernde Bewegungen.\nses ist (Fig. 31) dadurch erreicht worden, dass die Sehne des Muskels U nicht an ihren ersten Ber\u00fchrungspunkt A' mit dem Auge an letzteres sich anheftet, sondern noch ein St\u00fcck z. B. bis A,f \u00fcber das Auge greift. Bei dieser Art von Verbindung zwischen Auge und Sehne wird n\u00e4mlich der Angriffspunkt des Muskels so lange an der Tangente bleiben, bis der Muskel sich so weit verk\u00fcrzt resp. das Auge so weit gedreht hat, dass der Punkt An n\u00a7tch A\u2018 ger\u00fcckt ist.\n2.\tOrtsver\u00e4nderride Bewegungen*)\u00bb\nIhre M\u00f6glichkeit ergibt die Beobachtung, dass der Bulbus mittelst eines Fingerdruckes und namentlich nach den Seiten hin verschiebbar ist; ob sie aber in der That durch die Wirkung der Augenmuskeln im Menschen vorkommt, ist noch zu erweisen. Die Bedingungen, unter denen dieses geschehen w\u00fcrde, bestehen in gleichzeitiger Zusammenziehung zweier Antagonisten z. B. der mm. rectus superior und inferior, der beiden mm. obliqui, so dass die drehenden Wirkungen derselben aufgehoben und nur die durch den Drehpunkt des Auges und der Ansatzpunkte der Muskeln fallenden zur Aeusserung k\u00e4men. Die mm. obliqui w\u00fcrden ihrem Ansatz gem\u00e4ss den Drehpunkt nach vorn, die mm. recti dagegen ihn nach hint\u00f6n ziehen.\n3.\tFormver\u00e4ndernde Wirkungen der Augenmuskeln**).\nWenn ein Muskel einem Punkt des Auges eine Bewegung mitzu-theilen strebt, w\u00e4hrend ein anderer Theil desselben festgeheftet ist, so wird statt einer Bewegung eine Zerrung oder Pressung und vorausgesetzt, dass eine hinreichende Verschiebbarkeit der Theilchen vorhanden ist, eine Formver\u00e4nderung des Auges erzeugt werden. Diese wird abh\u00e4ngig sein: a) von der St\u00e4rke und Richtung des Muskelzuges und den gleichen Verh\u00e4ltnissen des bewegungshemmenden Einflusses, in der Art, dass z. B. je nach den Orten des Widerstandes ein und derselbe Muskelzug die mannigfachsten Formver\u00e4nderungen erzeugen kann; b) nach der Natur des gedr\u00fcckten oder gezerrten K\u00f6rpers und namentlich je nachdem sich in ihm ein Druck gleich-m\u00e4ssig oder ungleichm\u00e4ssig fortpflanzt und je nachdem er an einigen Stellen widerstandsf\u00e4higer ist, als an andern. Da nun das Auge eine mit Fl\u00fcssigkeit gef\u00fcllte Kugel darstellt, in welcher sich der Druck nach allen Seiten hin gleichm\u00e4ssig mittheilt, da ferner die Cornea und die Umgrenzung des Auges aus ganz verschieden nachgiebigen St\u00fccken besteht, so k\u00f6nnte man zu dem Schluss gelangen, dass jede\nFig. 31.\n*) R\u00f6te, Ophthalmologie p. 14.\n**) M\u00fcller, Lehrb. d. Physiologie II Bd. 333. \u2014 Br\u00fccke in den Berliner Berichten \u00fcber Fort\u201c schritte d. Physik. I. Bd. 203.\ni","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Nerven der Augenmuskeln\t191\nArt von Pressung neben einer besondern von der Richtung der pressenden Einfl\u00fcsse herr\u00fchrenden, eine allgemeine immer wiederkehrende Formver\u00e4nderung erzeugte. Ob aber dieses oder ein anderes der Fall sein m\u00f6chte, ist den hier noch vollkommen fehlenden Experimental arbeiten zur Entscheidung zu \u00fcberlassen.\nDie gew\u00f6hnlichen Annahmen, dass das Zusammenwirken der geraden eine Verk\u00fcrzung, die der schiefen Muskeln eine Verl\u00e4ngerung des Auges in der Richtung der Sehachse erzielen solle, entbehrt jeglichen Beweises. Vielleicht sind die Membranen des lebenden Auges durch ihre pralle Anf\u00fcllung mit Fl\u00fcssigkeit so stark gespannt, dass die Augenmuskeln, selbst bei heftigen Contraktionsgraden, gar keine irgend erhebliche Formver\u00e4nderung zu Stande bringen. \u2014\n4. Nerven der Augenmuskeln; Verkn\u00fcpfung der Bewegungen der beiderseitigen Augenmuskeln*). Stellung zum Willen.\nUeber die Abh\u00e4ngigkeit der Muskeln von den Nerven siehe die n. oculomotorius abducens, trochlearis.\nDie Bewegungen beider Augen befinden sich in der innigsten gegenseitigen Abh\u00e4ngigkeit, die sich darin auspr\u00e4gt, dass a) immer nur gleich-zeitigDrehungen der beiden Augen um die Sechachse (Rotationen) nach einer Richtung und um gleichviel Grade m\u00f6glich sind, so dass die von uns als H\u00f6henachse bezeichnete, mit dem Auge beweglich gedachte Linie in beiden Augen immer parallel liegt. \u2014 b) Ebenso k\u00f6nnen gleichzeitig von beiden Augen nur solche Drehungen um die Querachse ausgef\u00fchrt werden, bei denen die Sehachsen um einen gleich grossen Winkel und im gleichem Sinne gegen den Horizont geneigt sind, so dass wenn die Sehachsen von der horizontalen Lage abweichen, sie entweder beide nach oben oder beide nach unten gerichtet sind. \u2014 c) In der Richtung von rechts nach links (um die H\u00f6henachse) k\u00f6nnen beide Augen gleichzeitig so gestellt werden, dass die Sehachsen in jedem beliebigen Winkel nach vorn convergiren, w\u00e4hrend die Augen nur in sehr beschr\u00e4nkter Weise in eine Stellung gef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, bei welcher die Sehachsen nach hinten convergiren, also nach vorn divergiren. Nach H. Meyer ist der Divergenzwinkel, bis zu welchen die beiden Sehachsen gef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, um etwas gr\u00f6sser, wenn man das linke Auge fixirt erh\u00e4lt und das rechte nach aussen f\u00fchrt, als umgekehrt wenn man dem rechten eine fixe Stellung gibt und das linke nach aussen wendet; das Maxiirfum der Divergenz betr\u00e4gt nach seinen Untersuchungen etwa 11\u00b0; bei einer bestehenden Schw\u00e4che der Sehkraft des einen der beiden Augen ist es jedoch m\u00f6glich die Divergenz noch weiter zu treiben.\nDie Stellung der Augenmuskeln zum Willen gestaltet sich dahin, dass die mm. obliqui seinem Einfluss g\u00e4nzlich entzogen sind ; in der Art dem Millen unterworfen, dass sie jedesmal nur gleichzeitig\ntk Meyer. Zur Lehre v. der Synergie d. Augenmuskeln. Poggendorfs Annal. Bd.85.1852.\nJ. M\u00fcller, Lehrbuch der Physiologie U. Bd. p. 85. \u2014 B\u00f6hm, das Schielen. Berlin 1845. p. 15 u. f.","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nGeschwindigkeit der Bewegung.\nbewegt werden k\u00f6nnen, sind die muse, recti superiores, und ebenso die inferiores. In unbeschr\u00e4nkter Weise k\u00f6nnen die mm. recti intend, oder der m. rectus externus, des einen und m. rectus internus des andern Auges willk\u00fchr\u00fcch bewegt werden, w\u00e4hrend nur bis zu gewissem Grade der Zusammenziehung die mm. recti extend gleichzeitig dem Willen gehorchen.\nDa die mm. recti zum Theil neben den wesentlichen Bewegungen tun die H\u00f6ben- und Querachsen des Auges auch Drehungen um die Sehachse unternehmen, so verkn\u00fcpfen sich unwillk\u00fcrlich mit ihren Wirkungen auch diejenigen der mm. obliqui, damit die Bedingung, welche verlangt, dass die H\u00f6henachsen immer gleiche Neigung zum Horizont besitzen, erf\u00fcllt werde, Hue ck, Bonders. Unter welchen Umst\u00e4nden und in welchem Grade dieses geschieht, wird erst ermittelbar sein, wenn wir eine genaue Anatomie der Augenmuskeln besitzen. \u2014 Zur Erl\u00e4uterung der besonderen Art von Abh\u00e4ngigkeit, in welcher die Nerven der Augenmuskeln zu den Willensor-ganeu stehen, sind bis dabin nur sehr wenig bedeutende Hypothesen zu Tage gef\u00f6rdert. Von Bedeutung f\u00fcr Ausgangspunkte zuk\u00fcnftiger Untersuchung ist die Behauptung, dass man durchUebung die gew\u00f6hnliche Verkn\u00fcpfung der Muskeln l\u00f6sen k\u00f6nue(?); ferner, dass mit einer Erlahmung der Funktionen der Retina die Combinationen sich \u00e4ndern, B\u00f6hm; und endlich, dass nach Verletzung der Kleinhirnschenkel und Vierh\u00fcgel ebenfalls Stellungen der Augen zu Stande kommen, die ohne diese Eingriffe nicht m\u00f6glich sind. \u2014 Die wichtige Frage, oh in allen den Stellungen der Augen, bei welchen die Sehachsen unter gleichen Winkeln convergiren, auch die Summe der Verk\u00fcrzung, welche die betreffenden mm. recti interni oder externi erfahren, eine gleiche sei, ist wegen der mangelhaften anatomischen Kenntnisse nicht zu l\u00f6sen.\n5. Geschwindigkeit der Bewegung*).\nVer\u00e4nderungen in dem Contraktionsgrad und der Combination der einzelnen Augenmuskeln gehen, wie sp\u00e4ter bei der Lehre von der Perspektive und von den entoptischen Figuren erl\u00e4utert wird, mit\nausserordentlicher Geschwindigkeit vor sich.\nVolkmann hat dieses bestritten, nach Versuchen, in welchen er auf zwei Winkel eines bekannten Dreiecks, dessen dritter mit dem Drehpunkt des Auges zusammen fiel, Nadeln einf\u00fcgte und nun versuchte, wie oft er in einer halben Minute Wechselnd beide Nadeln sehen konnte. Aus diesen Versuchen ergab sich zwar im Allgemeinen, dass grosse Zeiten selbst bei kleinen Bewegungen nothwendig waren, zugleich aber das verd\u00e4chtigende Resultat, dass zuweilen gr\u00f6ssere Bewegungen eine k\u00fcrzere Zeit brauchen, als kleine.**) Wie es scheint mit Recht, bemerkte Br\u00fccke zu diesen Versuchen, dass man in ihnen ausser der auf die Bewegung verbrauchten Zeit auch noch die gemessen habe, welche der mehr oder weniger ge\u00fcbte Wille n\u00f6thig hatte, um die Bewegung anzuregen und die angeregte zu hemmen. Eine fortgesetzte Uebung in einer bestimmten Versuchsreihe d\u00fcrfte wahrscheinlich die hier gemessenen Zeiten sehr verkleinern.\nEinrichtungen zur Brechung der Lichtstrahlen im Auge.\n1. Einige allgemeine Betrachtungen \u00fcber den Gang des Lichtes durch ein System von brechenden Fl\u00e4chen und Medien die sich denen des Auges analog verhalten.\n*3 Volkmann, Artikel Sehen in Wagners Handvv\u00f6rterb. III. Bil, 1. Abthl. p. 2T\u00f6. \u2014 Br\u00fccke, Berliner Berichte II. p. 215.\n**) Tab. I und II mit einem Auge, H\u00fctten he im.","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Brechung des Strahls durch convexe Fl\u00e4chen.\n193\nDie folgende Darstellung ist f\u00fcr denjenigen berechnet, welchem die elementare Optik der physikalischen Lehrb\u00fccher unzug\u00e4nglich ist; indem sie sich derVerst\u00e4nd-lichkeit wegen lediglich an die Anschauung h\u00e4lt, kann dieselbe weder zu so allgemeinen, noch so scharfen Ableitungen gelangen, wie dieses durch die analytische Methode m\u00f6glich wird.\nFig.\n32.\nD\nA. Erscheinungen, weiche eintreten, wenn ein Lichtstrahl eine convexe Grenzfl\u00e4che zweier optisch verschiedenen Medien \u00fcberschreitet.\nGelangt ein Lichtstrahl an die Grenze zweier chemisch irgendwie verschiedener Stoffe (optisch verschiedener Medien), so verl\u00e4sst er, indem er dieselbe \u00fcberschreitet, pl\u00f6tzlich seine bisher verfolgte Bahn und verl\u00e4uft in dem neuen Medium nach einer andern Richtung, so dass er an der Uebertrittsstelle aus einem in den andern Stoff gebrochen erscheint. Um eine Vorstellung von der Gr\u00f6sse der Winkel, um welche die Brechung geschah, zu erlangen, zieht man eine Linie, das Einf alls-loth, AB in Fig,' 32 senkrecht auf den Ort G der Ber\u00fchrungsfl\u00e4chen beider Medien,\nan welchen der Lichtstrahl EG die Grenze DC \u00fcberschreitet; darauf legt man mit beliebigem Radius einen Kreis um den Punct G, den Schnittpunkt des Strahles und des Einfallslothes. Die Vergleichung des St\u00fcckes der Kreisperipherie AH, welche den Winkel AGH \u2014 den Einfallswinkel \u2014 umspannt, mit derjenigen BJ, welche den Winkel BGJ\u2014 den Br e chungs -Winkel \u2014 umgreift, ergibt den Winkelwerth, um welchen der Strahl von seiner urspr\u00fcnglichen Richtung abgelenkt ist.\nL\u00e4sst man gegen den Punkt G, w\u00e4hrend die Fl\u00e4che und die durch sie begrenzten Stoffe unver\u00e4ndert erhalten werden, der Reihenfolge nach Strahlen auffallen, welche mit dem Einfalls-loth verschiedene Winkel bilden, und vergleicht jedesmal die zugeh\u00f6rigen Einfalls- und Brechungswinkel, so ergibt sich erfahrungsgem\u00e4ss dass das Verh\u00e4ltniss der die Winkel messenden Bogenst\u00fccke kein sich gleichbleibendes ist. Vergleicht man n\u00e4mlich in der nach der Erfahrung entworfenen Fig, 33 z. B. die Verh\u00e4ltnisszahl welche die Bogenst\u00fccke des zueinander geh\u00f6rigen Einfalls- und Brechungswinkels 1 Y 4 : 1/V 4' liefern mit derjenigen die zwischen den Bogenst\u00fccken der zugeh\u00f6rigen Winkel 2Y5 : 2'Y 5' besteht, so gewahrt man sogleich das abweichende beider Zahlen. F\u00e4llt man dagegen von den Punkten 1, 2, 3, und V 2'3, wo die Lichtstrahlen den Kreis schneiden, diesenkrechteLinie 1 4, 1'4, 2 5,2/5/u.s.w. auf das Einfallslos und vergleicht man je zwei zu einander geh\u00f6rige, z.B.l 4 s l/4/-2 5 : 2/5/ u. s. w., so findet sich, dass die L\u00e4ngen dieser Linien bei allen Strahlen in einem und demselben Verh\u00e4ltniss zu einander stehen. Diese Linien sind nun aber bekanntlich nichts anderes, als die Sinus 1er entsprechenden Boge\u00bb oder Winkel; daraus folgt nun das f\u00fcr die Brechungs-Ludwig, Physiologie I.\t13\nFig. 33.","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"I\t>\n194\tBrechungsverh\u00e4ltniss.\nerscheinungen fundamentale Gesetz, dass f\u00fcr dieselben optischen Medien die Sinus der Einfalls- und Brechungswinkel sich in einem unver\u00e4nderlichen Verh\u00e4ltniss zu einander finden. Diese so eben mitgetheilte Thatsache fasst man kurz unter dem Namen des Brechungsgesetzes zusammen, und bezeichnet dann als Brechungsverh\u00e4lt-niss zweier Medien dasjenige', in welchem der Sinus des Einfalls- und des Brechungswinkels zu einander stehen. \u2014 N\u00e4chst diesem Gesetz lehrt die Erfahrung noch ein zweites, dass n\u00e4mlich das Einfallslos, einfallender und gebrochener Strahl in einer Ebene liegen.\nDie einfachsten und allgemeinsten Folgerungen aus diesen Gesetzen sind folgende: 1) Wenn das Brechungsverh\u00e4ltniss zweier Medien bekannt ist, und man den Winkel (resp. dessen Sinus) kennt, welchen ein bestimmter Strahl beim Ueber-tritt aus dem einen in das andere Medium mit dem Einfallslos bildet, so ist auch jedesmal der Brechungswinkel (resp. dessen Sinus) und damit der Verlauf des Strahles im neuen Medium zu finden.\nFig. 33b,\tDas Verfahren, welches die Aufgabe l\u00f6sst, ist\nD\teinfach folgendes Fig. 33b: Gegeben sei der Ver-\nlauf des Strahles HY im ersten Mittel, die Grenzfl\u00e4che beider Mittel D C', und das Einfallslos A Y mit seiner Verl\u00e4ngerung in das zweite Mittel BY, und endlich das Brechungsverh\u00e4ltniss des ersten zum zweiten Mittel, das wir hier beispielsweise wie 1 zu 2 an-nehmen wollen. \u2014 Man beschreibe nun mit dem beliebigen Halbmesser Y A einen Kreis um den Mittelpunkt Y und errichte dann auf dem Einfallslos eine senkrechte von H nach A (den Sinus des Einfallswinkels), nehme darauf das Doppelte von HA zwischen die Zirkelspitzen, und setze diese L\u00e4nge senkrecht auf die Verl\u00e4ngerung des Einfallsloses in das zweite Mittel in der Art, dass ihr eines Ende das Einfallslos, ihr anderes die Kreisperipherie (bei J) ber\u00fchrt. Die Verbindungslinie von Y nach J gibt die Richtung des Strahls im neuen Mittel an; denn der Sinus des Winkels BYJ (des Brechungswinkels) steht zum Sinus des Einfallswinkels EYA im verlangten Verh\u00e4ltniss.\n2) Die Ablenkung, welche ein Strahl erf\u00e4hrt, w\u00e4chst nicht geradezu mit dem Einfallswinkel, sondern in einem betr\u00e4chtlich steigenden Verh\u00e4ltniss. Dieses tritt darum ein, weil der Winkel resp. der ihn messende Bogen bei seinem Waclisthum von 0 bis zum Rechten sehr viel rascher und in einem ganz andern Verh\u00e4ltniss zunimmt, als der Sinus, wie dies die Betrachtung der Fig. 33 lehrt. Demnach wird also z. B. die H\u00e4lfte vom Sinus eines gegebenen Winkels nicht der Sinus des halben, sondern der eines viel kleineren Winkels als des halben sein.\nFig. 34.\tWir haben bisher auf die Gestalt der Trennungs-\nfl\u00e4che beider Mittel keine R\u00fccksicht genommen, w eil bei der Betrachtung eines einzigen Strahles jedesmal das unendlich kleine St\u00fcckchen derselben, auf das er trifft, als eben angesehen werden kann; von jetzt an werden wir auch die Eigenschaften der Ber\u00fchrungsfl\u00e4che der sog. brechenden Fl\u00e4che in Erw\u00e4gung ziehen. Zu diesem Ende nehmen w ir an, es gelangen parallele Lichtstrahlen auf die Grenze zweier Medien von bekanntem Brechungsverh\u00e4ltniss w\u00e4hrend die brechende Fl\u00e4che bald eben und bald kugelig gekr\u00fcmmt ist.\nIn Fig. 34 sei L II. die ebene Ber\u00fchrungsfl\u00e4che der beiden Medien; 1,2,3 stien drei einander parallele","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Brennpunkt paralleler Strahlen.\n195\nStrahlen, so werden ABC ihre zugeh\u00f6rigen Einfallslothe sein ; aus bekannten geometrischen Gr\u00fcnden bilden die parallelen Strahlen mit den unter sich parallelen Einfallslosen gleiche Winkel, sie werden also auch s\u00e4mmtlich um einen gleichen Winkel gebrochen werden, d. h. die Strahlen verlaufen im zweiten Mittel zwar in anderer Richtung als im ersten, aber jedenfalls wiederum einander parallel. \u2014 In Fig. 35\nsetzen wir nun voraus, die Ber\u00fchrungsfl\u00e4chen /., II. beider Mittel sei eine Kugelschale, welche um den Mittelpunkt 0 mit dem Radius 0 II. beschrieben worden sei; die im ersten Mittel einander parallelen Strahlen sind durch die Linien A\u2018B\u2018 CAB dargestellt; die Einfallslothe dieser Strahlen sind die Radien oder ihre\nFig. 35.\nVerl\u00e4ngerungen 03', 02', 01, 02, 03 ; da diese bekanntlich senkrecht auf der Tangente des Kreispunktes stehen, den sie ber\u00fchren. Wie der Augenschein ergibt, sind nun die Einfallswinkel der Strahlen sehr verschieden. C liegt geradezu in der Verl\u00e4ngerung des Radius und bildet somit gar keinen Winkel mit dem Ein-fallsloth; von C aus aber wachsen nach oben und unten symmetrisch die Einfallswinkel, daraus geht nun aber hervor, dass C, der sog. Achsenstrahl, gar keine Brechung erleidet,\nw\u00e4hrend die von da nach der Peripherie gelegenen Strahlen eine steigend und steigend st\u00e4rkere Ablenkung erfahren m\u00fcssen. Weil nun aber die Strahlen AB und A'B* im ersten Mittel mit dem Achsenstrahl parallel liefen, A* A und BB' im neuen Mittel aber eine betr\u00e4chtliche Ablenkung von ihrer urspr\u00fcnglichen Richtung erhalten, w\u00e4hrend C diese letztere beibeh\u00e4lt,' so folgt daraus, dass im neuen Mittel, A und Af sowohl als B und B\u2018 sich gegen den Achsenstrahl C neigen und ihn endlich im weiteren Verlaufe schneiden werden. Diese Schnittpunkte, in welchen sich die in verschiedenen Strahlen verlaufenden Lichtmassen auf einen Punkt conzentriren, nennt man bekanntlich ganz allgemein die Brennpunkte.\nEs fragt sich nun werden alle parallel auffallenden Strahlen nach ihrer Richtung einander in einem Punkte schneiden. Diese Annahme liegt nahe; denn die von der Achse entfernter liegenden Strahlen convergiren wie wir schon oben zeigten, st\u00e4rker als die der Achse n\u00e4hergelegenen. Man konnte also zu dem Glauben geneigt sein, dass sich diese beiden Momente, Entfernung von der Achse und Convergenz zu einander so verhielten, dass sie sich zur Erzeugung eines einzigen Schnittpunktes ausglichen. Offenbar muss es auch eine krumme Fl\u00e4che geben, die diesen Bedingungen gen\u00fcgt, aber an der Kugel geschieht es nicht. Denn construirt man erfahrungsgem\u00e4ss die Strahlenbrechung durch dieselbe, wie in Fig. 36, so ergibt sich, dass das eine Element die mit dem Abstand von der Achse steigende Brechung \u00fcberwiegt, so dass ganz allgemein die Behauptung gilt: je weiter seitlich von der Achse die Strahlen die brechende Kugelfl\u00e4che treffen, um so fr\u00fcher schneiden sie jene im zweiten Mittel. Vergl. Bl im Verh\u00e4ltnis zu AK Daraus folgt nun, dass nur diejenigen Strahlen, welche eine genaue symmetrische Lage zum Achsenstrahl besitzen, einen gemeinsamen Brennpunkt haben werden, und ferner, dass die auf die Linse auffallenden Strahlen unz\u00e4hlig viele hinter einander liegenden Brennpunkte bilden\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\tSph\u00e4rische Aberration.\nFig. 36.\nwerden, so dass vom Gesichtspunkt der Theorie ans niemals von einem gemeinschaftlichen Brennpunkt einer Kugelfl\u00e4che die Rede sein kann. \u2014 Im Widerspruch mit diesem theoretischen Ergehniss kennt dennoch die praktische Optik nur einen Brennpunkt brechender Kugelfl\u00e4chen und in der That ist dieses bei der durch die Praxis erzielbaren Genauigkeit innerhalb gewisser Grenzen auch erlaubt, denn wenn die Einfallswinkel mit steigendem Abstand nicht zu rasch zunehmen, so liegt, zum Theil wegen der oben erw\u00e4hnten Compensation, der Brennpunkt der Strahlen, welche in benachbarten Fl\u00e4chenst\u00fccken einfallen, im zweiten Mittel nahe genug, um als zusammenfallend angesehen werden zu k\u00f6nnen. Diese relativ langsame Zunahme der Einfallswinkel findet aber vorzugsweise f\u00fcr die Strahlen statt, welche um nur wenige Bogengrade von der Achse entfernt in der brechenden Fl\u00e4che ein treffen, und es sind darum auch die im Umkreis von wenigen Graden einfallenden Strahlen, * welche einen f\u00fcr praktische Zwecke brauchbaren Brennpunkt bilden, w\u00e4hrend die Brennpunkte der weiter seitlich eindringenden Strahlen zu weit abstehen, um auch noch von einer wenig genauen Praxis mit den andern zusammengefasst werden zu k\u00f6nnen. Dieses Auseinanderfallen der Brennpunkte in Folge der steigenden Kr\u00fcmmung nennt die Optik die sph\u00e4rische Aberration.\nBisher haben wir unter den Bedingungen der unver\u00e4nderlichen Kugelfl\u00e4che und der wechselnden Lage der parallelen Strahlen die Orte des Brennpunktes (oder die St\u00e4rke der Brechung) aufzufinden gesucht. Wir wollen uns nun die Lage der parallelen Strahlen im ersten Mittel constant denken und annehmen, es wechsle die Kugelfl\u00e4che des zweiten Mittels* In Figur 37 stellen A A* B parallele Strahlen vor, welche unter allen Umst\u00e4nden in dem constanten Abstand 1 ^ 1,2 von der Achse an die Grenze des zweiten Mittels treffen. Die kugelige Grenzfl\u00e4che dieses zweiten Mittels soll aber ver\u00e4nderlich sein in der Art, dass sie das einemal mittelst des Radius II2' und das andere Mal mittelst des k\u00fcrzeren Radius / 2' beschrieben sei. Bei dieser Annahme w\u00fcrden die Lothe, welche auf die Einfallsorte der Strahlen","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"S teigende Brechung mit abnehmenden Kr\u00fcmmungshalbmesser.\n19T\nABA7 gezogen werden II11 11% ** II %', respect. I V I % I %' sein. Wie ersichtlich bleibt in beiden F\u00e4llen der Winkel, welchen der Strahl B mit dem Einfallsloth bildet, derselbe, ,d. h. = 0; dagegen unterscheiden sich die Einfallswinkel der Strahlen A A\u2018 je nachdem sie auf die mit dem gr\u00f6sseren oder dem kleineren Radius beschriebene Grenzfl\u00e4che trelfen, durch ihre Gr\u00f6sse von einander; und namentlich w\u00e4chst der Einfallswinkel der Strahlen, wenn der Radius der Kugelfl\u00e4che, auf die sie treifen, abnimmt. Demnach wird auch an der Grenze der kleinen Kugel die st\u00e4rkere Brechung stattfinden. \u2014 Man hat nun selbstverst\u00e4ndlich zu derselben Construction in jeder durch die Achse B II gelegten Ebene das Recht; folglich gelten die bisher gezogenen Schl\u00fcsse auch f\u00fcr ein ganzes cylin drisch es Strahlenbiindel, so dass wir also aussprechen d\u00fcrfen: Strahlencylinder von gleicher Basis werden um so st\u00e4rker gebrochen werden, respect, ihren Brennpunkt um so n\u00e4her am Scheitel der Kugelfl\u00e4che finden, je kleiner der Halbmesser dieser letztem, mit dem sie beschrieben wurden. \u2014Ausserdem geht aber auch noch aus unserer Betrachtung hervor, dass Strahlencylinder von gleich grossem Querschnitt beim AufFallen auf Kugelfl\u00e4chen von kleinen Halbmessern betr\u00e4chtlichere Brennpunktsabweichungen darbieten werden als beim AufFallen auf Kugelfl\u00e4chen von grossem Halbmesser; dieses wird sogleich klar sein, wrenn man sich erinnert, wie die sph\u00e4rische Aberration nur darin ihren Grund findet, dass die Einfallswinkel der vom Achsenstrahl weiter und weiter seitlich auffallenden Strahlen in einem so rasch steigenden Verh\u00e4ltnis zunehmen.\nUnsere Untersuchung f\u00fchrt uns nun auf die Betrachtung der Brechungserscheinungen, (respekt. die Lage des Brennpunktes,) welche sich ereignen, wrenn die Strahlen statt parallel divergirend im ersten Mittel verlaufen, oder mit andern Worten, wenn die Lichtquelle (z. B. ein leuchtender Punkt), deren Strahlen gebrochen werden, nicht in unendlicher, sondern in endlicher Entfernung von der brechenden Fl\u00e4che liegt.\nWir werden auch hier wieder die Untersuchung so f\u00fchren, dass wir zun\u00e4chst die Orte der leuchtenden Punkte oder die Divergenzwinkel der auf die Fl\u00e4che des zweiten Mittels auffallenden Strahlen wechseln lassen, w\u00e4hrend wir die brechende Fl\u00e4che selbst unver\u00e4nderlich setzen. Eine vorerst ganz allgemein gehaltene Betrachtung lehrt, dass die aus dem ersten in das zweite Mittel divergirend einfallenden Strahlen nur dann einen Brennpunkt besitzen, wenn die Winkel, um welche sie an der Begrenzungsfl\u00e4che des zweiten Mittels von ihrer urspr\u00fcnglichen Richtung abgele^kt werden, gr\u00f6sser sind als diejenigen, um welche sie im ersten Mittel von der Achse divergirten. Dieser Ausspruch ist an Fig. 38 verdeut-Hcht worden; in ihr ist 0 der Kr\u00fcmmungsmittelpunkt des zweiten Mittels, 0 % sein\nFig. 38.\t\u00df/ Halbmesser, A der leuchtende\nPunkt auf der Achse 0 A; einer seiner Strahlen A % verlaufe im ersten Mittel unter dem Diver-\u00ae genzWinkel* % A 1 gegen die Achse und treffe die Grenze des zweiten Mittels bei %. Wirsetzen \u00f6\t~ voraus, dass er bei seinem Ein-\ntritt in dasselbe eine Brechung nach B erleidet, in Folge deren\nFig. 37,\nn","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nBrechung divergirender Strahlen.\ner nun parallel mit der Achse l\u00e4uft. Verl\u00e4ngern wir in der urspr\u00fcnglichen Richtung den Strahl A 2 in dem zweiten Mittel, so ist sogleich ersichtlich, dass der Winkel Bf 2 B oder derjenige, um welchen der Strahl von seiner urspr\u00fcnglichen Richtung abgelenkt wrurde, dem Winkel % A \\9 d. h. demjenigen gleich ist, unter welchem der Strahl im ersten Mittel von der Achse divergirte. Ohne weitere Zus\u00e4tze wird nun aber auch klar sein, dass w^enn der Winkel B 2 B* bei unverr\u00fcckter Lage von A 2 wachsen w\u00fcrde, der gebrochene B 2 die Achse irgendwo hinter dem Scheitel 1 schnitte. Demnach muss zu den Elementen (Einfallswinkel und Brechungsverh\u00e4lt-niss), welche den Ort des Brennpunktes bestimmten als im ersten Mittel die Strahlen zur Achse parallel liefen, jetzt noch der Divergenzwlnkel der urspr\u00fcnglichen Strahlenrichtung in Betracht gezogen werden. Bei dieser Complikation gelingt es der Anschauung nicht mehr, allgemeine Regeln \u00fcber die Lage des Brennpunktes anzugeben; nur Folgendes l\u00e4sst sich noch ohne Construction des besonderen Falles darthun. In Fig. 39 bedeute III wieder den Durchschnitt der gekr\u00fcmmten Fl\u00e4che des zweiten\nMittels, welcher um den Mittelpunkt 0 mit dem Radius O A beschrieben worden ist. 1 Ay 2 A, 3 A, 4 A sind Strahlen, wrelche von leuchtenden Punkten ausgeheu, die entw eder wie 1 in unendlicher Ferne, oder w\u00fce 2, 3, 4 auf der Achse liegen. Man sieht sogleich, dass wrenn wie hier der Ort A, in welchen die Strahlen das zw'eite Mittel treffen, nur in geringem Abstand von der Mitte liegt, der Divergenzwinkel A 2 0 sowohl als der Einfallswinkel B A 2 nur w enig und zwar gleichzeitig wachsen, w^enn der leuchtende Punkt von unendlicher Entfernung bis auf eine solche von wenigen Zollen (oder Linien) sich dem zweiten Mittel n\u00e4hert. Unter diesen Umst\u00e4nden folgt aus dem Vorhergehenden sogleich, dass die diesen Entfernungen zugeh\u00f6rigen Brennpunkte auch nur um weniges von einander verschieden sein k\u00f6nnen. Die Construction lehrt nun noch, dass bei parallelen Strahlen der Brennpunkt dem Scheitel der krummen Fl\u00e4che n\u00e4her liegt, als f\u00fcr divergirende und dass sich der Brennpunkt allm\u00e4klig von der Grenzfl\u00e4che entfernt, wenn der Leuchtpunkt in den gegebenen Grenzen (von unendlich bis auf wenige Zolle) n\u00e4her r\u00fcckt. N\u00e4hert sich nun aber der leuchtende Punkt aus dem Abstand in mehreren Zollen (oder Linien) noch mehr an die Fl\u00e4che, so nehmen nicht allein die Divergenz-Winkel, sondern auch die Einfallswinkel rasch an Gr\u00f6sse zu. ln diesen F\u00e4llen l\u00e4sst uns nun unsere allgemeine Betrachtung vollkommen im Stich, so dass w ir nur noch durch die Construction oder die Rechnung Aufschluss erhalten. Diese gibt aber an, dass f\u00fcr ein sehr geringes N\u00e4herr\u00fccken des Leuchtpunktes sich sehr rasch der Brennpunkt entferne, ja dass der n\u00e4herr\u00fcckende Punkt gar bald eine Lage erreicht, in welcher selbst die Strahlen, die den Scheitel der brechenden Fl\u00e4che in der n\u00e4chsten Umgebung der Achse treffen, so sehr gegen letztere divergiren, dass sie im zweiten Mittel gar nicht mehr convergirend, sondern wiederum, wrenn auch schwacher, divergirend laufen.\n*\nNach Allem bedarf es keiner Erl\u00e4uterung mehr, dass beim Wachsen oder Verkleinern der Kr\u00fcmmungshalbmesser, mit dem die Fl\u00e4che des zweiten Mittels beschrieben ist, alles Andere gleichgesetzt, auch der Brennpunkt sich entfernt oder n\u00e4hert.","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Brechung durch biconvexe Linsen; Achsenstrahl.\n199\nB, Brechung des Lichtes durch eine biconvexe Linse, deren beide Fl\u00e4chen von optisch gleichartigen Mitteln umgeben sind.\nDie ganz allgemeine Aufgabe, den Verlauf eines Strahles der aus dem vordem Mittel durch die Linse in das hintere Mittel dringt, innerhalb der Linse und hinter derselben anzugeben, kann gel\u00f6st werden, wenn uns bekannt sind: der Ort, an welchem der aus dem ersten Medium kommende Strahl die vordere Linsenfl\u00e4che trifft, der Winkel, den er hier mit dem Einfallsloth bildet, das Brechungsverh\u00e4ltniss zwischen der Substanz der Linse und dem vor und hinter ihr gelegenen Mittel, die Kr\u00fcmmungshalbmesser der Linsenfl\u00e4chen, und die Dicke der Linse,, d. h. der Abstand ihrer Fl\u00e4chen. Da zur L\u00f6sung dieser Aufgabe eine einfache Anwendung der schon entwickelten Prinzipien gen\u00fcgt, so werden wir sie hier ohne ausf\u00fchrliche Erl\u00e4uterung durch Fig. 40 darlegen. In dieser Zeichnung stellt L L die Linse, A 2 den Halbmesser der vorderen, A\u2018 3 den der hinteren Fl\u00e4che dar. Das Brechungsverh\u00e4ltniss des Mediums der Linse zu seiner Umgebung sei %*). Ist also der Strahl 1 2 mit dem Einfallswinkel 12 5 gegeben, so construire sich nach bekannten Regeln der Gang des Strahls 2 3 innerhalb der Linse und die Richtung 3 4 jenseits der hinteren Fl\u00e4che. Die Dicke der Linse ist, wie ersichtlich, dadurch von Bedeutung, dass sie die L\u00e4nge des Wegs bestimmt, welchen der an der ersten Fl\u00e4che abgelenkte Strahl in der neuen Richtung zu durchlaufen hat. Eine Durchmusterung aller m\u00f6glichen Lagen, welche die Strahlen zur Linse annehmen k\u00f6nnen, f\u00fchrt zu einigen wichtigen und allgemeinen Ergebnissen. Zuerst ist es deutlich, dass es nur eine Lage des Strahles zur Linse gibt, in welcher der einfallende Strahl ungebrochen durch dieselbe hindurchgeht. Fig. 41. Diese Forderung\nkann n\u00e4mlich nur dann erf\u00fcllt werden, wenn der Strahl in der Verl\u00e4ngerung der Kr\u00fcmmungshalbmesser beiderFl\u00e4chen liegt, und diese Eigenschaft hat nur derjenige, der auf der geraden Verbindungslinie A A' beider Halbmesser gelegen ist, denn nur in diesem Fall macht der Strahl keinen Winkel mit einem derselben. In jeder beliebigen andern Lage, die z. B. die Fortsetzung des Halbmessers der vordem oder hintern Fl\u00e4che darstellt, B A, C A u. S. w. oder D A\u2018s E A* u. s. w. erleidet der Strahl eine Brechung wegen des Winkels, den er mit dem Halbmesser der entgegengesetzten Fl\u00e4che ausmacht. Aus diesem Grunde ist auch der Achsenstrahl an der Linse ein ganz bestimmter, w\u00e4hrend er an einer kugeligen Fl\u00e4che, die* wir fr\u00fcher in Betracht zogen, will-kiihrlich unter unendlich vielen angenommen werden konnte, in dem jeder um die Kugelfl\u00e4che gelegene Leuchtpunkt einen Strahl aussendet, der in der Verl\u00e4ngerung des Radius liegt.\n*0 So dass wenn der Sinus des Einfallswinkels die L\u00e4nge von 4 habe, der des Brechungswinkels 3 sei.\nFig. 41.\nB\nD\n--A","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nRichtungstrahlen, Knotenpunkte.\nAn den Achsenstrahl reihen sich diejenigen an, welche wie der Strahl A* A in Fig. 42 parallele Linsenfl\u00e4chen durchsetzen. Diese Strahlen, die sogenannten Richtungsstrahlen, bilden innerhalb der Linse mit den Einfallslosen an der\nA\nFig. 42.\tvordem und hintern Fl\u00e4che gleiche Winkel\nII 3, II 3 1, weil n\u00e4mlich die Einfalls -lothe dieser Fl\u00e4chen, welche senkrecht auf letzter stehen sollen, einander parallel laufen. Daraus folgt aber, dass wenn, wie in unserm Fall die Linse auf ihren beiden Fl\u00e4chen von demselben brechenden Medium umgeben ist, der Strahl auch beim Austritt auf der hinteren Fl\u00e4che den gleichen Winkel A 3 i mit dem verl\u00e4ngerten Kr\u00fcmmungshalbmesser oder dem Einfallslose bilde, den er vor aller Brechung mit dem Einfallslos auf der ersten brechenden Fl\u00e4che A* 1 2 darstellte. Mit andern Worten, es wird der Strahl hinter der Linse einen Verlauf nehmen, welcher dem vor der Linse behauptetenparallelgeht. Zugleich aber wird der ausfahrende Strahl nicht die Yer-l\u00e4ngerung des einfallenden ausmachen, sondern beide werden gegen einander verschoben sein, eine Verschiebung, deren Werth abh\u00e4ngig ist von der L\u00e4nge des Weges 1 3 (respect, der Entfernung beider Linsenfl\u00e4chen von einander), welche der Strahl A' 1 nach seiner ersten Ablenkung zu durchlaufen hat. Um eine deutliche Vorstellung von dieser Verschiebung (\u00df\u2018 B) zu erhalten, gen\u00fcgt es, den Strahl in der ein und ausfahrenden Richtung gegen die Linsenachse 1II zu verl\u00e4ngern A\u2018 Bf, A B. Die Punkte B\u2018 und B, in welchen die verl\u00e4ngerten Strahlen die Achse schneiden und welche zwei zueinander geh\u00f6rige Punkte darstellen, hat man mit dem Namen der Knotenpunkte (Listing) belegt.\nDieser Richtungsstrahl empf\u00e4ngt f\u00fcr die dioptrische Construction eine Bedeutung darum, weil alle andern von dem leuchtenden Punkte A\u2018 ausgehenden Strahlen, vorausgesetzt, dass sie hinter der Linse ihre Vereinigung finden, auf ihn wieder zusammengebrochen werden m\u00fcssen, wesshalb die Brennpunkte von A\u2018 in der Richtung von 3 A liegen. Diese Behauptung bedarf keiner weiteren Begr\u00fcndung, denn wenn ein Strahlenb\u00fcschel einen Vereinigungspunkt hat, so muss dieser auf jedem Strahl des B\u00fcschels und folglich auf dem Richtungsstrahl liegen. Ist demnach der Gang des Richtungsstrahles bekannt so wird es jedesmal zur genauen Bestimmung der Lage des Brennpunktes gen\u00fcgen, wenn man die gerade Entfernung E dieses letztem von der hinteren Linsenfl\u00e4che kennt; denn offenbar w\u00fcrde der Durchschnittspunkt des Richtungsstrahls 3 A mit der Linie E A den Ort des Brennpunktes bezeichnen.\nDer innigen Beziehung wegen, die zwischen den Knotenpunkten und dem Richtungsstrahl besteht, kann man unter den Angaben, welche zur Bestimmung der Brenn-punktslage dienen sollen, die der Knotenpunkte denjenigen des Richtungsstrahles substituiren und es kann demnach, wenn die Lage eines leuchtenden Punktes, diejenige der Knotenpunkte, und die Entfernung des Brennpunktes von der hintern Linsenfl\u00e4che gegeben ist, der Richtungsstrahl und der Ort des Brennpunktes durch lineare Construction gefunden werden; zu diesem Behufe zieht man einfach eine gerade Verbindungslinie zwischen dem Leuchtpunkt A* und dem ersten Knotenpunkt B'; und dann eine dieser parallele Linie vom zweiten Knotenpunkt R; es gibt dann die Linie 3 A den Verlauf des Richtungsstrahles nach der Brechung u. s. w.\nBei der ungemeinen Bequemlichkeit, die diese Constructionsmethode bietet, erscheint es werthvoll/ die Lage und den Lagenwechsel der Richtungsstrahlen einer","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Wechselnde Lage der Knotenpunkte.\nA\nA'\nk\n201\ngenauen Untersuchung zu unterwerfen, um zu ermitteln, inwieweit sie als allgemeine Constructionshilfen zu gebrauchen seien. Hier ergibt sich nun: a) Alles Andere\ngleichgesetztwechseltderRichtungsstrahl mit dem Brechungsverh\u00e4ltniss, und namentlich weichen die Knotenpunkte um so betr\u00e4chtlicher auseinander, je gr\u00f6sser die Unterschiede in den brechenden Kr\u00e4ften beider Medien Ausfallen. Diesen Satz macht die Fig. 43 anschaulich, indem sie zeigt, dass zum Verlauf 1 2 des Strahles innerhalb der Linse ausserhalb dieser bald der von A 1 und bald der von A* 1 geh\u00f6rt, je nach dem Verh\u00e4ltniss des Sinus vom Brechungswinkel 7 8 zu dem Sinus der Einfallswinkel 4 5 oder 3 6. Der bekannten Construction nach fallen nun die Knotenpunkte f\u00fcr das Verh\u00e4ltniss von 7 8:3 6 auf B B; und f\u00fcr 7 8:5 4 auf C. C. \u2014 b) Alles Andere gleichgesetzt wechselt auch der Richtungsstrahl mit der Lage des Leuchtpunktes (Fig. 44), und zwar w\u00e4chst der Abstand beider Knotenpunkte mit der Gr\u00f6sse des Winkels, welchen das auf die Einfallsorte 1, 2 der Richtungs-strahlen A 1, A' 2 il. s. w. gezogene Einfallslos 11, 12 u. s. w. mit der Lin-senachse III bildet.\nDa nun endlich auch mit dem Wechsel in dem Brechungsverh\u00e4ltniss, der Gr\u00f6sse des Kr\u00fcmmungshalbmessers der Linsenfl\u00e4chen und der Entfernung des Leuchtpunktes von der Linse der Brennpunkt sich ver\u00e4ndert, so ist ersichtlich, dass das Construktionsver-fahren aus der Lage der Knotenpunkte und dem Abstand des Brennpunktes jedesmal ganz bestimmte Angaben n\u00f6thig macht.\nIn der That ist man nun \u00fcbereingekommen, an der Linse die Lage der Knotenpunkte als fixirt anzunehmen, unter den drei Voraussetzungen, dass die Linse in einem und demselben Mittel verweile, dass der Leuchtpunkt unendlich entfernt sei, also mit parallelen Strahlen zur Linse komme und nur ein Strahlenb\u00fcschel in Betracht gezogen werde, dessen Ber\u00fchrungsorte mit der Linienfl\u00e4che am Kr\u00fcmmungsmittelpunkt einen unendlich kleinen Winkel mit .der Linsenachse ausmachen.\nC. Der dioptrische Apparat des Auges besteht im Wesentlichen aus einer Verbindung der beiden bisher untersuchten brechenden Zusammenstellungen; denn es","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nZur\u00fcckf\u00fchrung der Brechungserscheinungen\ndringt das Licht in den Augapfel aus der Luft durch die convexe Fl\u00e4che der Cornea in eine vorzugsweise w\u00e4sserige Fl\u00fcssigkeit, welche den Raum von der Cornea zur Retina einnimmt; auf seinem Wege durch dieses zweite Mittel erf\u00e4hrt aber der Lichtstrahl noch eine zweite Ablenkung durch die Linse, welche vom optischen Gesichtspunkt aus vorn und hinten durch dasselbe Mittel begrenzt ist. Die Angabe des Verlaufes eines Strahles, der auf die vordere Fl\u00e4che der Cornea trifft, wird also nur ausf\u00fchrbar sein, wenn die n\u00f6thigen Data gegeben sind. Indem wir eine solche Construktion zur Uebung jedem Anf\u00e4nger \u00fcberlassen, mag hier nur die Bemerkung gen\u00fcgen, dass der Strahl bei Uebergang aus der Luft in die Cornea die gr\u00f6sste Ablenkung erf\u00e4hrt, weil das Brechungsverh\u00e4ltniss zwischen Luft und Cornea sehr viel betr\u00e4chtlicher ist, als das der w\u00e4ssrigen und glasigen Feuchtigkeit zur Linse.\nJedermann, welcher nun einmal den Gang eines Strahles aus der Luft durch das Auge nach den von uns gegebenen Vorschriften construirt hat, wird sogleich einsehen, dass dieses Verfahren viel zu umst\u00e4ndlich ist, als dass es zu praktischen Zwecken dienen k\u00f6nnte. Man hat darum zu allen Zeiten noch andere, einfachere Verfahrungsarten gesucht. Unter ihnen zeichnen sich diejenigen aus, welche von Mo sei* und vorzugsweise von Listing aus den ausgezeichneten dioptrischen Untersuchungen von Gauss und Bessel abgeleitet sind, wreil sie den Vortheil bieten, ohne ' die mindeste Beeintr\u00e4chtigung der Genauigkeit, das Auge als nur eine Linse ansehen zu d\u00fcrfen. Dieses Verfahren, dessen n\u00e4here Begr\u00fcndung bei Listing nachzusehen, verlangt, dass f\u00fcr ein beliebig complizirtes brechendes System angegeben werde: die Achsen desselben und die Lage seiner vordem und hintern Hauptbrennpunkte, und diejenigen seiner Knoten und Hauptpunkte. Unter der Achse begreift man die gerade Linie, welche die Kr\u00fcmmungsmittelpunkte s\u00e4mmtlicher brechenden Fl\u00e4chen vereinigt; die Hauptbrennpunkte sind diejenigen Punkte auf der Achse, in weichen die Strahlen vereinigt werden, welche parallel auffallen auf eine der Endfl\u00e4chen des Systems und zwar auf ein St\u00fcck der Fl\u00e4che, dessen Radien einen sehr kleinen Winkel mit der Achse am Kr\u00fcmpmngsmittelpunkt einschliessen. Der vordere Hauptbrennpunkt ist nun derjenige, welcher diesseits der vordersten Fl\u00e4che des Systems liegt, in welchen also die auf die hinterste Fl\u00e4che einfallenden Strahlen vereinigt w erden, der hintere Hauptbrennpunkt der entgegengesetzt liegende. \u2014\nDie Knotenpunkte sind analog denjenigen Punkten, die wir an einer einfachen Linse ebenfalls Knotenpunkte der Richtungsstrahlen und an der einfachen brechenden Fl\u00e4che den Kreuzungspunkt der Achsenstrahlen (den Kr\u00fcmmungsmittelpunkt) nannten, und endlich sind die Hauptpunkte zwei Punkte, welche den Knotenpunkten coordinirt sind, indem sie voneinander eben so w^eit entfernt liegen, als die Knotenpunkte und der vorderste Hauptpunkt von dem vorderen Hauptbrennpunkt genau so wreit absteht, als der hintere Knotenpunkt von dem hintern Hauptbrennpunkt. Durch die Achse denke man sich nun eine Ebene gelegt und senkrecht auf diese sechs andere errichtet an den Orten, an welchen die Brenn-, Haupt- und Knotenpunkte die Ebene treffen. Diese Ebenen sollen vordere und hintere Hauptbrennebenen, vordere und hintere Haupte\u00f6enen und vordere und hintere Knotenebenen genannt werden. Gesetzt es sei in Fig. 45 A A die Achse, W B\u2018 die vordere und Bu Bu die hintere Hauptbrennebene, E'E\u2018 die vordere und E\u201c Eu die hintere Hauptebene, K\u2018K\u2018 die vordere und K\"K\u201c die hintere Knotenebene und 1 sei ein im ersten Mittel vor dem Linsensystem gelegener Leuchtpunkt. Um den Verlauf eines beliebigen Strahles nach der Brechung hinter dem Linsensystem zu ermitteln, verfahre man folgen-dermassen: Man verl\u00e4ngere einen beliebigen von 1 ausgehenden Strahl 2 bis er die vordere Hauptebene schneidet und verbinde diesen Einschnittspunkt mit der hintern Hauptebene durch eine zur Achse parallele Linie 2 3, lege dann parallel mit dem Verlauf des Strahles 1 2 aus dem vordem Hauptbrennpiiukfc b die Linie b 4 bis sie ebenfalls die vordere Hauptebene schneidet, und verbinde auch diesen Durchschnittspunkt durch eine zur Achse paraUele Linie 4 5 mit","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"am Auge auf die erl\u00e4uterten Grunds\u00e4tze.\n203\nFig. 45.\nB'\tH'Ii\" K'K\"\tB\"\nder hintern Hauptbrennehene. Eine Linie 3 5, welche den Durchschnittspuukt von 23 mit der hintern Haupt- und von 4 5 mit der hintern Hauptbrennebene verbindet, stellt die Richtung des Strahles hinter dem Linsensysteme dar. \u2014 Diese Construktionsme-thode gew\u00e4hrt um so gr\u00f6sseren Vorth eil, als es mittelst derselben gelingt, auch den Vereinigungspunkt nicht paralleler Strahlen (der jenseits der hintern Hauptbrennebene gelegen ist) aufzufinden, wenn man n\u00e4mlich mehrere Strahlen desselben Leuchtpunktes construirt und sie hinter dem Linsensysteme so weit verl\u00e4ngert, bis sie sich Schneiden. Die in unserer Fig. angegebenen Hilfsmittel und insbesondere die Knotenpunkte geben ausserdem noch die M\u00f6gHchkeit an die Hand, den sog* Richtungsstrahl eines Leuchtpunktes zu finden ; es ist dieses n\u00e4mlich diejenige Linie 1 6, welche sich vom Leuchtpunkt 1 gegen den vordem Knotenpunkt 6 erstreckt, die dieser parallel T8 vom hintern Knotenpunkt auslaufende, bezeichnet den Richtungsstrahl d. h. den Strahl, welcher unter allen vom Punkt 1 ausgehenden und durch das Linsensystem dringenden die geringste Brechung erleidet*\n2. Formen, Dicken und Brechungsverh\u00e4ltnisse der durchsichtigen Augentheile*). \u2014 Das Gesetz, nach welchem die Fl\u00e4che der Cornea gekr\u00fcmmt ist, steht noch nicht fest. Die Begrenzungslinien eines horizontalen Schnittes durch die h\u00f6chste Hervorragung der Cornea schlies-sen sich nach den genauen Messungen von Krause am besten einer Parabel an, w\u00e4hrend sie Senff f\u00fcr elliptisch erkl\u00e4rt. Die Begrenzungslinie eines senkrechten Schnittes durch die h\u00f6chste Hervorragung der Cornea ist nach Senff ebenfalls nach einer Ellipse gekr\u00fcmmt; nach diesem letzten Autor sind zudem die Dimensionen dieser beiden Ellipsen verschieden in der Art, dass dem Scheitel der senkrechten ein etwas kleinerer Kr\u00fcmm\u00fcngskreis zukommt als dem Scheitel der horizontalen.\u2014 Horizontale Schnitte durch die gr\u00f6ssten Hervorragungen der Linse liefern nach Krause elliptische Begrenzungslinien ; der Kr\u00fcmmungskreis des Scheitels derjenigen Ellipse, welche der vorderen Fl\u00e4che angeh\u00f6rt, ist um einen grossem Halbmesser beschrieben als derjenige, welcher dem Scheitel der hintern Grenzellipse zukommt. \u2014 Aus Brechungserscheinungen, welche das Auge bietet, hat Sturm schon geschlossen, dass die brechenden Fl\u00e4chen des Auges nach der\n*) Krause, Foggendorf. Annal. 39. Bd. (1836) p. 529. \u2014 S enff in Volkmanns, Artikel Sehen, Wagners Handw\u00f6rterbuch III. Bd. I. Abthl. 271. \u2014 Ad. Fick, Er\u00f6rterung eines physiolog. optischen Ph\u00e4nomens. Henleu. Pfeuffer. Neue Folge II. Bd. 83. \u2014 E.Br\u00fccke, Anatomische Beschreibung des menschlichen Augapfels. Berlin 184T. \u2014 Sturm sur la th\u00e9orie de la vision Poggendorf. Annalen 65. Bd. 116.","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204 Brechende Fl\u00e4chen und Brechungsverh\u00e4ltnisse der Augenmedien.\nhorizontalen Richtung anders gekr\u00fcmmt sein m\u00fcssen als nach der vertikalen und Ad. Fick hat darauf ermittelt, dass der Halbmesser der horizontalen Kr\u00fcmmungskreise ein gr\u00f6sserer ist, als derjenige der vertikalen Kr\u00fcmmungskreise. Die absoluten Werthe der Parameter der erw\u00e4hnten Curven und demnach auch der Kr\u00fcmmungskreise ihrer Scheitel sind bei den Augen verschiedener Individuen sehr abweichend voneinander gefunden worden.\nDie Verbindungslinie der einzelnen in Betracht kommenden Kr\u00fcmmungsmittelpunkte soll nach Krause (und Sepff?) keine gerade sein ; demnach w\u00fcrde keine optische Axe des Auges existiren.\nDie Abst\u00e4nde zwischen den Scheiteln der brechenden Fl\u00e4chen und namentlich die der Cornea von der vordem Linsenfl\u00e4che ; die dieser letztem von der hintern Linsenfl\u00e4che und endlich der hintern Linsenfl\u00e4che von der Retina sind noch nicht allseitig genug untersucht worden*\nDas Brechungsverh\u00e4ltniss zwischen Luft und der Hornhautsubstanz ist nachChossat = dasjenige zwischen Luft und w\u00e4sseriger Augenfeuchtigkeit nach Chossat und Brewster = Die Brechungsverh\u00e4ltnisse des Stoffes der Linse und des Glask\u00f6rpers sindnicht bestimmbar, weil Linse und Glask\u00f6rper im Innern optisch ungleichartig und von sehr zahlreichen gekr\u00fcmmten Fl\u00e4chen durchzogen sind; Linse- und Glask\u00f6rperst\u00fccke wirken darum, auch wenn sie mit parallelen Grenzfl\u00e4chen versehen nicht allein ablenkend durch das Brechungsverm\u00f6gen ihres Stoffes, sondern auch durch dasjenige der in ihnen enthaltenen krummen Fl\u00e4chen. Um aber einen Anhaltspunkt f\u00fcr die optische Behandlung des Auges zu erhalten, ist man dennoch \u00fcbereingekommen, die ganze Ablenkung, welche das St\u00fcck einer Linse oder eines Glask\u00f6rpers mit parallelen Endfl\u00e4chen h\u00e9rvorzurufen vermag, dem Brechungsverm\u00f6gen des Stoffes zuzuschreiben. In diesem Sinne ist der Brechungsexponent der Linse*) (die Luft als Einheit angenommen) nach Senff = ^ und derjenige des Glask\u00f6rpers nach Chossat und Brewster =\t\u2014 Aus diesen Thatsachen ergibt sich nun,\ndass man die brechenden Kr\u00e4fte der Cornea, w\u00e4sserigen Feuchtigkeit\nund des Glask\u00f6rpers als identisch ansehen darf.\n\u00ab\nDie Methoden, nach denen die vorstehenden Messungen vorgenommen wurden, sind in den gew\u00f6hnlichen physikalischen Lehrb\u00fcchern nachzusehen. Dass das, wras man Brechungsverh\u00e4ltniss der Linse nennt, zum Theil von ihrem lamell\u00f6sen Bau und nicht allein von ihrer chemischen Zusammensetzung bedingt ist, geht daraus hervor, dass, obwohl der Linsenkern st\u00e4rker bricht, als die peripherischen St\u00fccke, die Ge-sammtlinse dennoch noch st\u00e4rker ablenkt'als der Kern. \u2014 Der Einfluss der Formen im Glask\u00f6rper scheint sich weniger geltend zu machen; namentlich aber brechen, wie Pappenheim**) ermittelte, alle Schichten desselben gleichstark.\n*) Diese Bestimmung gilt nun begreiflich nur f\u00fcr Linsenst\u00fccke vom gr\u00f6ssten Dickendurchmes ser, welche also s\u00e4mmtliche innere brechende Fl\u00e4chen enthalten.\n**) Compt. rend. XXV. 190.","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Das mittlere Auge.\n205\n\n3. Das mittlere Auge*). Bei dem Mangel an Uebereinstimmung in den Maasswerthen der Elemente verschiedener Augen, w\u00e8lche den Gang des Strahles bestimmen, hat man sich zu verschiednen Zeiten aus s\u00e4mmt-lichen Messungen ein mittleres Auge abgeleitet, welches den optischen Betrachtungen zu Grunde gelegt wurde. Das beste mittlere Auge scheint das von Listing berechnete zu sein. \u2014 Die Brechungsverh\u00e4ltnisse desselben sind: das der Luft = 1 ; der w\u00e4sserigen Feuchtigkeit = W3 ; der Linse = j-f ; der Glasfeuchtigkeit = W3 ; es betragen die Kr\u00fcmmungshalbmesser der horizontalen Begrenzungslinie am Scheitel der Cornea -j- 8 MM.**), der vordem Linsenfl\u00e4che -j- 10 MM. der hintern Linsenfl\u00e4che \u2014 6 MM. Die Abst\u00e4nde der Scheitel jener brechenden Fl\u00e4chen sind endlich zwischen Cornea und vordem Linsenfl\u00e4che und zwischen vorderer und hinterer Linsenfl\u00e4che zu je 4 MM. angenommen. Der ganze Durchmesser des Auges ist mit Einschluss der ihn begrenzenden Sclerotica zu 24,5 MM. festgestellt. \u2014 Berechnetman f\u00fcr ein solches System die Lage der Brenn- Haupt- und Knotenpunkte f\u00fcr parallele Strahlen, welche nur um kleine Winkelabst\u00e4nde von der Achse einfallen, so findet sich von der Aorderfl\u00e4che der Cornea aus gerechnet: der erste Brennpunkt 12,83 MM. vor der Hornhaut, und hinter ihr der zweite Hauptbrennpunkt 22,65 MM.; der erste Hauptpunkt 2,17 MM. und 0,40 entfernt von diesem der hintere Hauptpunkt; der erste Knotenpunkt 7,24 MM. und der zweite um 0,40 entfernt vom erstem. \u2014 Abgesehen von den Ann\u00e4herungen, welches dieses Listing\u2019sche Auge an die normalen Maassverh\u00e4ltnisse bietet, empfiehlt es sich auch noch dadurch: dass entsprechend den im Leben vorkommenden Brechungserscheinungen die hintere Hauptbrennfl\u00e4che in die Retina f\u00e4llt, und dass der vordere Knotenpunkt ungef\u00e4hr an der Steile liegt, welche ihr nach Messungen von Y o 1km ann am lebenden Auge zukommt.\nDas mittlere Auge nimmt dagegen auf einen wichtigen Umstand des nat\u00fcrlichen nicht R\u00fccksicht, auf den n\u00e4mlich, dass die Fl\u00e4chen des Auges weder sph\u00e4risch sind, noch auch einem Rotationsk\u00f6rper allgeh\u00f6ren. Von diesem Mangel kann aber vorerst noch Umgang genommen werden; ja es gen\u00fcgt sogar f\u00fcr die meisten physiologischoptischen Betrachtungen, das Auge als einen K\u00f6rper anzusehen, der nur aus einem gleichartigen optischen Mittel gebildet ist und von einer sph\u00e4rischen Fl\u00e4che begrenzt wird. Diese freilich schon sehr von der Wahrheit abweichende Annahme gew\u00e4hrt den Vortheil, dass durch sie die beiden Knoten- und Hauptpunkte auf je einen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden. Das N\u00e4here hier\u00fcber siehe bei Listing 1. c. p. 493. \u2014 Die Bestimmung des vorderen Knotenpunktes ist von V olkmann nach einer Methode ausgef\u00fchrt worden, die mannigfachen Ausstellungen ausgesetzt ist. Zu genauem Re-\n*) Moser, \u00fcber das Auge. Repertor. der Physiol, v. Dove. V. Bd. 337. \u2014 Listing. Zur Dioptrik des Auges. Wagners Handw\u00f6rterbuch lV.Bd. \u2014 Volkmann. Neue Beitr\u00e4ge zur Physiologie des Gesichtssinnes. Leipzig 1836. p. 24 u. Artikel Sehen in Wagners Handw\u00f6rterbuch. III. l.Abthl. 28T.\n**) Das + vor 8 u. 10 im Gegensatz zum \u2014 vor 6 bedeutet, dass in den ersteren F\u00e4llen die Kr\u00fcmmung mit der convexen Seite nach vorn und im letztem mit der convexen Seite nach hinten schaut.","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nSehen in verschiedene Fernen.\nFig. 46.\nsultaten d\u00fcrfte es f\u00fchren, wenn man (Fig. 46) in die Verl\u00e4ngerung der Sehachse SS in verschiedener Entfernung die Mittelpunkte zweier kleinen symmetrischen und sich \u00e4hnlichen K\u00f6rper A' A und B1B br\u00e4chte, so dass sie sich im Auge decken; offenbar w\u00fcrden dann die Punkte A und B und ebenso \u00c4' und B\u2018 dieselben Richtungsstrahlen.besitzen, deren Richtung durch die Punkte A B und A* Bf angegeben w\u00fcrden. H\u00e4tte man dann den Abstand E C, n\u00e4mlich den des Mittelpunktes unseres ersten K\u00f6rpers von der h\u00f6chsten Erhabenheit der Cornea, ferner die Entfernung E D, und die Gr\u00f6sse A D und E B gemessen, so w\u00fcrde man durch einfache Proportionsrechnung den Schnittpunkt der Richtungsstrahlen K und zugleich dessen Lage im Auge bestimmen k\u00f6nnen.\n4. Feststellung der hintern Brennfl\u00e4che bei wechselnder Divergenz der in das Auge fallenden Strahlen. Sehen in verschiedene Fer-nen; Einrichtung des Auges.\nMit der Entfernung des Leuchtpunktes von den Grenzfl\u00e4chen eines Linsensystems wechselt bekanntlich der Ort des Yereinigungs-punktes hinter der Linse, oder was dasselbe der Ort des deutlichen Bildes, welches hinter der Linse von einem vor ihr liegenden Gegenstand entworfen wird. W\u00e4re also das Problem zu l\u00f6sen, trotz wechselnder Entfernung des Gegenstandes, den Abstand des Bildes von dem Linsensystem best\u00e4ndig zu erhalten, so w\u00fcrde dieses nur m\u00f6glich sein, indem man die brechenden Eigenschaften der Linsen \u00e4nderte in der Art, dass mit steigender N\u00e4herung die Brechkr\u00e4fte der Linsen im Zunehmen begriffen w\u00e4ren.\nDieses Yerhalten ist nun auch eine Eigenschaft des physiologischen Linsensystemes des Auges, welche durch ein eben so einfaches als geistreich erdachtes Mittel, den Augenspiegel von Helmholtz,*) zu Jedermanns Anschauung gebracht werden kann. Mittelst dieses Spiegels ist man nach geringer Uebung im Stande die Retina eines andern lebenden Menschen genau zu betrachten, und sowohl die ihr zugeh\u00f6rigen Formen als auch unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden die auf ihr entworfenen Bilder \u00e4usserer Gegenst\u00e4nde scharf aufzufassen. F\u00fchrt man nun die Betrachtung einer lebenden Retina mit Ber\u00fccksichtigung der auf ihr entworfenen Bilder \u00e4usserer Gegenst\u00e4nde aus, so gewahrt man, dass wenn ein Objekt, welches vor dem Auge sich findet, auf der Retina scharf erscheint jedes ferner oder n\u00e4her liegende sich nicht deutlich abbildet. Zugleich aber ergibt sich, dass es dem Auge m\u00f6glich wird zu verschiedenen Zeiten auf dieselben Stellen der Seh-haut Gegenst\u00e4nde sehr verschiedener Entfernung genau abzubilden; hierbei tritt aber der wohl zu merkende Umstand ein, dass das urspr\u00fcnglich deutliche Bild seine Sch\u00e4rfe verliert, so wie das Bild eines entfern-\n*) Helmholtz, Beschreibung eines Augenspiegels. Berlin 1851.","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Sehen in verschiedene Fernen; Augenspiegel.\n207\nteren oder n\u00e4heren Gegenstandes zum Vorschein kommt, selbst wenn die Richtung der Sehachse zum ersten Gbjekt unver\u00e4ndert bleibt, so dass zu jeder Zeit die Strahlen desselben in das Auge gelangen k\u00f6nnen.\nAus allen diesem folgt nun, dass das brechende System des Auges in einem bestimmten Zustand (unver\u00e4nderlich gedacht) nur von den Leuchtpunkten Bilder auf die Retina zu entwerfen vermag, welche sich in einer ganz bestimmten Entfernung von dem Auge finden; zugleich aber dass die Zust\u00e4nde des brechenden Systems in der Art ver\u00e4nderbar sind, dass auch Gegenst\u00e4nde sehr verschiedener Entfernung auf der Retina abgebildet werden k\u00f6nnen.\nDiese letztere Eigenschaft, welche das Auge mit vielen k\u00fcnstlichen Linsensystemen theilt, nennt man das Einrichtungs-, oder Acco-modationsverm\u00f6gen des Auges.\nDie Pupille des Auges erscheint bekanntlich vollkommen schwarz, obwohl sehr betr\u00e4chtliche Lichtmassen, wrelche im Innern des Auges gespiegelt werden, aus ihr treten. Der Grund dieses scheinbar paradoxen Verhaltens ist aber durch einen Blick\nauf Fig. 47 klar, welche zeigt, dass alle Strahlen, welche vom leuchtenden Punkt A ausgehend in dem Auge bei A\u2018 zusammengebrochen und dann von hier gespiegelt das Auge verlassen, auch im Raum wieder bei A zusammenge-^ lenkt werden. Der Retinapunkt A und alle \u00fcbrigen senden also das gespiegelte Licht immer nach dem Ort, von dem aus sie erleuchtet werden, und somit w\u00fcrde bei gew\u00f6hnlichem Gange der Lichtstrahlen uns die Pupille eines Andern nur dann hell erscheinen, wenn die\nErleuchtung der Retina des\nFig. 47.\nA\nR\nAndern von unserm Auge ausginge, H\u00e4lt man dagegen (Fig. 48) vor das Auge einen imbelegten Spiegel (eine Glassplatte) S S in der bezeichnten oder in einer \u00e4hnlich geneigten Stellung und bringt einen leuchtenden Gegenstand bei L an, so werden die von L ausgehenden und\n\\k\nauf S S fallenden Strahlen zum Th eil durch die Platte den Weg der get\u00fcpfelten Linien nehmen, zum Theil aber gegen das Auge A A reflectirt und von diesem nach R gebrochen werden. Die bei R vereinigten Strahlen werden nun in der Richtung wieder nach aussen geworfen, in der sie eintraten, und von neuem auf der Glasplatte anlangen. Ein Theil derselben wird nach L zur\u00fcckgehen, ein anderer aber durch das Glas dringen und bei B in dem Ort zur Vereinigung kommen, in welchem auch scheinbar das Spiegelbild liegt. An diesen Ort muss nun der Beobachter, welcher den Bildpunkt R im Auge A A sehen will, seine Retina bringen. W\u00fcrde er aber zu diesem Behuf sein Auge unmittelbar in den Strahlenkegel zwischen B und die Platte f\u00fchren, so w\u00fcrde, wegen der stark br\u00e7-","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nDeutliches Sehen.\nchenden Eigenschaften seines Auges, die Vereinigung der an und f\u00fcr sich convergiren-den Strahlen schon vor der Retina erfolgen. Darum ist es noch nothwendig, in den a Gang der Strahlen die zerstreuende Linse L L einzuf\u00fcgen, wodurch dieselben aus dem convergirenden in den parallelen oder divergirenden Verlauf gebracht und dann durch das beobachtende Auge wieder zusammengebrochen werden. Durch diese Mittel gelingt es, nicht allein den Punkt R zu sehen, sondern noch mehr, man gewahrt ihn auch vergr\u00f6ssert,' indem das vor R gelegene convexe Linsensystem des beobachteten Auges ungef\u00e4hr wie ein 24 mal vergr\u00f6sserndes Glas wirkt. Die Theorie und das Genauere des Baues dieses auch f\u00fcr \u00e4rztliche Zwecke wichtigen Instrumentes siehe bei H elmholtz in der citirten Schrift.\nDer Zeitraum, in welchem der Beobachter mittelst des Augenspiegels auf der Retina ein deutliches Bild des leuchtenden Gegenstandes bemerkt, trifft nun mit demjenigen zusammen, in welchem das beobachtete Auge den Gegenstand scharf wahrnimmt. Daraus folgt unmittelbar, dass ein Gegenstand nur dann deutlich gesehen werde, wenn er ein scharfes Bild auf der Retina entwirft. Die Nothwendigkeit dieses Zusammenhanges l\u00e4sst sich nun auch noch anderweitig darthun *).\nB\tFig. 49.\nNehmen wir an (Fig. 49), es sende ein unmittelbar vor der vorderen Hauptbrennebene B B gelegener Gegenstand die Strahlenb\u00fcschel C C\u2018 C\u201c und D D' D\u201c aus, so werden sie, vorausgesetzt, dass f\u00fcr parallele Strahlen die hintere Brennebene des Auges auf der Retina R R gelegen sei, weit hinter der letztem ihre Vereinigung finden. Die Punkte C und D des Gegenstandes CD werden demnach auf der Retina durch Kreise \u2014 die Zerstreuungskreise \u2014 dargestellt. In demselben Falle werden sich nun auch alle zwischen D und C gelegenen Punkte des Gegenstandes C D finden. Je nach der Gr\u00f6sse des Durchmessers der Zerstreuungskreise w\u00fcrden sich also die Bilder in mehr oder weniger grosser Anzahl neben einander liegender Punkte decken, mit andern Worten, es werden verschiedene Stellen des Gegenstandes auf dieselben Fl\u00e4chen der Retina ihre Strahlen senden. Dieses bedeutet aber nichts anderes, als dass die kleinen und gedr\u00e4ngt liegenden empfindenden Elemente der Sehhaut gleichzeitig von verschiedenen Orten Eindr\u00fccke empfangen, welche, indem sie sich gegenseitig st\u00f6ren, ein undeutliches Sehen erzeugen ; offenbar wird also mit der Gr\u00f6sse der Zerstreuungskreise auch die Undeutlichkeit des Sehens wachsen ; nimmt dagegen der Umfang der Zerstreuungskreise bis auf einen gewissen Werth ab, so dass derselbe die Gr\u00f6sse eines empfindenden Netzhautelements nicht mehr \u00fcberschreitet, so wird durch noch fortschreitende Verkleinerung desselben das deutliche Sehen nicht weiter gef\u00f6rdert.\n*) Volkmann. Nene Beitr\u00e4ge etc. 105 u. f.","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Deutliche Sehweite ; Optometrie.\n209\nDie F\u00e4higkeit des Auges sich in zeitlicher Folge f\u00fcr Gegenst\u00e4nde verschiedener Entfernung einrichten zu k\u00f6nnen, ist keine unbeschr\u00e4nkte, indem auch die besten Augen Gegenst\u00e4nde, die diesseits und die meisten solche, die jenseits gewisser Entfernungen liegen nicht mehr deutlich aufzufassen verm\u00f6gen. Der Raum, innerhalb dessen sich die Gegenst\u00e4nde bewegen d\u00fcrfen, damit von ihnen der dioptrische Apparat des Auges noch scharfe Bilder auf die Retina entwerfen k\u00f6nne, f\u00fchrt den Namen der deutlichen Sehweite ; die Grenzpunkte dieses Raumes heissen N\u00e4he- und Fernpunkte.\nZur Bestimmung der Sehweite eines Auges bedient man sich eines besondern Verfahrens, (Optometrie) das auf den sogenannten Scheiner\u2019schen Versuch gegr\u00fcndet ist. Das Prinzip desselben ist folgendes: Man st\u00f6sst durch ein undurchsichtiges Blatt (ein Kartenblatt) zwei feine Oeffnungen, welche einander n\u00e4her liegen, als der Durchmesser der Pupille, bringt dieselbennahe vor das Auge, undf\u00fchrt vor lind zwischen beide L\u00f6cher einen feinen Gegenstand (eine Nadelspitze); indem man die Nadel von einem dem Auge sehr betr\u00e4chtlich angen\u00e4herten Punkte allm\u00e4hlig bis zu einem betr\u00e4chtlich fern gelegenen in einer horizontalen Linie fortbewegt, erscheint die Nadelspitze zuerst doppelt, dann einfach und endlich wieder doppelt. Der Raum, in welchem die Nadel einfach erscheint, ist derjenige der deutlichen Sehweite. Denn gesetzt, es stelle in Fig. 50 A den leuchtenden Punkt dar, der dem Auge so an-\ngen\u00e4hert worden, dass die Vereinigung seiner Strahlen erst weit hinter der Retina RR zu Stau de komme,so wir der durch den Zerstreuungskreis 3 4 auf der letztem dargestellt werden. Wird nun in das Strahlenb\u00fcschel A1 2 der von zwei Oeffnungen 1 2 durchbrochene Schirm S S gehalten, so werden auch nur zwei, diesen Oeffnun-gen entsprechende, Abtheilungen des Strahlenb\u00fcschels auf die Retina fallen, w\u00e4hrend die mitt-lern Strahlen, durch das St\u00fcck des SchirmesR auf- * gefangen, einen Schatten dieses letztem auf die Retina werfen. Ist dagegen (Fig. 51) der leuchtende Punkte in eine solche Entfernung gelegt, dass die von ihm auf das Auge fallenden Strahlen sich schon vor der Retina\nFig. 50.\nA\nin C vereinigen, so werden sie nachdem sie im Vereinigungspunkt sich gekreuzt haben, auseinander fahren, und abermals den Zerstreuungskreis 3, 4 auf der Retina bilden.\nLudwig, Physiologie L\n14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nLage des N\u00e4he- und Fernpunktes.\nWerden nun auch in diesem Strahlenkegel durch den Schirm S S in der fr\u00fcheren Weise die mittleren Strahlen abgehalten, so werden sich bei C auch nur zwei Strahlenb\u00fcschel kreuzen k\u00f6nnen, welche bei 3 und 4 die Retina erleuchten. Die beiden vorgef\u00fchrten F\u00e4lle unterscheiden sich darin voneinander, dass in dem ersteren die Bilder auf der Retina entsprechend den Oeffnungen vor dem Auge liegen, w\u00e4hrend sie in dem zweiten gekreuzt sich finden, so dass das auf der Retina untere Bild von den Strahlen herr\u00fchrt, die durch die obere OefFnung des Schirmes fielen und umgekehrt. \u2014 Liegt aber endlich der Leuchtpunkt A in einer solchen Entfernung, dass der Kreuzungspunkt seiner das Auge treffenden Strahlen auf die Retina f\u00e4llt, so kann begreiflich durch Einschiebung eines Schirmes, der einen Theil dieser Strahlen abh\u00e4lt, keine andere Folge erzeugt werden als die, dass*das Bild auf der Retina lichtschw\u00e4cher erscheint.\nDie Weite des deutlichen Sehens sowohl, als die Lage der Grenzen zum Auge erwreisst sich nun verschieden, je nach mannigfachen Umst\u00e4nden. Namentlich aber ist a) das Auge niemals gleichzeitig f\u00fcr die in der horizontalen und vertikalen Ebene verlaufenden Strahlen eingestellt. Diese von Ad. Fick*) festgestellte Thatsache findet ihre Begr\u00fcndung darin, dass die in der vertikalen Ebene liegenden Kr\u00fcmmungshalbmesser der brechenden Fl\u00e4chen andere sind als die in der horizontalen Ebene vorkommenden. Nach Ad. Fick sind die Augen gew\u00f6hnlich f\u00fcr die Strahlen der horizontalen Ebene eingestellt. \u2014 b) Wenn das Auge f\u00fcr die Strahlen eingestellt ist, welche auf den mittleren Theil der Cornea fallen, so vereinigen sich auf der Retina die Randstrahlen der Cornea nicht, Moser**). Diese Erscheinung findet ihren Grund in der sph\u00e4rischen Aberration. \u2014 c) Der N\u00e4hepunkt r\u00fcckt nach H. Meyer***) an das Auge um einige Millimeter heran, wrenn man dasselbe von aussen nach innen richtet. Auf die m\u00f6glichen Gr\u00fcnde dieser Erscheinung werden wir alsbald eingehen. d) Die Entfernung der Grenzpunkte der deutlichen Sehweite der beiden Augen ein und desselben Individuums ist sehr h\u00e4ufig eine verschiedene, in der Art, dass von den beiden Augen das eine fernsichtiger ist als das andere. \u2014 e) Die Ausdehnung der deutlichen Sehweite sowohl, als die Entfernung ihres N\u00e4hepunktes von der Cornea wechselt bei demselben Individuum mit dem Alter, namentlich entfernt sich mit dem steigenden Alter der N\u00e4hepunkt vom Auge; mit andern Worten das alternde Auge wird fernsichtig. \u2014 f) Durch eine Reihe von Arzneimitteln, welche \u00f6rtlich auf das Auge angewendet werden, l\u00e4sst sich der Raum des deutlichen Sehens einengen, indem durch Eintr\u00e4ufeln von fl\u00fcssigem Belladonna- und Hyoszvamusauszug der N\u00e4hepunkt sich vom Auge entfernt; man schreibt diesen Erfolg einer L\u00e4hmung des muskul\u00f6sen Einrichtungsapparates zu. \u2014 g) Die Augen der einen Individuen sind entweder durch Erziehung oder durch ange-\n*3 Henle u. Pfeufer. NeueFolge II. Bd.\u2014 Siebe Her\u00fcber auch M\u00fcller in Poggendorfs Annalen 86 Bd.\n**) Dove\u2019s Repertor. 1. c.\n***) Henle u. Pfeufer V. Bd. 388 (1846).","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Mechanismus der Einrichtung.\n211\nborne Eigenth\u00fcmlichkeit kurzsichtiger als die der andern. Namentlich b\u00fcssen die Augen durch anhaltendes Betrachten naher Gegenst\u00e4nde die F\u00e4higkeit ein sich f\u00fcr ferne Gegenst\u00e4nde einzurichten (Kurzsichtigkeit), w\u00e4hrend umgekehrt nach lange Zeit fortgesetztem Sehen in die Ferne das Auge in einen Zustand ger\u00e4th, in welchem stark diver-girende Strahlen ihren Brennpunkt nicht mehr auf der Retina, sondern hinter derselben finden (Fernsichtigkeit) *).\nDiese Mitteilungen zeigen, dass es unthunlieh sei, den Umfang der deutlichen Sehweite des menschlichen Auges im Allgemeinen in Zahlen ausgedr\u00fcckt anzugeben. \u2014 Zahlreiche Beobachtungen haben nur den allgemeingiltigen Satz festgestellt, dass die in das Auge convergirend einfallenden Strahlen niemals auf, sondern immer vor der Retina ihre Vereinigung finden. Augen, denen das Einrichtungsverm\u00f6gen im besondern Grade zukommt, vereinigen die aus unendlicher Ferne (parallel) kommenden Strahlen ebensowohl, als die aus einem Augenabstand von 80 bis 100 M. M. ausgehenden auf der Retina.\nDie innern Ver\u00e4nderungen, welche im Auge Vorgehen m\u00fcssen, um den Yereinigungspunkt der Strahlen bei wechselnder Entfernung des Leuchtpunktes auf der Retina zu fixiren, beruhen auf der Verk\u00fcrzung willk\u00fcrlich beweglicher Muskelr\u00f6hren und zwar scheint die Verk\u00fcrzung derselben dem Einrichtungszustand des Auges f\u00fcr die N\u00e4he zu entsprechen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit darf dann noch der Zusatz gemacht werden, dass durch die Muskel Verk\u00fcrzung die Linse im Auge nach vorn geschoben werde, Hu eck*).\nDiese Angaben halten wir f\u00fcr berechtigt, weil wir willk\u00fcrlich unser Auge f\u00fcr verschiedene Entfernungen anpassen k\u00f6nnen, und weil eine messbare Zeit nothwendig ist, wenn wir von der genauen Betrachtung eines entfernten zu der eines nahen Gegenstandes \u00fcbergehen wollen; diese Zeit, welche nach Volkmann***) durch den Scheinerschen Versuch messbar sein soll, n\u00e4hert sich derjenigen an, welche zu kleinen Muskelverk\u00fcrzungen nothwendig ist. \u2014 In dem Zustand einer vollkommenen Ruhe, bei geschlossenen Augenliedern, scheint das Auge f\u00fcr die Ferne eingerichtet zu sein, wie wir daraus schliessen, dass nach Er\u00f6ffnung der Augenlieder jedesmal die Accommodation f\u00fcr die Ferne vorhanden ist ; Volkmann; und weil wir uns\nbeim Sehen in die N\u00e4he einer Anstrengung des Auges bewusst\n#\nwerden.\nDie Hypothesen \u00fcber den optischen Mechanismus, welcher dem Sehen in verschiedene Entfernungen zu Grunde liegt, sind zwar sehr zahlreich, aber bei weitem der gr\u00f6sste Theil derselben verdient der Vergessenheit anheim gegeben zu werden. Zu diesen letzteren z\u00e4hlen alle diejenigen, welche behaupten, dass auch ohne irgend welche vorg\u00e4ngige Ver\u00e4nderung im Auge, alle Strahlenb\u00fcschel auf der Retina ihre Vereinigung f\u00e4nden, die von einem Leuchtpunkt innerhalb der Sehweite aus-\nHolke Disquisitio de acie cculi u. s. w. Siehe in Valentins Lehrbuch d. Physiologie II. Bd.\n3. Abthl. 250.\n**) Die Bewegung der Krystallinse. Leipzig 1841.\n***) Wagners Ilandw\u00f6rterb. III. 1. 309.\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212 Mechanismus der Einrichtung; Durchmesserver\u00e4nderung des Bulbus.\ngehen*). Diese Annahme verlangt, dass das Auge gleichzeitig f\u00fcr alle in der Sehweite gelegenen Gegenst\u00e4nde accommodirt sei; da unser Auge aber in Wirklichkeit nur f\u00fcr die Gegenst\u00e4nde einer einzigen Entfernung eingerichtet ist, resp. wenn wir einen Gegenstand sehen, uns alle anderen undeutlich werden, so ist der Gegensatz zwischen ihr und den Thatsachen bemerkenswertli genug. \u2014 Fernerhin sind zu verwerfen diejenigen Annahmen, welche auf eine Ver\u00e4nderung des Brechungscoeffizienten der Augenmittel und eine Ver\u00e4nderung der Kr\u00fcmmungshalbmesser der brechenden Fl\u00e4chen z\u00e4hlen. \u2014 Wenn man glaubte, dass durch eine irgendwie eingef\u00fchrte Compression der Augenmittel die Brechungskoeffizienten derselben erh\u00f6ht werden, und somit der Brennpunkt des Auges verschoben werden k\u00f6nnte, so bedachte man nicht wie wenig compressibel die Angenfl\u00fcssigkeiten sind. \u2014 Ein Apparat zur Ver\u00e4nderung der Kr\u00fcmmungshalbmesser der brechenden Fl\u00e4chen besteht aber entweder gar nicht, wie z. B. an den Linsenfl\u00e4chen, oder es ver\u00e4ndern sich thats\u00e4chlich bei der Accommodation des Auges f\u00fcr verschiedene Fernen die Fl\u00e4chen nicht, wie dies f\u00fcr die Cornea durch sehr genaue Versuche von Kohlrausch und S enff erwiesen ist**). Es bleiben demnach von der Summe der m\u00f6glichen Erkl\u00e4rungen nur diejenigen \u00fcbrig, welche eine Entfernung der Retina von einer oder allen brechenden Fl\u00e4chen voraussetzen. ln diesem letzten Sinne k\u00f6nnen aber nur zw ei Hypothesen aufgestellt Werden***).\nNach der ersten von beiden ver\u00e4ndert sich die Augenachse durch den Druck, welchen die Augenmuskeln auf den Augapfel aus\u00fcben. Diese Annahme schliesst in so fern nichts ungereimtes in sich, als jiicht bestritten werden kann, dass unter gewissen Voraussetzungen die Augenmuskeln eine Verk\u00fcrzung oder eiue Verl\u00e4ngerung der Augenachsen herbeizuf\u00fchren im Stande sind, ohne zugleich Dreh- oder Ortsbewegungen zu bewerkstelligen. Zur Erf\u00fcllung dieser Bedingung gen\u00fcgt es, dass die auf das Auge wirkenden Kr\u00e4fte am Mittelpunkt desselben nach den drei Dimensionen des Raumes im Gleichgewicht sind; sie werden dann offenbar das Auge dr\u00fccken, ohne es zu bewegen. Diese Bemerkung nimmt die Schwierigkeit hinweg, welche die meisten Physiologen veranlasste, die vorliegende Hypothese zu verwarfen, die n\u00e4mlich, dass die Accommodation f\u00fcr verschiedene Entfernungen bei derselben Stellung und umgekehrt bei gleichen Entfernungen f\u00fcr verschiedene Stellungen des Auges m\u00f6glich seif); denn offenbar kann der durch den Druck ver\u00e4nderte Bulbus, dessen Mittelpunkt im Gleichgewicht sich findet, noch alle anderen m\u00f6glichen Bewegungen ausf\u00fchren. \u2014 So unangreifbar demgem\u00e4ss von dieser Seite die Hypothese ist, so unwahrscheinlich wird sie, wenn man bedenkt, wie sehr die Retina, welche schon sanfte Dr\u00fccke schmerzlich empfindet, durch die starken Dr\u00fccke, die der prall gespannte Augapfel zu einer Formver\u00e4nderung bed\u00fcrfte, leiden m\u00fcsste. Man bestreitet ausserdem (Riite) ihre Giltigkeit, weil pathologische F\u00e4lle von vollkommener L\u00e4hmung der Augenmuskeln ohne wesentliche Beeintr\u00e4chtigung des Accommodations-Verm\u00f6gens beobachtet sind, und umgekehrt nach Eintr\u00e4ufeln von Belladonnaexract in das Auge die Accommodation geschw\u00e4cht ist, ohne dass die Augenmuskeln in ihrer Funktion irgend wTie beeintr\u00e4chtigt wurden. Zudem m\u00fcsste erst auch bewiesen sein, ob und welche Formver\u00e4nderungen die Augenmuskeln erzeugen. Zu Gunsten dieser Annahme f\u00fchrt man an, dass durch das Optometer bei einzelnen Individuen nachweissbar sei, wie das Auge bei seiner Stellung nach innen kurzsichtiger w erde, als bei einer solchen nach\n*) Die eleganteste unter diesen hat Sturm in einer lesenswerthen Abhandlung entwickelt. P o g g e n d. Annal. 65. Bd.\n**) Wie sehr sich die Verh\u00e4ltnisse bei V\u00f6geln anders gestalten als beim S\u00e4ugethier ist aus der ausgezeichneten Abhandlung von Br\u00fccke zu ersehen. Ueber den Muscul. cramptonianus u. den Spannmuskel der Choroidea. M\u00fcllers Arch. 1846\n***) Listing, Zur Dioptrik des Auges, Wagners Handw\u00f6rterbuch IV. Bd. 498. f) Donders, Ueber den Zusammenhang zwischen d. Convergiren der Sehachsen etc. Val en\u00bb tins Jahrb. f. Physiol. 1849. p. 153.","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Mechanismus der Einrichtung; LinsenTbewegung.\n213\naussen, und dass man durch einen Druck auf die Vorderfl\u00e4che der Sclerotica einen Kurzsichtigen fernsichtig zu machen im Stande sei. Diese Beobachtungen verdienen noch weitere Verfolgung*).\nNach der anderen weit ansprechenderen Hypothese wird die Verschiebung des Brennpunktes durch eine Ver\u00e4nderung in der Linsenstellung erzielt. Der Mechanismus, durch den die Bewegung der Linse m\u00f6glich ist, ruht in der Gegenwart und der Ansatzweise des m. tensor choroideae, in der Anheftung der Linse an den Glask\u00f6rper, dem Abschluss der w\u00e4sserigen Feuchtigkeit von dem Zwischenraum zwischen Choroidea und Retina, in der Anwesenheit der Choroidea, der plicae und processus ciliares, in der Nachgiebigkeit der Gef\u00e4ssmembranen und endlich in der ann\u00e4hernden Gleichheit der Spannung, unter der sich die Augenfl\u00fcssigkeit und das Blut in den Aderh\u00e4uten findet. \u2014 Untersuchen Avir zun\u00e4chst, Fig. 52 und 53, die Wir-kungsAveise des m. tensor choroideae (die Schraffirung bei TT), unter der Voraussetzung, dass sich seiner Wirkung kein anderer Widerstand bietet, als derjenige, welcher von der Steifheit der angezogenen Membranen herr\u00fchrt, so ergibt sich, dass er bei seiner Zusammenziehung einen jenseits der hintern Linsenfl\u00e4che gelegenen Ring der Choroidea und demnach einen solchen der innig damit verbundenen Glashaut nach vorn zuziehen vermag, Avodurch er einen Ring gr\u00f6sseren Durchmessers auf einen solchen kleinern reduziren Avird; in Folge dessen wird der Aequator des Glask\u00f6rpers abgeplattet und die auf dem vordem Glask\u00f6rperende sitzende Linse nach v'orn geschoben Die Umwandlung der Formen machen in karrikirter Zeichnung, Fig. 52 und 53 deutlich. Die erstere stellt die Form des Glask\u00f6rpers bei ruhendem, die ZAveite bei zusammengezogenem Muskel dar.\nFig. 53.\nFig. 52\nGehen A\\rir nun aber zu Widerst\u00e4nden der Bewegung \u00fcber, so ergibt sich, dass die Linse nicht in den prall mit der w\u00e4sserigen Feuchtigkeit angef\u00fcllten vorderen Raum dringen kann, weun nicht irgendwie Platz gewonnen wird, und dass der Glask\u00f6rper keine Abplattung seines Aequators erfahren kann, wenn nicht entweder die Sclerotica sammt dem Fettpolster folgt, oder der zwischen Choroidea und Sclerotica entstehende Raum ausgef\u00fcllt Avird. Beide Bedingungen, die Entleerung der Augenkammern und die Anf\u00fcllung des Raumes zAvischen Choroidea und Sclerotica k\u00f6nnen m\u00f6glicherweise erf\u00fcllt werden durch die Anf\u00fcllung resp. Entleerung der Choroidealgef\u00e4sse und der plicae und processus ciliares, deren Lage wie die Fig. 52 und 53 zeigen, in der That vollkommen passend zu diesem Zwecke angeordnet ist. ln den Figuren bedeuten die im Choroidealraum liegenden Kreise Durchschnitte der Gef\u00e4sse bei verschiedenen Linsenstellungen.\nH. Meyer, Ueber den Einfluss der Augenmuskeln f\u00fcr die Accommodation des Auges. Henle u. Pfeufer V. 388.","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\tMechanismus der Einrichtung ; Linsenbewegung.\nDie Wahrscheinlichkeit f\u00fcr die Annahme, dass die Aderh\u00e4ute des Auges in eben-bezeichneter Weise die Linsenbewegung unterst\u00fctzen, wird sehr erh\u00f6ht: 1) Wenn man auf den verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig grossen Durchmesser der einzelnen sie constitui-renden Gef\u00e4sse R\u00fccksicht nimmt ; 2) durch die von C. Weber und mir gemeinschaftlich gewonnene Beobachtung, wonach die Gef\u00e4ssh\u00e4ute im Auge so nachgiebig sind, dass ein in der vordem Augenkammer luftdicht eingesetztes Manometer auf dem Kymographion (siehe d. Pulslehre im Abschnitt vom Blutkreislauf) jede Ver\u00e4nderung des Pulses, r\u00fchre sie vom Herzschlag oder Respirationswirkung her, aufzeichnet mit Excursionen, die im Manometer bei einem Hundeauge von mittlerer Gr\u00f6sse bis zu 0,8 Kubikzentimeter betragen; 3) dass der hydrostatische Druck, unter welchem die Fl\u00fcssigkeit in den Augenkammern liegt, nahe an den mittleren Seitendruck reicht, welchen die Wandungen gr\u00f6sserer Gef\u00e4sse zu ertragen haben. Man sieht* dass unter diesen Umst\u00e4nden nur geringe Zuw\u00e4chse zu dem in der vordem Augenkammer vorhandenen Drucke hinreichen, um das Uebergewdcht auf Seite der \u2022w\u00e4sserigen Feuchtigkeit zu bringen.\nMit der Darstellung der M\u00f6glichkeit der Linsenbew egung durch diesen Apparat ist nun freilich noch nicht erwiesen, dass die Linse durch ihn in der That bewegt wird; unzweifelhaft kann dieses\u2014 wie mir einige Vorversuche zeigten, \u2014 durch einen F\u00fchlhebel bewerkstelligt w erden, der in einem von Wasser erf\u00fcllten und mit der vordem Augenkammer kommunizirenden Raume leicht aufgeh\u00e4ngt vor die vordere Linsenfl\u00e4che gebracht wird; er m\u00fcsste eine Bewegung der Linse nach vorn an-zeigen, w^enn man nach Durchschneidung der Augenmuskeln den m. tensor cho-roldeae mittelst zweier gegen ihn eingestochenen Nadeln, durch welche ein wechselnder Induktionsstrom ginge, erregte. Dieser schwierige und delikate Versuch ist nur an Hunden, welche einen etwras betr\u00e4chtlichen m. tensor choroideae besitzen, ausf\u00fchrbar.\nDie Vertheidiger der Hypothese von der Linsenbew egung als der Ursache der Accommodation f\u00fchren nun zu ihrer Unterst\u00fctzung noch an; a) Man k\u00f6nne in der That bei Accommodation f\u00fcr die N\u00e4he das Vorr\u00fccken der Linse beobachten, welche die Iris vor sich herschiebe und wr\u00f6lbe. Hu eck*) gibt die Gr\u00f6sse dieses Vorschiebens von 0,7 bis zu 1,7 M. M., und Lis ting **) zu 1,5 M. M. an. Andere Beobachter l\u00e4ugnen aber noch die Anwesenheit dieser Erscheinung.\u2014 b) Individuen, die in Folge der Staaroperationen die Linsen verloren habeu, b\u00fcssen das Verm\u00f6gen, in verschiedene Fernen zu sehen, ein. Auch diese Beobachtung erf\u00e4hrt Widerspruch, indem mehrere Kranke, die einige Jahre nach Vollendung der Operation untersucht wurden, das Accommodationsverm\u00f6gen wieder gewannen hatten) man sucht nun diesen letzteren Beobachtungen ihre Beweiskraft gegen die Hypothese von der Linsenbewe-gung dadurch zu rauben, dass man annimmt, es m\u00f6chte sich die Linse (wie das nach \u00e4rztlicher Erfahrung h\u00e4ufig geschieht) in diesen F\u00e4llen regenerirt haben. Zudem w\u00e4re auch beim Fehlen der Linse eine beschr\u00e4nkte Accommodation durch Verschieben der tellerf\u00f6rmigen Grube, wrelche dann als die zur Hornhaut geh\u00f6rige hintere Fl\u00e4che einer biconvexen Linse betrachtet werden k\u00f6nnte, immer noch gedenkbar. c) Durch Eintr\u00e4ufeln von Belladonna-Extrakt in das Auge wird das Accommodationsverm\u00f6gen geschw\u00e4cht und das Auge zugleich fernsichtiger, wie es in der That die Theorie verlangt, wenn durch Aufnahme des wirksamen Stoffes der Belladonna in die w\u00e4sserige Feuchtigkeit der m. tensor choroideae gel\u00e4hmt wird.\nDer entscheidende Versuch f\u00fcr die vorliegende Hypothese kann nach meinem Daf\u00fcrhalten dann geliefert werden, wenn es gelingt, mittelst der Schl\u00e4ge eines elektrischen Induktionsapparates, die man durch ein paar feine nahe dem Cornearande oberfl\u00e4chlich in die Sclerotica gebrachte Drahtspitzen einleitet, den m. tensor\n*) Bewegung der Krystalllinse. Leipzig 1841.\n**) Wagners Handw\u00f6rterbuch IV. Bd. p. 504,","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Stellung des Einrichtuugsapparates zum Willen. Zerstreuungsbilder. 215\nchoroide\u00e6 zur Contraktion zu veranlassen, ohne dass die Augenmuskeln an der Bewegung Theil nehmen; ist die Th\u00e4tigkeit des m. tensor choroideae und der mit ihm verbundene Apparate Ursache der Accommodation f\u00fcr die N\u00e4he so muss in diesem Versuche w\u00e4hrend der Erregung das Auge kurzsichtig werden.\nDie Behauptung, dass von dem wechselnden Durchmesser der Pupillen\u00f6fFnung die Einrichtung abh\u00e4ngig sei, verdient, als widerlegt, hier keine Stelle mehr.\nDa wir den Mechanismus des Einrichtungsverm\u00f6gens noch nicht kennen, so gew\u00e4hrt es keinen Yortheil darauf einzugehen, welche Ver\u00e4nderungen das Auge und namentlich die Verschiebung der Linse u. s. w. erleiden m\u00fcsse, um das Sehen unendlich oder 100 MM. entfernter Gegenst\u00e4nde m\u00f6glich zu machen.\nDagegen ist es von Wichtigkeit die Durchmesser der Zerstreuungskreise festzustellen, welche ein leuchtender Punkt auf der Retina des mittleren (Listing\u2019schen) Auges bilden w\u00fcrde, wenn dieses kein Einrichtungsverm\u00f6gen bes\u00e4sse. Nach Listing w\u00fcrden dieselben betragen f\u00fcr :\nEntfernung des Leuchtpunktes.\tDurchmesser d. Zerstreuungskreise.\nunendlich\t0 MM. %\n65000 MM.\t0,0011 MM.\n25000 - -\t0,0027 - -\n12000 - -\t0,0056 - -\n6000 - -\t0,0112\n3000 - -\t0,0222 - -\n1500 - -\t0,0443 - -\n750 - -\t0,0825 - -\n375 - -\t0,1616 - -\n. 188 \u2014\t0,3122 - -\n94 - -\t0,5768 - -\ni i GO GO\t0,6484 - -\nAus dieser Tabelle ergibt sich, dass das mittlere Auge keiner Einrichtung bedarf, wenn sich der Gegenstand vom Unendlichen bis auf 65000 MM. n\u00e4hert, weil bei dieser Ann\u00e4herung die Zerstreuungskreise so ausserordentlich gering werden, dass sie der Retina als noch gar nicht vorhanden erscheinen. Je mehr sich dagegen von dieser Grenze an die Gegenst\u00e4nde dem Auge n\u00e4hern, um so betr\u00e4chtlicher werden die Zerstreuungskreise, wonach behauptet werden darf, dass f\u00fcr gleiche Unterschiede der Entfernung in weiten Abst\u00e4nden eine geringere Accom-modationsbewegung n\u00f6thig als f\u00fcr dieselben Unterschiede in nahen Abst\u00e4nden.\nDaraus folgt dann noch, dass kurzsichtige Augen meist zu gr\u00f6sseren Accommodationsanstrengungen bef\u00e4higt sind als weitsichtige.\nUeber die Stellung des uns noch unbekannten nerv\u00f6sen Theiles des Einrichtungsapparates zu andern Hirn- und Nervenmassen wird wesentlich unter dem Abschnitt Sehen die Rede sein. Hier ist nur anzumerken, dass er bei willk\u00fcrlicher Erregung der mm. rect. in-terni, meist aber nicht immer, ebenfalls in Th\u00e4tigkeit gesetzt wird; Porterfield.\nDie Zerstreuungsbilder, welche sich bei unvollkommener Einrichtung auf der Retina bilden, sind nach Umst\u00e4nden sehr mannigfacher Gestaltung f\u00e4hig; von zahlreichen in dieser Richtung unternommenen Beobachtungen heben wir nur heraus :","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nZerstreiuingsbilder, Sph\u00e4rische Abweichung.\na.\tEin leuchtender Gegenstand *), der diesseits des N\u00e4hepunk-tes tritt, wird in der horizontalen und ein solcher, der jenseits des Fernpunktes zu stehen kommt, in der vertikalen Richtung verl\u00e4ngert; so wird ein Punkt zu einer Linie, die um einen rechten Winkel gedreht ist, je nach feiner Stellung diesseits oder jenseits des deutlichen Sehraumes. Eine kurze Ueberlegung zeigt, dass dieses Folge der ungleichen Kr\u00fcmmung der brechenden Fl\u00e4chen ist, indem die in horizontaler Richtung liegenden Kr\u00fcmmungskreise gr\u00f6sser und somit schw\u00e4cher brechend als die in vertikaler Richtung gelegenen sind. Diese Abweichungen sind h\u00e4ufig gross genug um zu ihrer \u2018 Verbesserung besonders geschliffene (Cylinder) Brillen zu verlangen.\nb.\tInnerhalb des Zerstreuungskreises conzentrirt sich nach einzelnen Stellen hin das Licht vorzugsweise, so dass bei Betrachtung eines Gegenstandes durch nur ein Auge mehrfache Bilder entstehen. Diplopia monophthalmica**). Je nachdem die Scheitel s\u00e4mmtlicher brechenden Fl\u00e4chen nicht auf einer Achse liegen, oder je nachdem Seiten oder Mitteltheile des Systems an Brechkraft \u00fcberwiegend sind, k\u00f6nnen diese hellen Stellen bald hier bald dorthin fallen.\n5. Ueber sph\u00e4rische Abweichung des Auges; Mittel sie zu vermindern.\nDa den optischen Principien gem\u00e4ss nur diejenigen Fl\u00e4chen einer gew\u00f6hnlichen Linse den durchgehenden Strahlen einen gemeinsamen Brennpunkt anweisen, deren Einfallsorte einen kleinen Winkel an dem Kr\u00fcmmungsmittelpunkt einschliessen, oder die symmetrisch zur Achse gelegen sind, so m\u00fcssen, wenn die Einheit des Brennpunktes aufrecht erhalten werden soll, entweder nur die erw\u00e4hnten Strahlen zu seiner Entwerfung benutzt werden, oder es m\u00fcssen besondere Einrichtungen gegeben sein, welche die sph\u00e4rische Abweichung aufheben. \u2014 Das Auge geh\u00f6rt nun, weil es mit einer Blendung von wechselnder Oeff-nung \u2014 der Iris mit Pupille \u2014 versehen ist, zu denjenigen Linsensystemen, welche die beiden Wege einschlagen k\u00f6nnen; denn in der That benuzt es bei betr\u00e4chtlicher Lichtst\u00e4rke des Leuchtpunktes nur die in der unmittelbaren N\u00e4he der Achse auffallenden Strahlen, w\u00e4hren des bei Lichtschw\u00e4che auch noch die entfernteren aufnimmt. In diesem letzteren Falle treten dann besondere Hilfsmittel in Wirksamkeit.\na. Iris ***). Verm\u00f6ge ihrer Lagerung zwischen der Hornhaut und Linse n\u00e4her zu dieser letztem, ist sie bef\u00e4higt den Durchmesser des Strahlenkegels der durch bene zur Retina dringt zu beschr\u00e4nken;\n*) Sturm sur la th\u00e9orie etc.l. c. \u2014 H. Meyer, Zeitschrift von Henle u. Pfeufer. V.Bd.368.\u2014 Challis, Philosoph. Magazin XXX. 366. A. Fick 1. c.\n**) Tourtual, Jahresbericht \u00fcber Physiologie des Gesichtssinnes. M\u00fcllers Archiv 1840. XLV u. f. \u2014 Volkmann, Artikel Sehen p.29.\n***) E. H. Weber, Summa doctrin\u00e6 de motu iridis ex. ann. 1851. Annota tiones anatomic\u00e6 etc. fascic. III.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Vermeidung der sph\u00e4rischen Aberration; Iris.\n217\nsie hat in der That genau die Lage und Form aller sogenannten Blendungen optischer Instrumente.\nDie Beweglichkeit der Oeffnung sowohl, wie die besondere Form der Bewegungen, verdankt die Iris zwei besondern Muskeln*) einem radialen, vom Hornhautrand zur Pupille verlaufenden und einen cir-kul\u00e4ren, der in grossem und grossem Bogen die Pupillen\u00f6ffnung umkreist. \u2014 Von diesen beiden Muskeln scheint nach Ed. Weber der radiale das Uebergewicht zu besitzen, indem bei gleich starker Erre-regung beider, die Pupille sich betr\u00e4chtlich erweitert.\nDie Muskeln erhalten ihre Nerven**) von sehr verschiedenen Orten aus, die cirkul\u00e4ren empfangen sie aus dem n. trigeminus mit dem centralen Ursprung aus den obersten R\u00fcckenmarkstheilen (?) Budge, und durch den n. oculomotorius mit dem Ursprung aus den Vierh\u00fcgeln. Die Nerven der Erweiterer treten dagegen durch den Hals-theil des n. sympathicus aus der mittleren Region des Halsmarkes zum Auge. Diese beiden Nerven gelangen im gew\u00f6hnlichen Verlaufe des Lebens unter verschiedenen Umst\u00e4nden in Erregung.\nDer Kreismuskel zieht sich zusammen: a) wenn der nerv, opticus in den Erregungszustand ger\u00e4th***). R\u00fccksichtlich der Lichtwirkung hat Lambert ermittelt, dass innerhalb gewisser Grenzen die Pupillen\u00f6ffnung direkt proportional mit der abnehmenden Lichtst\u00e4rke sich erweitert, \u00df) Wenn der innere gerade Augenmuskel in Th\u00e4tigkeit gesetzt wird, zieht sich auch der Kreismnskel zusammen ; insofern nun der erstere vom Willen abh\u00e4ngig ist, folgt auch der sphincter iridis demselben. 7) Im Schlaf verengert sich die Pupille betr\u00e4chtlich. \u2014 Die Kreismuskeln der Iris beider Augen stehen in der innigsten Beziehung zu einander, die sich dadurch ausdr\u00fcckt, dass fortw\u00e4hrend dem Bestreben Gen\u00fcge geleistet wird, die beiden Kreismuskeln auf gleichem Grade der Verk\u00fcrzung zu erhalten; denn in der That verkleinert sich jedesmal die Pupille beider Augen, wenn auch nur auf das eine derselben ein verengernder Einfluss wirkt; und es^tritt f\u00fcr eine bestimmte Menge von Licht, welche n. den opticus erleuchtet, dieselbe Summe der Verk\u00fcrzungen beider Kreismuskeln ein, sei es dass man die Lichtmassen vertheilt auf beide Augen, oder vereinigt auf nur eines von beiden wirken lasse.'\nDurch genaue Versuche von E. H. Weber ist der alte Irrthum widerlegt worden, als ob auch mit den Akkommodationsbewegungen des dioptrischen Apparates sich der Kreismuskel zusammenziehe; diese fehlerhafte Meinung ist dadurch erzeugt worden, dass bei einer Einrichtung f\u00fcr die N\u00e4he gew\u00f6hnlich auch die Augen durch den m. rectus internus bewegt, d. h. stark convergtrend gestellt werden. E. H. Weber macht auch darauf aufmerksam, dass man bei Messungen\n*) Br\u00fccke, Beschreibung des menschlichen Augapfels. Berlin 1847\u2019.\n**) Budge u. Waller in Valentins Jahresbericht d. Physiol, f\u00fcr 1851. 173.\nw) Mayo sur les nerfs etc. in Magen die\u2019s Journ. de physiol. Tom. III.\u2014 Lambert beiE. H* Web er p. 95.","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"2 i 8 Vermeidung d. sph\u00e4r. Abweichung ; Bewegungen d. Iris ; Linsenschichtung.\ndes Pupillendurchmessers am unverletzten Auge die Vergr\u00f6sserung nicht vernachl\u00e4ssigen d\u00fcrfe, welche dieselbe f\u00fcr die Beobachtung durch die Cornea des beobachteten Auges erf\u00e4hrt, die als eine vergr\u00f6ssernde Linse vor der Pupille sitzt; das einfache empirische Mittel, um diese Wirkung der Cornea zu eliminiren, besteht darin, dass man das Auge unter Wasser bringt dessen freie Oberfl\u00e4che eben ist. \u2014\nDer Radialmuskel verk\u00fcrzt sich, d. h. die Pupille wird erweitert a) bei einigen Krankheiten und \u00df) nach dem Einbringen von extractum Belladonnae, Hyoscyami, Stramonii und aqua Laurocerasi in das Auge. Diese Mittel wirken, gleichgiltig ob man sie direkt auf die conjuntiva bulbi angewendet, oder sie in den Blutlauf gebracht hat. Die Dauer und St\u00e4rke der Zusammenziehung nach dem Belladonnagebrauch w\u00e4chst all-m\u00e4lig mit der Menge des angewendeten Giftes, und kann einen solchen Grad erreichen, dass Stunde und Tage hindurch die Iris nur noch als ein schmaler Streifen erscheint. Bei S\u00e4ugethieren, denen der Halstheil des n. sympathicus durchschnitten ist, wirkt die Belladonna weniger kr\u00e4ftig. Diese Erscheinung hat man ableiten wrollen von der L\u00e4hmung des n. opticus, wTeil die Giftwirkung sich auch auf diesen erstreckt und ihn namentlich unempfindlich macht; Himly widerlegte diese Annahme durch die Beobachtung, dass auch an solchen Individuen, deren Gesichtsnerv vollkommen gel\u00e4hmt war, noch Pupillenerweiterung eintrat. \u2014 Ferner wollte man sie erl\u00e4utern durch Annahme einer L\u00e4hmung des Kreismuskels; man \u00fcbersah aber, dass w\u00e4hrend der Belladonnawirkung ein starker Lichteinfluss noch eine Pupillenverengerung bewirken k\u00f6nne. \u2014 Man ist darum jetzt geneigt zu behaupten, dass die Belladonna den Radialmuskel \u00f6rtlich errege; zu dem Zusatz, dass diese Erregung eine \u00f6rtliche und nicht durch das Hirn vermittelte sei, wird man veranlasst, weil durch Anwendung des Giftes auf nur ein Auge auch die Pupillenerweiterung auf dasselbe beschr\u00e4nkt werden kann.\nUeber den Einfluss der W\u00e4rme auf die Irisbewegung, siehe Brown \u2014 Sequard compt. rend. XXV. 508. \u2014 Die Iris der V\u00f6gel, welche aus quergestreiften Muskelfasern besteht, wird durch Belladonna nicht angegriffen; Kieser. \u2014\nb. Linsenschichtung. Wenn die Lichtintensit\u00e4t der Leuchtpunkte sich mindert, welche ihre Strahlen in das Auge senden, so erweitert sich die Pupille, indem die Zusammenziehung des Sphincter iridis an St\u00e4rke einb\u00fcsst. Hiermit vergr\u00f6ssert sich zugleich aber die Basis des Strahlenkegels, die sogenannte Linsen\u00f6ffnung, welcher auf der Retina seine Spitze finden soll. Um auch unter diesen Bedingungen die Strahlen zu einem Zusammenschluss zu bringen, muss eine Einrichtung gegeben sein, welche den von der Form der blechenden Fl\u00e4chen herr\u00fchrenden Umstand, dass die n\u00e4her dem Rande auffallenden Strahlen eine st\u00e4rkere Neigung zur Achse erhalten, als die um die letztere einfallenden, aufheben Dieses Hilfsmittel ist darin gefunden, dass die Linsensuhstanz gegen ihren Rand hin mit einem geringeren Bre-chunssverh\u00e4ltniss besaht ist, als in ihrer Mitte. Die Ursache dieses","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Linsensckich\u00fcing; Chromatische Abweichung.\t219\nUnterschiedes der Brechungsverh\u00e4ltnisse ist aber mit Wahrscheinlichkeit in der Linsenschichtunir zu suchen.\nFig. 54 stellt eine Linse dar, welche aus den vier in einander geschachtelten AB CD besteht; die symmetrischen Fl\u00e4chen derselben seien s\u00e4mmtlichum die Mittelpunkte M i j/2 beschrieben,jedoch so, dass die Radien der \u00e4ussersten Linsenfl\u00e4che MlRl und M2r1 gr\u00f6sser als die darauf folgenden und die Radien der innersten Linse Ml R* und M2 r4 die kleinsten seien. Fallen durch diese Linse Strahlen in den Zwischenraum ED1, so werden sie durch 8 Fl\u00e4chen, gebrochen w\u00e4hrend sie, wenn sie in den Raum D1 C1 laufen nur durch 6 Fl\u00e4chen abgelenkt werden; auf diesem zweiten Gange erfahren sie also offenbar eine geringere Ablenkung als auf dem ersten, und zwar nicht allein darum, weil \u00fcberhaupt zwei Fl\u00e4chen ausfallen, sondern weil die ausfallenden Fl\u00e4chen auch noch mit dem kleinern Kr\u00fcmmungshalbmesser begabt sind; dieser Darstellung entsprechend wird nun die Ablenkung der durch C B gehenden Strahlen geringer sein, als der durch CD laufenden und endlich der durch A B gehenden noch geringer der vorerw\u00e4hnten.\nDie Thatsache, dass die hintern Linsenfl\u00e4chen um einen kleinern Halbmesser beschrieben sind, als die vordem, hat man ebenfalls auf ihre Eigenschaft, der sph\u00e4rischen Aberration entgegenzuwirken, beziehen wollen. Vorerst l\u00e4sst sich jedoch aus allgemeinen Grunds\u00e4tzen nicht ersichtlich machen, wie dieses hierdurch m\u00f6glich sei.\nDas gleichzeitige Vorkommen der geschichteten Linse und der beweglichen Iris\u00f6ffnung gibt dem Auge einen besonderen Vorzug, indem hierdurch die Deutlichkeit und die Lichtst\u00e4rke des Bildes, selbst bei wechselnder Beleuchtung des Objektes, constant erhalten werden kann.\n6. Chromatische Abweichung am Auge*).\nDie optischen Medien des Auges brechen die verschiedenen Wrel-len des Aethers, die farbigen Lichtstrahlen, mit wesentlich verschiedener St\u00e4rke, wie dieses auch alle \u00fcbrigen brechenden Substanzen thun. Namentlich folgen auch die Strahlen ihrer Brechbarkeit nach f\u00fcr das Auge geordnet in der gew\u00f6hnlichen Reihe : Violett, blau, gr\u00fcn, gelb, orange, roth. \u2014 Daraus folgt nun zweierlei : Einmal dass ein violetter Gegenstand noch in gr\u00f6sserer N\u00e4he deutlicher gesehen werden kann als ein rother, und ein rother noch in gr\u00f6sserer Ferne deutlicher als ein vio-\nFig. 54. A\nM'\nFraunhofer, Gilberts Annalen 56. p. 804. \u2014 Matthiessen memoire sur le chromatisme etc. Compt. rend. XXIV. 8T5. \u2014 Tourtual in Meckels Archiv 1830. \u2014 Niedt de diopt. ocul. colorib. Berlin 1842. \u2014 Val\u00e9e compt. rend. XXIV. 1096. Die Annahmen dieses Autors sind g\u00e4nzlich unerwiesen.","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nSpiegelung der Retina; St\u00e4bchen.\nletter, eine Thatsache, die Fraunhofer zuerst festgestellt hat. Dann aber muss auch jeder weiss beleuchtete Gegenstand auf die Retina ein Bild mit farbigen S\u00e4umen werfen; dieses geschieht nun auch und man bemerkt dieselben theils wenn man den Gegenstand nicht\ngenau auf die Retina einstellt, sondern im Zerstreuungskreis ansieht, theils aber auch wenn man einen Gegenstand scharf visirt, w\u00e4hrend man die Pupille halb zudeckt; Tourtual.\nDie Auo-en Fernsichtteer sind mit einer st\u00e4rkeren chromatischen Aberration behaftet als die Nahsichtiger ; M a t thi e s s en.\nZ\nv\nv\nV\nZ\nDer Grund warum bei halbverdeekter Pupille die Farb\u00bbens\u00e4ume der Bilder sch\u00e4rfer hervortreten, ist in Fig. 55 er\u00f6rtert. Gesetzt, es sende L weisses Licht auf ein b#-\ngg\tliebiges Linsensystem, so\n\u2019\twird hinter der Linse das\nweisse Licht in seine farbigen Componenten zerlegt sein, und zwar werden in demZerstreuungs-kreis Z Z die Farben so aufeinander, dass an der Peripherie desselben violett vv und im Mittelpunkt roth r zu liegen kommt.\u2014 Setzen wir nun die Retina in den Ort h\u00f6chster Lichtconeen-trationiViV, so wird das zerlegte Weiss des untern Strahls sich mischen mit dem zerlegten Weiss des obern, mit andern Worten: es wird sich die Zerstreuung der beiden Strahlen compensiren; diese Compensation h\u00f6rt aber sogleich auf, wenn man den einen Strahl abschneidet, w\u00e4hrend man den andern noch eintreten l\u00e4sst. Diese Betrachtung lehrt, dass nach Verdeckung der rechten Pupillenh\u00e4lfte die Farbens\u00e4ume in umgekehrter Ordnung auftreten als nach Verdeckung der linken H\u00e4lfte. Ferner zeigt sie, dass wir genau genommen immer nur Zerstreuungskreise sehen. \u2014\nEinrichtungen zur Spiegelung der Lichtstrahlen im Auge.\nAn der Grenze zweier Mittel, die ein Lichtstrahl \u00fcberschreitet, wird immer Licht zur\u00fcckgeworfen ; demnach muss auch das Auge auf innern und \u00e4usseren Fl\u00e4chen Spiegelungen zeigen. Diese Spiegelungen w\u00fcrden noch sehr viel betr\u00e4chtlicher sein, wenn nicht ein grosser Theil der Augenfl\u00e4chen mit einem lichteinsaugenden Stoffe, dem schwarzen Pigment, ausgekleidet w\u00e4re.\n1. Spiegelung des Lichtes, welches auf der Retina zu einem Brennpunkt vereinigt war*). Bei der grossen Durchsichtigkeit der nervigten Retinatheile dringen die in ihnen zu einem Punkte vereinigten Strahlen durch sie hindurch und gelangen zun\u00e4chst auf die sogenannte St\u00e4bchenschicht. Da diese nichts anders darstellt als\n*) Br\u00fccke, \u00fcber die physiologische Bedeutung der stabf\u00f6rmigen K\u00f6rper und der Zwillingszapfen in den Augen. M\u00fcllers Archiv 1844.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"221\n\u00ee\nDiffuse Spiegelung der Retina.\neine Reihe sehr kleiner Prismen, welche aufrecht gegen die Retina gestellt sind und da sie aus einem stark brechenden Stoffe bestehen, der in einen weniger stark brechenden eingebettet ist, so m\u00fcssen, wie Br\u00fccke darthat, die unter den erw\u00e4hnten Bedingungen in sie ein G etretenen Strahlen eine totale Reflexion erleiden, so dass das in einen Stab eingedrungene Licht wieder auf demselben Wege aus ihm tritt, auf welchem es in ihn gelangte.\nDer Beweiss f\u00fcr die Richtigkeit der Annahme von Br\u00fccke ergibt sich aus Fig. 56. ln ihr bedeuten A 1 A zwei Strahlen, welche in P nahe vor dem Prisma D D\nsich kreuzen ; FF ist das Mit-*\tFig. 56.\t^\ttel von geriUger Brechkraft,\nw elches das Prisma begrenzt. Der grossem Einfachheit we-gen werden wir in dieser Figur den Gang nur eines von beiden Strahlen betrachten. Dringt\nnach der Kreuzung der Strahl\n-\u00bb \u00bb\nA 1 in d\u00e4s Prisma, so wird er auf der Fl\u00e4che D D1 einen Einfallswinkel A1 B El bilden, welcher sich einem rechten sehr ann\u00e4hert; beim Uebertritt Ea\tin das neue schw\u00e4cher bre-\nchende Mittel F wird der Brechungswinkel gr\u00f6sser als der Einfallswinkel werden m\u00fcssen. Geschieht diese Ver-gr\u00f6sserung um ein Merkliches, so dass der Brechungswinkel einen rechten \u00fcbersteigt und etw^a den Werth C \u00df E2 erreicht, so wird er gar nicht in das zweite Mittel eintreten, mit andern Worten er wird von seinen Fl\u00e4chen zuriick-geworfen werden.\nDiese Einrichtung zur Regelung der Spiegelung hinter der empfindenden Fl\u00e4che ist eine nothwendige Erg\u00e4nzung zu der vorsorglichen Anordnung der brechenden Fl\u00e4chen ; indem nur durch die\n%\nGemeinschaft beider die Aufgabe : eine genau beschr\u00e4nkte Lichtwirkung zu erzeugen, l\u00f6sbar war. \u2014 Denn in der That w\u00fcrden die ordnungslos hinter der Retina gespiegelten Strahlen die Nerven an andern Orten r\u00fcckw\u00e4rts durchdrungen haben als die, in welche sie vorw\u00e4rts eingingen; damit w\u00e4re aber wieder dieselbe empfindende Stelle von verschiedenen Lichtern getroffen worden, die sich gegenseitig gest\u00f6rt haben w\u00fcrden.\n2. Spiegelung des zerstreut in die Augen eintretenden Lichtes von der Retina*). Neben dem Licht, welches durch die Linsensysteme gebrochen seinen Brennpunkt auf der Retina findet, dringt noch Licht in das Auge, welches aus andern Entfernungen als denjenigen kommt, f\u00fcr welche dasselbe accommodirt ist, und anderes, welches durch\n!\n*) E. Br\u00fccke, \u00fcber die leuchtenden]Augen der Wirbelthiere. M\u00fcllers Arch. 1845. \u2014Der\u00bb., \u00fcber Leuchten der menschlichen Augen ibid. 184T, \u2014 Helmholtz, der Augenspiegel, p. 9.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nEmpfindende Werkzeuge des Auges\u00ab\ndie nicht vollkommen undurchsichtige Sclerotica dringt u. s. w. \u2014 Da diese Strahlen weder in der bestimmten Beziehung zu den St\u00e4bchen noch zu dem Linsensysteme stehen, wie die vorhin erw\u00e4hnten, so werden sie auch unregelm\u00e4ssig gespiegelt aus dem Auge austreten ; in der That geschieht dieses, so dass man unter g\u00fcnstigen Bedingungen, welche Br\u00fccke zuerst ermittelte, die Pupille in rothem Schein leuchten sieht.\n3. Spiegelung auf der hintern und vordem Fl\u00e4che der Cornea und Linse *)\u2666 \u2014 Drei dieser Fl\u00e4chen, beide Cornea- und die vordere Linsenfl\u00e4che stellen Convexspiegel dar; jeder Gegenstand der ausserhalb ihrer Brennweite sich findet, liefert somit ein verkleinertes aufrechtes Spiegelbild. Die hintere Linsenfl\u00e4che, als Concavspiegel, entwirft dagegen vom Gegenstand ein verkehrtes Spiegelbild. \u2014 Das Auftreten dieser Spiegelung kann an jedem Auge durch ein vorgehal-\ntenes Kerzenlicht sichtbar gemacht werden. Purkinje\u2019s Versuch.\n*\nPolarisifende Wirkungen der brechenden Mitt.el**).\nDie durchsichtigen Augenmittel und namentlich Cornea und Linse sind so vielfach geschichtet, dass sie einem Plattensatz spiegelnder Fl\u00e4che zu vergleichen sind. Mit diesem theilen sie die Aehnlichkeit, dass sie das Licht wie ein solcher polarisi-ren. Erlach.\nDiese nachweislich polarisirende Eigenschaft der todten Linse (und der Cornea?) dr\u00fcckt sich im Lehen nach Haidinger auch dadurch aus, dass von der Polarisationsehene eines passend vor das Auge g\u00e9haltenen Nichols farbige B\u00fcschel ausstrahlen.\nEmpfindende Werkzeuge des Auges. Retina, Sehnerv.\n1. Lichtempfindung. Erregungsmittel derselben. Den erregten Zustand der Retina empfinden wir als weisses oder gef\u00e4rbtes Licht ; der physiologische Ruhezustand derselben erweckt .uns dagegen die Vorstellung der Dunkelheit. Die empfindungserregenden Zust\u00e4nde der Retina werden ausgel\u00f6st unter dem Einfluss der Aetherschwingungen, mechanischer Eindr\u00fccke und elektrischer Str\u00f6me.\nDa die Wellen des Aethers vorzugsweise die Retina erregen, und da zudem nur die durch sie erregten Empfindungen als ein Element in den zusammengesetzten Akt des Sehens eingehen, so hat man dieselben geradezu Licht und Farben genannt. Die Ueberlegung, dass auch mechanische und elektrische Einwirkungen auf das Auge die Empfindung des Lichtes erzeugen, gibt uns das Recht jenen popul\u00e4ren Ausdruck f\u00fcr physiologisch fehlerhaft zu erkl\u00e4ren, und die Behauptung festzuhalten, dass Licht und Farbe nichts anderes seien als Erregungszust\u00e4nde der Retina und des Sehnerven.\n\u00c2. Aethers ch wingungen***). Die Ber\u00fchrungen des Licht-\n*) Purkinje commentatio de examine physiologico organi visus. Vratislav. 1823. \u2014 H. Meyer, \u00fcber den Sanson\u2019schen Versuch. Heule u. Pfeufer Zeitschrift V. Bd.\n**) K. v. Erlach, Mikroskopische Beobachtungen \u00fcber organ. Elementartheile u. s. w. M\u00fcllers Archiv 1847. \u2014 du Bois-Reymond, Fortschritte der Physik III. Bd. 138. \u2014 Haidinger, P o g g e n do rf Annalen 53., 55. u. 58. Bd. u. Fortschritte der Physik II. Bd. 183, III. Bd. 149-155.\n***) Helmholtz, der Augenspiegel p. 39. \u2014 Helmholtz, \u00fcber die Theorie der zusammengesetzten Farben. M\u00fcllers Archiv 1852. \u2014 E. Br\u00fccke, \u00fcber das Verhalten der optischen","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Erregimgsmittel, Aetherschwingungen.\n223\n\u00e4thers mit den lichtempfindenden Fl\u00e4chen sind von verschiedentlichen Folgen begleitet.\na. Die lichtempfindenden Fl\u00e4chen sind nicht \u00fcberall durch die Schwingungen des Aethers in Erregung zu versetzen ; nach genauen Beobachtungen von Hemlholtz empfindet man nur die Aetherstrah-ien als Licht, welche den Sehnerv auf seiner Ausbreitung in der Retina treffen, nicht aber diejenigen, welche auf seinem Stamm und\nnamentlich auf dessen Eintrittsstelle in die Retina dringen.\nWenn man mittelst des Augenspiegels die Retina an den Orten erleuchtet, an welchen dtr Sehnerv in dieselbe eindringt, so erkennt man in dir Substanz des Stammes bis in eine gewisse Tiefe den Verlauf der a. central, retinae, mit andern Worten der Sehnerv wird vollkommen durchleuchtet. Erzeugte nun die Wirkung des Licht\u00e4thers an dieser Stelle des Sehn erven Verlaufs eine Lichtempfindung, so m\u00fcsste offenbar jetzt das ganze Auge mit Licht erf\u00fcllt scheinen, da ja alle R\u00f6hren des Opticus getroffen wurden; hiervon tritt nun aber gerade das Gegentheil ein, indem das auf den besprochenen Ort geworfene Bildchen dem beleuchteten Auge als ein engbegrenztes und viel lichtschw\u00e4cheres erscheint, als wenn es auf andere Stellen f\u00e4llt. \u2014 Diese Beobachtungen von Helmholtz erheben es zur Gewissheit, dass der schon l\u00e4ngst bekannte blinde Fleck von Mariott e nichts anderes sei, als die Eintrittsstelle des Sehnerven. Ist nun in der\nFig. 57.\nThat amAuge Fig. 57, dessen KnotenpnnktebeiZliegen, die Eintrittsstelle des Sehnerven f\u00fcr Aetherweilen unempfindlich, so m\u00fcssen die Gegenst\u00e4nde, welche innerhalb der Grenzen 2 21 und 3 31 ihre Richtungsstrahlen in das Auge senden gar nicht gesehen werden.\nDieses trifft nun auch zu. Um diesen blinden Ort der Retina zu finden zeichne man sich\n\u00a5\nmehrere je 2 bis 3 Centimeter von einander abstehende meiner geraden Linie liegende Punkte 1. 2. 3. 4. und f\u00fchre einen derselben 1 gerade vor das Auge in die Verl\u00e4ngerung der Sehachse 1 1, w\u00e4hrend man das andere Auge geschlossen h\u00e4lt. Richtet man nun, w\u00e4hrend man die Augenstellung fixirt erh\u00e4lt, seine Aufmerksamkeit auf die nach der \u00e4ussern Seite vor das Auge gelegenen Punkte, so wird man gewahren, dass die zwischen 2 und 3 befindlichen, aus dem Gesichtsfeld ausfaHen, w\u00e4hrend die nach innen und aussen von diesen gelegenen 1 und 4 sichtbar bleiben. Eine weitere\nMedien des Auges gegen Licht u. W\u00e4rmestrahlen M\u00fcllers Archiv 1845. 262. \u2014 Fechn er, \u00fcber subjective Nach-undNebenbilder.Poggend. Annalen 50.Bd. ibid. 44. Bd.\u2014 E. Br\u00fccke, Untersuchungen \u00fcber subjective Farben. Wien 1851#u. Poggend. Annalen. 84.Bd. 418.\u2014 Seebeck. Poggend. Annalen 42. Bd. \u2014 Dove, \u00fcber den Einfluss der Helligkeit etc. Poggend. Annal. LXXXV. Bd. \u2014 Helmholtz. Ueber Hrn. D. Brewsters neue Analyse des Sonnenlichts. Poggend. Annal. LXXXVI. Bd.","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nFarblose und farbige Aetherweilen.\nBetrachtung unserer Figur zeigt, dass mit der wachsenden Entfernung des Punktes 1 auf der Sehachse K D vom Knotenpunkte K auch der Abstand der Punkte 3, 2 von 4 zunehmen muss, wenn sie verschwinden sollen. Daraus folgt die Regel, dass wenn man sich mehrere Punkte in einer bestimmten Entfernung von einander auf ein Papier gezeichnet hat, einige derselben immer nur in einer ganz bestimmten Entfernung des Papiers vom Auge verschwinden werden. Diesen Abstand von der Cornea muss man, w\u00e4hrend man die Richtung der Sehachse constant erh\u00e4lt, durch allm\u00e4-liges Ann\u00e4hern und Entfernen des Gegenstandes vom Auge aufsuchen. \u2014 Ist die Entfernung des Punktes 1 vom Auge und die der Punkte 1, 2, 3, 4, von einander bekannt, so l\u00e4sst sich mit Zugrundelegung des mittleren Auges die Lage und Ausdehnung der unempfindlichen Stelle an der Retina berechnen, wie ein Blick auf unsre Figur lehrt. Die nach dieser Methode ausgef\u00fchrten Messungen haben ergeben, dass die Ausdehnung der unempfindlichen Stelle nicht ganz dem Durchmesser des Sehnerven entspricht, Valentin;*) sind diese Messungen hinreichend genau, so folgt daraus, dass die Unempfindlichkeit sich nicht \u00fcber den ganzen Querschnitt erstreckt.\nDie Beobachtung, dass die R\u00f6hren des Optikus nicht aller Orten von dem bewegten Aether erregt werden, ist auf zweierlei Art zu deuten. Entweder die lichtempfindlichen, in der Retinaausbreitung vorhandenen,\nFig. 58.\n9\t*\n\u2022\n\u2666 \u2022\u00bb\noi\nB\nA\nEnden der Nerven sind physikalisch und chemisch anders geartet, als die R\u00f6hren des gtammes; oder die Nerven sind im Stamm und der Ausbreitung gleichartig, so dass sie nirgends geradezu von den Aetherwellen erregt werden, aber sie sind in ihrem Verlauf durch die Retina in Stoffe eingebettet, welche durch den Licht\u00e4ther in einer solchen Art umgewandelt werden, dass sie selbst nun Erregungsmittel der Nervenr\u00f6hren werden. K\u00f6lliker**), der sich der letzteren Annahme an-schliesst, ist nach neuen anatomischen Untersuchungen geneigt die sogenannten St\u00e4bchen als diejenigen Formelemente der Retina zu bezeichnen, welche prim\u00e4r von den Aetherschwingungen ver\u00e4ndert werden.\nNach den neuern Untersuchungen \u00fcber die Struktur der Retina von K\u00f6lliker, Fig. 58. enden die entweder wie A oder wie B geformten St\u00e4bchen gegen das Pigment P mit abgestetzten Enden; ihre dem Nerven zugewendete Seite spitzt sich zu und l\u00e4uft schliesslich in einen feinen Faden aus, der bis zur membrana limitans dringt und somit die K\u00f6rnerschicht KK und die Ganglienzellen und die Nervenr\u00f6hren durchsetzt; auf welche Art der Faden endet, ist K\u00f6lliker unklar geblieben. R\u00fccksichtlich der Verthei-lung der Nervenr\u00f6hren und der St\u00e4bchen behauptet er, dass das Foramen centrale, der lichtempfindlichste Theil der Netzhaut St\u00e4bchen aber keine Nervenr\u00f6hren besitze, w\u00e4hrend die Eintrittsstelle derSehnerven, der blinde Netzhautort, die St\u00e4bchen entbehre. Unter Voraussetzung der Richtigkeit jener Beobachtungen w\u00fcrde gegen die im Text erw\u00e4hnte Annahme von K\u00f6lliker nichts einzuwenden sein; die aufsteigenden F\u00e4den\n*) Lehrbuch der Physiologie II. Bd. 2. Abthl. 165.\n**) Handbuch der Gewebelehre. Leipzig 1852. p. 606,","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Unsichtbare, farblose und farbige Aetherwellen.\n225\nder St\u00e4bchen wurden dann als die Uebermittler der Erregung von diesen auf die Nerven anzusehen sein. \u2014 Ueber die Vertheilung der St\u00e4bchen in den einzelnen Parthien der Netzhaut siehe Br\u00fccke *) und H e nl e. **)\nb.\tDie Wellen des Aethers sind nur dann im Stande Lichtempfindungen zu erregen, wenn sich ihre L\u00e4ngen innerhalb gewisser Grenzen halten; namentlich sind alle Strahlen des Spektrums, deren Wellen l\u00e4nger als die rothen und k\u00fcrzer als die violetten sind, unsichtbar. Der Grund dieser Unsichtbarkeit \u00bbliegt nach Br\u00fccke darin, dass die Wellen der bezeichneten L\u00e4nge von den brechenden Medien des Auges absorbirt werden, so dass sie gar nicht zur Retina gelangen.\nDer Nachweiss, dass das Spektrum noch von zwei unsichtbaren Wellens\u00e4umen eingefasst ist, wird bekanntlich dadurch gef\u00fchrt, dass dasselbe jenseits seiner leuchtenden Theile noch chemische und thermische Wirkungen veranlasst; diese Wirkungen auf die Thermos\u00e4ule, auf jodirte Silberplatten, Guajactinctur u. s. w. werden nach Br\u00fccke aufgehoben, wenn man zwischen diese Apparate und das Spektrum die dursichtigen Augenmedien in der Art einschaltet, dass jene Strahlen durch letztere dringen m\u00fcssen.\nc.\tDie optisch einfachen, durch das Prisma nicht weiter zerlegbaren Strahlen des sichtbaren Spektrums erzeugen insgesammt die Empfindung des Weissen, wenn die lebendige Kraft ihrer Schwingung, die Lichtintensit\u00e4t, eine sehr betr\u00e4chtliche ist. Helmholtz, Moser. In allen andern F\u00e4llen erscheinen sie farbig; die bestimmte Farbe, welche die einfache Aetherwelle erregt, ist abh\u00e4ngig von ihrer Wellenl\u00e4nge in der Art, dass die Wellen k\u00fcrzester L\u00e4nge violett, die der gr\u00f6ssten L\u00e4nge roth, die zwischen liegenden aber blau, gr\u00fcn, gelb, orange erscheinen. In den bezeichneten Grenzen der Lichtintensit\u00e4t kommt den Farben des Spektrums die F\u00e4higkeit zu, nur einen Farbeneindruck zu erzeugen; Newton. Der ber\u00fchmte Optiker Brewster hatte auf neue Versuche gest\u00fctzt, die Behauptung ausgesprochen, dass jede der prismatischen Farben, die man bisher f\u00fcr einfach gehalten, durch absorbirende Mittel noch weiter zerlegbar sei, so dass eine jede derselben selbst noch verschiedene Farbenempfindungeil v erzeugen k\u00f6nne. Helmholtz, der die Lehre Newtons in Schutz nimmt, hat die Gr\u00fcnde, aus denen Brewster irrt, nachgewiesen.\nd.\tGemischte Strahlen erscheinen entweder weiss oder farbig. Die Empfindung des \\\\reissen wird erzeugt durch Mischung der farbigen Strahlen in einem solchen Verh\u00e4ltniss, in dem sie im unzerlegten Sonnenlicht enthalten sind; ferner durch Mischung von blauen und gelben Strahlen, und endlich durch diejenige aller solchen, aus denen blau und gelb zusammengesetzt werden kann. Ueber die Far-ben, welche durch Mischung einfacher Strahlen erzeugt werden k\u00f6nnen, gibt die folgende, von Helmholtz entworfene Tabelle Aufschluss :\n*) Br\u00fccke, Beschreibung des menschlichen Augapfels. Berlin 184t. Henle in Heule u. Pfeufer Zeitschrift. Neue Folge II. Bd. 304.\nLudwig, Physiolog. I.\n15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nGemischte Aetherwelleu. Grundfarben.\nRoth und Yiolett gibt Purpur\nRoth und Blau Roth und Gr\u00fcn Roth und Gelb Gr\u00fcn und Blau\n\u201e Rosa \u201e Mattgelb \u201e Orange \u201e Blaugr\u00fcn\nGelb und Yiolett gibt Rosa\t\t\nGelb und Blau\t>5\tWeiss\nGelb und Gr\u00fcn\t55\tGelb gr\u00fcn\nGr\u00fcn und Yiolett\t55\tBlassblau\nBlau und Yiolett\t55\tIndteblau\nDiese von den gew\u00f6hnlichen sehr vielfach abweichenden Angaben, wird man best\u00e4tigt finden, wenn man nicht, wie meist bisher geschehen, Pigmente, sondern Aether-wellen mischt. Die einfachste Methode zur Erreichung dieser letzten Absicht besteht n\u00e4ch Helmholtz darin, dass man ein d\u00fcnnes St\u00fcck Glas senkrecht auf eine dunkle Platte stellt, und v\u00f6r die Fl\u00e4che des Glases, von welcher aus der Beobachter an sie sieht, ein gef\u00e4rbtes St\u00fcck Papier oder dergl. legt, und darauf hinter das Glas auf den Ort^ an welchem das Spiegelbild der ersten Farbe erscheint, ein andersfarbiges Papier bringt, so dass beide Farben auf demselben Wege in das Auge des Beobachters dringen. Die durch dieses ingeni\u00f6se Mittel erworbenen Erfahrungen werden auch durch den bekannten Farbenkreisel best\u00e4tigt, d. h. durch eine rasch rotirende Scheibe, auf welche man die verschiedenen Farben als Sectoren aufgetragen hat. \u2014 Der Grund warum bei dem Mischen von Farbstoffen ganz andere Erscheinungen Vorkommen, liegt darin, dass in diesem Fall keine Mischung, sondern eine Aussonderung von Aetherwellen stattfindet, indem aus dem Gemenge der Pigmente nur das Licht zu uns dringt, was von jedem derselben durchgelassen wird. L\u00f6scht also z. B. ein blaues Pigment alle Farben aus, ausser gr\u00fcn und blau, und gelb alle Farben ausser gr\u00fcn und gelb, so wird durch ein Gemenge dieser Stoffe nur gr\u00fcn hindurchdringen k\u00f6nnen. Darum gibt auch ein Gemeng von gr\u00fcn und roth u. s. w. schwarz oder wie man sich ausdr\u00fcckte grau, weil der gr\u00fcne Farbstoff keine roth en und der rothe keine gr\u00fcnen Strahlen durchl\u00e4sst u. s. w.\nIndem man, nach der fr\u00fcheren von Helmholtz widerlegten Annahme, das weisse Licht immer als die Lichtgesammtheit, als das wiedervereinigte Spektrum betrachtete, nannte man zwei Farben, welche bei ihrer Mischung weiss gaben, complement\u00e4re. \u2014 Dieser Ausdruck muss, wenn er beibehalten werden soll, in einem andern Sinn als fr\u00fcher genommen werden, da auf sehr mannigfache Art weis-ses Licht entstehen kann, ohne dass dieses s\u00e4mmtliche Farbenstrahlen des Spektrums enthielte. Da man ferner fr\u00fcher glaubte, es k\u00f6nne durch wechselnde Zusammensetzung der drei Farben Roth, Gelb, Blau jegliche Farbe erzeugt werden, so nannte man sie die Grundfarben. Auch diese Annahme ist nach der obigen Tafel unhaltbar; die Untersuchung von Helmholtz verlangt mindestens die Feststellung der f\u00fcnf Grundfarben : Roth, Gelb, Gr\u00fcn, Blau, Yiolett.\ne. Wenn Lichtstrahlen von verschiedener F\u00e4rbung gleichzeitig differente Orte der Retina beleuchten, so erregt \u00f6fter der eine von ihnen eine andere Empfindung als dann, wenn er f\u00fcr sich allein die Retina getroffen haben w\u00fcrde. Diese scheinbare Farbe belegt man mit dem Namen der Nebenfarbe, Contrast- oder subjektiven Erg\u00e4nzungsfarbe. Einen Ueberblick \u00fcber die Nebenfarben, welche das weisse Licht annimmt, wenn zugleich noch gef\u00e4rbtes Licht auf die Retina trifft, gibt die folgende Tabelle.","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Nebenfarben des weissen Lichtes.\n227\nWeisses Licht erscheint Gr\u00fcn, wenn gleichzeitig Roth auff\u00e4llt \u201e\t\u201e\t\u201e\tViolett \u201e\t\u201e\tGelb\t\u201e\n\u201e\t\u201e\t\u201e\tBlau \u2022\u201e\t\u201e\tOrange\t\u201e\nund umgekehrt, es erscheinen die weiss erleuchteten Stellen Roth, Gelb, Orange, wenn andere Orte desselben Auges gleichzeitig von\nGr\u00fcn, Violett, Blau getroffen werden.\nDiese F\u00e4rbung weissen Lichtes beobachtet man in vollkommener Sch\u00e4rfe, wenn man in ein gr\u00f6sseres St\u00fcck eines durchsichtigengef\u00e4rbten Papieres (feines Brief- oder Fliesspapier in Carmin-, Indigo- u. s. w. L\u00f6sung getaucht) eine L\u00fccke schneidet und auf dieselbe eine Scheibe weniger durchsichtigen weissen Papiers (Schreibpapier) klebt, und diese Combination gegen das helle Fenster betrachtet, so dass gleichzeitig durch beide Papiere das Licht in das Auge f\u00e4llt. Im \u00fcbrigen sind die Bedingungen der scheinbaren Umsetzung weissen Lichtes noch durchaus nicht im Klaren; als feststehend darf angesehen werden: 1.) Die prim\u00e4re oder, wie sie Br\u00fccke nennt, die induzirende Farbe muss einen grossen Theil des Sehfeldes einneltmen. \u2014 2.) Die urspr\u00fcnglich gef\u00e4rbten Strahlen m\u00fcssen selbst noch mit weissem Licht gef\u00e4rbt sein, denn es ereignet sich die scheinbare F\u00e4rbung des weissen Lichtes an dem vorher beschriebenen Papier nicht, wenn man dasselbe auf einen dunklen undurchsichtigen K\u00f6rper auflegt. 3.) Das rein weisse.Licht muss etwas ged\u00e4mpft sein, wenn es eine F\u00e4rbung annehmen soll. 4.) Die Lebhaftigkeit der Farbe des weissen Lichtes (induzirte Farbe) steigert sich nur bis zu einem gewissen Grade mit der Tiefe der induzirenden. 5.) Die Lebhaftigkeit der induzirten Farbe steigert sich mit der Zeitdauer der Anschauung der induzirenden. 6.) Nach Brewster und Fechner erscheint das weisse Licht nicht immer in der oben bezeichneten F\u00e4rbung sondern auch zuweilen in der gleichartigen, so dass ein weisser Fleck auf roth ebenfalls roth wird. \u2014\nFallen \u00ab-leichzeitis zwei Farben auf die Retina, so heben sie sich meist nur sch\u00e4rfer gegen einander ab, ohne sich aber in ihrem Ton zu \u00e4ndern\u00bb Die einzige bekannte Ausnahme besteht daiin, dass wenn man dieselben Farben von st\u00e4rkerer und geringerer Intensit\u00e4t nebeneinander sieht, die schw\u00e4chere (mit mehr weiss gemengte) die Farbe annimmt, welche unter diesen Umst\u00e4nden das weisse Licht erhalten w\u00fcrde, so dass z. B. ein helles roth neben einem tiefen roth\ngr\u00fcn erscheint. Br\u00fccke, Fechner.\nAus diesen Thatsachen folgert sich, dass die Bestandtheile des Sehnerven einen gegenseitigen, empfindungsbestimmenden Einfluss auf einander \u00fcben. Diese Wechselwirkung zwischen den empfindenden Th eil en ereignet sich wahrscheinlich im Hirn.\nAusser dieser Folgerung, respektive im Gegensatz zu ihr, liessen sich zwei andre ziehen, die n\u00e4mlich, dass die Contrastfarbe eine reelle, im Auge vorhandene sei; und die andere, dass das Auftreten der Contrastfarbe in einer T\u00e4uschung des Ui-theils begr\u00fcndet sei. \u2014 Die erste von beiden Annahmen entbehrt jeglicher Begr\u00fcndung, indem z. B. gar nicht abzusehen ist, wie das weisse Licht, welches einen Retinafleck beleuchtet, sich in gr\u00fcnes verwandeln sollte, selbst wenn das Auge an denselben Stellen mit roth erhellt w\u00fcrde. \u2014 Die andere Hypothese erscheint dagegen, namentlich wenn man die Richtigkeit der fr\u00fcheren Annahme \u00fcber die Zusammensetzung des weissen Lichtes voraussetzt, annehmbarer. So lange man z. B. glaubte, dass durch die Zusammensetzung von gr\u00fcn und roth weiss entstehe, konnte man es auch wahrscheinlich finden, dass wenn gleichzeitig auf verschiedene Nervenr\u00f6hren\nweisses und rothes Licht wirke, die Seele im Gegensatz zu den rein rothen Strahlen\n1","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nFarbenimterscheidmig. St\u00e4rke der Lichtempfindung.\ndas Weisse, welekes neben roth noch gr\u00fcn besitzen sollte, als gr\u00fcn empfinden w\u00fcrde. Dieser Annahme ist aber durch die \u00fcberraschenden Entdeckungen vom Helmholtz der Boden entzogen worden,, da ja auch weiss aus blau und gelb entsteht u. s. w. \u2014 Zudem erl\u00e4utert die Vorstellung, dass eine Urtheilst\u00e4uschung dem Erscheinen der Contrastfarben zu Grunde liege, auch andere Tliatsaehen nicht. Warum muss die induzirende Farbe licht und das Weisse ged\u00e4mpft sein? Warum erzeugt die intensivere Farbe im Weiss eher die gleichartige als die contrastirende F\u00e4rbung?\nDie Behauptung, dass die gegenseitige Beziehung der Erregungszust\u00e4nde im Hirn stattfinde, werden wir sp\u00e4ter begr\u00fcnden. \u2014\nf.\tWenn weisses Licht eine Retinafl\u00e4che erleuchtet, nachdem diese unmittelbar vorher von einem intensiven farbigen Strahl getroffen war, so erregt das Weiss des Sonnenlichtes eine Farbenempfindung; und namentlich erscheint meist die Nebenfarbe des fr\u00fchem vorhanden, so dass z. B. der weisse Strahl nach dem Betrachten von Roth die Empfindung von Gr\u00fcn u. s. w. erzeugt. Aus dieser Thatsache folgert man, dass innerhalb der Nervenr\u00f6hren die Empfindlichkeit f\u00fcr die eine Farbe abgestumpft werden kann, w\u00e4hrend die f\u00fcr eine andere in vollkommener Kraft bestehen bleibe. Diese Folgerung wird um so wahrscheinlicher als in der That nach anhaltendem Betrachten einer Farbe, diese an ihrer St\u00e4rke verliert, w\u00e4hrend die unmittelbar nachher im Sehfeld erscheinende physiologische Nebenfarbe sehr lebhaft empfunden wird.\ng.\tVerschiedene Individuen sind mit einem sehr abweichenden Verm\u00f6gen der Farben\u00fcnterscheidung begabt. Namentlich geht aus den Untersuchungen von Seebek hervor, dass sich die Menschen, welche die Farben mangelhaft unterscheiden, in zwei Classen bringen lassen, von denen die eine alle Farben mangelhaft empfindet, w\u00e4hrend die zweite gelb noch gut erkennt, w\u00e4hrend sie roth als grau und blau als blaugrau sieht.\nh\u00bb Ueber das Verh\u00e4ltniss zwischen der St\u00e4rke der Lichtempfin-dung und der lebendigen Kraft, mit welchen die Aethermolekeln schwingen, k\u00f6nnen wir nur einige wenige scharfe Aussagen machen, weil uns ebensowohl ein Maass f\u00fcr die Empfindung als auch f\u00fcr die lebendige Kraft der Aetherschwingungen fehlt und wir endlich auch nicht wissen wie viel Licht auf dem Wege durch die brechenden Medien des Auges verloren geht.\nDie St\u00e4rke der Empfindung, welche durch den Licht\u00e4ther angeregt wird, ist abh\u00e4ngig von den Besonderheiten der Aetherwellen, der\nCf\nEmpfindlichkeit der Retina, dem Orte an welchem sie getroffen wird, und der Summe der Nervenr\u00f6hren, welche gleichzeitig erregt werden.\ncc) Innerhalb gewisser Grenzen w\u00e4chst mit der Intensit\u00e4t des Lichtes d. h. mit der Excursion, welche ein schwingendes Aether-molekel macht, die St\u00e4rke der Lichtempfindung. \u2014 Wahrscheinlich m\u00fcssen die Aethermolekeln erst einen gewissen Grad von Schwingungsst\u00e4rke erreicht haben, bevor sie im Stande sind die Empfindung zu wecken, haben sie diese erreicht, d. h. wird ein Lichtquell sicht-","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"St\u00e4rke der Licht empfindmig. Mechanische Einwirkungen.\t229\nbar, so erh\u00f6ht sich nun allm\u00e4lig mit der Intensit\u00e4t der leuchtenden Theilchen die Empfindung; bei fortgesetzter Steigerung des Lichtes tritt aber endlich Blendung ein, das Analogon des Schmerzes, bei deren Anwesenheit durch eine noch kr\u00e4ftigere Wirkung des Lichtes, keine heftigere Empfindung mehr erzielt werden kann. \u2014 Auf die St\u00e4rke der Empfindung \u00fcbt ausser der Excursion des schwingenden Theilchens auch die Wellenl\u00e4nge einen Einfluss. Die Wellen k\u00fcrzerer L\u00e4ngen, d. h. die nach dem violetten Ende des Spektrums hin liegenden verschwinden, n\u00e4mlich bei fortgesetzter Schw\u00e4chung des Lichtes, sp\u00e4ter als die nach dem rothen Ende hin gelegenen. Dove erl\u00e4utert dieses daraus, dass sich die rascher aufeinander folgenden St\u00f6sse des blauen Lichtes in den Nerven summiren, w\u00e4hrend dieses bei den\nlangsamer aufeinander folgenden des rothen Lichtes nicht geschieht.\nAlle \u00fcbrigen Angaben und namentlich die, dass bei gleicher Lichtintensit\u00e4t die Farben r\u00fccksichtlich der St\u00e4rke ihre empfindlingserzeugenden Eigenschaften in der abnehmenden Reihe gelb, gr\u00fcn, hellblau, orange, roth, violett geordnet werden k\u00f6nnten, ruhen auf keinen sicheren Erfahrungen. \u2014 Die Methode, welche Plateau *) anwendete um emfindungserzeugende Kr\u00e4fte der Farben zu messen, ist im Prinzip fehlerhaft. Sie gibt in der That nur Aufschluss dar\u00fcber, in welchem Verh\u00e4ltniss die St\u00e4rke der Nachwirkung steht, welche zwei Farbeneindr\u00fccke hinterlassen.\n\u00df) Die Empfindlichkeit der Retina gegen weisses Licht sowohl als gegen gef\u00e4rbtes, nimmt mit der Dauer ihrer Einwirkung auf dieselbe ab und zwar um so rascher, je betr\u00e4chtlicher die Intensit\u00e4t des Lichtes war. R\u00fccksichtlich des gef\u00e4rbten Lichtes ist hierbei bemer-kenswerth, dass durch anhaltende Einwirkung einer Farbe die Empfindlichkeit des Sehnerven nur f\u00fcr diese, aber nicht zugleich f\u00fcr andere Farben abgestumpft wird.\n7) Nach Brewster**) sollen die Seitentheile der Retina (bei gleicher Pupillenweite ?) ein constantes Licht lebhafter empfinden als die mittleren.\n\u00f4) Je gr\u00f6sser die Retinafl\u00e4chen sind, welche gleichzeitig vom Licht getroffen werden, um so intensiver wirkt dasselbe, wie daraus hervorgeht, dass ein grelles Licht mit einem, aber nicht mit zwei Augen zugleich, ohne Blendung zu erzeugen, angesehen werden kann.\nB. Mechanische Einwirkungen. Durch Druck oder Zerrung wird unter uns noch unbekannten Umst\u00e4nden bald die Empfindung des weissen, bald die des gef\u00e4rbten Lichtes erzielt. \u2014 Auf diesem Wege kommen die feurigen Kreise zu Stande, welche man bei einem gelinden Fingerdruck auf das Auge, und zwar auf der dem Druck diametral ent-\nC\ngegengesetzt liegenden Augenseite, entstehen sieht; ferner das Funkensehen bei heftigem Schlagen auf das Auge ; ferner die leuchtenden Ringe bei raschen Drehungen des Auges, welche von Zerrungen des\n*) Ra dicke, Handbuch der Optik II. Bd. 259.\n**) P 0 g g end or f Annalen 27. Bd. 497.","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\tElectrlsche Einwirkungen. Nachbilder.\nSehnerven r\u00fchren ; ferner die bei sehr empfindlichen Zust\u00e4nden auftretenden, vor dem Auge hin und her fahrenden Funken, welche durch die in den Capillarnetzen der a. centralis retinae verlaufenden Blutk\u00f6rperchen veranlasst werden, und endlich wohl auch das sogenannte Schattenfeld, welches in einem feinem Lichtstaub besteht, der beim Schliessen der Augenlieder in selbst dunklen R\u00e4umen \u00fcber die ganze Ausbreitung der Retina beobachtet wird.\nC. Elektrische Einwirkungen* **)). Abgesehen von den Feuererscheinungen, durch welche die Electrizit\u00e4t erregend auf die Retina wirkt, ist sie auch auf andere Art, nach Analogie ihrer Einwirkung auf die \u00fcbrigen Nerven zur Ausl\u00f6sung der Lichtempfindung geschickt. \u2014 Es scheint sowohl der an Intensit\u00e4t constante, als schwankende Strom Lichtempfindung zu erregen, so jedoch, dass bei der Schwankung des Stroms das Licht lebhafter wird. Nach Pfaff, Ritter und Purkinje erkennt der Sehnerv auch die Str\u00f6mungsrichtung der Elektrizit\u00e4t, und zwar soll der im Nerven aufsteigende (von der Peripherie zum Gehirn gerichtete) Strom lebhafter wirken, als der absteigende. Das Licht selbst, welches zur Empfindung kommt, ist ein farbiges; nach Purkinje erscheinen violette und gelbliche Farbent\u00f6ne, die sich jedoch nicht gleichm\u00e4ssig \u00fcber die Sehfl\u00e4che ausbreiten, sondern von dunklen Stellen unterbrochen sind. Mit der Um-kehr der Str\u00f6mung ver\u00e4ndert sich auch die Oertlichkeit der Licht- und Schattenfl\u00e4chen in der Art, dass die fr\u00fcher dunklen Stellen hell und die hellen dunkel werden.\n2. Beharrungsverm\u00f6gen ; Nachbilder * *).\nEin Lichtstrahl, der zu der Retina gedrungen ist, setzt sie in verschwindend kleiner Zeit in Erregung, wie daraus hervorgeht, dass wir das momentane Licht eines electrischen Funkens nicht allein sehen, sondern auch die mit ihm beleuchteten Gegenst\u00e4nde erkennen. Volkmann. Diese Erregungszust\u00e4nde der Retina werden aber nicht ebenso momentan von der Seele empfunden ; denn ein dunkler kreisf\u00f6rmiger Gegenstand, der sich vor einer weissen Grundlage mit einer bedeutenden Geschwindigkeit bewegt, bildet in der Empfindung einen dunklen Streifen, eine Thatsache, aus der hervorgeht, dass die unmittelbar hinter dem dunklen K\u00f6rper ins Auge tallenden weissen Strahlen nicht augenblicklich zur bewussten Empfindung kommen; d\u2019Arcy.\nDie einmal zum Bewusstsein gekommene Lichtempfindung verschwindet aber nicht momentan mit der Entfernung des objektiven Lichtes; es bleibt eine Nachwirkung, ein Nachbild, zur\u00fcck, welche\n*) Du Bois-Reymond, Thier. Electricit\u00e4t I. 284 u. 345.\n**) Volkmann, Artikel Sehen. Wagners Handw\u00f6rterbuch. \u2014 Radicke, Handbuch d. Optik II.Bd.255 u. f. Ausserdem die erw\u00e4hnten Abhandlungen von Br\u00fccke in Rechner. \u2014 Tour_ ' tual Jahresbericht \u00fcber Fortschritt der Physiol, des Gesichtssinnes in M\u00fcllers Archiv. \u2014 Plateau Poggend. Annalen Bd. 32 u. Annal, de chimie et physique LVIII. Bd.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Bedingungen der Andauer des Nachbildes.\n231\nnamentlich die Form des gesehenen Gegenstandes mit grosser Treue festh\u00e4lt.\nUnser Sehfeld ist in der That fast ununterbrochen mit Nachbildern ausgef\u00fcllt, welche von uns nur \u00fcbersehen werden, so lange wir nicht durch genaue Selbstbeobachtung die F\u00e4higkeit erlangt haben, diese meist zarten Bilder neben den gew\u00f6hnlich st\u00e4rkern objektiven Lichteindr\u00fccken aufzufassen. Zum ersten Studium des Nachbildes ist dasjenige einer nicht zu hellen Kerzenflamme empfehlenswerth. Sieht man Abends in eine solche nicht zu helle Kerzenflamme 30 bis 60 Sekunden stier und unverr\u00fccklich, schliesst dann die Augen und deckt sie noch mit den H\u00e4nden, so wird man das genaueste Abbild der Flamme vor sich schweben sehen. Da man das Kerzenlicht innerhalb gewisser Grenzen durch Entfernen desselben vom Auge schw\u00e4chen und steigern kann, so eignet es sich vortrefflich, um sich die gr\u00f6ssere Zahl der im folgenden erl\u00e4uterten Erscheinungen vorzuf\u00fchren. \u2014 Alle Versuche \u00fcber Nachbilder und noch mehr \u00fcber Abklingen der Farben m\u00fcssen mit der \u00e4ussersten Sorgfalt angestellt werden, weil sie Augenschw\u00e4che, ja g\u00e4nzlichen Verlust der Sehkraft herbeif\u00fchren k\u00f6nnen. Fechner, Plateau und Br\u00fccke, welchen wir vorzugsweise unsere Kenntnisse \u00fcber die Nachbilder verdanken, haben ernste Folgen ihres Strebens empfinden m\u00fcssen.\nDie Erscheinungen dieses Nachbildes sind nun verwickelter Art.\na.\tObwohl jeder Lichteindruck ein Nachbild hinterl\u00e4sst, wie das Beispiel des eJectrischen Funkens darthut, so sind doch gewisse Bedingungen n\u00f6thig, wenn ein Strahl auch nach seiner Entfernung aus dem Auge, w\u00e4hrend einer merklichen Zeit deutlich empfunden werden soll. In dieser Beziehung lehrt die t\u00e4gliche Erfahrung, dass wenn auch ein Licht von jeder beliebigen St\u00e4rke ein Nachbild hervorruft, doch ein intensives nur viel k\u00fcrzere Zeit auf das Auge gewirkt zu haben braucht, als ein weniger intensives, um die Nachwirkung deutlich zu erzeugen, und dass verschieden gef\u00e4rbte K\u00f6rper bei gleicher Beleuchtungsst\u00e4rke zu demselben Zwecke ungleicher Zeiten bed\u00fcrfen. Stellt man die Farben nach ihrer F\u00e4higkeit ein Nachbild zu erzeugen in eine Reihe, so folgen sie nach der Ordnung: weiss, gelb, roth, blau; Plateau.\nb.\tDie Zeit, w\u00e4hrend welcher ein deutliches Nachbild im Sehfeld verharrt, ist abh\u00e4ngig a) von der Intensit\u00e4t des prim\u00e4ren Lichteindrucks, in der Art, dass das Nachbild eines intensiven Lichteindrucks l\u00e4nger verharrt als das eines schwachen, \u00df) Je l\u00e4nger objektives\n' Licht die Retina traf, Aim so dauernder erweist sich die Nachwirkung. 7) Alles andere gleichgesetzt, verbleiben die Nachbilder verschiedener Farben, bis zu ihrem vollst\u00e4ndigen Yerschwinden, eine ungef\u00e4hr gleiche Zeit, dagegen verliert das Nachbild des Weissen rascher an\nseiner Lebhaftigkeit als das des Gelben, Rothen, Blauen; Plateau.\nUm die Zeiten der Nachbilder zu messen, wendete Plateau eine runde Scheibe von bekanntem Durchmesser an, die mit verschiedener aber messbarer Geschwindigkeit gedreht werden konnte. Diese Scheibe \u00fcberzog er mit einem lichtlosen Grund (schwarzen Sammet) und befestigte auf diesem einen Kreissektor aus gef\u00e4rbtem Papier. Dreht man nun diese Scheibe, so wird bei einer gewissen Geschwindigkeit derselben, dem Auge auch die schwarze Abtheilung mit der Farbe d\u00e9s Sektors \u00fcberzogen erscheinen ; da man die Wegl\u00e4nge des schwarzen und gef\u00e4rbten Theils","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\tNegative und positive Nachbilder. Farben derselben.\nund die Umdrehungsgeschwindigkeit kennt, so l\u00e4sst sich leicht berechnen, welche Zeit verflossen ist w\u00e4hrend des Vorbeigangs des schwarzen Theils. Die ganze Zeitdauer des Nachbildes wird nun gegeben sein durch die Umdrehungsgeschwindigkeit, bei welcher der lichtlose Theil der Scheibe gerade noch \u00fcberall gef\u00e4rbt ist. Die Zeitdauer des ungeschw\u00e4chten Lichtbildes aber ist durch die Drehungsgeschwm-digkeit gegeben, bei welcher an allen Orten der Scheibe die Farbe eine gleichm\u00e4s-sige ist, so dass das Auge nicht entscheiden kann, ob die schwarze oder gef\u00e4rbte Abtheilung an ihm vor\u00fcbergeht.\nc. Das Nachbild eines Gegenstandes, der aus mehr und weniger hell beleuchteten St\u00fccken besteht, pr\u00e4gt sich, wenn es bei verschlossenen mit der Hand gedeckten Augen betrachtet wird, entweder so aus, dass Object und Nachbild, r\u00fccksichtlich der Verkeilung des Hellen und Dunklen, sich genau entsprechen \u2014 positives Nachbild \u2014 oder so, dass die dunklen Parthien des Objektes im Nachbild hell und die hellen des erstem im letztem dunkel sind \u2014 negatives Nachbild. \u2014 L\u00e4sst man w\u00e4hrend des Bestehens eines positiven Nachbildes weisses Licht in das Auge, so blasst ersteres ab und verwandelt sich sogar in ein negatives Nachbild, dringt dagegen bei Gegenwart eines negativen Nachbildes weisses Licht in die Retina, so wird dasselbe deutlicher. Diese Erscheinung beweisst, dass das positive Nachbild auf einer fortdauernden Erregung, das negative auf einer Abstumpfung der Sehkraft in den betreffenden Stellen beruht; Br\u00fccke.\nErscheint z. B. nach dem Betrachten eines hellen Gegenstandes auf dunklem Grunde in dem geschlossenen vor Licht vollkommen gesch\u00fctzten Auge ein positives Nachbild, so wird dieses beim Zutritt wessen Lichtes (beim OefFnen des Auges) undeutlicher w^eil durch das Licht der noch erregbarere den dunklen Grund nachempfindende Retinatheil st\u00e4rker erregt wird, als der durch den vorhergehenden Eindruck schon angegriffene hell nachempfindende; es verschwanden also durch objektives Licht nicht allein die Unterschiede der Erregung, sondern es erh\u00e4lt die vorher dunkle Masse ein Uebergewdcht von Helligkeit \u00fcber die vorher w^eisse, mit andern Worten : das positive Nachbild wird negativ. \u2014 Pr\u00e4gt sich das Nachbild eines wessen Gegenstandes auf schwarzem Grund dagegen im bedeckten Auge negativ aus, so m\u00fcssen beim Zutritt weissen Lichtes die hellen Parthien noch heller werden, weil sie durch die fr\u00fcher weniger kr\u00e4ftige Erregung im geringeren Grade abgestumpft, das weisse Licht deutlicher empfinden, als die durch den fr\u00fchem kr\u00e4ftigem Eindruck ganz abgestumpften dunklen Stellen; mit andern Worten, das im dunklen Auge negative Nachbild wird beim Lichtzutritt noch deutlicher negativ.\nd. Die Nachbilder erscheinen bald in der Farbe des urspr\u00fcnglichen Bildes, bald mit der Contrastfarbe desselben, d. h. ein gr\u00fcner Gegenstand wird roth, ein blauer orange, ein violetter gelb; man unterscheidet darum gleichfarbige identische, und contrastfarbige complement\u00e4re Nachbilder. Es k\u00f6nnen dieselben aber ausser der Gleich- und Contrastfarbe auch noch mancherlei andere annehmen; namentlich kommt es vor, dass die in der Nachempfindung begriffenen Retinastellen durch einen gesetzm\u00e4ssigen Wechsel verschiedener Farbenempfindung zur Ruhe gelangen. Abklingen der Farben.\nAuf dieses verschiedenartige Auftreten der Farben im Nachbild \u00fcbt einen Einfluss : die St\u00e4rke und die Mischung des erregenden Lieh-","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Bedingungen f\u00fcr die Farbe des Nachbildes.\n233\ntes; die Beleuchtung des Auges w\u00e4hrend des bestehenden Nachbildes; die Zeit selbst, w\u00e4hrend welcher das Nachbild bestand, indem dasselbe Bild in der Zeit seine Farbe wechselt (Phasen des Nachbildes) ; Bewegungen des Auges bei gegenw\u00e4rtigem Nachbilde und endlich die besondern Eigenschaften der Sehnerven verschiedener Menschen. \u2014 a) Einfarbiges Licht erzeugt immer nur gleich- und contrastfarbige Nachbilder, Br\u00fccke; war das Licht schwach, so erscheint das Nachbild zuerst identisch und dann complement\u00e4r, worauf es verschwindet, war aber das erregende Licht intensiv, so entsteht in dem geschlossenen Auge zuerst ein positiv complement\u00e4res, dann nach einer kleinen Pause \u2014 einer Augenbet\u00e4ubung nach Fechner \u2014 ein positiv identisches, darauf ein negativ complement\u00e4res, dann abermals ein positiv identisches u. s. w. bis schliesslich das Nachbild als ein negativ complement\u00e4res verschwindet; Br\u00fccke. Beobachtet man das Auge dagegen bei ge\u00f6ffnetem Auge gegen einen weissen Grund, so wird das positiv gleichfarbige in ein negativ contrastfarbiges verwandelt; Br\u00fccke.\nDie complement\u00e4r gef\u00e4rbten Nachbilder erzeugt man sich am besten, wenn man Abends vor dem gelblich schimmernden Milchglas der Lampe eine Federmesserklinge rasch hin- und herf\u00fchrt. Die Klinge erscheint jedesmal, so oft sie einen neuen Ort beschattet, blau (Tourtual). \u2014 Ebenso wenn man auf die Mitte eines Bogens durchscheinenden gef\u00e4rbten Fliesspapiers ein St\u00fcck schwarzen Tuches klebt und nun den Bogen sanft vor dem Auge hin- und herf\u00fchrt. Das Tuch erscheint dann complement\u00e4r gef\u00e4rbt.\n\u00df) Gemischtes und namentlich das ganze Sonnenlicht gibt nach schwacher Einwirkung ein schwaches negatives Bild; bei st\u00e4rkerer Einwirkung zuerst ein positiv identisches und dann schliesst es durch das Farbenabklingen hindurch mit einem negativ complement\u00e4ren. Ueber das mannigfache Abklingen der Farben sind die staunens-werthen Versuche von Fechner*) nachzusehen.\nDie Dauer, mit der die verschiedenen in der zeitlichen Reihenfolge vorkommenden Farben, die Phasen des Nachbildes, anhalten, die Reihenfolge der Farben selbst beim Abklingen ist bei verschiedenen Menschen nicht dieselbe. \u2014 Bewegungen im Auge unterdr\u00fccken oft ein Nachbild f\u00fcr kurze Zeit und noch mehr, die Farben desselben wechseln oft w\u00e4hrend der Bewegung.\nBisher haben wir nur der Nachbilder Erw\u00e4hnung gethan, welche eintreten nach einer prim\u00e4ren Erregung durch Aetherwellen ; Dr\u00fccke und elektrische Str\u00f6me erzeugen aber auch Nachbilder, welche selbst Tage lang anhalten k\u00f6nnen, Ritter, und die ebenfalls in der Farbe erscheinen, die im Contrast steht zu derjenigen, welche den prim\u00e4ren Eindruck bedingt. Purkinje.\nZur Erkl\u00e4rung des FarTbenabklingeus und der contrastfarbigen Nachbilder wusste die \u00e4ltere Theorie einiges vorzubringen. Man nahm bekanntlich an, dass\n*) P oggend. Annal. 50. Bd. 445.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nIrradiation5 Induction; Contrast.\ndas weisse Licht im physiologischen Sinne aus drei Grundfarben, roth, gelb, blau be stehe, indem man glaubte, dass aus ihrer Mischung s\u00e4mmtliche Farben entstehen k\u00f6nnten.\nDiesen drei Grundfarben entsprechend sollten im Sehnerven drei verschiedene Arten von Ver\u00e4nderungen (gleichsam die subjektiven Grundfarben) vorgehen und diese selbst sollten innerhalb des Sehnerven an Vorrichtungen geschehen, die in gewisser Art unabh\u00e4ngig von einander bestanden, so dass diese F\u00e4higkeit eine dieser drei Farben zu sehen, erloschen sein konnte, ohne Alteration der \u00fcbrigen. \u2014 Aus dieser Annahme liess sich nun folgern, dass wenn wir anhaltend eine der drei Grundfarben oder Combinationen zweier betrachtet h\u00e4tten, die Erregbarkeit f\u00fcr diese Farbe oder Farben erloschen sein m\u00fcsste, so dass, wenn ein weisses Licht oder ein Druck der sonst als weiss empfunden wurde, den Nerven traf, dieses* nicht mehr weiss sondern in einer Farbe gesehen werden musste, und zwar nat\u00fcrlich in der oder denjenigen, welche in dem fr\u00fcher betrachteten Bilde fehlten. So folgerte man z. B. in Uebereinstimmung mit der Thatsache, dass nach anhaltender Betrachtung von rothem Licht nun das Nachbild bei weisser Beleuchtung gr\u00fcn erscheinen m\u00fcsse, weil gr\u00fcn der alten Theorie gem\u00e4ss eine Combination von blau und gelb war. \u2014 Diese Erkl\u00e4rung und alle daraus abgeleiteten S\u00e4tze, die zu einer bekannten Controverse zwischen Fe ebner und Plateau f\u00fchrte, deren Nichtigkeit aber schon Br\u00fceke und zwar auf dem Boden der alten Voraussetzungen gezeigt hatte, ist durch Helm-holtz als eine irrthiimliche dargethan. Denn es sind ja roth, gelb und blau nicht die physiologisch einfachen Farben; es gibt ja der gelbe und blaue Strahl kein Gr\u00fcn u. s. w. \u2014\n3. Wechselseitiger Einfluss verschiedener Orte der Retina aufeinander; Irradiation, Induction, Contrast*).\nDie einzelnen empfindenden Bestandtheile der Retina sind durch irgend welche Vorrichtung in eine solche Beziehung zu einander gebracht , dass der Erregungszustand eines derselben auf die Erregung des andern einen Einfluss \u00fcbt. Es dr\u00fcckt sich diese wechselseitige Anregung auf verschiedene Weise aus.\na. Ausstrahlung. Mit diesem Namen bezeichnet man die freilich nicht jedem Beobachter erscheinende Thatsache, dass ein weisser Gegenstand auf dunklem Grund gr\u00f6sser erscheint, als derselbe gleich grosse schwarze Gegenstand auf weissem Grund; diese Erscheinung soll sich innerhalb der Grenzen deutlicher Sehweite noch auspr\u00e4gen, die Gr\u00f6sse der Ausstrahlung soll wachsen : mit der Helligkeit der weissen Partien, mit der Betrachtungsdauer, heim Yorsetzen zerstreuender Linsen vor das Auge, mit der Entfernung des Auges von dem betrachteten Gegenstand und endlich mit der Empfindlichkeit des Auges. Die Verbreiterung, die ein weisser Gegenstand durch Irradiation erleidet, soll dagegen abnehmen: wenn zwei weisse Objekte durch einen schmalen dunklen Gegenstand getrennt sind, so dass eine Irradiation die andere beschr\u00e4nkt, und ferner, wenn man eine convexe Linse vor das Auge bringt.\n*) Plateau, Poggend. Annal. I. Erg\u00e4nzungsband. p, T9; Fechner ibid. 50. Bd. 195.\u2014 Brewster, Poggend. Annal. 27. Bd. 490. \u2014 Br\u00fccke, Untersuchungen \u00fcber subjective Farben. III. Bd. der k. k. akad. Denkschriften. 1851. \u2014 H. Meyer, Wiener Akad. Bd. VII, 454. Dove, Ueber Ursachen d. Glanzes und der Irradiation. Poggend. Annal. 83. Bd.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"I\nInducter; Contrast; Sehen.\t235\n\\\nDiese bemerkenswerthen Thatsachen hat meist Plateaii gesammelt, der auch eine Messungsmethode des Irradiationswerthes angibt. Plateau leitet dieselben davon ab, dass die Erregung sich in der Retina allm\u00e4lig von den erhellten Stellen nach den dunklen ausbreite. Siehe die Kritik dieser unwahrscheinlichen Annahme bei Fechner und Dove; der erstere von diesen ist geneigt, sie von Eigen th\u00fcmlich-keiten der brechenden Medien abzuleiten , w\u00e4hrend der letztere glaubt, dass sie ein durch das Accommodationsverm\u00f6gen bedingtes Ph\u00e4nomen sei.\nb. Induction. Wird die Retina nur theilweise durch homogenes Licht (einfache F\u00e4rb strahl en) erleuchtet und zum Theil beschattet, so f\u00e4rbt sich der beschattete Ort ebenfalls in der Empfindung ; Br\u00fccke, der diese Erscheinung zuerst genau von \u00e4hnlichen gesondert hat, nennt sie Farbeninduction. Nach diesem Beobachter erscheint der Schatten\ngr\u00fcn\twenn d. Beleuchtung durch roth\t\t\tgeschah\ngr\u00fcn\t55\t55\t55\t55 gr\u00fcn\t55\nblauviolett\t55\t55\t55\t\u201e violett\t55\nschwachblau o. gr\u00fcn\t55\t55\t55\t% \u201e blau\t55\nschwachblau o. gelbgr\u00fcn\t55\t55\t55\t\u00bb gelb\t55\nWenn sich bei diesen Versuchen kein Licht im Auge zerstreut, so beweissen dieselben dass die sogenannte Mitempfindung eine f\u00fcr den Sehnerven g\u00fctige Thatsache ist.\nZum Gelingen dieser Versuche ist es nothwendig, dass alles fremde Licht abgehalten werde. Sie k\u00f6nnen darum nur in einem verfinsterten Zimmer angestellt werden, das sein einziges Licht durch eine bunte Scheibe erh\u00e4lt, welche nur Strahlen von einer Farbe durchl\u00e4sst. Die Angaben Fechners \u00fcber die induzirte Farbe weichen merklich von denen ab, welche im Text nach Br\u00fccke mitgetheilt sind; wahrscheinlich machen sich hier individuelle Verh\u00e4ltnisse geltend.\nc. Contrast, Verstimmung. Werden zwei verschiedene Orte der Retina gleichzeitig in Erregung versetzt, so heben sich die durch sie veranlassten Empfindungen nicht allein sch\u00e4rfer gegen einander ab (Contrast), sondern sie sind auch im Stande sich gegenseitig zu ver\u00e4ndern, Verstimmung. Beispiele, die den Contrast erl\u00e4utern, sind einem Jeden aus der gew\u00f6hnlichen Erfahrung zu Gebote; ein Beispiel f\u00fcr die Verstimmung liefert die schon fr\u00fcher erw\u00e4hnte Thatsache, dass weisses Licht gef\u00e4rbt erscheint, wenn mit ihm gleichzeitig aber an verschiedenen Orten gef\u00e4rbtes vorhanden ist (pag. 266). Der Contrast d\u00fcrfte unzweifelhaft Folge einer im Hirn vor sich gehenden Vergleichung beider Eindr\u00fccke sein, da er sich auch noch geltend macht, wenn ein Eindruck nur je ein Auge trifft; H. Meyer. Die mit dem Worte der Verstimmung bezeichneten Thatsachen bed\u00fcrfen noch genauerer Untersuchung; siehe \u00fcber diese Erscheinungen besonders Fechner*) und Br\u00fccke.\nSehen.\nMit Hilfe des Sehnerven gelangen zu unserm Bewusstsein auch noch Kenntnisse von anderen Eigenschaften der Dinge als ihre F\u00e4rbung und die St\u00e4rke ihrer Beleuchtung; diese Aufschl\u00fcsse, welche sich auf\n*) 1. c. 433.","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\tDas Sehen geschieht mittelst der Aetherwellen.\ndie r\u00e4umlichen Verschiedenheiten innerhalb eines Objektes, die constante oder wechselnde Ortslage eines solchen im Raume u. s. w. beziehen, empfangen wir nun nicht allein vermittelst der Empfindungseigenschaften des Sehnerven, sondern nur darum, weil entweder die Nervenr\u00f6hren in der Retina (und dem Hirn ?) eigenth\u00fcmlich angeordnet sind, oder weil sich gleichzeitig mit der Erregung der Retina noch diejenigen anderer Nerven einfinden, so dass das Urtheil aus der Re-sultirenden beider Einwirkungen gef\u00e4llt wird, jedoch in der Art, dass die das Urtheil bestimmenden Elem\u00e8nte nicht gesondert, sondern sogleich als Resultirende auf die Seele wirken, und sonach den Anschein einfacher Empfindung erzeugen. \u2014 Diese Akte bezeichnet man, der Lichtempfindung gegen\u00fcber, mit dem Ausdruck Sehen.\nDer Physiologe untersucht nur, welche Elemente sich betheiligen an den zusammengesetzten Empfindungen des Sehens und \u00fcberl\u00e4sst dem Psychologen Fragen und Antworten zu geben \u00fcber die besondere Art, in welcher diese Elemente unter sich und mit der Seele verkn\u00fcpft werden.\n1. Welche Erreger der Lichtempfindung zum Sehen benutzt werden k\u00f6nnen. Eine Musterung der lichterregenden Einfl\u00fcsse, mit R\u00fccksicht auf den vor der Retina liegenden Apparat, ergibt sehr bald, dass nur die Aetherschwingungen ein vollkommenes Sehen vermitteln k\u00f6nnen. Mechanische Ver\u00e4nderungen des Augapfels werden wohl ihrer Intensit\u00e4t nach, aber niemals ihrer Ausbreitung und Richtung nach, mit Sch\u00e4rfe empfunden, weil ein auf das Auge ge\u00fcbter Druck sich durch den mit Fl\u00fcssigkeit gef\u00fcllten Augapfel nach allen Richtungen hin mit gleicher St\u00e4rke fortpflanzt. Es wird also durch den Druck jedesmal die ganze Retina in Erregung gebracht; dabei schlossen jedoch die Eigenschaften der Retina nicht jede Empfindung der \u00f6rtlichen DrukWirkung aus, weil zugleich an dem relativ weichen Augapfel durch den dr\u00fcckenden K\u00f6rper besondere Formver\u00e4nderungen erzielt werden.\nVon der Richtigkeit dieser Darstellung \u00fcberzeugen uns die Folgen eines mit dem Finger ge\u00fcbten Druckes auf ein St\u00fcck der \u00e4ussern Wand des Auges, die auf ihrer inneren Fl\u00e4che noch mit Retina \u00fcberzogen ist. Ein solcher Druck bringt in Folge der \u00f6rtlichen Einbiegung des Augapfels einen der Fingergr\u00f6sse entsprechenden leuchtenden Kreis hervor, der aus sp\u00e4ter zu erw\u00e4hnenden Gr\u00fcnden auf der der Druckstelle entgegengesetzten Fl\u00e4che des Auges gesehen wird, und ausser dem sehr bald die Purkinje\u2019s che Druckfigur, d. h. eine vor der ganzen Retina schwebende, leuchtende Fl\u00e4che, welche meist noch einzelne vor und hinter der Retina gelegene anatomische Elementarformen enth\u00e4lt.\nAn den electrischen Str\u00f6men, welche das Auge durchlaufen, kann man mit gespannter Aufmerksamkeit mehrere Eigenschaften unterscheiden, n\u00e4mlich Richtung, St\u00e4rke und Geschwindigkeit in den Dichtigkeitsschwankungen des Stroms; es beziehen sich aber auch hier die zur Unterscheidung zu bringenden Merkmale nur auf die Intensit\u00e4t der Wirkungen in ihrer zeitlichen Folge, aber nicht auf das r\u00e4umliche Nebeneinander, da wegen der \u00fcberall gleich grossen Leitungs-","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Sch\u00e4rfe des Sehens ; Bedingungen derselben.\n237\n*\nwiderst\u00e4nde, welche die Substanzen des Auges bieten, die Str\u00f6mungs-curven sich betr\u00e4chtlich ausbreiten. Dem gem\u00e4ss geschieht das Sehen fast nur unter dem Einfluss der Aetherschwingungen des sogenannten objektiven Lichtes.\n2. Sch\u00e4rfe des Sehens *). Die Sch\u00e4rfe des Sehens, oder die F\u00e4higkeit jeden leuchtenden Punkt eines Gegenstandes in seiner Sonderung und Umgrenzung von jedem zun\u00e4chst liegenden zu unterscheiden, ist erstens abh\u00e4ngig vom katoptrischen und dioptrischen Apparat, insofern er die Aufgabe zu erf\u00fcllen hat, die von einem leuchtenden Punkt auf das Auge fallenden Strahlen in einen Punkt der Retina zu vereinigen, so dass niemals mehrere im Objekt getrennt liegenden Punkte auf dieselben Stellen der Retina ihr Licht werfen. Wie schon fr\u00fcher erw\u00e4hnt, ist diese Bedingung nicht vollkommen erf\u00fcllt und w\u00fcrde, w\u00e4re sie erf\u00fcllt, wegen anderer noch zu erw\u00e4hnender Vorrichtungen auch nicht den entsprechenden Vortheil leisten. An diesem Orte ist aber die Bemerkung noch schicklich, dass selbst bei starken Zerstreuungskreisen ein Gegenstand mit ann\u00e4hernder Deutlichkeit gesehen werden kann, wegen der hervorragenden Lichtst\u00e4rke des mittlern Theils desselben, welche im Contrast zu den schw\u00e4cher erleuchteten R\u00e4ndern vorzugsweise als das dem Gegenstand entsprechende Bild empfunden wird. Aus diesem Grunde gelingt es auch noch leicht Gegenst\u00e4nde, die ausserhalb der Grenzen deutlicher Sehweite liegen, scharf aufzufassen, wenn man dieselben durch feine OefFnungen betrachtet, wodurch die st\u00f6renden Zerstreuungskreise der\nGrenzpunkte eines leuchtenden Gegenstandes verkleinert werden.\nMan halte, um sich von der Wahrheit der Thatsache zu \u00fcberzeugen, den Knopf einer Stecknadel so nahe vor das Auge, bis sie die Empfindung einer verwaschenen Fl\u00e4che gibt und schiebe dann ein Kartenblatt, in welches man eine feine Oeff-nung bohrte, so zwischen Auge und Stecknadel, dass ihre Strahlen durch die Pupille fallen; augenblicklich wird die Form des Knopfes deutlich hervortreten.\nDie Sch\u00e4rfe des Sehens ist ferner bedingt durch die Retina, weil es von ihren Einrichtungen abh\u00e4ngt, ob sie die mit Hilfe des dioptrischen und katoptrischen Apparats entworfenen Lichtpunkte dem Gehirn in der Sonderung mittheilt, in welcher dieselben auf ihrer Oberfl\u00e4che entworfen wurden. Die Pr\u00fcfung der Retina in dieser Beziehung ergibt, dass sie an verschiedenen Orten ihrer Ausbreitung auf verschiedene Weise die Sch\u00e4rfe des Gesichtes unterst\u00fctzt; am vollkommensten erreicht sie dieses im gelben Fleck, w\u00e4hrend ihr Verm\u00f6gen zur gesonderten Empfindung mehr und mehr gegen die Seitentheile ab nimmt. Um zu bezeichnen, dass nur mit dem gelben Fleck ein scharfes Sehen m\u00f6glich sei, nennt man das Sehen mittelst desselben und namentlich mittelst des Punktes, der die Sehachse ber\u00fchrt Visio directa, das -Sehen mit den Seitentheilen der Retina dagegen Visio indirect a.\n*) Hueck, M\u00fcllers Archiv 1840. \u2014- Volkmann, Artikel Sehen 1. c. \u2014 Badicke, Handbuch der Optik II. \u00dfd. 259,","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nRegio visionis directae.\nUm sich eine ungef\u00e4hre Vorstellung zu verschaffen, wie in der Retina die Orte deutlichen und undeutlichen Sehens gelagert sind, wendet man ein Verfahren an,\nwas Purkinj e erdacht hat, Fig. 59.\tAuf einem Brett BB CC\nFig. 59, das mit einem Ausschnitt RR versehen ist, beschreibt man die Kreislinie CC, deren Mittelpunkt jen-Q seits der Grenzen des Brettes und zwar innerhalb des Ausschnittes RR gelegen ist. Darauf steckt man auf der Kreislinie C C mehrere Stifte /, II, III, IF, Vw. s. w. in immer gleichen Winkelabst\u00e4nden von einander auf, und h\u00e4lt das Brett nun so vor das Auge, dass die Linie IA, welche einen Stift und den Mittelpunkt des Kreises A verbinden in die Verl\u00e4ngerung der Sehachse f\u00e4llt, und dass zugleich der Mittelpunkt des Kreises und die Mitte zwischen den beiden Knotenpunkten zusam-menfallen. Richtet man nun bei unverr\u00fcckter Augenstellung der Reihe nach seine Aufmerksamkeit auf die Stifte, so wirdmanbald gewahr, dass nur die in der Verl\u00e4ngerung der Sehachse gelegenen oder um kleine Winkel von ihr abweichenden Nadeln der Form und Gr\u00f6sse nach deutlich aufzufassen sind, w\u00e4hrend sie um so undeutlicher erscheinen, je mehr seitlich sie stehen.\nSetzt man voraus, es sei die Lage der Knotenpunkte im Auge bekannt und f\u00fcr s\u00e4mmtliche Strahlen, welche durch die Cornea dringen, unver\u00e4nderlich dieselbe, ferner, es sei die Retina nach einem Kreis gebogen, und endlich es seien die Radien des Kreises C C und die Winkel IIA /, III AI u. s. w., welche die Stifte am Mittelpunkt miteinander einschliessen, gegeben, so l\u00e4sst sich durch bekannte Construktion finden, an welchen Orten der Retina V Iln III\u201c1 u. s, w. sich die Stifte IIIIII abbilden. Da nun aber in Wirklichkeit alle die Voraussetzungen nicht eintreffeu, und es zugleich schwierig sein m\u00f6chte, dem Brett die verlangte Stellung zu ertheilen, so werden die Angaben, welche durch Rechnung oder Construktion, wenn sie sich auf das Purkin-j e\u2019sche Verfahren gr\u00fcnden, gefunden sind, nur entfernt der Wahrheit angen\u00e4hert sein. \u2014Nach den Versuchen von Huek, Volkmann, Valentin sollen die Gegenst\u00e4nde am deutlichsten sein, welche das blinde Loch decken, weniger deutlich sollen schon die sein, welche in einer Entfernung von 1 bis 1,5 M. M/ vom Scheitelpunkt der Retina (in dem gelben Fleck) auffallen; von hier sinkt die Deutlichkeit rasch ab, und endlich verschwinden die Bilder ganz, wenn sie in der horizontalen Ebene zwischen 30\u00b0 und 40\u00b0, und in der vertikalen um 20\u00b0 bis 30\u00b0 von der Sehachse entfernt gelegen sind. \u2014 Die Regio visionis directae ist also sehr wrenig umfangreich.\nDie Undeutlichkeit der in der regio visionis indirectae entworfenen Bilder kann, wie hier gleich bemerkt werden soll, ebensowohl von der geringen Zahl (?) hier vorhandener empfindender Elemente, als auch von dem Mangel scharf auf ihnen entworfener Bilder herr\u00fchren, dadas Auge seiner sph\u00e4rischen Aberration gem\u00e4ss nur in der N\u00e4he der Sehachse auf der Retina die Gegenst\u00e4nde deutlich wiederzugeben vermag.","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Grenzen der Sch\u00e4rfe des Sehens.\t239\nDa wir uns nun meist zum Sehen nur des blinden Lochs und des gelben Flecks bedienen, so ist es von besonderem Werth genauer zu ermitteln, wie gross hier der vom Licht getroffene Raum sein m\u00fcsse, um noch eine scharfe Empfindung zu veranlassen, und ferner, in welchem Abstand zwei gleichzeitig auf die Retina fallende Eindr\u00fccke als distinkt empfunden werden, oder mit andern Worten, bis zu welchem Abstand zwei differente Lichteindr\u00fccke sich einander n\u00e4hern m\u00fcssen, um zu einem einzigen mittleren zu verschmelzen. \u2014 Die hierauf bez\u00fcglichen Untersuchungen scheinen, mit R\u00fccksicht auf die erste Frage, ergeben zu haben, a) dass die Gr\u00f6sse des erregenden Bildes auf der Retina um so kleiner sein kann, je gr\u00f6ssere Lichtst\u00e4rke es besitzt; \u00df) dass bei gleicher Lichtst\u00e4rke ein weisses Bild um noch gesehen zu werden kleiner sein kann als ein gelbes, und dieses kleiner als ein rothes und endlich ein rothes kleiner als ein blaues; Plateau. 7) Dass wenn das Bild nach einer Dimension zunimmt, es unbeschadet seiner Deutlichkeit nach der andern Dimension abnehmen darf. Demnach ist ein linienf\u00f6rmiger K\u00f6rper von betr\u00e4chtlicher L\u00e4nge noch sichtbar, w\u00e4hrend ein punktf\u00f6rmiger von gleicher Breite schon f\u00fcr das Sehen verschwindet. Die vorliegenden Thatsachen f\u00fchren weiterhin mit hoher Wahrscheinlichkeit zu der Annahme, dass ein Bild, welches noch innerhalb der Grenzen eines einzigen Nervenprimitivrohres f\u00e4llt, d. h. die Breite eines solchen nicht ausf\u00fcllt, noch sichtbar sei* \u2014 Wegen der mangelhaften Kenntnisse \u00fcber den Gang und die Vereinigung der Lichtstrah-len im Auge sind scharfe Angaben \u00fcber den Abstand zweier als gesondert unterscheidbaren Bilder auf der Retina nicht m\u00f6glich; darum ist auch die aus der allgemeinen Nervenlehre als wahrscheinlich folgende Behauptung, dass zwei Bilder so lange nicht verschmelzen, als ihr Abstand die Breite einer Nervenprimitivr\u00f6hre \u00fcberschreitet, mit andern Worten, dass zwei Bilder, welche in ein Primitivrohr fallen, verschmelzen und diejenigen, welche zwei verschiedene treffen, gesondert empfunden werden, nicht zu erweisen, aber auch nicht zu widerlegen.\nVolkmann*) suchte aus der Verth eilung des Sehnerven in der Retina die Frage zu entscheiden, ob es zur gesonderten Empfindung zweier gleichzeitig erscheinender Objekte n\u00f6thig sei, dass Ihr Bild in zwei verschiedene Nervenr\u00f6hren falle; er glaubte sich berechtigt, diese Annahme verneinen zu d\u00fcrfen; denn da der Querschnitt des Sehnerven 600 mal kleiner sei als die Retinafl\u00e4che, so m\u00fcsse eine jede Primitivr\u00f6hre in der Retina durch Schl\u00e4ngelung u. s. w. einen sehr betr\u00e4chtlichen Raum decken. \u2014 Durch die Entdeckung von Helmholtz, dass die R\u00f6hren des Opticus f\u00fcr sich durch das Licht nicht erregt werden, ist aber diese Frage auf einen ganz andern Boden, wenn auch nicht der L\u00f6sung n\u00e4her gebracht. K\u00f6lliker glaubte dadurch, dasserSt\u00e4b-chen der Retina als die prim\u00e4r erregten Formen annimmt, das R\u00e4thsel gel\u00f6st zu haben; und in der That scheint diese Art der Auffassung von Bedeutung, wenn ihr der Zusatz gemacht wird, dass eine Einrichtung vorhanden sei, verm\u00f6ge der eine\n*) Gegen Volkm a nn siehe E. H. Web er ; Tastsinn. Wagn.JIandw\u00f6rterb. III. B. 532.","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nAufmerksamkeit; Sehen im Raume.\nund dieselbe Retinafaser einen Eindruck verschieden auffassen k\u00f6nne, je nachdem er von diesem oder jenem St\u00e4bchen auf sie \u00fcbertragen werde.\nDie Sch\u00e4rfe des Sehens ist endlich abh\u00e4ngig von dem Grad der Aufmerksamkeit, welchen die Seele den von der Retina aufgenommenen Bildern zuwendet oder zuwenden kann. Aus tausendf\u00e4ltigen Erfahrungen jedes Menschen geht hervor, dass die Seele, nach in ihr wohnenden Bestimmungen* im Stande ist, von allen den Bildern, welche gleichzeitig auf die Retina fallen, nur das eine oder andere in den Kreis ihrer Betrachtung zu ziehen und dass es ihr leicht gelingt bald die von der Visio indirecta, bald die von der Yisi\u00e7 directa ausgehenden Erregungen zu vernachl\u00e4ssigen, zum Yortheil derjenigen Primitivr\u00f6hren auf die sie, um mit dem Kunstausdruck zu reden, ihre Intention, richtet. Da nun aber die Seele, aus Gr\u00fcnden die im vorhergehenden enthalten sind, die genauesten Darstellungen der \u00e4usseren Gegenst\u00e4nde durch die Bilder empf\u00e4ngt, welche auf dem gelben Fleck entworfen sind, so richtet sie meist ihre Aufmerksamkeit nur auf diesen, und bei vielen Menschen so ausschliesslich, dass sie in den seitlichen Regionen der Retina sehr mangelhaft oder gar nicht orientirt sind. \u2014 An einem sp\u00e4tem Orte wird uns die f\u00fcr das vorliegende Thema wichtige Frage besch\u00e4ftigen, ob die Gr\u00f6sse der Fl\u00e4chen, resp. die Zahl der Nervenprimitivr\u00d6hren, auf welche die Seele innerhalb der Retina gleichzeitig ihre Intention richten kann, begrenzt oder unbegrenzt ist, und ob sich die Grenzen der gleichzeitigen Intention bestimmen lassen.\n3. Sehen der Gegenst\u00e4nde im Raume. Der Physiologe steht von der vorerst noch metaphysischen Untersuchung ab, wie die Seele mittelst des Gesichtssinnes die Vorstellung des Raumes gewinne; indem er aber diese Vorstellung als einmal vorhanden annimmt, betrachtet er die Zust\u00e4nde des Sehorgans, welche mit besondern Raumvorstellungen Hand in Hand gehen, und diejenigen welche er mit gr\u00f6sserer oder geringerer Sicherheit als bestimmende Elemente des Ur-theils f\u00fcr das Lagenverh\u00e4ltniss eines leuchtenden Punktes zu seinen Nachbarn und f\u00fcr die Ausdehnung des Lichtes ansehen kann.\nDie erste wichtige Thatsache, welche uns beim Eindringen in den vorliegenden Gegenstand entgegentritt, ist, dass die vom Sehnerven auf die Seele geschehenden Erregungen nicht als Zust\u00e4nde irgend eines Theiles dieses Nerven aufgefasst werden, obgleich er doch offenbar die n\u00e4chste Ursache der Empfindung enth\u00e4lt, sondern dass der Mensch den Grund der Seelenerregung in den Weltenraum, jenseits der Grenzen seines Sehorgans setzt. Die Annahme, dass der Grund des Sehens ausserhalb der brechenden Medien des Auges gelegen sei, macht die Seele nicht nur f\u00fcr die Erregungen des Sehnerven durch die Aetherschwingungen, sondern auch f\u00fcr Lichtbilder, welche ihre Entstehung einem Druck auf den Sehnerven oder seine Aus-","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Richtung des Sehens.\n241\nbreitung verdanken; dieses letztere Resultat wird doppelt auffallend, wenn wir mittelst des Drucks noch zugleich ein die Oertlichkeit be-\u2022 stimmendes Gef\u00fchl durch den Tastsinn erhalten, wie es geschieht, wenn wir seitlich auf den Augapfel den Finger legen, wo wir den kreisf\u00f6rmigen Druck in den Tastnerven auf der Oberfl\u00e4che des Auges f\u00fchlen und ausserhalb desselben, in Folge der gepressten Retina, den dr\u00fcckenden Finger als Lichtring sehen. Dieses Nachaussensetzen der Lichtemplindungen geschieht nun aber nicht willk\u00fcrlich und ordnungslos, in Beziehung auf die Ausbreitung des Sehnerven und\ndes Sehorgans \u00fcberhaupt, sondern soweit bekannt nach folgenden Regeln :\na. Richtung des Sehens. Jeder empfindende Punkt der Retina steht m Bezug auf die Richtung, nach welche die in ihm geschehene Empfindung nach aussen gesetzt wird, in einer ganz bestimmten Beziehung zum Raume; die Richtung, in welcher dieses scheinbare nach Aussensetzen statt findet, erfolgt immer nach einer Linie, welche der vorderen Richtungslinie eines Strahlenb\u00fcschels entsprechen w\u00fcrde, der seine Bereinigung in dem erregten Netzhautpunkt f\u00e4nde. Man kann demgem\u00e4ss die Richtung des Sehens construiren, so wie man den erregten Netzhautpunkt und die Lage der Knotenpunkte kennt,\nwie diess in Fig. 60 erl\u00e4utert ist. Es sei A der erregte Netzhautpunkt, \u00c4\" der hintere, K* der vordere Knotenpunkt, so wird AKU die hintere Richtungslinie und BK' die vordere Richtungslinie eines in jeder beliebigen Stelle der Linie Bfliegenden leuchtenden Punktes sein, dessen di-vergirende Strahlen in A zur Vereinigung kommen ; B K' wird demnach die Richtung darstellen, in welcher der erregte Netzhautpunkt seine\u00bbEmpfindung in den Raum legt. Demgem\u00e4ss werden sich die erregten Netzhautstellen und ihre scheinbare Lage im Raume derartig entsprechen, dass die auf der untersten Grenze der Netzhaut liegenden Theile am meisten nach oben, die auf der obersten Grenze liegenden am meisten nach unten, die auf der rechten liegenden am meisten nach links und die auf der linken liegenden am meisten nach rechts in den Raum versetzt werden. Da es nun f\u00fcr die Bestimmung des gesehenen Lichteindruckes ganz gleichgiltig ist, ob die Erregung von mechanischen, electrischen oder leuchtenden (im optischen Wortsinn) Mitteln ausgeht, so hat man vorgezogen, die\nLudwig, Physiologie J.\tje","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"212\nSehstrahl.\nLinie, durch welche die Schlichtung angegeben wird, mit einem be-\nsondern Namen, dem Sehstrahl, zu bezeichnen.\nDie Beweise f\u00fcr die Richtigkeit der gegebenen Darstellung sind aus tausendf\u00e4ltigen Erfahrungen des menschlichen Sehens leicht zu geben So zum Beispiel: Ein Eingerdruck auf den Seitentheil des Augapfels erscheint als Lichtring immer auf der entgegengesetzten Seite des Druckes*). Die Lagerung der Zerstreuungs-kreise im S ch ein er\u2019sehen Versuch gibt ebenfalls ein bemerkenswerthes Beispiel. Es\nFig. 61.\nbefinde sich vor dem Auge in Eig. 61 der leuchtende Punkt A dermassen aufgestellt, dass die Vereinigung der von ihm ausgehenden Strahlen in B, also vor der Retina geschehe (der leuchtende Gegenstand findet sich dann bekanntlich jenseits des Ferne-piuiktes) so wird ein Theil des sichtbaren Zerstreuungskreises auf C und der andere auf C' fallen. Da die Selistrahlen dieser Retinaorte dann D\u2018 C', bez\u00fcglich D C sind, so wird C in der Richtung von D und C nach D' hin gesehen werden. Schliesst man nun mitreiner Federmesserklinge eine von beiden Oefinungen EE des Schirms, so wird jedesmal das ausgel\u00f6scht werden, welches scheinbar auf derselben Seite im Raume liegt, also nach Verschluss von E\u2018 verschwindet D' und nach Verschluss von E das D. \u2014 Befindet sich dagegen der leuchtende K\u00f6rper A diesseits des N\u00e4hepunk-\nFig. 62.\ntes wie in Fig. 62, so werden, da nun die von dem Punkte A ausgehenden Strahlen erst jenseits der Retina zur Vereinigung kommen, die Zerstreuungskreise auf B' und ZF' fallen und die ihnen entsprechenden Sebstrahl\u00e9n sind B' c' und B\" c\". Deckt man\n0 Hierbei erscheint jedoch jedesmal nach einer Bemerkung von E. B e ch er, auch an der Druckstelle eine schwache Lichtemplindting, die wahrscheinlich ihren Grund in der Erregung einer Netzhautpartie auf der entgegengesetzten Seite hat, vrohinsich der Druck fortpfianzt.","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Aufrechtsehen; Erkl\u00e4rungen desselben.\n2^a\njetzt wiederum eine von beiden OefTnungen so wird nicht das gesehene Bild der entsprechenden Seite, sondern das entgegengesetzte ausgel\u00f6scht, wie es die Theorie verlangt. \u2014 Zu den Beispielen z\u00e4hlt ferner, dass man alle oberhalb der Sehachse gelegenen Gegenst\u00e4nde, welche ihr Bild unterhalb derselben auf der Retina projiziren, oberhalb sieht, woher das vielberufene Aufrechtsehen des verkehrten Retinabildchens k\u00f6mmt. \u2014 Zur Erl\u00e4uterung dieser Erscheinungen und insbesondere des Nachaussensetzens der Liclitempiindmig \u00fcberhaupt, hat man hin und wieder der Annahme gehuldigt, als setze das Sehorgan w\u00e4hrend der Empfindung irgend etwas Concretes nach aussen. Die Unklarheit dieses Erkl\u00e4rungsversuches wird sogleich deutlich, wenn man fragt: was denn eigentlich nach aussen gesetzt werde; und wie ein auf die Seele geschehener Eindruck als etwas Aeusseres empfunden werden kann, wenn das Erregungsmittel neben einer von der Retina gegen das Hirn fortge-pflanzten Wirkling noch eine zweite von der Retina gegen den Weltenraum dringende erzielt (Va len tin Lehrb. II. b. 174). \u2014 Das Wort nach Aussensetzen ist nur ein bildlicher Ausdruck, um die Erscheinung zu bezeichnen, dass die Seele einen im Hirn vorhandenen Zustand seiner Ursache nach auf einen ausserhalb des Auges befindlichen Gegenstand bezieht. Der empirische Beweiss f\u00fcr die F\u00e4lligkeit der Seele eine irgendwie in ihr gebildete Sehvorstellung nach aussen zu setzen, liefert das allbekannte Beispiel der Tr\u00e4ume. Welche Wege nun aber eingeschlagen sind, um ein solches Urthcil m\u00f6glich zu machen, und es so zu befestigen, dass es trotz unseres besseren Wissens nicht umgestossen werden kann und wie das immer scheinbar unvermittelt, als in einfache sinnliche Anschauung auftritt, l\u00e4sst sich noch nicht angeben. \u2014\nDie Richtung, in welcher das nach Aussensetzen vom Auge aus geschehen soll, d. h. die Beziehung, welche zwischen der Lage der erregten Netzhautpartikeln und der scheinbaren Lage der Bilder im Raume bestellt, ist ebenfalls Gegenstand der Controverse gewesen. Nach der Annahme von Joh. M\u00fcller sollen die empfindenden Punkte die Ursache ihrer Erregung nicht in einer mit der Sehachse gekreuzten, sondern in einer mit ihr gleichl\u00e4ufigen Richtung nach aussen projiziren, so dass ein auf die untern Abschnitte der Retina treffender Lichtstrahl der von einem oberhalb der Sehachse liegenden Gegenstand kommt, in seiner Empfindung nicht wieder schr\u00e4g nach oben, sondern gerade aus unten vor dem Auge gesehen wird.\nDem Einwurf, dass eine solche Projektion Verwirrungen im Sehen herbeif\u00fchren m\u00fcsse, weil Alles am verkehrten Orte gesehen werde, begegnet Joh. M\u00fcller mk Recht dadurch, dass er darauf aufmerksam macht, wie der Begriff des Verkehrtsehens nicht entstehen k\u00f6nne, wenn eine Umkehr aller Theile in derselben Ordnung sta\u00fcfinde, in der sie im Raume gelegen seien. Diese Hypothese ist demgem\u00e4ss nicht absurd, sie ist aber nicht in \u00fcefceremstimmung mit den Thatsachen. Denn nach ihr m\u00fcsste die Lichterscheinung, welche wir mittelst eines Fingerdruckes auf das geschlossene Auge erzeugen, nicht in einer diametralen Richtung, sondern in gerader Richtung mit dem Drucke erscheinen; nun geschieht aber gerade das Umgekehrte, welches nichts aifdercs bedeutet, als dass wir alle von der unteren H\u00e4lfte der Retina her entstehenden Empfindungen nach oben u. s. w. setzen.\nDer f\u00fcr die Seele unwiderleglich festgestellte Zusammenhang, welcher zwischen der Oertlichkeit der erregten Netzhauiparthien und der Schlichtungen besteht, weisst auf die Gegenwart eines feststehenden Mechanismus hin, durch den die Seele in ihrem Urtheil bestimmt wird. Man hat sich sehr bem\u00fcht, die besondere Natur desselben zu errathen ; unter den verschiedenen Versuchen hierzu trifft wahrscheinlich nur einer eines der vielen Elemente, die hier m\u00f6glicher Weise in Betracht kommen. Wir meinen den Erkl\u00e4rungsversuch, welcher behaupte*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nEinfluss der Muskelbewegiuig. Sehen mit zwei Augen.\ntet, dass auf die Bestimmung unseres Urtheils \u00fcber die Lage derGegen-st\u00e4nde, die Bewegungen einiger dem Willen unterworfenen Muskeln einen wesentlichen Einfluss \u00fcbten, indem uns durch dieselben in unbewusster Weise Aufschluss \u00fcber die Lage der Retina gegeben w\u00fcrde. Wie genau wir in der That, ohne es zu wissen, durch die Bewegungen des Kopfes und der Augenmuskeln von der Lage unserer Retina unterrichtet sind, erfahren wir zu unserem Erstaunen, wenn wir uns ein l\u00e4ngliches Nachbild, z. B. das einer Kerzenflamme, erzeugen und dann Bewegungen des Kopfes oder der Augen ausf\u00fchren ; in diesem Falle ver\u00e4ndert sich die Lage des Nachbildes entsprechend der Lagenver\u00e4nderung des Auges; Ruete; diese Thatsache bedeutet nichts anderes als, dass wir eine gewisse Zahl von Punkten der Retina, welche wir in aufrechter Kopfstellung in einer senkrechten Linie gelagert glaubten, in horizontaler Kopflage f\u00fcr Theile einer horizontalen Linie ansehen. Daraus erkl\u00e4rt sich auch warum ein vor das Auge gestelltes Objekt seine Lage bei den erw\u00e4hnten Bewegungen nicht \u00e4ndert, trotzdem dass w\u00e4hrend dieser letztem fortw\u00e4hrend andre Retinapunkte das Object aufnehmen, wie man sich \u00fcberzeugt, wenn man sich ein senkrechtes lineares Nachbild erzeugt und dann einen senkrecht vor das Auge gestellten Stab fixirt; bei aufrechter Kopfstellung fallen Gegenstand und Nachbild der Richtung nach zusammen, bei seitlich geneigtem Kopf beh\u00e4lt der Stab seine senkrechte Richtung, w\u00e4hrend sich das Nachbild mehr und mehr horizontal legt, so dass sich nun Stab und Nachbild kreuzen.\nb. Sehen mit zwei Augen*).\n\u00ab) Einfachsehen. Zugeordnete, identische Netzhautstellen. Da nach den bis dahin mitgetheilten Erfahrungen zwei durch einen merklichen Zwischenraum getrennte Stellen einer Retina niemals in der Empfindung zusammenfallen, sondern als r\u00e4umlich gesondert aufgefasst werden, so liegt es nahe anzunehmen, dass sich auch die Netzh\u00e4ute beider Augen zueinander verhalten m\u00f6chten, wie die verschiedenen Netzhautparthien desselben Auges. \u2014 Die n\u00e4chste Folge dieser Annahme w\u00fcrde offenbar darin bestehen, dass wenn ein Gegenstand gleichzeitig in beide Augen seine Strahlen sendete, \u00e9tais ein doppelter empfunden w\u00fcrde ; dieses best\u00e4tigt sich aber keineswegs allgemein, da wir erfahrungsgem\u00e4ss ganz gew\u00f6hnlich einen Gegenstand, der in beide Augen sein Licht schickt einfach sehen. \u2014 Der n\u00e4chste Grund dieser Thatsache kann nur darin liegen, dass hgendw eiche Orte der beiden Augen die Ursache ihrer Erregung in denselben Orten des Raumes suchen, mit andern Worten, dass gewisse Stellen beider Augen dieselbe Ortsempfindung vermitteln. Solche\n\u2022) Joh. M\u00fcller Handbnch der Physiologie. II. Bd. - Wheats ton e, Poggend. Annalen\n1 hrganrnngsband -Br\u00fccke inSI\u00fcllersArchivl841.p.459.-I)ove,Poggend. Annalen\n71. Bd. R\u00e9gnault u. h oucault in Valentins Jahresbericht 1849 p, 177,","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Ztigeordnete NetzR'aulstellen. Horopter.\n245\nStellen zweier Augen, welche die Ursache ihrer Erregung in denselben Orten zu finden glauben, nennt man identische, oder zugeordnete.\nDie Lage der zugeordneten Stellen der beiden Sehh\u00e4ute hat man auf zwei verschiedenen Wegen auszumittein gesucht.\n1) Aufl\u00f6sung der Aufgabe mittelst der Horopterfl\u00e4che. Wenn wir die beiden Augen in einer bestimmten Stellung festhalten und unsere Aufmerksamkeit auf alle die leuchtenden Punkte richten, welche in beiden Augen ein Bild entwerfen, so gewah-\nren wir bald, dass nur ein kleiner Theil dieser im Raume einfachen K\u00f6rper auch wirklich einfach gesehen wird; diejenige Fl\u00e4che, welche nun s\u00e4mmtliche im Raume liegenden Punkte miteinander verbindet, die bei unverr\u00fcckter Augensteilung trotz ihrer Abbildung in beiden Augen einfach gesehen werden, ist die Horopterfl\u00e4che. Da nun offenbar die in der Horopterfl\u00e4che gelegenen leuchtenden Punkte ihr Bild auf identische Netzhautstellen w erfen, so muss sic hdie Lage dieser letztem ermitteln lassen, wenn man irgend eine Horopterfl\u00e4che und die zu dieser geh\u00f6rige Augenstellung kennt. Nachdem die Lage der identischen Netzhautstellen zu dem Horopter festgc-stellt ist, muss dann noch der Ausdruck f\u00fcr dieselben so geformt werden, dass sie auch unabh\u00e4ngig von irgend welchem Horopter angegeben werden kann. Wir werden im folgenden dieses Verfahren erl\u00e4utern, w obei w ir beispielsweise mit J o h. M\u00fcller vor-\nFio*\n63.\naussetzen, es sei der Horopter eine Kugelschale. Gesetzt, es sei in Fig. 63 HO'P ein Durchschnitt des Horopters und es stellen AA\u2018 die Drehungsmittelpunkte, B, B' die zu einem einzigen zusammengelegten Knotenpunkte, B' O, B 0 die Durchschnitte der Knotenebenen, und endlich D' 0', BO' die Sehachsen beider Augen vor. In diesem Falle wird 0' seine Bilder auf D und D' und ein anderer beliebiger Punkt P des Horopters seine Bilder auf 0, und Q* werfen; daraus ergibt sich sogleich, dass diese Punkte beider Retinae einander zugeordnet sind.\nEs handelt sich also nur noch darum, die Angabe \u00fcber die Lage von D,D, Q und Q' so einzurichten, dass es erm\u00f6glicht werde, die Punkte wrieder aufzufinden, auch wenn nur das Auge gegeben ist. \u2014 F\u00fcr D und D' findet sich der Ausdruck sogleich","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nAuffindung der zugeordueten Netzhautstellen.\ndarin, dass diese Stellen am Durchschnittspunkt der Retinae mit den Sehachsen gelegen seien. F\u00fcr Q und Q' behaupten wir aber, dass er nach gleichen Richtungen des Raumes hingez\u00e4hlt sich in gleichem Abstand von D (dem Scheitelpunkt der Retina) linde, oder mit andern Worten, dass die Punkte Q' und Q an den Drehlingsmittelpunkten A, A' mit den Sehachsen gleiche Winkel Q AD und Q\u2018 A'D' einschliessen. Denn es sei O'D' \u2014 QD so sind in den Dreiecken ABO und A'B'Q* ausser den Seiten AB und A'B' (die constanten Entfernungen der Knotenpunkte vom Drehungs-mittelpunkt) AQ und A\u2018 Q' (den Radien des Retinakreises) auch die Winkel B' A\u2018 0' und B A Q gleich (als Nebenwinkel der gleichen Winkel QAD und O' A'D(). Darum ist auch der Winkel ABO \u2014 dem Winkel A'B'Q'. Nennt man nun K'yK die Neigungswinkel der Linien A O' und A'O' gegen die Verbindungslinie der beiden Drehpunkte AA'. und Z, L' die Neigungswinkel \u2018der Linie QP und Q\u2018 P' gegen A A', so ist in dem Dreieck O'A A! der Winkel A O' A' oder B' O' B ~ K7 - K (weil K' der Ausscnwinkcl von K und von A' O' A ist); und in dem Dreiecke PER' der Winkel EPE1 oder B P B' = L \u2014 L. Ferner ist in dem Dreicke \u00c4\u00dfE der Winkel A BE \u2014 K\u2014L und eben so in dem Dreiecke A' B' E' der Winkel A'B'E' = K' \u2014 L'. Nun, ist wie gezeigt, der Winkel A BE = A' B' E', daher K \u2014 L \u2014 K' \u2014 L', mithin K' \u2014 K \u2014 L\u2018 \u2014 L\\ folglich der Winkel BPB' \u2014 BO'B'. Legt man also durch die drei Punkte B, 0',B einen Kreis, so ist auch P ein Punkt desselben. In eben diesem Kreise liegt auch der Punkt 0, (der sich am Durchschnittspunkte der verl\u00e4ngerten Knotenebenen findet), weil OB und OB' mit O'B und O'B' gleiche Winkel bilden. Nun sind aber nach der Voraussetzung diese Winkel rechte *) mithin ist O' 0 ein Diameter lind die Mitte desselben der Mittelpunkt des Horopterkreises. \u2014 Mail sieht also, es w\u00fcrde sich ohne Schwierigkeiten die relative Lage der identischen Punkte angeben lassen, wenn, was abernocli nicht mit entsprechender Sch\u00e4rfe geschehen ist, das Gesetz der Horopterfl\u00e4che ausgemittelt w\u00e4re.\n2) In Ermangelung der Anwendbarkeit dieses genauen Verfahrens bedient man sich eines andern, das ebenfalls von Job. M\u00fcller zuerst in Anwendung gebracht wurde; man dr\u00fcckt auf eine dem Finger zug\u00e4ngliche Stelle des einen Auges, und tastet darauf auf dem zweiten Auge so lange mit dem Finger der andern Hand, bis die beiden Lichtkreise, die durch die.Fingerdr\u00fccke erzeugt wurden, in einen einzigen zusammenfallen. Diese beiden Orte sind nat\u00fcrlich zugeordnete; begreiflich ist diese Methode nur auf einen geringen Theil der ganzen Retinaausbreitung anwendbar und immer sehr ungenau.\nMit Sicherheit kann man behaupten, es seien einander zugeordnet: die Pole beider Netzh\u00e4ute, d. h. das Retinaende der Sehachse ; die der Lage nach einander entsprechenden Abtheilungen der Sehh\u00e4ute, so dass, wenn wir uns wie in Fig. 64 die beiden Seh-\nh\u00e4ute in ihrer nat\u00fcrlichen\nFig. 64.\n\ts\\\n( ^\t\nf \\\t4P\tr\t/\n\\ ^\tDy\nrelativen Lage zu einander auf eine Ebene projizirt und die hierdurch dargestellten Kreise in Quadranten getheilt denken, der innere obere Quadrant ^des einen Au-ges dem \u00e4usseren oberen\n^/' doS andern Au<*\u2018f\\s identisch sein rrmss und so fort, vvie es dir\n.\t\u201c\t-\t-\ty\nsprechenden P>uehstai\u00bb*Mi i|#*r t ignr :ing*d*en.\nr nt\n* ) !*;i if io S* ** h\t.'\u00aboil reriif ,in| \u00ab[\u00ab\u00bb\u00ab\u2022 K noleueheae\n\u00ab","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Organische Bedingungen der zugeordneten Netzhautpimkte\u00ab \u25a0\n247\nDieser letzten Angabe f\u00fcgt man noch die genauere Bestimmung bei, dass die symmetrisch um die Xetzhautpole gelegenen-Theile identisch seien, so dass an der horizontalen Durchschnittsebene derselben die zugeordneten Punkte in dem einen Auge um so viel Grade nach . aussen gelegen seien, als sie am andern nach innen* sich vorfinden, w\u00e4hrend in dem senkrechten Durchschnitt die identischen Punkte beider Augen um gleichviel Grade nach oben oder unten abweichen. Diese Angabe bedarf aber noch der genaueren Best\u00e4tigung; sie l\u00e4uft darauf hinaus, dass der Horopter ein Kugelmantel ist.\nMan ist nun aber nicht stehen geblieben bei diesen Thatsachen, sondern hat auch noch weiter zu ermitteln gesucht, durch welche Einrichtungen die Anwesenheit der identischen Netzhaut Punkte bedingt sein m\u00f6chte. Die zahlreichen Erkl\u00e4rungsversuche, die man bis dahin aufstellte, lassen sich unter zwei obersten Gesichtspunkten zusammenfassen. Die eine Reihe von Hypothesen setzt n\u00e4mlich voraus, dass zwischen Retina und Emp\u00dfndungsorgauen des Hirns am Sehnerven anatomische Einrichtungen \u2014 z. R. in dem Chiasma nervor. optic. \u2014 vorhanden seien, verm\u00f6ge welcher zwei von der Nervenausbreitung herdringende r\u00e4umlich gesonderte Erregungen zu einer mittleren verschmolzen w\u00fcrden, die dann erst zur Empfindung kommen. Die andere Hypothesengruppe verwirft die Gegenwart einer solchen Hilfsvorrichtung und behauptet, dass die r\u00e4umlich gesonderte Erre-\ngung auch gesondert bis zum Empfind un gs organ vordringe um dort\nO\n\u00f6\nva\nerst verschmolzen zu werden. Die Thatsachen erscheinen vorerst noch zu verwickelt, um schon jezt f\u00fcr die eine oder andere Vorstellung benuzt werden zu k\u00f6nnen.\n. Die Beobachtungen,' welche f\u00fcr die erstere der beiden Annahmen sprechen, bestehen darin, dass zwei Farben sich zur Mischfarbe vereinigen, wenn sie gesondert die identischen Netzhautstellen der beiden Augen treffen; Dove, R\u00e9gnault. Dieser Versuch gelingt jedoch nicht immer; Dove gibt als eine der Bedingungen des Gelingens an, dass man prismatische Farben und keine Pigmente benutzen m\u00fcsse. F\u00fcr mein Auge gelingt es auch mit Pigmenten, indem mir die Empfindung des weissen entsteht, wenn ich mit dem einen Auge gelb und mit dem andern blau sehe. \u2014 F\u00fcr die andere Meinung kann man dagegen anf\u00fchren, dass wenn wir gleichze\u00fcg vor jedes Auge eine R\u00f6hre halten, und durch diese beliebige aber verschieden gestaltete Gegenst\u00e4nde sehen, die beiden Bilder derselben als sich deckende in demselben Raume befindliche empfunden werden, so dass die identischen Nelzhautsteilen nur die Empfindung des gemeinsamen Ortes aber nicht des gemeinsamen Inhaltes (des mittlern Eindrucks aus den beiden gesonderten) angeben. \u2014 Aehnlich verhalten sich auch die Augen vielen Farben gegen\u00fcber. So sieht man z. B., wenn man denselben Gegenstand mit zwei Augen betrachtet, w\u00e4hrend man vor dieselbe* .verschiedenfarbigen Gl\u00e4ser setzt, diesen Gegenstand nicht in der Mischfarbe beider Gl\u00e4ser, sondern entweder nur in der des einen Glases, oder wechselnd bald in dieser bald in jener (Wettstreit der Sehfelder).\n?) Do pp nk schon. Ans <!<*v T,<Tiro von\" dm zuo-oncejnefon Boh-\n( m 111 t * * 11\tstVh. mm .mit N\u00ab\u00bbih w**n\u00ablii>*U\u00ab*if. dass \u00ab\u00bbin un\u00ab! <i**.rs\u00ab*1h\u00ab\u2018\nt \u00bb\u00ab\u00bboiMisiatni, w\u00ab\u00bbj\u00ab*h\u00abw s\u00ab*in P*il<! anf nicht i\u00abl\u00ab*n! i<\u00ab*ln* St\u00ab*ll\u00bb\u00bbn d*\\s .\\ng\u00ab*s","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"I\n248\nDoppeltsehen mit zwei Augen.\nI\nwirft, doppelt erscheinen muss; oder anders ausgedr\u00fcckt, alle ausserhalb des Horopter liegenden Gegenst\u00e4nde werden als doppelte empfunden, wenn sie auch nur einmal im Raume vorhanden sind. Dieses tritt nun in der That ein. Um das Doppeltsehen einfacher Gegenst\u00e4nde zu gewahren, stecke man sich auf ein St\u00e4bchen in gerader Linie drei Nadeln in gegenseitigen Abst\u00e4nden von ungef\u00e4hr einem Zoll und halte dasselbe innerhalb der Sehweite in die Mitte zwischen beide Augen horizontal und unter einem rechten Winkel gegen die Verbindungslinie beider Augenmittelpunkte. Stellt man nun die beiden Augenachsen so,v dass sie sich auf der mittleren von den drei Nadeln gerade schneiden, und h\u00e4lt die Augen in dieser Stellung unverr\u00fccklich fest, w\u00e4hrend man seine Aufmerksamkeit auch auf die Bilder der andern Nadeln richtet, so werden diese augenblicklich in Doppelbildern empfunden.\nDie drei Nadeln geben also f\u00fcnf Bilder, welche sich wie die hier gezeichneten Punkte *. \u2018 gruppiren. Das mittlere dieser Bilder, welches von der Nadel erzeugt wird, die im Schnittpunkt beider Sehachsen liegt, geh\u00f6rt beiden Augen an. Von den Doppelbildern der n\u00e4hern Nadel ist das rechte dem linken und das linke dem rechten Auge zugeh\u00f6rig, und umgekehrt von den Doppelbildern der entferntesten Nadel geh\u00f6rt das rechte zum rechten und das linke zum linken Auge. \u2014 Hiervon \u00fcberzeugt man sich, wenn man bei unverr\u00fcckten Augen eines derselben schliesst; es verschwinden dann sogleich zwei Bilder, und zwar in der Art, dass wenn man z. B. das rechte Auge deckt, unter den Doppelbildern der n\u00e4chsten Nadel das entgegengesetzt seitige, das linke, und unter denen der ferneren das gleichseitige, das rechte, ausf\u00e4llt.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Lage und Zahl der Doppelbilder.\n249\nEine Erl\u00e4uterung dieser merkw\u00fcrdigen Erscheinung ist von J. M\u00fcller gegeben worden. Es seien in Eig. 65 A,B, C die drei Nadeln, und es sollen die Augen' / II so gestellt sein, dass sich ihre Sehachsen IB und IIB in B schneiden. B wird demnach sein Bild auf / und II oder auf identischen Stellen entwerfen d. h. einfach erscheinen. Unter dieser Voraussetzung bildet sich C in dem Auge I bei D und in dem Auge II bei \u00cb ab und ebenso A bei F und G. Demnach treffen diese Bil-der in den verschiedenen Augen auf nicht identischen Netzhautstellen und erscheinen doppelt. Nun sehen wir nach einem schon besprochenen Gesetz jeglichen leuchtenden Punkt auf der Verl\u00e4ngerung seines Richtungsstrahles, es wird demnach das Bild von D in der Richtung von D T', und das Bild E in der Richtung ET1 und ebenso F in der Richtung FH' und G in der Richtung GH\" nach aussen gesetzt. Wie wir aber sp\u00e4ter erfahren werden, bestimmen wir die Entfernung eines jeden Bildes nach dem Abstand des Durchschnittspunktes beider Sehachsen vom mechanischen Mittelpunkt des Auges; wir werden also alle 5 Bilder in der Entfernung B zu sehen glauben. Nach diesen Angaben k\u00f6nnen wir nun den scheinbaren Ort der Doppelbilder leicht construiren, wenn wir mit dem Radius AR von den mechanischen Mittelpunkten der Augen aus Kreise ziehen; die Durchschnittspunkte H\\H\"y F',F\" derselben mit den Richtungsstrahlen oder deren Verl\u00e4ngerungen werden die scheinbaren Orte der Bilder F, G, D, E sein.\nAus dieser Erl\u00e4uterung folgt noch, dass mit der Verkleinerung des Zwischenraumes zwischen den Nadeln der Abstand zweier zu einem Gegenstand geh\u00f6renden Bilder abnimmt. Ausserdem l\u00e4sst sich mit Hilfe dieses einfachen Versuchs auch noch darlhun, dass in der That der Horopter keine endliche Dicke besitzt, indem alle jenseits und diesseits des Fixationspunktes gelegenen Theile sogleich doppelt erscheinen. Dem Anf\u00e4nger ist bei Wiederholung des im Text erw\u00e4hnten Versuchs zu rathen, dass er ihn mit der Anwendung von nur zwei Nadeln beginne, und wechselnd bald die n\u00e4here und bald die fernere visire.\nDa der Horopter wahrscheinlich eine Kugelschaale, jedenfalls ein Gebilde von verschwindender Dicke, darstellt, und da laisser den im Horopter liegenden leuchtenden Punkte auch viele der jenseits und diesseits desselben befindlichen ein Bild im \u00c4uge entwerfen, so muss die Summe der zu Doppelempfindung Veranlassung gebenden Bildern ausserordentlich viel gr\u00f6sser sein als die der einfach zu empfindenden. Da wir nun aber nachweislich diese Doppelbilder nur sehr selten, und f\u00fcr das normale Auge nur unter ganz bestimmten schwierig zu erzeugenden Umst\u00e4nden sehen, so m\u00fcssen irgend welche Gr\u00fcnde vorliegen, die es bedingen, dass wir die Doppelbilder ausser Acht lassen. Diese Gr\u00fcnde liegen nun wahrscheinlich darin, dass im Sehfeld der normalen Augen zu allen Zeiten Bilder vorhanden sind, welche zu einer einfachen Empfindung zusammengelegt werden k\u00f6nnen und dass die einfach empfundenen Bilder der Seele einen intensiveren Eindruck geben als alle \u00fcbrigen, die darum unsere Aufmerksamkeit (welche sich gleichzeitig nur auf beschr\u00e4nkte Stellen der Retinae richten kann) vor allen andern in Anspruch nehmen. \u2014 Die erste der angegebenen Bedingungen, dass in beide Augen immer Bilder fallen, welche einfach empfunden werden k\u00f6nnen, wird durch die schon fr\u00fcher erw\u00e4hnte bestimmte Verkettung der Augenmuskeln erzielt, in Folge deren die Augen stets eine solche Stellung erhalten, dass sich die Sehachsen in einem vor den Augen gelegenen Punkt","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nVernachl\u00e4ssigung der Doppelbilder.\nschneiden und die identischen Netzhautmeridiane einander parallel laufen. Unter dieser Voraussetzung m\u00fcssen selbstverst\u00e4ndlich die im Durchschnittspunkt beider Sehachsen liegenden Gegenst\u00e4nde ihre Bilder auf identische Netzhautstellen senden. Diese hier entworfenen Bilder wirken aber intensiver als alle \u00fcbrigen, weil sie erstens auf die empfindlichste Netzhautstelle treffen und dann, weil auf diesem Wege die Seele denselben Eindruck doppelt empf\u00e4ngt und weil endlich, nach einem hemerkenswerthen Zusammenhang der zwischen dem Accommodatio\u00fcsapparat und den Augenmuskeln bestellt, der optische Apparat des Auges unwillk\u00fcrlich gerade f\u00fcr die Entfernung eingestellt ist, in welcher sich die Sehachsen schneiden.\nDie Beziehung, weiche zwischen der zur Convcrgenz der Sehachsen f\u00fchrenden Augenbevegung und dem Accommodalionsapparate besteht, scheint eine durch die Erziehung der Angen erworbene zu sein Wie Volk m a nn *) erwiesen, kommen wenigstens die F\u00e4lle zahlreich vor, wo der optische Apparat des Auges nicht f\u00fcr die Entfernung des Convergenzpunktes beider Sehachsen eingestellt ist.\nc. Gr\u00f6sse eines gesehenen Gegenstandes. Die Gr\u00f6sse eines Gegenstandes, d. h. seine scheinbare Ausdehnung nach H\u00f6he und Breite, sch\u00e4tzen wir nachweislich unter Beihilfe mehrerer Elemente, und namentlich : nach der Ausdehnung, welche das Bild des Gegenstandes auf der Retina eiimimmt ; und nach dem Grade von Zusammenziehung, in welcher sich die Muskeln des dioptrischen Einrichtungsapparates und die mm. recti intend bulbi zu der Zeit befinden, als der Lichteindruck des Bildes empfunden wurde.\nAlles andere gleichgesetzt w\u00e4chst, wie es scheint, unsre Vorstellung von der Gr\u00f6sse eines Gegenstandes mit der Ausdehnung seines Bildes auf der Retina oder seinem Sehwinkel.\nDer Winkel A KB oder DK\u2018 C, Fig. 66, welchen die vordem (AK, B K) oder hintern (D K C K) Rich-tungsstrahien der Grenz-punkte A und B eines Gegenstandes A B an den Knotenpunkten einsehlies-sen, heisst der Sehwinkel.\n7\t\u2019\n1Q Dieser Sehwinkel gibt, wie man sieht, ein genaues Maass f\u00fcr die Gr\u00f6sse des auf der Retina entworfenen Bildes, weil die Entfernung der Knotenpunkte\nvon der ersteren eine constante bleibt. \u2014 Die obigen Angaben, dass ein Gegenstand in unserm Urtheil wie der Sehwinkel wachse, bedarf keiner Erl\u00e4uterung, da es jedem bekannt ist, dass wenn er zwei Gegenst\u00e4nde, wie und ab in der Fig. 66, im Raume nufrjtif<ndel'lr . der Elf-in]. u. w\u2018. mal 50 -ro.\"*:. n's drr\t;t \u2022' i s<' li'unrn\nwird, v'cnn s<\u2022 in >\u2022*(\u00bb w.iuU KJ h' 1 . tt. s. \\\\ . m;i| <<\u00bb\u25a0 \u00ab*\u2022\u00bb\u2022\u00bb \u00bbs< i>i.\nFiff. 66.\n*\t\\l- ;i i\u00bb\u2019 h ?\u2019\u2022 r y H u ii<t \\t i\\ rf #\u2022 **!\u00bb*< \u00ab\u2022 h IM. K\u00abi. R*\u00bb","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Urtheil \u00fcber die Gr\u00f6sse aus dem Se\u00efiwinkel und der Accomodation. 251\nDer physiologische Grund dieses Uriheils kann nur darin liegen, dass die durch die Retina gehenden Eindr\u00fccke von der Seele als eine Summe von Empfindungseinheiten aufgefasst werden, so dass die Seele die Ausbreitung des Bildes direkt durch die Grosse dieser Summe misst. Wir wissen nicht wie diese Maasseinheit hergestellt werde, nehmen wir aber z. B. an, es sei die Maasseinheit die Empfindling, welche eine Primitivr\u00f6hre in das Hirn sendet, so w\u00fcrde die Vorstellung\u201c von der Gr\u00f6sse eines Bildes wachsen mit der Summe der Primi-\no\ntivr\u00f6hren, welche von demselben erregt wurden.\nAlles andere gleichgesetzt und namentlich den Sehwinkel und die Convergenz unserer Augenachsen verkleinert sich in unserem Urtheil ein Bild mit wachsender Einrichtung unseres Auges f\u00fcr die N\u00e4he. Den scharfen Berveiss f\u00fcr diese Behauptung liefert ein schon seit lange bekannter Versuch : man erzeuge sich das Nachbild einer Kerzenflamme und betrachte dieses mit einem Auge, bald w\u00e4hrend man das Auge zum Sehen in die Ferne einrichtet (d. h. w\u00e4hrend man z. B. auf die entfernte Wand des Zimmers sieht) und bald w\u00e4hrend man f\u00fcr die N\u00e4he accommodirt hat. Dieses Bild wird, rrenn man vom fernen zum nahen Sehen \u00fcbergeht, trotzdem dass es immer denselben Raum auf der Retina einnimmt, um ein sehr betr\u00e4chtliches an Gr\u00f6sse abzunehmen scheinen.\nDie bis dahin envahnten Elemente machen sich geltend, beim Sehen mit einem und mit ZAvei Augen; \u2014 hierzu kommt nun aber noch ein weiteres, welches vorzugsweise beim Binocularsehen sich einflussreich erweist. Unser Urtheil \u00fcber die Gr\u00f6sse eines Gegenstandes, der mit ZAArei Augen betrachtet wird, h\u00e4ngt auch ab von dem Convergenzwinkel der Sehachse beider Augen; und ZAArar gilt nach H. Meyer*) der Grundsatz, dass alles andere gleichgesetzt, die Gr\u00f6sse des Bildes in dem Maasse abnimmt, in weichem der Conver-genzwinkel der Sehachsen Av\u00e4chst.\nFig. 6T.\nr.\nDen Beweis f\u00fcr* dieses Gesetz liefert Meyer mittelst desSpiegelstereosko-pes von AV h e a t s t o n e. U Dieses Instrument, Fig. 67, Il b esteht a heraus zwei unter einem rechten Winkel auf-gestellten Spiegeln S S', welche auf eine Holzplatte HH so befestigt sind, dass sie ihre Winkel und ihre spiegelnden Fl\u00e4chen von der Platte abwenden. Platte und Spiegel sind in !*\u00f6lzi*r*K*n , vor\u00bb\u00bb ttf R (Vhuh K ;\u2666 s\u00bb ru *\u25a0 mir** fY\u00bb *r\\\\\nl olp-r itir* S(*)i;i r /iih u <I\u00bbt\tm\n\nM\nit \u00abi. \\ \u00fc il S5. Ki|. }!*\"","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"25'2\n\u00fcrtheil \u00fcber Gr\u00f6sse aus der Convergenz der Sehachsen.\ndessen Seitenbretter HL, HR um den Abstand deutlicher Sehweite von den Spiegeln entfernt stehen. F\u00fcgt man auf das Brett HR die perspektivische Ansicht eines Gegenstandes, wie sie sich f\u00fcr das rechte Auge darstellt, und auf das Brett HL eine gleiche f\u00fcr das linke Auge, und h\u00e4lt darauf die Augen A,A in gezeichneter Weise vor die Spiegel, so vereinigen sich beide Bilder zu einem einzigen von stark perspektivischer Wirkung, in dem Augenblick in welchem sich die identischen Netzhautstellen auf die zusammengeh\u00f6rigen Punkte der Figuren einstellen. \u2014 Gesetzt nun, wir h\u00e4tten an die Seitenbretter die Zeichnungen II angeheftet, so werden seine Spiegelbilder in 1' V erscheinen, denn die von ihnen ausgehenden Strahlenb\u00fcschel werden divergiren, als k\u00e4men sie von dem Punkte I\" I\" (die punktirten Linien geben die bekannte katop-trische Construktion \u00fcber die Lage von 7'und I\"). Um den innern Punkt von I einfach zu sehen, m\u00fcssen wir die Sehachse in die Richtungen AI\" stellen. Verr\u00fccken wir nun dieselben Zeichnungen nach IIII, so werden die Spiegelbilder in 11' II' und die ihnen scheinbar entsprechenden objektiven in II\" II\" auftreten. Um nun jeden der inueren Punkte des Gegenstandes einfach zu sehen, m\u00fcssen sich die Augenachsen nach A11\" stellen, also unter einem betr\u00e4chtlich gr\u00f6sseren Winkel als vorher convergiren. Indem man diese Verschiebung ausf\u00fchrt, entfernt sich das Bild, wie die Zeichnung angibt, um ein Geringes und es m\u00fcsste darum der fr\u00fcheren Regel nach wegen des Einflusses des Accommodationsapparates das Bild sich scheinbar vergr\u00f6ssern. In Wahrheit aber scheint es sich ganz ausserordentlich zu verkleinern. Da alle \u00fcbrigen Umst\u00e4nde unver\u00e4ndert geblieben sind und nur die Convergenz der Sehachse wechselte, so k\u00f6nnen wir als Grund der ver\u00e4nderten Anschauung nur die gesteigerte Convergenz der Sehachsen ansehen.\nAusser den bisher mitgetheilten Thatsachen gibt es noch tausendf\u00e4ltige, welche den Einfluss der drei Elemente auf unser Gr\u00f6ssenurtheil beweisen, die aber erst verstanden werden, wenn man sie nach obiger Anleitung zergliedern lernte. \u2014 Dahin geh\u00f6rt gleich die Erfahrung, dass die unter gleichen Sehwinkeln befindlichen Gegen-\n68a.\nst\u00e4nde A,B, C,D, Fig. 68a, bis zu gewissen Grenzen mit der Entfernung vom Auge sich fortw\u00e4hrend vergr\u00f6ssern, was unm\u00f6glich w\u00e4re, wenn unsere Gr\u00f6ssensch\u00e4tzung nur vom Sehwinkel abh\u00e4ngig w\u00e4re. Da die Zunahme der Vergr\u00f6sserung auch noch \u00fcber die Grenzen der Sehweite geschieht, so muss offenbarneben dem Einrichtungsapparat noch ein anderes Element wirken. \u2014 Vergleicht man ferner die Gr\u00f6sse zweier in betr\u00e4chtlichen Entfernungen voneinander gehaltenen Gegenst\u00e4nde, z.B. die Fenster eines gegen\u00fcberstehenden Hauses und ein in der Hand gehaltenes Bleistift, eine Messerklinge etc., so wird der n\u00e4here Gegenstand scheinbar gr\u00f6sser, wenn man auf das Fenster ac-commodirt und umgekehrt das Fenster auffallend kleiner, wenn man auf das Bleistift accommodirt. Diese Thatsache kann nicht, wie Heermann will, aus der verschiedenen Gr\u00f6sse der Bilder auf der Retina bei Einstellung auf N\u00e4he oder Ferne abgelei-","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Urtheil \u00fcber Entfernung*\n253\ntet werden, da im ersten Fall allerdings das scheinbare Gr\u00f6sserwerden des n\u00e4hern Gegenstandes mit seinem Erscheinen im Zerstreuungsbilde auf der Retina, also mit einer wirklichen Yergr\u00f6sserung zusammenf\u00e4llt, im zweiten Falle dagegen die scheinbare Verkleinerung des ferneren Gegenstandes ebenfalls mit einer wirklichen Yergr\u00f6sserung des Retinabildes zusammentrifft. Eine Erl\u00e4uterung dar\u00fcber zu geben, wie diese drei Elemente Zusammenwirken, und vermittelst welchem Mechanismus sie auf die Seele wirken, ist unm\u00f6glich. Aufmerksamkeit verdient aber der Umstand, dass die durch diese Elemente gegebene Grundlage der Vorstellung durch keine Erinnerung oder anderweitige bessere Ueberzeugung verdr\u00e4ngt oder bew\u00e4ltigt werden kann ; obwohl der Physiologe weiss, dass ein auf der Retina vorhandenes Nachbild durch eine Acommodation der optischen Apparate auf verschiedenen Fernen in seiner Gr\u00f6sse nicht ver\u00e4ndert werden kann, so sieht er es sich doch mit den Accommo-dationsbewegungen ver\u00e4ndern.\nIm Text sind nur die einfachsten Arten der Gr\u00f6ssenbestimmung erw\u00e4hnt; es gibt aber in der That auch andere, complizirtere^welche zu einer gr\u00fcndlichen Zergliederung noch nicht reif sind. Dahin geh\u00f6rt die Vorstellung, welche wir von der Gr\u00f6sse eines Gegenstandes erhalten, indem wir das Auge \u00fcber denselben hinf\u00fchren. Ob wir in diesem Falle die Zahl der differenten Eindr\u00fccke summiren, oder ob wir nach der Muskelbewegung die Gr\u00f6sse des Winkels, den wir am Drehpunkt des Auges beschreiben, sch\u00e4tzen und dergl., ist vollkommen unklar; darum l\u00e4sst sich auch die von Listing angeregte Controverse, ob derselbe Gegenstand bei direktem Sehen (d. h. bei Ueberf\u00fchrung der Sehachse \u00fcber denselben) klei-\nner erscheine, als bei indirektem, theoretischer Seits nicht erledigen, wenn auch erwiesen ist, dass derselbe Gegenstand im indirekten Sehen einen gr\u00f6sseren Sehvinkel besass, als im direkten. Ferner geh\u00f6rt hierher auch die verschiedene Gr\u00f6s-s en Vorstellung, welche wir erhalten, wenn wir einen Gegenstand wechselnd bald mit einem und dann mit zwei Augen fixiren. Endlich siehe weiteres bei Do ve *).\nd. Ausbreitung eines Bildes in die Tiefe, Anschauung des K\u00f6rperlichen und der Entfernung. Zur Vollendung unserer Vorstellungen \u00fcber das Sehen der Gegenst\u00e4nde im Raume, geh\u00f6rt noch die Bildung eines Crtheils \u00fcber ihre Ausbreitung in der sogenannten dritten Dimension. Dieses Urtheil wird nachweislich bestimmt durch den Zustand des Accommodationsapparats, Moser, die Conver-genz der Sehachsen, Br\u00fccke, und wo diese Mittel nicht mehr ausreichen, durch die relative Lichtst\u00e4rke und vielleicht durch die verschiedene Gr\u00f6sse der Zerstreuungskreise, unter welchen die Gegenst\u00e4nde erscheinen.\nDa der Accommodationsapparat die Gegenst\u00e4nde verschiedener Entfernungen in zeitlicher Reihenfolge zu deutlichen Bildern umsetzt, und damit die Leuchtpunkte an das Auge zieht, oder sie von ihm losl\u00f6st, so wird sein Werth f\u00fcr das Sch\u00e4tzen der Entfernung von vorne herein wahrscheinlich. Thats\u00e4chlich wird nun auch diese Vermuthung erwiesen: dadurch dass die gesehenen Gegenst\u00e4nde um so n\u00e4her erscheinen, je divergirender die von ihren leuchtenden Punkten ausgehenden Strahlen in das Auge fallen. Wenn darum ein. Gegenstand\n*) Poggendorf Annalen. 81 Bd, 118,","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nEinfluss der Accomodation und der Convergenz der Sehachsen\nauch seine Lage unver\u00e4nderlich im Raume bewahrt, so wird er dennoch dem Auge sich bald zu n\u00e4hern und sich bald von ihm zu entfernen scheinen, wenn zwischen ihn und das Auge optische Mittel eingeschoben werden, durch welche der Convergenzwinkel seiner Strahlen nach der einen oder andern Seite hin eine Aenderung; erf\u00e4hrt. Mit R\u00fccksicht auf die Einrichtungswerkzeuge ausgedr\u00fcckt bedeutet dieses: die auf unserer Sehhaut abgebildeten Gegenst\u00e4nde erscheinen uns um so n\u00e4her, je gr\u00f6ssere Anstrengungen die Muskeln des Einrichtungsapparates unternehmen mussten, um das Bild deutlich zu entwerfen.\nAls eines der bekanntesten Beispiele f\u00fcr diese Angaben kann es dienen, dass ein K\u00f6rper, welcher auf dem Boden eines leeren Glases liegt, gehoben erscheint, nachdem man das Glas mit Wasser f\u00fcllte. Als sich nur Luft \u00fcber dem leuchtenden\nFio- 68b\tPunkte A, Fig. 68h, der auf dem\n\u00e7j\t\u00a3\tB\tDD' \u00ae0(*en ^es Gef\u00e4sses \u00a3\u00a3 gelegen\nist, vorfand, schickte er z. B. drei beliebige Strahlen A C, AB, AD unter dem Winkel CAD aus, welche wie wir voraussetzen, von einem in B belindlicheu\neinem\nAuge wiederum auf einen Punkt der Retina zusammen gebrochen werde\u00bb. Als nun eine Fl\u00fcssigkeit aufgegossen wurde, weiche einen h\u00f6heren Drechungscoef-fizienten als die Luft besitzt, wurde aus bekannten Gr\u00fcnden an den Grenzfl\u00e4chen der Luft und der Fl\u00fcssigkeit, die Strahlen CFnndDFilach O und D\u2018 (welche fr\u00fcher auf C und I) eintrafen) abgelenkt. Die von demselben Orte austretendeii Strahlen divergiren also st\u00e4rker, als fr\u00fcher.\nBeim Sehen mit zwei Augen unterst\u00fctzt der Convergenzwinkel der Sehachsen, oder besser ausgedr\u00fcckt die ihn bestimmende Muskelzusammenziehung, noch die Bildung eines Urtheils \u00fcber die Entfernung der Gegenst\u00e4nde. Je mehr sich die Gegenst\u00e4nde dem Parallelis-mus n\u00e4hern m\u00fcssen, um auf einen zu sehenden Punkt einzuschneiden.\nJ\num so entfernter erscheint uns derselbe. Dieses wichtige Faktum ist in seiner einfachsten Gestalt von H. Meyer-*) daroesfellt\nMeyer lehrte einen Versuch, in welchem es gelingt, ein und denselben Gegen-stand dutch wechselnde Convergenz der Sehachsen in verschiedene Entfernungen zu sehen. Man fixirt, um dieses zu bewerkstelligen, einen Gegenstand seliarf und anhaltend, den man \u00fcber einen Rohrsessel, oder eine fein gemusterte Tapete, oder \u00fcbeihaupt \u00fcbet ein Gebilde h\u00e4lt, in welchen dieselben Formen in regelm\u00e4ssiger Wiederkehr vorhanden sind. Beachtet man nun auch die Figuren dieses Gebildes, w\u00e4hrend man den Fixationspunkt unverr\u00fccklich erh\u00e4lt, so r\u00fccken dieselben sehr bald in die Ebene des scharf gesehenen Gegenstandes. Der Versuch gelingt am besten, wenn man die fixirteu Punkte in nicht zu grosse Entfernung von dem Rohrsessel legt. Die Figur 69 erl\u00e4utert, warum diese Erscheinung am leichtesten erzeugt\n) Archiv f\u00fcr pbyaiolog. Heilkunde. I. Bd. \u2014 B re vrste r, Philosoph Magaz. XXX. 366.","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"255\nAndere Hilfsmittel zur Sch\u00e4tzung der Entfernung.\nwerden kann, wenn man den tixirten Gegenstand auf einen andern von regelm\u00e4ssig wiederkehrendem Muster h\u00e4lt; denn nur dann ist es m\u00f6glich, dass sich auch\nFig. 69\u00bb A\nohne Kreuzung der Sehachsen in der Ebene des Musters auf identischen Netzhau ts tel len entsprechende Abschnitte desselben - abbilden, die zu einem Bilde zusammengelegt werden k\u00f6nnen. So sollen in der Figur die kleinen Kreise das regelm\u00e4ssig wiederkehrende Muster darsteilen. Wird nun ein Punkta/jenseits, oder ein Punkt B diesseits desselben fixirt, so fallen auch immer ungef\u00e4hr zusammenpassende Abschnitte der Kreise, die In der\nVorstellung leicht zu einem zusammengelegt werden k\u00f6nnen auf identische Netzhaut-steilen. Beim Fixiren des Punktes A r\u00fcckt also das Muster nach A und wird, wie aus fr\u00fcheren Darstellungen folgt, gr\u00f6sser; bei scharfem Betrachten von B stellt sich das Muster, indem es zugleich kleiner wird, n\u00e4her.*\u2014 1st man einmal in diesem Versuch ge\u00fcbt, so sieht man auch bald, beim Federschneiden u. s. w die entferntere Tischplatte, die Schrift eines Buches u. dergl vor das Auge r\u00fccken und mit der Feder sich kreuzen.\nJenseits der deutlichen Sehweite und in Abst\u00e4nden, in welchen die Gegenst\u00e4nde mit fast parallelen Sehachsen aufgefasst werden, gewinnt die relative Lichtst\u00e4rke ebenfalls einen Einfluss auf Sch\u00e4tzung der Entfernungen; unzweifelhaft erscheinen uns ferne Gegenst\u00e4nde, z. B. die den Horizont begrenzenden Bergmassen, je nach dem Grad der Erleuchtung und der durch dieselbe bewirkten Sonderung ihrer einzelnen Gruppen, n\u00e4her oder ferner; keinenfalls aber gewinnt innerhalb der deutlichen Sehweite die Lichtst\u00e4rke einen Einfluss ; noch niemals wird es-gelungen sein, einen Schatten, den man auf einen sonst erleuchteten ebenen Gegenstand wirft, als eine Vertiefung zu sehen. Die Sch\u00e4tzung des Abstandes sehr entfernter Gegenst\u00e4nde ist \u00fcbrigens ungenau genug; so glaubt man den Mond unmittelbar auf dem Gipfel entfernter Berge stehen zu sehen oder h\u00e4lt selbst hohle Fl\u00e4chen z. B. in'geschnittenen Steinen oder Gypsabg\u00fcssen f\u00fcr erhaben und umgekehrt ; Moser, Brewster.\nZu den oben erw\u00e4hnten Beispielen \u00fcber die Wirkung des Accommodalionsappa-rales als formbestimmendes Mittel f\u00fcgen wir noch die Erscheinung des Najie-tretens der Gegenst\u00e4nde, die man durch ein Teleskop betrachtet; die scheinbare","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"255\nStereoscop und seine Anwendung,\nEntfernung oder N\u00e4herung eines auf der Retina vorhandenen Nachbildes, je nachdem man das Auge f\u00fcr die Ferne oder die N\u00e4he accommodirt u. s. w.\nBeim Sehen mit zwei Augen scheint der Accommodationsapparat eines jeden Auges in der Weise in die Bestimmung der Ferne mit einzugehen, dass die mittlere Wirkung beider das Maass abgibt. Hierf\u00fcr scheint die Erfahrung zu sprechen, die man aus der Beobachtung eines linienf\u00f6rmigen K\u00f6rpers gewinnt, den man seitlich von der Angesichtsfl\u00e4che h\u00e4lt, so dass er dem einen Auge um ein betr\u00e4chtliches n\u00e4her steht, als dem andern. Dieser r\u00fcckt aus seinem scheinbaren mittleren Abstand in die.Ferne, wenn man das n\u00e4here Auge schliesst und umgekehrt aus dem scheinbaren mittlern Abstand in die N\u00e4he, wenn das fernere Auge geschlossen wird, nachdem man vorher mit beiden Augen hinsah. Dieses Ph\u00e4nomen wird namentlich deutlich, wenn man rasch mit dem Schliessen der Angen wechselt, wobei der k\u00f6rperliche Streifen in deutliche Bewegung ger\u00e4tk.\nDie Wirkung der Sehachsen Convergenz f\u00fcr die Bestimmung der Entfernung wird vollkommen klar, wenn man zergliedert, wie sich beim Sehen mit zwei Augen die Anschauung des K\u00f6rperlichen entwickelt. Nach Br\u00fccke*), dem alle Sp\u00e4teren gefolgt sind, bildet sich die Anschauung eines jedweden K\u00f6rpers nicht durch einen einzigen Blick, sondern aus einer Reihe rasch aufeinander folgender, deren zeitlich getrennte Wirkungen die Seele auf einen einzigen Zeitmoment bezieht. Diese Behauptung ist zun\u00e4chst nur eine folgerechte Ableitung aus der bekannten Thatsache dass wir mit beiden Augen \u00fcberhaupt nur eine unendlich d\u00fcnne Schicht des Raumes sehen, diejenige n\u00e4nlich auf welche der Schnittpunkt beider Sehachsen eingestellt ist. Der empirische Bt Weiss f\u00fcr dieselbe ist aber leicht zu liefern, wenn man sich die F\u00e4higkeit erworben hat, den stetigen in der Zeit erfolgenden Schwankungen des Convergenzwinkels derv Sehachsen einen Zaum anzulegen und zugleich einen K\u00f6rper zu den Augen in eine tage bringt, bei welcher die einfache Auffassung der einander naheliegenden Punkte nui* geschehen kann mit Hilfe starker Abweichungen in den erw\u00e4hnten Winkeln. H\u00e4lt man sich z. B. einen langen schmalen Stab, z. B ein Bleistift, senkrecht gegen die Angesichtsfl\u00e4che auf die Nasenwurzel und fixirt einen beliebigen Punkt desselben, so wird man diesen Punkt einfach alle \u00fcbrigen aber doppelt sehen, so dass der Stab aus zwei gekreuztenzu bestehen scheint. Je nach dem Orte, an welchem man beliebig die Sehachse zum Schneiden bringt, wird man bald das den Augen zu - oder abgewendete Ende einfach sehen*\nIn diesem Prinzip findet nun Br\u00fccke auch den Grund der perspectivischen Wirkung der Stereoscope. Unter diesen letztem versteht man aber Einrichtungen, in welchen man gleichzeitig mit den beiden Augen zwei perspectivische Bilder eines und desselben K\u00f6rpers betrachtet und zwar so, dass jedes der beiden Augen nur die ihm ungeh\u00f6rige perspectivische Zeichnung ansieht. Die Ueberzeugung dass ein Gegenstand, der gleichzeitig mit beiden Augen betrachtet wird f\u00fcr jedes dieser letzteren ein besonderes Bild entwirft und dass wir nur irrth\u00fcmlich ein einziges zu sehen glauben, man sogleich erhalten, wenn man einen beliebigen K\u00f6rper, z. B. einen abgestutzten Kegel, der Nasenwurzel gegen\u00fcber vor beide Augen h\u00e4lt und nun wechselnd das eine \u00abund das andere schliesst. Entwirft man sich nun zwei perspektivische Ansichten dieses Kegels, die eine f\u00fcr das rechte, die andere f\u00fcr das linke Auge, so hat man damit zwei .der verlangten stereoscopischen Zeichnungen. Die Mittel aber, um diese Zeichnungen in verlangter Weise vor die Augen zu f\u00fchren, sind sehr mannigfaltige ; Wh e a t s t o n e, der \u00fcberhaupt zuerst den Gedanken fasste, Bilder von rechter und linker Perspektive zu entwerfen und zu beobachten, wendete das auf S* 251 erw\u00e4hnte Spiegelstereoskop an: dasselbe leisten zwei R\u00f6hren, Prismen u. s. w. \u2014\nWir werden nun einen einfachen Fall stereoskopischer Betrachtung nach der Br\u00fccke\u2019schen Erl\u00e4uterung behandeln. \u2014 Wenn wir einen abgestutzten Kegel vor die beiden Augen halten, so dass er ihnen die abgestumpfte Spitze zuwendet, und seine\n*) M\u00fcllers Archiv. 1841. 1. C.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Stereoskop.\n257\nAchse horizontal und senkrecht gegen die Verbindungslinien der beiden Augenmittel-.punkte gerichtet ist, dann entwirft er bei einer gewissen Entfernung in den Augen\nFig. 70.\nzwei Bilder, etwa wie in Fig. 70, von diesen geh\u00f6rt R dem rechten und L dem linken an; ihre Stellung; zu einander muss die hier gezeichnete sein, wenn sie im Stereoskop als Kegel erscheinen sollen. Bringen wir nun vor jedes Auge eine R\u00f6hre (eine Papierrolle) von der L\u00e4nge mehrerer Zolle Figur 71 AB,A' B' und legen\nan ihr freies Ende die Zeichnungen L, R Fig. 71.\tin der bezeichneten Stellung, so decken\nR\nl\nsich beide Figuren sehr bald und erzeugen dann das Bild zweier vor einander schwebender Kreise, von denen der klei-ngen betr\u00e4chtlich n\u00e4her liegt isere. Da nun die an der Zeieh-in der geli\u00f6rigenP unkte derK\u00f6r-dchzeitig auf zugeordneteNetz-fallen, so kann das einfacheBild Figuren nicht durch ein gleichsam menlegen der verschiede-kte, sondern nur dadurch ent-\nII\n(\\\nstehen, dass die zugeordneten Stellen in zeitlicher Folge \u00fcber die zugeh\u00f6rigen Bildpunkte gef\u00fchrt werden; indem dieses aber geschieht, m\u00fcssen sich die Conver-genzwinkel der beiden Augenachsen \u00e4ndern. Denn gesetzt, man wollte von den zu einandergeh\u00f6rigenPunk-ten der Zeichnungen /, I zu den II, II \u00fcbergehen, und zwar beide Male den Ort mit der beliebigen identischen Stelle, die sich am Schnittpunkt der Sehachse mit der Retina findet, betrachten, so w\u00fcrde bei Betrachtung von\nD (i\nF J\n11 der Convergenzwinkel der Augenachsen BEF und f\u00fcr //, II der Convergenzwin-kel G II J sein m\u00fcssen. Da uns nun ein Gegenstand um so n\u00e4her erscheint, je gr\u00f6sser der Convergenzwinkel, mit dem wir ihn ansehen, so wird da D E F G IIJ der Punkt I vor II zu schweben scheinen.\nDurch welchen Mechanismus nun Lichtst\u00e4rke, Accommodationsbewegung und ; Achsenconvergenz das Urtheil bestimmen, ist noch nicht ermittelt; um die Psychologen zu beruhigen, darf man zugeben, dass der aus den drei Elementen resultirende Eindruck noch nicht die Vorstellung der Entfernung ist, es muss aber festgehalten werden, dass sich in der Seele an eine besondere Combination der drei Elemente ; so gewiss die zugeh\u00f6rige Vorstellung kettet, wie die Waagschale zu Boden sinkt, wenn sie belastet wird. Insofern man die Ausbildung des Verm\u00f6gens mit dem Vorhandensein des Verm\u00f6gens \u00fcberhaupt verwechselte, hat man die sogenannte objektive Natur dieser Ph\u00e4nomene (d. h. ihr Gebuncfensein an einen in dem Hirn vorgebildeten Mechanismus irgend welcher Art) oft verkannt.\n| Ludwig, Physiologie I.\tj y","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nBewegiiug der gesehenen Gegenst\u00e4nde.\nSchliesslich darf die Bemerkung nicht unterlassen werden, dass noch mancherlei andere Grundlagen zur Bildung eines Urtheils \u00fcber Perspektive vorhanden sein m\u00fcssen als die gegebenen, was schon daraus hervorgeht i. dass die entoptischen Gegenst\u00e4nde fast immer in gleicher Entfernung vor dem Auge schweben, wenn auch die Achsenconvergeuz und die Accommodation wechselt; 2. dass man nach Dove auch noch in einem Stereoskop eine perspektivische Figur sieht, selbst wenn man die Bilder mit dem nur momentan dauernden elektrischen Funken beleuchtet hat; 3. dass in dem Mey er\u2019schen Versuch wohl die auf den mittleren, aber nicht die auf den seitlichen Theilen der Netzhaut abgebildeten Gegenst\u00e4nde den Ort ver\u00e4ndern, und endlich 4. dass eine perspektivische Zeichnung f\u00fcr nur ein Auge ebenfalls k\u00f6rperlich wirkt und zwar sehr auffallend, wenn man sie durch eine Bohre betrachtet.\nBewegung der gesehenen Gegenst\u00e4nde.\nDa wir, wie erwiesen, von den Lagenverh\u00e4ltnissen der Retina zum Raum, und der Empfindungsobjekte im Raume unterrichtet sind, so folgt daraus mit Nothwendigkeit, dass wir auch einen Ortswechsel, sei es der Retina zum Raume, oder der Empfindungsobjekte zu einander auffassen. Jeden solchen Wechsel machen wir bekanntlich von einer Bewegung abh\u00e4ngig d. h. wir schreiben ihn einem suc-cessiven Fortr\u00fccken des in seiner Lage ver\u00e4nderten Gegenstandes vom alten zum neuen Ort in der Retina zu.\nDieses Fortr\u00fccken der Bilder auf der Retina geschieht nun entweder so, dass die \u00e4usseren Gegenst\u00e4nde mit verschiedenen Punkten ihrer Ausdehnung \u00fcber dieselben Netzhautpunkte gehen (wenn n\u00e4mlich die Retina feststeht, w\u00e4hrend die Aussendinge sich bewegen), oder umgekehrt, es bewegen sich verschiedene Netzhautpunkte \u00fcber dieselben \u00e4usseren Gegenst\u00e4nde (wenn die Retina fortr\u00fcckt w\u00e4hrend die Aussendinge fixirt sind). Diese beiden F\u00e4lle m\u00fcssen nach Obigem im Bewusstsein unterschieden werden k\u00f6nnen, und es fragt sich nur, ob dieses Unterscheidungsverm\u00f6gen begrenzt oder unbegrenzt ist. Diese Frage ist von der Erfahrung dahin beantwortet, dass wir nicht in allen F\u00e4llen in der Anschauung richtig urtheilen, ob die Verschiebung der Bilder auf den Sehnervenfasern von der Bewegung der Retina oder einer Bewegung der Bilder abh\u00e4ngig sei. Diese Beschr\u00e4nkung ist bedingt durch den Umstand, dass nur die Nerven einer gewissen Zahl von Muskelgruppen einen Einfluss auf die Lagenbestimmung unserer Retina in unserer Anschauung gewinnen. Demgem\u00e4ss halten wir, wenn die Verschiebung der Bilder auf der Retina gleichzeitig mit der Th\u00e4tigkeit dieser Muskelgruppen eintrifft, die Gegenst\u00e4nde f\u00fcr ruhig, und umgekehrt erscheinen uns die Gegenst\u00e4nde bewegt, wenn die Verschiebung auftritt, ohne dass diese Muskeln in Th\u00e4tigkeit kommen, und dieses selbst dann noch, wenn uns auch das\n9\nBewusstsein sagt, dass die Gegenst\u00e4nde ruhen und wir uns bewegen.\nErfahrungsgem\u00e4ss erl\u00e4utern wir die Verschiebung der Bilder auf der Retina aus einer Bewegung dieser letztem, wenn folgende Mus-","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Glanz.\n259\nkein die Verschiebung des Auges bestimmen : 1 ) Die Muskeln der Wirbels\u00e4ule und des Kopfes; 2) die Muskeln der obern und untern Extremit\u00e4ten insofern sie zur .Bewegung des Rumpfes verwendet werden; 3) die Muskeln des bulbus oculi und ,4) die des Accommodations-apparats.\nJedes andere Fortr\u00fccken der Bilder auf der Retina schieben wir dagegen im Sehakte selbst auf eine Bewegung der Bilder, m\u00f6gen in der That es diese oder unsere Augen es sein, welche sich bewegen.\nInter die bekanntesten der fehlerhaften Schl\u00f6sse unseres Sehorgans z\u00e4hlt, ausser den scheinbaren Bewegungen der Gegenst\u00e4nde, wenn wir fahren, derjenige, dass die gesehenen Empfindungsobjekte zu wanken scheinen, wenn wir mit der Fingerspitze einen Augapfel verschieben. Ausser diesen Fehlern sehen wir aber mit R\u00fccksicht auf Bewegung noch mannigfaltige andere, welche zum grossen Theil durch das Tastgef\u00fchl korrigirt werden k\u00f6nnen. Dahin geh\u00f6ren unter andern, dass wir einen bewegten Gegenstand f\u00fcr ruhig, dazu vergr\u00f6ssert und in einer ganz besondern Gestalt sehen, wenn derselbe eine wiederkehrende Bahn mit solcher Geschwindigkeit durchl\u00e4uft, dass sein \u00cfNackbild auf den verlassenen Stellen der Retina noch nicht verschwunden ist, wenn der Gegenstand wieder eintritt. Wir glauben ferner den Gegenstand in Bewegung, wenn wir ihn nach Art des S cheiner\u2019schen Versuches durch eine feine OefFnung im Zerstreuungsbilde sehen, w\u00e4hrend wir die Oeffnung verschieben. Die Richtung der scheinbaren Bewegung erfolgt im umgekehrten Sinne der wirklichen Verschiebung der Oeffnung, wenn der Gegenstand diesseits der deutlichen Sehweite libgt. Haben wir einen Gegenstand in fehlerhafter Accommodation oder unter fehlerhafter Convergenz der Augenachsen erblickt, so verr\u00fcckt er sichtbar, so wie wir f\u00fcr seine Entfernung accoinmodiren oder die Sehachsen auf ihn ein-sclineiden lassen u. s. w.\nln wiefern der* Begriff der Geschwindigkeit in das Gebiet der physiologischen Untersuchung f\u00e4llt, ist noch zu ermitteln; dass er hier eine Wurzel habe, kann nicht bestritten werden, weil wir den Grad der Geschwindigkeit geradezu sehen.\ni\n4. Glanz. Das Auge unterscheidet noch eine eigenth\u00fcmliche Beschaffenheit leuchtender Oberfl\u00e4chen, welche die Sprache mit dem Namen des Matten und des Gl\u00e4nzenden bezeichnet. \u2014 Die Empfindung des Glanzes wird uns zu Theil, entweder wenn das Licht von einer\nA\nglatten Oberfl\u00e4che zur\u00fcckgeworfen unser Auge trifft, oder wenn wir im Stereoskop die beiden an und f\u00fcr sich matten Zeichnungen desselben Gegenstandes verschieden f\u00e4rben. Dove*).\n\u00bb\nDove ist der Meinung, dass diese letztere sehr \u00fcberraschende Beobachtung \u00fcberhaupt erl\u00e4utere, wie das Licht beschaffen sein m\u00fcsse, wenn es gl\u00e4nzen solle ; er glaubt n\u00e4mlich, dass Glanz dem Auge nichts anders bedeute, als das gleichzeitige Eintreffen verschieden gef\u00e4rbter Strahlen in das Auge von zwei unmittelbar hintereinander gelegenen Fl\u00e4chen; denn in der That senden die spiegelnden Fl\u00e4chen Licht von ihrer \u00e4ussersten Grenze und aus der Tiefe ihrer Substanz in das Auge, und eben dasselbe leisten die verschieden gef\u00e4rbten stereoskopischen Bilder desselben Gegenstandes, die in der Empfindung zu einem einzigen zusammengelegt werden. Dieser Erkl\u00e4rung von Dove f\u00fcgen sich aber nicht die Erscheinungen der Farbenmischung,\n*) P o g g e il d o r f, Annalen 83. Bd.\n- m","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nSclerotica, Augenlider.\nnach der Methode von Helmholtz, indem zwei matte Farben bei ihrer Mischung niemals gl\u00e4nzend werden. \u2014 Die Figuren erscheinen im Stereoskop besonders sch\u00f6n gl\u00e4nzend, wenn man eine derselben farbig und die andere schwarz anstreicht.\nS chut zw er kz eu ge des Auges.\nUnter ihnen begreift man Gebilde sehr verschiedener Art und verschiedener Funktion, welche nur darin Uebereinstimmung zeigen, dass sie die in allern\u00e4chster Beziehung zum Sehen stehenden Theile des Alices vor gewissen sch\u00e4dlichen Einfl\u00fcssen sch\u00fctzen. Man z\u00e4hlt\nzu ihnen:\n1.\tDie Sclerotica. \u2014 Verm\u00f6ge ihres festen Gewebes bildet sie eine Capsel, in welchem die zur Accommodation und zur Lichtempfin-dung dienenden Organe aufbewahrt sind. Die Spannung, welche sie w\u00e4hrend des Lebens zeigt, und die nach dem Tode rasch verschwindet, verdankt sie wohl zun\u00e4chst der Anf\u00fcllung ihres innern Raumes, soweit er nicht von den Brechungsk\u00f6rpern eingenommen ist, durch die Blutgef\u00e4sse der Choroidea.\n2.\tDie Augenlider. Dieser gespaltene Deckel schliesst sich mit seiner hintern der vordem Fl\u00e4che des Auges fast \u00fcberall genau an, wenn seine freien R\u00e4nder aufeinander liegen; in diesem Zustand bleibt einzig an der hinteren Kante der sich ber\u00fchrenden Augenlider wegen der Abstumpfung der R\u00e4nder ein kleiner dreiseitiger Kanal, dessen Basis durch Cornea und Sclerotica und dessen geneigte Fl\u00e4chen durch die Augenlider gebildet werden.\nDieser Apparat ist bekanntlich mit einem knorpeligen Skelett, einer Muskulatur, einer Dr\u00fcsenreihe, die ein Sekret zur Befettung seiner R\u00e4nder (M e ib o m\u2019sche Dr\u00fcsen) liefert, und einer Behaarung versehen. Das Skelett, tarsus, erh\u00e4lt die schlitzf\u00f6rmige Gestalt der Augenlidspalte aufrecht, \u00eao dass bei betr\u00e4chtlichen Seitenbewegungen des Auges die Cornea noch vom Licht getroffen wird. Die geschlossene Spalte wird er\u00f6ffnet, indem der m. levator palpebrarum das obere Augenlid vermittelst des tarsus, (wie an einer Vorhangstange) emporhebt, w\u00e4hrend das untere Lid durch seine Schwere herabf\u00e4llt. \u2014 Die ge\u00f6ff-\nneten Lider werden geschlossen durch den m. orbicularis palpebrarum, der wegen seiner Befestigung am inneren Augenwinkel (am lig. palpebrale internum und Oberkieferknochen) zugleich den Augendeckel etwas nach innen zieht. \u2014 Beide Muskeln erhalten aus verschiedenen Bahnen ihre Nerven, m. levator palpebrarum vom n. ocu-lomotorius; m. orbicularis palpebrarum vom n. facialis. \u2014 Beide Muskeln finden sich wechselnd im Erregungszust\u00e4nde, so dass das Auge bald ge\u00f6ffnet und geschlossen wird. Der Zeitraum der Schliessung geht gew\u00f6hnlich so rasch vor\u00fcber, dass die Nachbilder im Seh-feld scheinbar keine Unterbrechung des Lichteintritts zulassen. \u2014\nAusserdem werden die Augenlider reflektorisch geschlossen oder wenigstens ihre Spalte durch den m. orbicularis verengert, wenn ein in-","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Thr\u00e4uenapparat. Entoplische Erscheinungen.\n26t\ntensiver Lichteindruck auf die Retina geschieht oder wegen mangelhafter Wirkung des Accommodationsapparates Zerstreuungsbilder auf der Retina auftreten. \u2014 Bemerkenswerth erscheint es nach den Untersuchungen von Bell*) dass mit dem Schliessen der Augenlider eine unwillk\u00fcrliche Bewegung des bulbus nach oben und innen erfolgt. \u2014 Die Behaarung der Augenlidr\u00e4nder durch die sogenannten Cilien stellt einen feinen F\u00fchlapparat (Tasthaare) dar, auf deren Ber\u00fchrung das Auge ebenfalls geschlossen wird, um mechanische Insulte zu verh\u00fcten.\n3. Der Thr\u00e4nenapparat. Aus der Thr\u00e4nendr\u00fcse wird unter das obere Augenlid aus mehreren punktf\u00f6rmigen OefFnungen eine sehr schwach salzige Fl\u00fcssigkeit entleert, welche sich durch Capil-larit\u00e4t und durch den Augenlidschlag \u00fcber die vordere Fl\u00e4che des Auges verbreitet, sie stets befeuchtet (wodurch sie die Augenh\u00e4ute vor Verdunstung sch\u00fctzt und w\u00e4scht) und endlich gegen den inneren Augenwinkel in den sog. Thr\u00e4nensee abfiiesst. W\u00e4hrend des Augenlidschlusses l\u00e4uft sie nach diesem Raume hin durch den dreieckigen Kanal der Augenlider. Ihr Ueherlaufen \u00fcber die Augenlidr\u00e4nder wird insofern die Thr\u00e4nen nicht massenhaft abgesondert werden, durch das fettige Sekret der M e i h o m\u2019schenDr\u00fcsen verhindert. Aus dem Thr\u00e4nensee wird die Fl\u00fcssigkeit durch die capillaren, wegen ihrer steifen Umgebung stets offen erhaltenen M\u00fcndungen der Thr\u00e4nenr\u00f6hrchen aufgesogen und von da durch den Thr\u00e4nenkanal in die Nase gef\u00fchrt, wo schliesslich ihr Wasser in Folge der durch das Athmen eingef\u00fchrten Luftstr\u00f6me verdunstet. Der Abfluss durch den Thr\u00e4nenkanal geschieht wohl durch Fortkriechen der Fl\u00fcssigkeit an den benetzbaren absch\u00fcssig gelegenen Wandungen.\nA n h a n g. E n t o p t i s c h e E r s c h e i n u n g e n **).\nDie brechenden Medien des Auges enthalten Gebilde von verschiedener Durchsichtigkeit; darum beleuchtet ein Lichtb\u00fcschel, welcher mit parallelen Strahlen durch dieselben tritt, nicht allerw\u00e4rts die Retina gleich stark; aus der St\u00e4rke und Form der herbeigef\u00fchrten Verdunkelung kann man nat\u00fcrlich unmittelbar auf die Form und den Grad der Undurchsichtigkeit der verdunkelnden K\u00f6rper schliessen.\nUm diese letztem der Retina sichtbar zu machen, h\u00e4lt man in der vordem Brennebene des Auges einen dunklen Schirm in welchen man eine M. M. im Durchmesser haltende Oeffnung gebohrt hat; durch den hier austretenden Lichtb\u00fcschel wird auf der Retina ein Zerstreuungskreis gebildet, welcher der Pupillen\u00f6ffnung entspricht.\n*) Bei Tourtual in M\u00fcllers Archiv 1838. 323.\nListing, Beitrag zur physiologischen Optik. G\u00f6ttingen 1843. F. C. Bonders Beitrag zur Bestimmung des Sitzes der entoptisch wahrnehmbaren Gegenst\u00e4nde im Auge. Archiv f\u00fcr physiol. Heilkunde VIII. 30. ein Auszug aus einer gr\u00f6sseren Abhandlung in Nederland sch Lancet. II. 558.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nEntoptisclu\u00ee Erscheinungen.\nB\n_ \u2014 ^ / /\tfT1 1\t\t\n\tXLi ||j\t\t1\nY\t/*\t\t o\t\nA\nFig- 72.\tDie Figur 72 macht\ndas diesem Versuch zu Grunde liegende Prinzip ohne Weiteres klar; es ist in derselben A A die Brennebene, B der leuchtende Punkt ( die Oeffnung des Schirms), CCdie Pupillen\u00f6ffnung ; D D \u00fcer entsprechende Zerstreuungskreis auf der Retina; E ein undurchsichtiger K\u00f6rper\nin den brechenden Medien; F der ihm entsprechende Schatten auf der Retina.\nDie Lage der undurchsichtigen Objekte in den verschiedenen Tiefen des Auges kann man ebenfalls beurtheilen entweder nach der von Listing sog. entoptischen Parallaxe ; oder nach Brew st e r und Bonders aus der Entfernung nach der ihre doppelt entworfenen Bilder auseinander weichen, wenn unter verschiedenen Winkeln stehende Lichtquellen parallele Strahlen durch das Auge schicken.\na. Methode von Listing. Wenn wir das Auge A Fig. 73. zuerst in eine solche Stellung zur Lichtquelle bringen, dass die Sehachse AB dem Gang der Strahlen parallel l\u00e4uft, so werden s\u00e4mmtliche auf dem Verlauf der Sehachse etwa gelegenen dunklen Puncte nur einen Schatten werfen; dreht man nun bei unver\u00e4nderter Stellung der Lichtquelle\nFig. 74.\tFig. 73.\nB\ndas Auge Fig. 74 so, dass dieSehaxe die Richtung CD empf\u00e4ngt, so werden die Schatten der in der Sehaxe gelegenen dunklen Punkte auseinanderfallen und zwar wird der in der Ebene der Pupille gelegene in den Mittelpunkt des Zerstreuungskreises, der vor der Pupille gelegene \u00fcber, und der hinter der Pupille gelegene unter den Mittelpunkt seinen Schatten werfen. Listing nennt diese von den Bewegungen der Seh-","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Geh\u00f6r.\t' 263\nachse abh\u00e4ngige Lagenver\u00e4nderung des Schattens eines entoptischen Gegenstandes im Zerstreuungskreis die relative entoptische Parall-achse; demnach ist die relative entoptische Parallaxe Null f\u00fcr Objekte in der Ebene der Pupille. \u2014 Ueber die Sch\u00e4tzung der Lage im Zerstreuungskreise, und die Berechnung der Lage der Gegenst\u00e4nde in dem Auge aus der Parallaxe siehe Listing 1. c. p. 42 u. f.\nb. Methode von Brewster und Donders. Setzen wir mit diesen beiden Gelehrten gleichzeitig vor das Auge zwei leuchtende Punkte (in Fig. 75) so entwerfen dieselben zwei Zerstreuungskreise (7, D der Pupille auf der Retina; den Mittelpunkt eines jeden derselben nimmt nat\u00fcrlich der Mittelpunkt der Pupille selbst ein; die vor der Pupillenebene gelegenen Gegenst\u00e4nde bilden sich in beiden Kreisen nach aussen von dem Mittelpunkt; alle hinter der Pupille gelegenen Gegenst\u00e4nde nach innen von demselben ab. \u2014 Ueber die Berechnung der wahren Lage siehe Donders p. 41.\nAus den f\u00fcr die Diagnosen der Aiigenkraukheiten wichtigen Untersuchungen \u00fcber wirklich bestehende entoptische Gegenst\u00e4nde hat sich ergehen das Vorkommen:\n1) von ver\u00e4nderlichen entoptischen Gegenst\u00e4nden und zwar: a) sog. M\u00fccken, kleine im Glask\u00f6rper befindliche, bewegliche meist zellenartige K\u00f6rperchen, b) Das Spectrum mucolacrymale der Hornhaut (Thr\u00e4nenfliissigkeit, Staub und Schleim auf derselben), c) Falten der Hornhaut nach vorausgegangenem Druck \u2014 2) von beharrlichen und zwar a) Perlflecke; b) dunkle Flecken; c) lichte Streifen; d) dunkle Streifen, welche zum Theil von bestimmten Figuren der Linse herr\u00fchren.\nE. Geh\u00f6r.\nDer Geh\u00f6rnerv wird auf eine so besondere Weise vom Felsen-be in umschlossen, dass er der Einwirkung der grossem Zahl von allgemeinen Nervenerregern ganz entzogen ist. Vorzugsweise zug\u00e4nglich ist er nur einer spezifischen Art von Ersch\u00fctterung der pon-derabeln Massen, welche unter dem Namen der Schallwellen bekannt ist. Die allgemeinsten Eigenschaften der Schallwellen und die Leitung derselben durch das Geh\u00f6rorgan zum Nerven werden demnach zu un-","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nBewegiiug der Molekeln. Geschwindigkeit derselben.\ntersuchen sein, bevor wir den durch sie erregten Empfindungen unsere Aufmerksamkeit schenken.\nEinleitende Be tr ach tun gen \u00fcber die dem S c halle zu Grunde lie-gendenBewegungen.\nDie Diffusionserscheinungen fanden wir nur erkl\u00e4rlich unter der Voraussetzung, dass das, was unseren Sinnen als eine undurchdringliche geschlossene Masse erscheint, eine Zusammenh\u00e4ufung \u00e4usserst kleiner noch durch Zwischenr\u00e4ume voneinander getrennter fheilchen, der Molekeln, sei. Diese Vorstellung von der Anordnung der Massen erh\u00e4lt ihre Best\u00e4tigung und ihre noch genauere Bestimmung durch die Thatsachen der Elastizit\u00e4tslehre. Denn diese erwiessen, dass ganz allgemein einem jedem Molekel innerhalb der Masse, der es angeh\u00f6rt, ein bestimmter Ort in einer gemessenen Entfernung von seinen Nachbarmolekelu angewiessen sei und zwar in Folge von den anziehenden und abstossenden Wirkungen, welche durch diese Nachbarn ausge\u00fcbt werden. Denn nur durch diese Annahme wird die Thatsaclie verst\u00e4ndlich, dass beides, das allseitige Zusammendr\u00fccken und das allseitige Auseinanderzerren einer Masse, Widerst\u00e4nde erzeugt, welche wachsen ebensowohl mit der Abnahme als mit der Zunahme des urspr\u00fcnglich von der Masse eingenommenen Raumes, oder im Sinne unserer Anschauung ausgedr\u00fcckt mit der gegenseitigen N\u00e4herung oder Entfernung der Molekeln. Indem wir die Thatsachen der Elastizit\u00e4t und namentlich die Press- und Ausdehnbarkeit der verschiedenen Massen nach dieser Richtung hin deuten, lehren sie uns ferner, dass die Abst\u00e4nde derMolekeln, und die absoluten und relativen Werthe der Kr\u00e4fte, welche den Ort derselben bestimmen weder bei verschiedenen Massen noch jedesmal nach verschiedenen Richtungen innerhalb einer Masse dieselben sind.\nAus allem diesem folgt, die durch die Beobachtung best\u00e4tigte Ableitung, dass sich die einzelnen St\u00fccke einer scheinbar zusammenh\u00e4ngenden Masse unabh\u00e4ngig vou einander m\u00fcssen bewegen k\u00f6nnen; diese Beweglichkeit der einzelnen Theile einer Masse gegeneinander, oder sch\u00e4rfer ausgedr\u00fcckt, der Spielraum und die Richtung, in welcher die Verschiebung der Molekeln m\u00f6glich und die Kr\u00e4fte, welche zu derselben n\u00f6thig sind, muss den Elastizit\u00e4tserscheinungen entsprechend mit der Natur der\nMasse sehr wechseln; diese Mannigfaltigkeit der Erscheinung liegt aber offenbar zwischen zwei Grenzf\u00e4llen eingeschlossen. Denen n\u00e4mlich, dass entweder die einer Masse zugeh\u00f6rigen Theilchen sich an einander verschieben, ohne sich zu n\u00e4hern, oder dass sich die Theilchen, ohne ihre Lagenrichtung gegeneinander zu \u00e4ndern einandern\u00e4hern oder sich von einander entfernen. Indem erstem dieser F\u00e4lle, der vor-zugsweise den sog. nicht zusammendr\u00fcckbaren K\u00f6rpern angeh\u00f6rt, werden die Bewegungen der einzelnen St\u00fccke einer Masse zu Formver\u00e4nderungen der Grenzen dieses letztem f\u00fchren, wie dieses z.B. am Wasser sichtbar ist, w\u00e4hrend die zweite Art von Bewegung Verdichtungen und Verd\u00fcnnungen der Masse erzeugt, wobei die sichtbare Grenze der Masse m\u00f6glicher Weise vollkommen unver\u00e4ndert sich erhalten kann.\nLeber diese Bewegungen, welche unter gewissen Voraussetzungen die schallerzeugenden sind, lassen sich noch einige Mittheilungen machen, welche zum Verst\u00e4ndnis der Leistungen der Geh\u00f6rwerkzeuge nicht ohne Bedeutung sein d\u00fcrften. \u2014 1) Jede Bewegung, welche einem beschr\u00e4nkten St\u00fccke einer zusammenh\u00e4ngenden Masse unabh\u00e4ngig von den ihm benachbarten mitgetheilt wird, erh\u00e4lt bei mehr als momentan dauerndem Bestehen eine ab- oderzunehmende, eine ungleichf\u00f6rmige,niemals eine gleichf \u00f6rmige Geschwindigkeit. Die Allgemeingiltig-keit dieser Behauptung ist sogleich einleuchtend, wenn man erw\u00e4gt, dass jedes innerhalb der Masse sich bewegende Theilchen auf seinem Wege von den Nachbarn entweder gehemmt oder unterst\u00fctzt wird. Gehemmt aber muss es werden, wenn es sich \u00fcber die Grenzen des Normalabstandes von einem Theil seiner Nachbarn zu entfernen und einem andern Theil derselben zu n\u00e4hern sucht. Beschleunigt dagegen,","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"*\u00bb\nUmfang und Uebertragung der Bewegung.\n205\nwenn es durch eine stossende Gewalt aus seiner normalen Lage entfernt in diese zu-r\u00fcckzukehren strebt, wobei es sowohl im gleichen Sinne von den Theilen, denen es sich allzusehr gen\u00e4hert, abgestossen, als auch von denen angezogen wird, von welchen es sich allzusehr entfernt hatte. 2) die Zeit, welche ein Theilchen n\u00f6thigha-b en wir d, um eine solche Phase der Bewegung zu v oll en den, d. h. um von einem gewissen Maximum der Geschwindigkeit auf diejenige von Null zu gelangen, wird ganz allgemein betrachtet, abh\u00e4ngig sein von der Zeitdauer des Stosses, welcher das Molekel aus seiner Lage zu entfernen strebt, und von der St\u00e4rke der zwischen den Molekeln bestehenden Anziehung und Abstossung, oder wie man sich auch ausdr\u00fcckt, dem Grade der Spannung, welcher in der Masse vorhanden ist. Denn offenbar wird, alles andere gleichgesetzt, ein Molekel um so l\u00e4nger auf seiner Bahn verharren, je allm\u00e4liger und andauernder der Stoss wirkt, welcher dasselbe aus seiner Normallage entfernt, und umgekehrt wird, alles andere gleichgesetzt, die Bewegung, welche ein momentan wirkender Stoss einem Molekel mittheilt, um so rascher vollendet sein, je energischer der Widerstand ist, den die umgebenden Molekeln, dem Gang der urspr\u00fcnglich bewegten entgegensetzen, oder je gr\u00f6sser die Gewalt ist, mit der sie das aus seiner urspr\u00fcnglichen Lage entfernte Molekel wieder in dieselbe zur\u00fcckzuziehen streben. Ausserdem d\u00fcrfte auch das, was wir Spannung nennen, insofern bestimmend f\u00fcr die Zeit wirken, w\u00e4hrend welcher ein Molekel eine Phase seiner Bewegung vollendet, als von ihr auch die Ausdehnung des Weges abh\u00e4ngt, den ein Theil der Masse unabh\u00e4ngig von seinem Nachbar durchlaufen kann. \u2014 3) Die Bewegung, welche in einem beschr\u00e4nkten St\u00fccke einer zusammenh\u00e4ngenden Masse eingeleitet wird, muss sich allm\u00e4lig auch auf die benachbarten St\u00fccke \u00fcbertragen. Dieses ergibt sich mit Nothwendigkeit daraus, weil jedes von seinem Orte innerhalb der Masse bewegte Molekel, seine Nachbarn entAveder stossen oder ziehen muss, Avodurch es unmittelbar einen Theil seiner beAvegenden Kr\u00e4fte an dieselben abgibt. Bei dieser Mittheilung von Bewegung k\u00f6mmt in Betracht die Uebertragung resp. Vertheilung der Kr\u00e4fte, die Geschwindigkeit und die Richtung der Mittheilung. \u2014 R\u00fccksichtlich der Kraft der Uebertragung gilt hier, wie \u00fcberall, die Regel, dass das Produkt aus GeschAvindigkeit und Masse immer erhalten4) bleiben muss, so dass, AArenn die Schwingung von einer geringem auf eine gr\u00f6ssere Zahl von Molekeln \u00fcbergeht, die Schwingungsintensit\u00e4t jedes einzelnen vermindert wird. Aus dieser Regel und der andern vorher erAv\u00e4hnten, dass die BeAvegung des einzelnen Molekels eine steigende und bis auf Null fallende ist, folgt aber, dass sich die BeAvegung in zeitlicheUReihenfolge durch die ganze Masse verbreiten muss. \u2014 Die Mittheilungsgeschwindigkeit d. h die Zeit, welche nothwendig ist, damit die Bewegung von einem Theilchen auf ein anderes \u00fcbertrete, muss nun nach allem vorhergehenden abh\u00e4ngig gedacht werden von dem WTerthe der beschleunigenden Kr\u00e4fte, unter deren Einfluss die einzelnen Theilchen sclrwingen, und der Art der Verkn\u00fcpfung dieser letztem undnamentlich von der Elastizit\u00e4t oder anders ansgedr\u00fcckt von der Gr\u00f6sse des Spielraums, welcher jedem einzelnen Theilchen f\u00fcr seine selbstst\u00e4ndigen BeAvegungen zukommt. \u2014 Dies en an und f\u00fcr sich selbstverst\u00e4ndlichen Betrachtungen entgegen, lehrt nun die Erfahrung, dass nur in einer beschr\u00e4nkten Zahl von F\u00e4llen z. B. bei den fortschreitenden Bewegungen im Wasser mit freier Oberfl\u00e4che, bei den Beugungswellen, u. s. w. beide der angegebenen Elemente von Einfluss sind, w\u00e4hrend in andern z. B. bei der Fortpflanzung der Verdichtungswellen des Wassers u. s. A\\r. die ScliAA'ingungsintensit\u00e4t des einzelnen Theilchens einzig und allein von dem Werthe der Elastizit\u00e4t abh\u00e4ngt. Diese Erfahrung scheint dahin gedeutet werden zu m\u00fcssen, dass in diesen letztem F\u00e4llen der Zusammenhang der einzelnen Theilchen in der Masse sich als ein so inniger ausAveisst, dass auch bei einer schon verschwindend\n*) Begreiflich bleibt aber inuerhalb einer begrenzten Masse dieses Produkt nur so lange unver\u00e4ndert als dieselbe keine bewegenden Kr\u00e4fte jenseits ihrer Grenzen abgibt.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266 Wellenl\u00e4nge. \u00dcebertragung der Bewegung zwischen ungleichartigen Massen.\nkleinen Ortsver\u00e4nderung eines Theilchens die benachbarten mit in die Bewegung gezogen werden, eine Ortsver\u00e4nderung, welche schon nach einer verschwindend kleinen Zeit erreicht wird. \u2014 Die Richtung der Mittheilung anlangend, so muss entsprechend der allseitig gleichen oder ungleichen Elastizit\u00e4t die Bewegungsmittheilung innerhalb der Masse entweder nach allen Seiten hin mit gleicher Geschwindigkeit und Kraft vor sich gehen oder nach einzelnen Richtungen vorzugsweise stark und schnell geschehen. \u2014 4) Wenn nun, wie es h\u00e4ufig vorkommt, die Schwingungs-dauer eines Theilchens l\u00e4nger anh\u00e4lt, als die Zeit, w elche noth wendig ist, damit sich die Bewegung von ihm auf seine Nachbarn mittheile, so folgt daraus, dass bei r\u00e4umlich noch so beschr\u00e4nktem Anstoss einer Masse doch bald ein gr\u00f6sserer Abschnitt derselben gleichzeitig in Bew egung treten wird. Da aber die Bew egung der Theil-chen, welche auf einen momentan wirkenden Stoss folgt, immer eine schwingende ist, welche mit abnehmender und dann steigender Geschwindigkeit das Theilchen von seiner urspr\u00fcnglichen Lagerungsst\u00e4tte entfernt und dasselbe wieder dahin zu-riickf\u00fchrt, so m\u00fcssen auch gleichzeitig immer eine Zahl von Theilchen nach einer Richtung schwingen. \u2014 Belegt man eine solche hin- und hergehende Schwingung mit dem Namen der Wellenbew egung, und nennt man insbesondere die eine Weg-richtung die aufsteigende oder positive und die andere die absteigende oder negative, so kann man den obigen Satz auch dahin ausdr\u00fccken, dass an einer und derselben Wellenbewegung gleichzeitig viele Molekeln Antheil nehmen. Mit Hilfe der schon entwickelten Grunds\u00e4tze wird es nun anzugeben sein, wovon die Zahl der nach einer Richtung schwingenden Theile, oder die Wellenl\u00e4nge abh\u00e4ngig sein muss; denn offenbar wird sie wachsen mit der Zeit, welche das erste und somit jedes folgende Theilchen zur Vollendung seiner Schwingung n\u00f6thig hat, und mit der Mittheilungsgeschwindigkeit, welche der Masse, innerhalb deren die Bew egung statt fand, zukommt. \u2014 5) Bis dahin wurde vorausgesetzt, dass die Fortleitung der Bewegung durch eine homogene Masse geschehe; die Erscheinungen gestalten sich nun aber anders, wrenneine Bewegung zwischen heterogenen Massen \u00fcbertragen w erden soll. Hier, an den Grenzen der Massen treten n\u00e4mlich andere Bedingungen ein, insofern als nun die stossenden und gestossenen Molekeln keine Coh\u00e4sionswirkungen aufeinander \u00fcben, und insofern als der Stoss sich zwischen Molekelreihen mittheilt deren einzelne Glieder w eder im gleichen Abstand von einander stehen, noch durch gleiche Kr\u00e4fte an ihren Lagerungsst\u00e4tten erhalten wrerden. Denn es kann, wie schon erw\u00e4hnt, vom mechanischen Gesichtspunkte aus, der hier allein in Betracht kommt, das Eigenth\u00fcmliche, das Bestimmende der Massen, nur in dem Unterschiede, ihrer Dichtigkeitund ihrer Elastizit\u00e4t, oder mit andern Worten in den Differenzen der Molekelabst\u00e4nde und der anziehen-den und abstossenden Kr\u00e4fte gesucht w erden. Die Folgen dieser ver\u00e4nderten Bedingungen sind nun ungef\u00e4hr folgende : a) Innerhalb der homogenen Masse verbreitete sich\tdie Schwingung\tvon\tMolekel zu Molekel in der Art, dass bei der\tfortschreitenden\tBewegung das\tder\tZeit nach zuerst schwingende allm\u00e4lig zur\tRuhe\nkommt, w\u00e4hrend andere in die Bewegung eintraten, mit andern Worten, es hatte ein Molekel nach Vollendung seiner Schwingung seine ganze lebendige Kraft an die Nachbarn abgegeben. Bei der Fortleitung des Stosses zwischen den Molekeln heterogener Massen geschieht dieses nun nicht. Die Grenze der heterogenen Masse \u00fcberschreitet\tnur ein Theil\tder\tbewegenden Kr\u00e4fte, w\u00e4hrend ein anderer\tTheil\nderselben in\tder stossenden\tMasse zur\u00fcckbleibt, so dass nun gleichzeitig\tbeide\nMassen an der Bewegung sich betheiligen. Diese Thatsache spricht man gew \u00f6hnlich entweder so aus: es setze sich dem Uebergang der Kr\u00e4fte \u00fcber die Grenzen heterogener Massen ein Widerstand entgegen, oder, wenn man sich im Ausdruck an die Erscheinung enger anschliessen will, auch so, dass die Schwingung an der Grenze heterogener Massen zur\u00fcckgeworfen werde. Dieser letztere Ausdruck fasst bekanntlich darauf, dass die Bewegung, welche schwingend zur Grenze des ersten Mittels hinlief und dann nur theilweise in das neue Mittel eintrat, von","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"267\nI\t?\nI-*\nSchallleitimg zum Geh\u00f6rnerven.\ndieser Grenze auch wieder gegen die urspr\u00fcnglich bewegte Masse zur\u00fccktritt, und so in verkehrter Richtung noch einmal die Bahn durchzieht, die sie schon einmal in gerader Richtung durchwandert hatte *). Der innere Zusammenhang dieser Erscheinung, dass sich die Bewegung schwieriger zwischen den Molekeln.heterogener als denen homogener Massen mittheilt, leitet sich nun aus den obigen Voraussetzungen in jedem einzelnen Falle leicht ab. Nehmen wir z. B. an, die Molekeln der einenMasse seien sehr beweglich gegen einander, w\u00e4hrend die einer andern als nahebei feststehend anzusehen w\u00e4ren, so w\u00fcrden, wenn die Molekeln der letztem Masse auf die der erstem stiessen, sich schon bei Beginn des Stosses die leicht beweglichen von den unbeweglichen entfernen, so dass nach einem Verfluss einer sehr kurzen Zeit gar keine Ber\u00fchrung und somit auch keine Stossmittheilung mehr statt f\u00e4nde. Ereignete es sich dagegen, dass die beweglichen Molekeln schwingend auf die unbeweglichen tr\u00e4fe\u00dc, so m\u00fcsste, da die letztem nicht ausweichen k\u00f6nnten, sehr bald an der Grenze eine Spannung entstehen, die sich so lange steigern w\u00fcrde, als die Kraft, welche die Geschwindigkeit der beweglichen Molekeln in der Richtung gegen die unbeweglichen erzeugt gleich w\u00e4re der gerade vorhandenen Spannung\u00bb Von diesem Augenblick an wird die Spa nnung, welche nach beiden Seiten hin treibend wirkt, die beweglichen Molekeln wieder von der Grenze zur\u00fcck schleudern; mit einem Worte, es werden sich die letzten Molekeln verhalten wie ein elastischer Ball, der auf einen festen Boden geworfen wird. \u2014 Hieraus d\u00fcrfte nun klar sein, dass die Summen lebendiger Kr\u00e4fte, welche bei jeder Schwingung das Molekel an den heterogenen Nachbar abgibt, Schwingungsintensit\u00e4t und Ber\u00fchrungsfl\u00e4che gleichgesetzt, Avachsen wird, mit der steigenden Uebereinstimmung in der Dichtigk\u00e9it und Elastizit\u00e4t der in Ber\u00fchrung befindlichen Stoffe. \u2014 b) Der Anstoss, welchen die sclrwingenden Molekeln des einen denen des andern Stoffes mittheilen, unterscheidet sich seinen Folgen nach im wesentlichen durchaus nicht von jeder andern schwingungserzeugenden Bewegungsanregung. Daraus ergibt sich in Uebereinstimmung mit den fr\u00fcher gef\u00fchrten Betrachtungen, dass die Art der Schwingung im zaveiten Mittel (Beugung oder Verdichtung) ganz unabh\u00e4ngig von derjenigen im ersten ist, ferner dass unter den fr\u00fcher bezeichneten Bedingungen die Fortpflanzungsgeschwindigkeit im neuen Mittel unabh\u00e4ngig vom Stosse ist, indem sie nur bedingt wird von der Verkettung der Molekeln des zweiten Stoffes; ferner dass die Schwingungsdauer des angestossenen Molekels abh\u00e4ngig ist von der Dauer des Stosses und der Verkettung der Molekeln der angestossenen Stoffe, und endlich, dass die Wellenl\u00e4nge von dieser Schwingungsdauer und der Fortpflanzungsgeschwindigkeit bestimmt wird.\nSchallleitung zum Geh\u00f6rnerven.\nDa die empfindungerregenden Zust\u00e4nde des Geh\u00f6rnerven nur durch die denselben zun\u00e4chst ber\u00fchrenden Theile der Geh\u00f6rwerkzeuge ausgel\u00f6st Averden k\u00f6nnen, so hat die Untersuchung \u00fcber das Entsprechen der Schallbewegung und der Empfindung zun\u00e4chst die Aufgabe die Ver\u00e4nderungen zu studiren, \\ATelche die Schallbewegung in den H\u00fcllen des Geh\u00f6rnerven (das Wort H\u00fcllen im weitesten Sinne genommen) erweckt. \u2014 Zu dem H\u00f6rnerven oder zu dessen n\u00e4chster Umgebung dringt nun die im Weltenraum erzeugte Schallbewegung auf zwei Wegen: durch die Kopfknochen im Allgemeinen und dann durch die Paukenh\u00f6hle. \u2014 Auf beiden Wegen muss die Schallwelle besonders A^erfolgt Averden.\n*) Die Thatsache der Reflexion bedarf keiner besonderen Erl\u00e4uterung mehr, wenn einmal feststeht, dass die Grenzpartikel nicht ihre ganze Kraft an die neue Masse abgibt; offenbar wird dann n\u00e4mlich das schwingende Endtheilchen seine Bewegungen auf die homogenen Nachbarn \u00fcbertragen, u. s. w.","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nSchallleitung durch die Paukenh\u00f6hle.\nDie Aufgabe der physiologischen Akustik w\u00fcrde als gel\u00f6st anzusehen sein,wenn man das Gesetz und den absoluten Werth der Schwingung des schallenden Theilchens vor dem Eintritt in das Trommelfell, beziehungsweise in die Kopfknochen und nach seinem Uebergang in die Geh\u00f6rs\u00e4ckchen und die Spiralplatte der Schnecke kennte* dieseThatsachenk\u00f6nnen aber erst erworben werden, wenn f\u00fcr die Schallwelle ein objektives Mass gefunden ist. \u2014 Die besondere Art des \u00fceberganges durch die einzelnen Th eile des schallleitenden Apparates, d. h. die Ver\u00e4nderung der Form und St\u00e4rke der Schallwelle, wie sie durch jeden Bestandteil herbeigef\u00fchrt wird, k\u00f6nnte dann z. B. dadurch aufgefunden werden, dass man an einem todten Ohr oder Ohrmodell den Uebergang untersuchte, nachdem man mit m\u00f6glichster Erhaltung der \u00fcbrigen Theile der Reihe nach St\u00fcck f\u00fcr St\u00fcck des leitenden Apparates entfernt h\u00e4tte. Diesen geraden Weg hat man noch nicht eingeschlagen ; es h\u00e4tte ihn zudem nur ein genialer Physiker betreten k\u00f6nnen. Um nun doch etwas zu thun, hat man sich einer andern, freilich sehr ungenauen Methode bedient. Auf die Gr\u00f6sse und Form der Schallwelle vor ihrem Eintritt in das Ohr schliesst man (was aber nur in seltenen F\u00e4llen mit einiger Sicherheit m\u00f6glich) aus dem J\\Iodus und der St\u00e4rke des Anstosses, welcher im schallenden K\u00f6rper die Schwingung veranlasst Auf die Art und St\u00e4rke der \u00fcbergegangenen Welle erlaubt man sich nun gar zu schliessen aus der Touempfin-dung, ein Verfahren, welches sehr unzuverl\u00e4ssig erscheint, wenn man \u00fcberlegt, dass der Schall gar nicht als Bewegung empfunden wird; es w\u00fcrde gerade so genau sein, wenn man so ohne Weiteres aus der bei der Reibung zweier K\u00f6rper auftretenden W\u00e4rme oder Elektrizit\u00e4t auf die Gr\u00f6sse der reibenden Kr\u00e4fte schliessen wollte. \u2014 Den Antheil, welchen die einzelnen St\u00fccke des schallleitenden Apparates an dem Uebergang nehmen, beurtheilt man aus Erscheinungen, welche an physikalischen Apparaten beobachtet sind, die h\u00e4ufig genug eine nur gar zu entfernte Aehnlichkeit mit den Geh\u00f6rwerkzeugen bieten.\nDemgem\u00e4ss darf man in Folgendem nur sehr allgemein gehaltene, meist unsichere Hypothesen erwarten. Mit dem Tod unseres ausgezeichneten A. Seebeck ist vorerst wieder ein grosser Theil der Hoffnungen verloren gegangen, in der n\u00e4chstgelegenen Zeit zu wesentlichen Aufschl\u00fcssen zu gelangen.\nA. Schallleitung durch d i e P a u k e n h \u00f6 hl e. \u2014\nDie Betrachtung gliedert sich hier naturgem\u00e4ss der Art, dass sie die Aufnahme und Ver\u00e4nderung der Schallwellen in der Ohrmuschel, in dem \u00e4ussern Geh\u00f6rgang, in dem Paukenfell und den Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen in der membran. fenestr. ovalis und endlich in dem Labyrinthwasser und den Yerbreitungsbezirken der Geh\u00f6rnerven untersucht.\nWir setzen hier zugleich ein und f\u00fcr alle mal den am gew\u00f6hnlichsten eintretenden Fall voraus, dass die Schallwelle aus der Luft in das Geh\u00f6rorgan dringt.\n1* Ohr mus chel *). Ueber ihre Funktionen als schallleitendes Organ gehen folgende Vermuthungen, a) die Schallwellen der Luft gehen zum geringsten Theil in ihre Substanz ein; sie werden reflektirt und namentlich werden die in die Concha fallenden Wellen gegen den Tragus und von diesem in den Geh\u00f6rgang geworfen. Diese Hypothese gr\u00fcndet sich auf die Gestaltung des \u00e4usseren Ohres und auf die That-sache, dass durch eine Ver\u00e4nderung des Neigungswinkels der Ohrmuschel gegen den Kopf (resp. den Geh\u00f6rgang) die Sch\u00e4rfe des Geh\u00f6rs\n*) Esser, Annales des sciences naturelles. F. XXVI. 1832. Valentin, Physiologie II. Bd. 243.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Ohrmuschel; Trommelfell; Form der Schallwelle im Trommelfell. 269\ngemindert oder vermehrt werden kann. Nach Buchanan soll ein Neigungswinkel von 25\u00b0 bis 45\u00b0 gegen die pars mastoidea am g\u00fcnstigsten wirken. So unbestreitbar es ist, dass die in die Concha dringenden Weilen je nach ihrer Richtung mehr oder weniger gegen den Tragus und von diesem in den meatus auditorius fallen, und damit die Schallbewegung im meatus verst\u00e4rken; so unzweifelhaft ist es auch, dass eine reichliche Masse der auf die ganze Muschel treffenden Wellenz\u00fcge niemals durch Reflexion in den Geh\u00f6rgang eindringt; Esser. \u2014 b) Aus diesem Grunde und zugleich wegen der D\u00fcnne und der Elastizit\u00e4t des \u00e4ussern Ohres vermuthet Savart, dass die Wellen in seine Substanz eindringen und von allen Seiten gegen die schmale Wurzel Zusammentreffen. Von der Wurzel der Ohrmuschel sollen sie sich theilweise durch den Kopf zerstreuen, zum Theil sollen sie aber in den kn\u00f6chernen Geh\u00f6rgang und das sich hier anheftende Trommelfell \u00fcbergehn. Unter diesem Gesichtspunkte erhalten die vielfachen Unebenheiten des \u00e4ussern Ohrs eine besondere Bedeutung, indem sie an demselben f\u00fcr alle Richtungen der Schallwellen Fl\u00e4chen erzielen, welche zur Ohrmuschel senkrecht stehen, d. h. den g\u00fcnstigsten Einfallswinkel bieten.\nDie Funktionen des \u00e4usseren Ohres f\u00fcr die Leitung der Schallwellen sind m\u00f6glicher Weise viel mannigfaltigere, als die hier angegebenen; doch sind sie schwerlich von fundamentaler Wichtigkeit f\u00fcr das H\u00f6ren, wie aus mehrfachen medizinischen Erfahrungen her-\nO\nvorgeht, da ein Verlust des \u00e4usseren Ohres das H\u00f6ren nicht wesentlich beeintr\u00e4chtigt. \u2014\nMan bezeichnet das \u00e4ussere Ohr auch sehr h\u00e4ufig als einen Resonanzapparat. Nun gibt es bekanntlich (Wellenlehre der Gebr\u00fcder Weber p. 530) zwei Arten von Resonanz; eine derselben bewirkt nur eine vollkommenere Mittheilung der t\u00f6nenden Schwingung eines Mittels an ein anderes spezifisch verschiedenes; die andere dagegen besteht in einer Summirung einer Reihe von St\u00f6ssen in ein Medium, die es der Zeit nach gesondert empfing, so dass die Theile desselben st\u00e4rker bewegt werden, als es durch jeden besondern einzelnen Stoss der urspr\u00fcnglich t\u00f6nenden Masse m\u00f6glich war. Danach sieht man nun ein, dass wenn man das Ohr eine Vorrichtung zum Resonniren nennt, dieses entweder nichts anders bedeutet, als das was schon im Text er\u00f6rtert wurde, oder dass man die ganz willk\u00fcrliche Unterstellung macht, es werde von den Grenzen der Muschel die Schallwelle immer so zur\u00fcckgeworfen, dass die neu eindringenden immer noch einen Rest sie unterst\u00fctzender Bewegung vorfinden.\t,\n2. Trommelfell. An diesem Ort gelangt die Schallbewegung aus einem luftigen in einen festen K\u00f6rper; innerhalb des neuen Mediums schreitet die Welle nicht in der Form und auch nicht mit der lebendigen Kraft fort, welche ihr in der Luft eigenth\u00fcmlich war.\na. Form der Welle des Trommelfells* *), Die in der Luft als Ver-dichtungswelle fortschreitende Schallbewegung wird beim Uebergang in das Trommelfell wesentlich Beugungswelle werden m\u00fcssen ; E d. W e-\n4t\n*) Ed. Weber, Berichte der Leipziger Gesellsch. der Wissenschaften. Matheia. phys.Klasse 1851. p. 29. \u2014","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nLebendige Kraft der Milschwingung des Trommelfells.\nber. Der Beweis f\u00fcr diese Behauptung liegt darin, dass sich alle Membranen in der bezeichnten Weise verhalten, wenn sie \u00e4hnlich wie das Trommelfell der in der Luft fortschreitenden Schallbeweoune* ent-\no O\ngegengesetzt werden\u00ab Die theoretische Nothwendigkeit dieser Erscheinung ist dadurch gegeben, dass bei einer Befestigung, wie sie demTrom-melfelle angeh\u00f6rt, die gegen das Centrum gelegenen Theile eine gr\u00f6ssere Beweglichkeit besitzen als die unmittelbar am Rande gelegenen.\nb. Lebendige Kraft der Mit Schwingung des Trommelfells*). \u2014 Die lebendigen Kr\u00e4fte des urspr\u00fcnglichen, in der Luft vorhandenen Schalles und diejenigen des mitschwingenden Trommelfells beurtheilen wir einerseits nach dem zur Erzeugung des Tons verwendeten Kraftaufwand und anderseits nach der St\u00e4rke der Empfindung. Die aus dieser Sch\u00e4tzung gezogenen Vergleiche m\u00fcssen mangelhaft genug sein, da abgesehen von allen fr\u00fcher gemachten Ausstellungen an dem Verfahren die Empfindungswerkzeuge als Messinstrumente zu benutzen, hier noch der besondere Umstand hinzu kommt, dass das Trommelfell nicht das einzige schallleitende St\u00fcck zwischen Luft und Nerv darstellt; die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen, das Wasser und die H\u00e4ute des Labyrinths k\u00f6nnten noch wesentliche Ver\u00e4nderungen an den Geoen-st\u00e4nden der Empfindung, d. h. an der St\u00e4rke der fortschreitenden Schwingung erzeugen. Diese Bedenken w\u00fcrden es verbieten, auf Grund der angef\u00fchrten Methoden irgend etwas besonderes auszusagen \u00fcber die Kr\u00e4fte der Schallschwingung im Trommelfell, w enn wir es nicht m\u00f6glich zu machen w\u00fcssten, den Spannungsgrad des Trommelfells unabh\u00e4ngig von einer Ver\u00e4nderung der \u00fcbrigen schallleitenden Vorrichtungen zu steigern, so dass wenigstens der Einfluss einer verschiedenen Spannung des Trommelfells mit einiger Sicherheit ermittelbar wird ; ausserdem darf aber nat\u00fcrlich behauptet werden, dass das was wir vom Luftton h\u00f6ren durch das Trommelfell ffeaanaen sei. \u2014 Nach allbekannten Erfahrungen werden im gew\u00f6hnlichen Zustand des Ohres, in dem wir dem Trommelfell eine mittlere Spannung zuschreiben, auch noch durch Schallschwingungen, den ausserordentlich geringen Kr\u00e4ften, Empfindungen erregt; ausserdem unterscheiden wir an den T\u00f6nen verschiedenartigster H\u00f6he durch das Geh\u00f6r die relative St\u00e4rke mit der sie erzeugt worden sind. Hieraus schliessen wir, dass der gesammte schallleitende Apparat und somit auch, das Trommelfell geeignet sei durch schwache Luftschwingung zur Mitbewegung erregt zu werden und ferner, dass dasselbe proportional den lebendigen Kr\u00e4ften der T\u00f6ne von der allerverschiedensten H\u00f6he mitschwinge. Diese letztere F\u00e4higkeit der Geh\u00f6rwerkzeuge ist jedoch selbst bei der normalen mittleren Spannung des Trommel-\n*3 Savart sur les usages du tympan. Ann. d. chimie XXVI. Bd. \u2014 Seebeck in Repertor. d.\nPhysik v. Dove VIII. Bd, Akustik p. 60 u. 103. \u2014' Gehler, physikal. W\u00f6rterbuch IV. Bd,\n1208. u. 1268,","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Mitschwingung des Trommelfells.\n271\nfelis keine unbeschr\u00e4nkte, indem wir nachweislich sehr tiefe T\u00f6ne von einer ausserordentlichen objektiven St\u00e4rke doch nur als sehr schwache vernehmen, w\u00e4hrend wir umgekehrt hohe T\u00f6ne von objectiver Schw\u00e4che als sehr starke h\u00f6ren. Sollten diese Unterschiede der\nH\u00f6rbarkeit hoher und tiefer T\u00f6ne nicht von dem Geh\u00f6rnerven, sondern\n\u00bb\nvon dem schallleitenden Apparat und insbesondere vom Trommelfell abh\u00e4ngig sein, so w\u00fcrde es bedeuten, dass das letztere f\u00fcr h\u00f6here T\u00f6ne leichter als f\u00fcr tiefe mitschwingt. \u2014 Die F\u00e4higkeit des Trommelfells, die Schallbewegungen ihrer St\u00e4rke entsprechend in sich einge-hen zu lassen, erf\u00e4hrt dagegen nachweislich eine wesentliche Beeintr\u00e4chtigung, wenn es aus seiner normalen Spannung in eine h\u00f6here versetzt wird ; geschieht dieses ohne gleichzeitige anderweitige Ver\u00e4nderung des Ohrs, so verlieren wir entweder die Empfindlichkeit f\u00fcr eine grosse Reihe tiefer T\u00f6ne vollkommen, oder wir werden wenigstens unempf\u00e4nglicher f\u00fcr dieselben, so dass tiefe T\u00f6ne von sehr betr\u00e4chtlicher objektiver St\u00e4rke nur sehr schwache Empfindungen erzeugen, w\u00e4hrend wir umgekehrt schwache hohe T\u00f6ne st\u00e4rker als gew\u00f6hnlich h\u00f6ren; J. M\u00fcller. \u2014 Nach Beobachtungen von Wollaston soll auch die umgekehrte Erscheinung eintreten, die n\u00e4mlich dass in gewissen Spannungsgraden das Trommelfell seine F\u00e4higkeit ein-b\u00fcsst, durch hohe T\u00f6ne in Schwingung zu kommen. \u2014 Da die Empfindung des Schalls momentan mit dem objektiven Ende desselben verschwindet, so schliessen wir daraus, dass das Trommelfell nicht in Naehschwingungen gerathe, welche noch andauern, wenn auch die anstossende Gewalt ihre Einwirkungen eingestellt hat.\nIm Allgemeinen gehen die Schallschwingungen ans der Luft dann am leichtesten in feste K\u00f6rper \u00fcber, wenn diese eine membranf\u00f6rmige Gestalt besitzen; dieses erkl\u00e4rt sich daraus, dass in dieser Form der feste K\u00f6rper der schwingenden Luft eine grosse Fl\u00e4che bietet, deren Molekeln wie bei allen festen K\u00f6rpern verdichtet und welche zugleich wegen ihres geringen Widerstandes im Ganzen gebeugt wrerden kann. Ist die Bewegung einmal in die Membran \u00fcbergegangen, so wird sie von hier aus nun leicht auch auf feste Stoffe von beliebiger Gestalt, die mit ihr in Ber\u00fchrung sind, \u00fcbergef\u00fchrt weiden, so dass die Membranen vorzugsweise als Schalivermittler zwischen Luft und festen K\u00f6rpern angesehen werden k\u00f6nnen ; Savart. Obwohl nun aber allerdings die Schallwellen leichter in eine Membran als in einen Stab, Saite u. s. w. dringen, so geht doch nicht jede Art von Schallbewegung gleich leicht in dieselbe ein; diese Bemerkung gilt namentlich f\u00fcr die t\u00f6nende Schallbewegung, d. h. f\u00fcr diejenigen Schwingungen, welche in raschen und regelm\u00e4ssig auf einander folgenden Zeite/i wiederkehren. F\u00fcr die Aufnahme der Tonschwingungen in Membranen stehen erfahrungsgem\u00e4ss die Regeln fest, dass die T\u00f6ne am vollkommensten eindringen, deren Schwingungszahlen entweder gerade \u00fcbereinstimmen mit denjenigen des Eigentons der Membran, d. h. mit demjenigen, den diese f\u00fcr sich angeschlagen gibt, oder die wenigstens in einem einfachen Verh\u00e4ltniss zu dem Eigenton stehen. Von allen \u00fcbrigen T\u00f6nen werden wiederum diejenigen am leichtesten aufgenommen, deren Schwingungszahl nicht allzirweit von der des Eigentons der Membran absteht, und unter diesen die h\u00f6hern besser als die tiefem. Mit diesem Verhalten der Membran steht es in Einklang, dass das Trommelfell bei st\u00e4rkerer Spannung, wo es einen hohen Eigenton gibt, den tieferen T\u00f6nen den Durchgang verwehrt; unbegreiflich er-","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nSpannung des Trommelfells.\nscheint es dagegen, dass \u00fcberhaupt einer so grossen Tonreihe der Durchgang gestattet ist. Denn unter allen Umst\u00e4nden musste eine so kleine Membran von einem so hohen Eigenton schon nicht mehr in merklicher Weise mit so tiefen T\u00f6nen als es in der That geschieht, mitschwingen, oder mindestens durch einen tiefen Ton in sehr viel schw\u00e4chere Bewegung gesetzt werden, als durch die gleichstarke Schwingung eines hohen Tones A. Seebeck hat diesen Widerspruch zu l\u00f6sen versucht. Nach einer von ihm angestellten Betrachtung ist die lebendige Kraft der Mitschwingung, vorausgesetzt, dass man die des erregenden Tons = 1 annimmt, auszudr\u00fccken durch einen Bruch, in welchen neben den Schwingungszahlen des erregenden Tons und des Eigentons der Membran auch noch die Widerst\u00e4nde Vorkommen, w elche die Mittel der Mitschwingung entgegensetzen, die die Membran hinten und vorn umgeben. Namentlich aber stellt der Nenner dieses Bruchs eine Summe dar, die aus zw ei Gliedern gebildet ist; im ersten derselben kommt ti. a. w esentlich die Differenz der erw\u00e4hnten Schwingungszahlen vor, im letzten von beiden aber der Widerstand des Mittels an den die mitschwingende Membran ihre Bew egung \u00fcbertragen soll. Daraus geht hervor, dass\nwenn das letzte der additiven Glieder des Nenners, d. h. der Widerstand des zweiten Mittels sehr gross wird, so wird die Mitschwingung zwar eine sehr geringe, aber es verliert zugleich das erste Glied des Nenners wesentlich an seiner Bedeutung, und somit wird die St\u00e4rke der Mitschwingung unabh\u00e4ngig von der Tonh\u00f6he, ln der That ist nun an das Trommelfell der Hammer gef\u00fcgt, der selbst wieder durch Ambos und Steigb\u00fcgel gegen das Wasser des Labyrinthes andr\u00fcckt, so dass immer das Trommelfell mit diesen Theilen zugleich schwingen muss; hierdurch wird also ein von der Spannung des Trommelfells unabh\u00e4ngiger Schwingungswiderstand erzeugt, und somit der Grund gegeben f\u00fcr die Erscheinung, dass die Membran von einem hohen Eigenton ebenso leicht mitschwingt f\u00fcr tiefe als f\u00fcr hohe Luftt\u00f6ne. Diese Vorstellung, w elche theoretisch unangreifbar scheint, n\u00f6thigt den Physiologen zu dem Zusatz, dass der Geh\u00f6rnerv eine ungemeine Empfindlichkeit besitze; denn offenbar ist der S e eb e c k\u2019schen Meinung gegen\u00fcber die von Savart unhaltbar, welche das Trommelfell alseine Vorrichtung bezeichnet, w eiche den Schall der Luft sehr w7 eilig geschw \u00e4cht aufnehme ^ diese Empfindlichkeit w\u00fcrde dann die Schw\u00e4che der Trommelfellbewegung zur Erzeugung der Erscheinung, dass wir noch objektiv sehr schw ache Schallbewre-gung vernehmen, ausgleichen.\nSpannungen des Trommelfells k\u00f6nnen auf zwei Wegen willk\u00fcrlich erzeugt wer-den: 1) Durch eine Aus- oder Einathmungsbew egung bei geschlossenem Mund und geschlossener Nase mittelst der in die Trommelh\u00f6hle durch die tuba Eustachii eingetriebenen oder ausgesogeuen Luft 2) Durch Zusammenziehung des m. tensor tympani, w elche von einzelnen Menschen in willk\u00fcrlicher Sonderung von allen \u00fcbrigen Muskeln erzeugt werden kann (J. M\u00fcller), bei Jedermann aber gleichzeitig mit sehr kr\u00e4ftigen Bewegungen der m. m. masseter und temporalis (L. Fick), oder auch bei Schlingbewegungen und reflektorisch nach starken Geh\u00f6reindr\u00fccken (J. M\u00fc 11 er) geschieht. Da somit die Hammermuskeln durch Trommelfellspannung gewissen T\u00f6nen den Eintritt verschliessen, so hat man sie auch Tond\u00e4mpfer genannt und sie mit dem Augenlidschliesser verglichen.\nDie Abh\u00e4ngigkeit der Zeit der Trommelfellschwingung von derjenigen des erregenden Tones bringt A. S e e b e ck ebenfalls in Beziehung zu der Anlagerung der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen an das Trommelfell; offenbar mit Recht, weil die Schwingung mittelst dieser Vorrichtung leicht an die \u00fcbrigen festen Th eile des Kopfes w7eiter gegeben w erden kann, und sie somit das beste Mittel darstellt, um das Trommelfell zu beruhigen. \u2014 Ueber Wirkungen des Wassergehaltes der Trommelfellmembran und \u00fcber die Folge seiner Stellung und Form siehe S a vart 1. c. p. 2(fund G ehler\u2019s physikal. W\u00f6rterbuch L c. p. 1208.","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Gleichzeitige Bewegung von Hammer und Ambos.\n273\n3. Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen. Der Betrachtung der akustischen Wirkungen der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen muss diejenige ihrer Gelenkbewegungen voraufgehen.\nBewegungen jedes einzelnen Kn\u00f6chelchens f\u00fcr sich. Die Achse, um welche sich der Hammer bei einer gesonderten Bewegung drehen m\u00fcsste, ist bestimmt durch die Anhaftung des proc. folianius am Paukenring und durch die Form der Gelenkfl\u00e4che des Kopfes. Ob diese Bewegung in der That m\u00f6glich, muss durch k\u00fcnftige Untersuchungen entschieden werden. \u2014 Der Ambos ist nur beweglich, wenn er gleichzeitig an mehreren Gelenkfl\u00e4chen seine Lage \u00e4ndert ; denn er ist an drei Orten (den Gelenkfl\u00e4chen zwischen K\u00f6rper und den beiden Forts\u00e4tzen) festgestellt, welche nicht in einer Linie liegen. Da ihm kein Muskel zukommt, so werden diese Bewegungen nur m\u00f6glich sein, wenn sich gleichzeitig die beiden andern Knochen an ihm verr\u00fccken. \u2014 Die isolirte Bewegung des Steigb\u00fcgels ist m\u00f6glich, wenn der Ambos feststeht. Die Achse ist wahrscheinlich durch das K\u00f6pfchen des Steigb\u00fcgels und den hintern Winkel des Fusstrittes zu ziehen, so dass die Bewegung sich als ein Erheben und Senken des vordem Endes der Fusstrittplatte darstellt. Diese Bewegung wird beschr\u00e4nkt durch das ringf\u00f6rmige Trittband und die Nachgiebigkeit der membrana fenestrae rotundae; der Einfluss dieses letztem macht sich n\u00e4mlich dadurch geltend, dass die Membran des eirunden Lochs, da sie immer von Labyrinth-Wasser bedeckt ist* nur um so viel nach innen und aussen ausweichen kann, als die Nachgiebigkeit des Wassers betr\u00e4gt; diese letztere ist aber abh\u00e4ngig von der Nachgiebigkeit des runden Fensters; Ed. Weber. Die Bewegung wird ausgef\u00fchrt durch den m. stapedius, welcher senkrecht gegen die be-zeichnete Achse sitzt und dem Lauf seiner Fasern gem\u00e4ss (von hinten nach vorn) das vordere Ende der Fussplatte aus dem runden Fenster hebeln muss. Der Umfang der Wirkung dieses Muskels, resp. der Umfang der durch ihn erzeugten Bewegung ist unbekannt. \u2014 Da seine Nerven aus dem Stamm des n. facialis kommen, so vermuthet man, dass sie auch aus den Wurzeln desselben stammen, eine Yer-muthung, die noch dahin steht.\nGemeinsame * Bewegungen der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen, a. Gleichzeitige Bewegungen von Hammer und Ambos. Ed. Weber. Die Achse dieser Bewegung ist bestimmt durch die Anheftung des proc. folianus mallei und des proc. brevis incudis. Die Befestigung der Endpunkte der Achse an der Paukenh\u00f6hle wird durch das ligamentum mallei anterius (m. laxator longus) und das straffe Kapselband um den proc. brevis incudis bestimmt; diese beiden Forts\u00e4tze, die in gerader Linie fortlaufen, sind als eine Achse anz\u00fcsehen aus welcher unter rechten Winkeln nach der einen Seite der Handgriff des Hammers und der lange Fortsatz des Amboses nach der andern\nf\tLudwig, Physiologie I.\t18","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nGleichzeitige Bewegung der drei Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen.\n\u2666\nSeite aber die Gelenkk\u00f6pfe abstehen. Die Bahn der bewegten Forts\u00e4tze wird sonach ein St\u00fcck eines Kreisbogens senkrecht auf die Verbindungslinie vom proc. folianus zum proc. brevis incudis darstellen. Diese Bewegung wird gehemmt durch das Trommelfell, das ligamentum mallei externum (m. laxator tymp. min.) und durch das ligamentum Suspensorium mallei. \u2014 Bekanntlich ist in dem Trommelfell der Handgriff des Hammers so befestigt, dass dieser letztere aus der Ebene des Paukenrings heraus in die Trommelh\u00f6hle hineingetrieben wird, mit andern Worten in der Art, dass das Trommelfell einen Trichter bildet, dessen weitere Oeffnung gegen den meatus auditor, extern, hinsieht. In dieser Lage wird aber das Trommelfell erhalten durch den proc. folianus, der eine Feder dar stellt, welche sich gegen den Paukenring anlegt und den Handgriff des Hammers nach innen dr\u00e4ngt. Demgem\u00e4ss kann der Handgriff keine Bewegung ausf\u00fchren ohne das Trommelfell mit sich zu f\u00fchren, und nach dem vorhin erw\u00e4hnten, dem Handgriff m\u00f6glichen Bewegungen kann diejenige des Trommelfells nur in einem Zu- oder Abnehmen der Tiefe des Trichters bestehen; das Trommelfell hemmt nun nachweislich die Bewegung des Handgriffs nur bei der Vertiefung des Trichters, d. h. dem Einziehen des Trommelfells. In dieser Leistung wird es sehr betr\u00e4chtlich unterst\u00fctzt durch das lig. mallei externum, w\u00e4hrend das lig. suspensor. mallei das Eintreten des Trommelfells in den meat, auditor, hemmt. \u2014 Diese eben geschilderten Bewegungen k\u00f6nnen nun veranlasst werden durch den muse, tensor tympani, und durch Ungleichheiten des Luftdruckes diesseits und jenseits des Trommelfells, so dass im ersten Fall der Angriffpunkt der bewegenden Kr\u00e4fte am collum mallei und im zweiten am Trommelfell sich findet. \u2014 Die Sehne des m. tensor tympani geht, nachdem sie ihre Rolle verlassen, bekanntlich von hinten nach vorn und trifft unter einem rechten Winkel gegen die Ebene, in welcher die Hammer- und Ambosforts\u00e4tze gelegen sind, oder was dasselbe bedeutet gegen die Projektion des Trommelfells in der Ebene des Trommel rings ; demnach zieht er das Trommelfell nach hinten. Der Umfang seiner Bewegungen ist nicht bekannt. Die Verk\u00fcrzung vermittelt ein Zweig aus drittem Aste n. trigemini, wahrscheinlich liefen auch die Fasern desselben in den Wurzeln des Quin-tus, da man die Verk\u00fcrzung des Muskels erzeugen kann, wenn man die den Unterkiefer schliessenden Muskeln kr\u00e4ftig verk\u00fcrzt. Die Bewegung dieses Muskels erzeugt einen feinen hohen Ton, der wahrscheinlich durch die Zerrung des Trommelfells bedingt ist.\nUm die Bewegung des Trommelfells bei energischen Kaubewegungen darztt-thun, f\u00fcgt L. Fick*) ein horizontales, enges Glasrohr, in dem sich ein Wassertr\u00f6pf-\n*) M\u00fcllers Archiv 1850. 526. Siehe ausserdem \u00fcber Bewegung des Kammermuskels; Luschka Archiv f\u00fcr physiolog. Heilkunde, IX. Bd. p. 80 und Hauff, Valentins Jahresbericht \u00fcber 1850. p. 119.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Schallleitimg* durch die Geh\u00f6rkn\u00f6cheiclieii.\n275\nchen befindet, mittelst gefetteter Baumwolle luftdicht in den \u00e4usseren Geh\u00f6rgang, schliesst dann den Kiefer und presst nun noch durch eine kr\u00e4ftige Bewegung die Z\u00e4hne aufeinander. Hiebei h\u00f6rt man einen hohen feinen Ton, w\u00e4hrend zugleich das Wassertr\u00f6pfchen in der Richtung gegen das Innere des Geh\u00f6rgangs bewegt wird.\nAusser dem m. tensor tympani veranlassen auch Luftst\u00f6sse die beschriebene Bewegung des Trommelfells und zwar sowohl solche, welche durch den meatus auditorius extern, als auch die, weiche durch die tuba Eustachii und die Trommelh\u00f6hle zum Paukenfell dringen,\no\nb.\tGleichzeitige Bewegung von Hammer, Ambos und Steigb\u00fcgel. Der Steigb\u00fcgel folgt, vorausgesetzt dass er nicht durch den m. stapedius festgestellt ist, den schon beschriebenen Bewegungen des Hammers und Amboses; in Folge dessen muss die eif\u00f6rmige Fensterhaut entweder ein- oder ausgebogen werden, entsprechend der Trommelhaut. Der Umfang der Bewegung wird auch hier abh\u00e4ngig sein von der Nachgiebigkeit der Haut vor dem runden und ovalen Fenster.\nZu den Umst\u00e4nden, welche die gleichzeitige Bewegung de rdrei Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen veranlassen k\u00f6nnen, z\u00e4hlt Huschke ausser den schon erw\u00e4hnten auch die Verk\u00fcrzungen des m. stapedius; und zwar soll hiedurch die Bewegung, welche durch den m. tensor tympani nach hinten geschah, nach vorn ausgef\u00fchrt werden, so dass die beiden Muskeln antagonistisch wirkten. Dieser Annahme gem\u00e4ss m\u00fcsste der Faserverlauf in der Zugrichtung beider Muskeln gerade entgegengesetzt sein, eine Bedingung, die jedoch nicht zutriift.\nc.\tGleichzeitige Bewegungen von Ambos und Steigb\u00fcgel ohne eine entsprechende des Hammers d\u00fcrfte endlich ebenfalls m\u00f6glich sein; sie tritt wahrscheinlich ein, wenn das Trommelfell und somit der Hammerstiel so stark ein- oder ausw\u00e4rts gebogen ist, dass der Abstand zwischen der Trommel- und Fensterhaut betr\u00e4chtlich ver\u00e4ndert ist. In diesem Fall vergr\u00f6ssern oder verkleinern sich wahrscheinlich die Winkel, unter welchen der Ambos mit dem Hammer und der Steigb\u00fcgel mit dem Ambos zusammentrifft, so dass sich die Kette der Kn\u00f6chelchen verl\u00e4ngert oder verk\u00fcrzt. Dieses scheint nothwendig, weil die Haut des eif\u00f6rmigen Fensters nicht in gleichem Maasse nachgeben kann wie die Trommelhaut. Diese Bewegungen d\u00fcrften sich vorzugsweise beim Aufblasen und Aussaugen der Trommelh\u00f6hle ereignen.\nNach der Er\u00f6rterung der Beweglichkeit der Kn\u00f6chelchen gehen wir zu der Betrachtung der akustischen Vorg\u00e4nge in ihnen \u00fcber. \u2014 Als die Schallbewegung aus der Luft in das Trommelfell eingetreten war, verwandelten sich die Yerdichtungs- inBeugungswellen; das nach innen und aussen schwingende Trommelfell wird auf diesem Wege die Reihe der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen mit sich ziehen und dadurch wird sich sein bewegender Effekt auf die Haut des ovalen Fensters und auf das Labyrinthwasser \u00fcbertragen; Ed. Weber. Dieser einfachen Annahme steht eine andere \u00e4ltere gegen\u00fcber, wonach durch die Kette der Kn\u00f6chelchen wieder Yerdichtungs- und Yer-\n18*","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\n^Schallleitung in das Labyrinth.\nd\u00fcnnungswellen geleitet w\u00fcrden, die in das Labyrinthwasser auch als solche \u00fcbergingen ; beurtheilt man diese letztere Art der Leitung nach den von Duhamel*) f\u00fcr \u00e4hnliche akustische Einrichtungen ermittelten Grunds\u00e4tzen, so wird durch die aus dem Trommelfell in den Hammer eindringenden Wellen der letztere in zwei verschiedene Schwingungsperioden versetzt werden. Die eine derselben ist abh\u00e4ngig von der Spannung der in der Hammersubstanz enthaltenen Theilchen, d. h. sie stellt den Eigenton des Hammers dar; die zweite ist dagegen gleich derjenigen, welche dem Hammer vom Trommelfell mitgetheilt wurde ; erst bei hinreichend langer Dauer dieser letztem w\u00fcrde die erste Bewegung verschwinden. Aehnlich d\u00fcrfte sich der Hammer zum Ambos und dieser zum Steigb\u00fcgel verhalten.\nDie Weber\u2019sche Annahme scheint die wahrscheinlichere von beiden; jedenfalls sind wenigstens die Bedingungen so gestaltet, dass die von ihm beschriebene Bewegungs\u00fcbertragung Statt finden muss.\nDie besondere Lagerung der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen in der Trommelh\u00f6hle, verm\u00f6ge deren sie nur an wenigen Stellen mit der festen Wandung derselben in Ber\u00fchrung sind, betrachtet Joh. M\u00fcller, welcher der zweiten der im Text erw\u00e4hnten Ansichten \u00fcber Mittheilung der Schallbewegung anh\u00e4ngt, als ein Mittel, um die Schalibe-wegung zu isoliren, da an den Grenzen zwischen Luft und festem K\u00f6rper der Schall bekanntlich reflektirt wird. Dieser Annahme widerspricht aber die mannigfache Ber\u00fchrung zAvischen den Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen und der Trommelh\u00f6hle.\nAuf eine andere Bedeutung der beweglichen Knochenkette in ihrer Verbindung mit dem Trommelfell ist schon hingewiesen, als die Einfl\u00fcsse der Trommelfellspannung besprochen wurden.\n3. Labyrinth**).\nDie Form der vom Steigb\u00fcgel an das Labyrinth \u00fcbertragenen Schallwelle, wird wiederum bald als gebeugte und bald als verdichtete angesehen. \u2014 Ed. Weber, der die erstere dieser Meinungen auf-gestellt hat, macht darauf aufmerksam, dass am Labyrinthwasser die Bildung einer Beugungswelle gestattet sei, weil dasselbe nicht von absolut unnachgiebigen W\u00e4nden umgeben ist, indem die Oeffnung f\u00fcr den Steigb\u00fcgel am runden Fenster ein Gegenloch findet; nach Ed. Weber wird also durch den Stoss der im Ganzen bewegten Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen die eif\u00f6rmige Membran in das Wasser des Vorhofs gedr\u00e4ngt, und von hier die Ortsbewegung der Wassertheilchen fortgepflanzt durch die Schnecke bis zu der Membran des runden Fensters, welche dadurch eine entsprechende Ausbiegung erf\u00e4hrt. \u2014 Nach der andern Ansicht verdichten die in den Kn\u00f6chelchen vorhandenen Bewegungen die klein-sten Theilchen der Masse der Membran und diese ihrerseits wieder diejenigen des Wassers; die Membran soll auch hier vermittelnd\n*) Compt. rend. XV. 1.\n**) E.H. Weber, Gesammelte Programme 1. Bd. Leipzig J 834. p. 25 de \u00fctilitate eochlese in organ, aud. \u2014 Joh. M\u00fcller, Handbuch der Physiol. II. Bd. p. 459. \u2014 Ed. Weber 1. c. und Berichte der Naturforscher-Versammlung zu Braunschweig.","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"277\nSchallleitung In das Labyrinth.\nf\u00fcr den Uebergang der Bewegung aus einem Medium in ein anderes wirken.\nDie von Ed. Weber gegebene Darstellung hat insofern viel ansprechendes, als sie in Uebereinstimmung steht mit der Art von Beweglichkeit, welche dem Wasser vorzugsweise eigen ist; und weil man nach ihr dem Trommelfell und den auf den H\u00f6rnerven unmittelbar wirkenden Theilen eine gr\u00f6ssere Beweglichkeit zuschreiben darf. Wollte man in der That annehmen, es sei das Trommelfell durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen auf das in unnachgiebigen W\u00e4nden eingeschlossene Wasser aufgestemmt, so w\u00fcrde weitaus der gr\u00f6sste Theil der schallmittheilenden Kr\u00e4fte reflektirt w erden, w egen des Widerstandes, den das Wasser jeder merklichen Ver\u00e4nderung seiner Dichtigkeit entgegensetzt. Endlich ist mit der Weber\u2019schen Darstellung eine alte ungereimte Ansicht beseitigt, diejenige n\u00e4mlich von der doppelten Leitung durch die Paukenh\u00f6hle. Dieser, noch von J. M\u00fcller vertretenen Annahme gem\u00e4ss sollte die eine Schallleitung vom Trommelfell zu den Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen durch das eirunde Fenster und zugleich eine andere mittelst der Luft der Paukenh\u00f6hle durch das runde Fenster in das Labyrinthw asser gelangen. Die M\u00fclle r\u2019schen Versuche zeigten, wie es die Theorie erw arten liess, eine ausserordentliche Abschw\u00e4-chung des Schalles auf dem letzteren Wege, so dass die durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen geleitete Welle die durch die Luft dringende an lebendiger Kraft weit \u00fcbertrifft. F\u00fcr das H\u00f6ren w\u00fcrde das bedeuten, dass man einen schwachen und einen sehr lauten Ton zusammen vern\u00e4hme. \u2014 Diesen Wahrscheinlichkeitsgr\u00fcnden gegen\u00fcber erheben sich nun aber auch Bedenken gegen die Annahme von Ed. Weber; unter ihnen wiegt das am schwersten, welches entsteht bei einer Vergleichung der bew egenden Kr\u00e4fte und der widerstehenden Lasten. Denn so weit die W e b e r\u2019schen Darstellungen vorliegen, verlangen sie, dass gleichzeitig auch von den schw \u00e4chsten Schallbew^egungen die grosse Last des Trommelfells, der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen und des Labyrinthwassers fortzuschaffen sei und zugleich die Reibungen zu \u00fcberwinden w\u00e4ren, die sich dieser Verschiebung entgegensetzen.\nUnbekannt ist es, in welcher Form und Kraft die Welle in die Geh\u00f6rs\u00e4ckchen, und insbesondere in das Bereich der Geh\u00f6rsteine, in die Spiralplatte der Schnecke und insbesondere in die Corti-schen Organe*) eintritt. Ebensowenig sieht man die Nothwendigkeit ein, warum die Nerven mit Wasser umsp\u00fclt sein m\u00fcssen. Ob durch die eintretende Bewegung die Nerven zusammengedr\u00fcckt, (verdichtet) oder nur gebogen (umher geschleudert) werden ist unbekannt.\nDie Mittheilungen \u00fcber die Wirkung der Schallwellen im Labyrinth haben leider noch mehr Probabilit\u00e4ten abzuweisen als gesunde Hypothesen vorzuf\u00fchren oder zu best\u00e4tigen. \u2014 Die gew\u00f6hnliche Meinung, dass die in der Schnecke enthaltenen Nerven durch die aus dem Steigb\u00fcgel tretende Bew egung weniger angeregt w\u00fcrden, als die der Ampullen und S'\u00e4ckchen, entbehrt besonders seitdem Bekanntw^erden der Untersuchungen von Corti jeglicher Begr\u00fcndung. \u2014 J. M\u00fcller nennt die Geh\u00f6r-steinchen einen Resonnanzapparat auf Grund der vermeintlichen Thatsache, dass ein Beutelchen voll Steine, die mau in Wasser h\u00e4ngt, den Schall gut aufnehmen und wieder abgeben; inwiefern w\u00e4re aber die Otolithenvorrichtung mit jeher zu vergleichen? und ist die Fundamentalthatsache begr\u00fcndet? \u2014 Auch die von Bowmann und Corti und besonders die von letzterem beschriebene Struktur hat schon Veranlassung zu freilich ziemlich nichtssagenden Bemerkungen gegeben. Da nach diesen Entdeckungen die Spiralplatte der Schnecke mit sehr leichten und leicht beweg-\n*) Recherches sur l\u2019organe de l\u2019ou\u00efe etc. Zeitschrift f\u00fcr Wissenschaft!. Zoologie von K\u00f6lliker\nIII. Bd. 1. Hft.","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"I\n278\tEustachische R\u00f6hre. Schallleitiiug durch die Kopfknocheu.\nliehen K\u00f6rperchen bestreut ist, die in einem gut gesch\u00fctzten Raume eingebettet ihrer Anheftung gem\u00e4ss immer in dieselbe Lagerung zur\u00fcckkehren, so m\u00fcssen sie \u00e4hnliche Wirkungen erzeugen, als wir sie gewahren, wenn wir Sand auf eine Platte streuen, die in Schwingungen ger\u00e4th; es m\u00fcssen sich n\u00e4mlich, gleichgiltig ob Beu-gungs- oder Verdichtimgswellen in der Spiralplatte bestehen, die K\u00f6rperchen der habenula denticulata abheben; durch Yergr\u00f6sserung des Weges der schwingenden Theilchen wird demnach die Zeitdauer des Verweilens der Schwingung in der Spiralplatte verl\u00e4ngert werden; Corti. .Verfehlt ist dagegen die Meinung von Harless*), welcher die freisekwebenden K\u00f6rper als D\u00e4mpfer ansieht; sie w\u00fcrden dieses nur sein k\u00f6nnen, wenn sie mit irgend welchen Theilen ausserhalb des Ohres in direkter Verbindung st\u00e4nden, so dass sie dorthin die von der Spiralplatte empfangene Bewegung \u00fcbertragen k\u00f6nnten. \u2014 Die Gegenwart des Geh\u00f6rw assers suchte J. M \u00fc 11 e r aus dem fl\u00fcssigen Nerveninhalt begreiflich zu machen; er dachte sich, dass die im Wasser vorhandene Schwingung in das Nervenmark, als in ein homogenes Mittel besonders leicht und vollkommen \u00fcbertrete. Diese Hypothese w\u00fcrde anunehmbar sein, wenn der Nerveninhalt nur Nervenmark w\u00e4re und dieser Inhalt das Wasser ohne ein zwischen liegendes heterogenes Mittel (die Scheide) ber\u00fchrte; denn nur in diesem Falle w\u00fcrden die Wellen des Wassers ungest\u00f6rt eingehen. \u2014 Anderweitige Annahmen \u00fcber die akustische Funktion des Labyrinths siehe bei J. M\u00fcller.\nUeber die merkw\u00fcrdigen Aquaeductus, die man mit Unrecht als abgethan ansieht, vergleiche die Literatur bei Husdike, Eingeweidelehre, p. 8T2. Anmerkung.\n4. Eustachische R\u00f6hre.\nUm Spielraum f\u00fcr die Bewegungen der Felle vor dem Trommelring, vor dem runden Fenster und f\u00fcr die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen zu gewinnen, mussten alle diese Theile in eine Substanzl\u00fccke, die Trommelh\u00f6hle gestellt werden. Diese H\u00f6hlung, die mit Luft gef\u00fcllt ist und deren W\u00e4nde mit gashaltigen Fl\u00fcssigkeiten getr\u00e4nkt sind, ist bekanntlich durch die Trompete mit der Atmosph\u00e4re in Verbindung gesetzt. Die Folgen dieser Verbindung lassen sich kurz dahin bestimmen, dass a) die Luft ausserhalb keine andere Spannung erhalten kann als innerhalb, eine Verschiedenheit, welche ohne diese Communikation eintre-ten w\u00fcrde bei Ver\u00e4nderungen in der Zusammensetzung der Gase des Blutes, in dem Barometerst\u00e4nde der Atmosph\u00e4re und bei Bewegungen des Trommelfells durch den Hammer. Wie oben erw\u00e4hnt w\u00fcrden solche Ver\u00e4nderungen in der Spannung einen Wechsel in der F\u00e4higkeit des Trommelfells T\u00f6ne aufzunehmen herbeif\u00fchren, mit andern Worten die Empfindlichkeit des Ohrs einem stetigen Schwanken unterworfen sein, b) Aber selbst unter Voraussetzung gleicher Dichtigkeit der Luft aussen und innen, w\u00fcrde bei mangelnder Communikation zwischen Trommelh\u00f6hle und Atmosph\u00e4re jede Art von Bewegung des Trommelfells erschwert werden, wegen der steigenden Verdichtung oder Verd\u00fcnnung der Luft. Dann w\u00fcrden sowohl die Wirkungen d\u00e8s Hammermuskels als auch der Uebergang der Schallwellen in das Trommelfell, die hier neben einer Verdichtung immer auch eine Beugung hervorrufen, eine Hemmung erfahren haben.\n*) Harless, Artikel H\u00f6ren in Wagners Handw\u00f6rterbuch. IV. Bd. 447.","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Geh\u00f6rnerv.\n279\nAusser diesen mechanischen Folgen der Trompete hat man \u00f6fter auch nach besonderen akustischen geforscht; einsichtlich ist es, dass die Resounanz der Luft in der Trommelh\u00f6hle eine Ver\u00e4nderung erf\u00e4hrt, je nachdem ihre W\u00e4nde rings geschlossen oder theilweise ge\u00f6ffnet sind; oh aber das auf das H\u00f6ren von Einfluss ist, steht zu erweisen. Anderweitige Probalit\u00e4ten finden sich noch in M\u00fcllers Handbuch der Physiologie II Bd. 444.\nB. Schallleitung durch die Kopfknochen.\nDer zweite Weg, auf welchem Schallwellen, die im Raume erregt worden zu den Geh\u00f6rnerven gelangen k\u00f6nnen, sind die Sch\u00e4delknochen. Wegen des schlaffen wenig gespannten Ueberzugs, welchen die Weichtheile (Haut, Muskeln etc.) denselben gew\u00e4hren, und wegen des betr\u00e4chtlichen Spannungsunterschiedes, in welchem sich die Molek\u00fcle des Knochens gegen\u00fcber denen in eben diesen Weichtheilen befinden, k\u00f6nnte ein Zweifel erhoben werden, ob \u00fcberhaupt die Kopf-theile insoweit zur Leitung f\u00e4hig w\u00e4ren, dass eine merkliche Schallbewegung durch sie zum Geh\u00f6rnerven dr\u00e4nge. \u2014 Dieser Zweifel wird durch die Erfahrung dahin berichtigt, dass allerdings nur Luftwellen von sehr intensiven beAvegenden Kr\u00e4ften durch die Kopfknochen vernommen werden, w\u00e4hrend Schallwellen, welche unmittelbar aus festen K\u00f6rpern und namentlich durch die Z\u00e4hne, in den Kopf ein-dringen, ohne besondere Schwierigkeit in das Labyrinth gelangen.\nOb hohe oder niedre T\u00f6ne leichter geleitet werden, ob und welche Ver\u00e4nderungen an dem Gesetz der beschleunigenden Kr\u00e4fte der schwingenden Theilchen auf dem Wege durch die Kopfmassen zum Vorschein treten, ist empirisch nicht festgestellt und theoretisch nicht bestimmbar. Sehr wahrscheinlich ist es aber, dass dieselbe Welle, je nachdem sie durch die Trommelh\u00f6hle oder durch die Kopfknochen zu den H\u00f6rnerven gedrungen ist, verschieden modifizirt anlangt; B011-nafond*).\nIm Labyrinth selbst wird nach einer begr\u00fcndeten Vermuthung von E. H. Weber**) der durch die Kopfknochen dringende Schall vorzugsweise in die Schneckennerven eintreten, weil er zu diesen ohne irgend welche Reflexion gelangen kann; denn es verbreiten sich ja die Schneckennerven in festen Theilen. Schwieriger und demnach mit geringerer Intensit\u00e4t m\u00f6chten sie dagegen in die Nerven der Ampullen und S\u00e4ckchen dringen, weil sie, um zu diesen zu gelangen, noch ein neues Medium, die Perilymphe zu \u00fcberschreiten haben. \u2014 Die von Ed. Weber entdeckte Betheiligung dieser Art von Schallfortpflanzung bei der Bestimmung der Richtung des H\u00f6rens wird sp\u00e4ter behandelt werden.\nDas einfache Mitttel um die Leitungserscheinunges des Kopfes insbesondere zu studiren besteht darin, das Trommelfell unf\u00e4hig zu machen f\u00fcr die Aufnahme von\n*) Valentins Jahresbericht \u00fcber Physiologie 1851. p. 162.\n**) De utilitate cochle\u00e6 etc. 1. c.","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nTou, Tonh\u00f6he.\nLuftschwiuguiigen. Dieses geschieht nach Ed. Weber am sichersten, wenn man den \u00e4usseren Geh\u00f6rgang mit Ausschluss jeglicher Luftblasen voll Wasser f\u00fcllt.\n' Geh\u00f6rnerv.\nDie auf die Seele wirkenden Erregungen der H\u00f6rnerven erzeugen die Empfindung des Schalles. Dieser Empfindung steht die Stille gegen\u00fcber, womit wir den Zustand bezeichnen, in welchen der Geh\u00f6rnerv keine Erregungen der Seele veranlasst.\n1. Erregungsmittel.\nZu den Schall erregenden Mitteln z\u00e4hlt man erfahrungsgem\u00e4ss nur mechanische Ersch\u00fctterungen, seitdem es .zweifelhaft geworden, ob durch den eleotrischen Strom Schallempfindung zu erzeugen sei; E. H. Weber*). Jedoch nicht jede Ver\u00e4nderung in den mechanischen Spannungsverh\u00e4ltnissen der auf den H\u00f6rnerven einwirkenden ponderablen Masse ruft eine Schallempfindung hervor. Ausgeschlossen von diesem Verm\u00f6gen sind alle diejenigen mechanischen Einwirkungen, welche eine f\u00fcr l\u00e4ngere Zeit constante Spannungsver\u00e4nderung, einen stetigen Druck und Zug auf den Geh\u00f6rnerven bedingen. Demgem\u00e4ss werden nur fortlaufende Ver\u00e4nderungen in den Span-nungs- oder Lagerungszust\u00e4nden des Geh\u00f6rnerven oder in den ihn umgebenden Theilen als Schall empfunden. Diesen Ver\u00e4nderungen m\u00fcssen aber ausserdem, wenn sie schallerregende sein sollen, noch gewisse Merkmale zukommen und namentlich m\u00fcssen die beschleunigenden Kr\u00e4fte nach irgend einer Periode zu- und abnehmen, so dass die Beschleunigung von einem Minimum zu einem Maximum aufsteigt, und von diesem wieder zu seinem Minimum absinkt, ferner m\u00fcssen wahrscheinlich mehrere solcher Perioden der Zeit nach hintereinander folgen, und endlich muss die durch die beschleunigenden Kr\u00e4fte erzielte Bewegung eine gewisse Geschwindigkeit erreichen. Eine so beschaffene Bewegung erweckt nun verschiedene Empfindungen je nach dem Zeitraum, welcher vom Beginn einer Periode bis zum Beginn der n\u00e4chsten verfliesst, je nach,dem Gesetz der Beschleunigung, welche die Bewegung beherrscht und endlich je nach dem absoluten Werth der Geschwindigkeit, mit welcher die Bewegung geschieht.\na. Ver\u00e4nderung der Empfindung mit dem zeitlichen Abstand des Beginns zw7eier Perioden. Ton, Tonh\u00f6he. \u2014 Je nach dem Zeitraum, welcher verfliesst vom Beginn einer Schwingung bis zum Beginn der n\u00e4chst folgenden wechselt die Empfindung. Den einer solchen Periode parallel gehenden Empfindungsakt belegen wir mit dem Namen des Tons, und wir nennen einen Ton um so h\u00f6her, je k\u00fcrzer der Zeitraum einer Periode ausf\u00e4llt. Wir empfinden dem gem\u00e4ss die Zeit der Schwingung, oder z\u00e4hlen mit andern Worten [durch die Art der Empfindung]\n*D Artikel Tastsinn in Wagners Handw\u00f6rterbuch p. 508.","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"'9\nTonh\u00f6he; Grenzen der Tonreihe; Klang.\t281\ndie Summe der Perioden, welche in der Zeiteinheit abl\u00e4uft. F\u00fcr die Tonh\u00f6he ist das Beschleunigungsgesetz, welches die einzelne Schwingung beherrscht, vollkommen gleichg\u00fcltig ; so werden z. B. die in der Fig. 7b verzeichnten Curven A, B, C, deren Abszisse x die Zeit und\nFigv 76.\tderen Ordinaten y die in\ny A\tB\tC\tden verschiedenen Z\u00e8iten\nvorhandenen Geschwindigkeiten des schwingen-x den Theilchens bedeuten, s\u00e4mmtlich den Eindruck gleicher Tonh\u00f6he machen, 0\t12\t3 weil die Zeiten von 0 bis 1\nvon 1 bis 2 und von 2 bis 3 einander gleich sind.\nDie Tonreihe hat ihre obere (?) und untere Grenze, d. h. wenn eine Periode ein gewisses Zeitmaass \u00fcbersteigt, oder ein anderes Zeit-maass nicht erreicht, so erweckt sie uns keine Tonempfindung mehr. Mit einiger Willk\u00fcr hat man festgesetzt, dass eine Sclrwingung, deren Periode l\u00e4nger als Sec. und k\u00fcrzer als\tSec. dauert, keine\ntonerzeugende Kraft mehr besitzt. Diese Annahme ist insofern will-k\u00fcrlich, als die Grenzen f\u00fcr verschiedene Menschen ganz verschieden liegen; zudem ist nicht ermittelt ob die Gr\u00fcnde f\u00fcr das Verschwinden der H\u00f6rbarkeit in den Nerven oder in den schallleitenden Geh\u00f6rwerkzeugen liegen. \u2014 Bemerkenswerth ist, dass innerhalb dieser Grenzen je nach den Zahlenverh\u00e4ltnissen, welche zwischen den Schwingungszeiten der T\u00f6ne bestehen, diese letzteren gewisse Analogien in der Empfindung besitzen.\nDer Beweis f\u00fcr die Richtigkeit der vorgetragen en Behauptungen wird durch die in allen Lehrb\u00fcchern der Physik beschriebene Sirene oder das Savart\u2019sche Zahnrad geliefert. \u2014 Weit ansprechender f\u00fcr die physiologische Bestimmung des Tons w\u00fcrde es sein, wenn man ihn als das Mauss f\u00fcr die Dauer einer abgelaufenen Schwingung bezeichnete. Dieses ist aber nicht erlaubt, da man nach den Versuchen von Seebeck*) auch die Zwischenzeit zweier Perioden, in denen die Bewegung selbst sehr kurze Zeit hindurch (so z. B. gegen Ende von B in Fig. 76) Null sein kann mit in die Bestimmung des Tons aufnehmen muss; ja was noch merkw\u00fcrdiger, selbst wenn die Geschwindigkeit von einem Maximum, wie in Cbei a um ein nicht unbetr\u00e4chtliches absinkt und eine neue Steigerung bei b erf\u00e4hrt, so fassen wir doch beide Steigerungen in einen Ton zusammen**). Demgem\u00e4ss muss also die Bewegung schon eine gewisse endliche Zeit auf das Ohr eingewirkt haben, ehe wir die Empfindung des Tons erhalten, was sich in noch ungel\u00f6stem Widerspruch befindet mit der Thatsache, dass wir mit dem Moment des Eintretens der tonerzeugenden Bewegung schon ein Urtheil \u00fcber die Tonh\u00f6he bilden.\nb. Ver\u00e4nderung der Empfindung je nach dem Gesetz der Beschleunigung, welches die Schwingung beherrscht, Klang, Tonqualit\u00e4t. Die schwingende Bewegung kann begreiflich je nach ver-\n*) Dove Repertor. d. Physik. VI u. VIII. Akustik.\n**3 Seebeck 1. c. VI. p. 7, \u2014 S. auch Savarts Versuche mit dem Zahnrad. Annales d. chim. et phys. 44. u. 47. Bd,","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\tKlang; Untersuchung derselben mit der Sirene.\nschiedenen Umst\u00e4nden innerhalb derselben Zeit auf eine unendlich mannigfache Weise ihr Maximum erreichen und von demselben absinken. Eine jede Ver\u00e4nderung in diesem Beschleunigungsgesetz entspricht einer Ver\u00e4nderung der Empfindung, die wir den Klang nennen, so dass ein Ton von derselben H\u00f6he in unendlich verschiedenen Kl\u00e4ngen empfunden werden kann. Obwohl im Allgemeinen durch E. H. und W. Weber, Cagnard Latour und Seebeck festgestellt ist, dass der Klang aus dem Beschleunigungsgesetz der Schwingung resultirt, so fehlt nun noch die Kenntniss der Beziehungen beider und namentlich die Kenntniss der Grenzen zwischen Klang und sogenannten Beit\u00f6nen.\nE. H. und W. Web er*) zeigten zuerst, dass eine gleich lange und gleich gespannte Saite einen verschiedenen Klang desselben Tones gibt, je nachdem man sie in der Mitte oder den Enden anzieht. \u2014An der Sirene fand Cagnard-Latour den Ton mehr der Trompete, Oboe und Fagott oder der menschlichen Stimme \u00e4hnlich, je nachdem die Entfernung der L\u00f6cher zu ihrem Durchmesser in verschiedenem Verh\u00e4ltuiss stand. Seebeck**) brachte auf einer Sirene die L\u00f6cher von 1- bis 60-fachem Abstand ihres Durchmessers an; in diesen F\u00e4llen wurden die einzelnen St\u00f6sse durch eine verschieden lange Zeit der Ruhe von einander getrennt. Diese Methode der Tonerzeugung hat den Vortheil, dass man sich eine ungef\u00e4hre Vorstellung von der Ab- und Zunahme in der Geschwindigkeit der schwingenden Theilchen bilden kann. Denn stellen wir uns vor, die R\u00f6hre, mittelst welcher die Sirene angeblasen werde, habe eine kreisf\u00f6rmige M\u00fcndung von gleich grossem Durchmesser, wie derjenige der Sirenenl\u00f6cher, so wird offenbar beim allm\u00e4ligen Vor\u00fcbergehen eines Sirenenlochs vor der M\u00fcndung der anblasenden R\u00f6hre die Beschleunigung der Luft w achsen von der beginnenden Ber\u00fchrung der Grenzen beider Oeffnungen bis zum vollst\u00e4ndigen Aufeinanderpassen und dann wird von diesem Punkt ab die Beschleunigung wieder abnehmen bis die M\u00fcndung der anblasenden R\u00f6hre in dem Raume zwischen zwrei L\u00f6chern anlangt,\nwo dieselbe ihr Minimum erreicht. \u2014 Stellen wir uns dieses graphisch vor, in der Art, dassFig. 77 die Linie X die Zeit, die auf sie aufgetragene die Beschleunigung der Luft bedeuten, so wird, wenn bei a x zuerst die Grenzen beider M\u00fcndungen sich ber\u00fchren und bei bx die M\u00fcndungen sich verlassen, das Gesetz der Be-schleunigungscurve im Allgemeinen wie gezeichnet, ausfallen.\nJe nachdem nun die gleichgrossen M\u00fcndungen mehr oder weniger nahe an einander stehen, wird ein Ton zusammengesetzt aus einer Reihe mehr oder weniger nahe zusammenstehender Bogen. Seebeck beobachtete nun, dass die Tonh\u00f6he unver\u00e4ndert blieb, wenn nur in gleichen Zeiten gleichviel St\u00f6sse zum Ohr gelangten, dass dagegen der Ton mehr pfeifenartig wurde, wenn die einzelnen St\u00f6sse rascher aufeinander folgten, wie in A,B,C der Fig. 78, dass sie dagegen einen schnarrenden Klang annahmen, wenn sie in grossen Entfernungen geschehen, wie in C,D,E. Wie man sieht, er\u00f6ffnet sich mit diesen Versuchen der Forschung ein reiches Gebiet.\n\nFig. 77.\nV\n\u2022/\n*) Wellenlehre p. 458.\n**) Repertor. v. Do ve VIII Bd. Akustik p. 1 u. f.","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"283\nTonst\u00e4rke; Ger\u00e4usch. Fig. 78.\nc.\tVer\u00e4nderung der Empfindung nach dem absoluten Werth der beschleunigenden Kr\u00e4fte. Tonst\u00e4rke. Eine Schwingungsperiode von gleicher Zeitdauer und gleichem Gesetze in der Folge der Bewegungen, also von gleicher Tonh\u00f6he und gleichem Klang kann einen verschieden starken Eindruck auf das Geh\u00f6r machen, je nachdem die absoluten Werthe der beschleunigenden Kr\u00e4fte sich \u00e4ndern. Diese Annahme wird dadurch erwiesen, dass eine Saite u. dergl. bei verschieden kr\u00e4ftigem Anschlag T\u00f6ne von verschiedener Intensit\u00e4t gibt. Nach welchem Gesetz die Intensit\u00e4t der Empfindung mit der Intensit\u00e4t der Bewegung sich \u00e4ndert, ist um so schwerer zu ermitteln, als die Empfindlichkeit des Geh\u00f6rnerven den mannigfachsten Schwankungen unterliegt. Nat\u00fcrlich ist desshalb auch keine Angabe dar\u00fcber m\u00f6glich, welche Kraft die Bewegung besitzen muss, um \u00fcberhaupt noch geh\u00f6rt zu werden.\nd.\tAusser den T\u00f6nen, die wir bisher betrachteten, werden dem Geh\u00f6r noch eine gr\u00f6ssere Reihe anderer Bewegungen Gegenstand der Empfindung, die mit dem allgemeinen, viel umfassenden Namen des Ger\u00e4usches bezeichnet werden. Das Ger\u00e4usch selbst wird je nach beson-dern Modifikationen der Empfindung wieder als ein summendes, brausendes, schwirrendes, klapperndes u. s. w. bezeichnet. Heber die Natur der Bewegung, welche diese Ger\u00e4usche veranlasst, fehlen uns alle Untersuchungen. Nach mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit hat man sie bald als Folge einer Periode angesehen, welche in einer zu langen Zeit abl\u00e4uft, um noch die Empfindung des Tons zu erm\u00f6glichen, bald aber auch als eine Combination vieler durcheinanderfahrender Tonbewegungen, deren Beschleunigungsgesetze sich wechselseitig st\u00f6ren. In diesem letzteren Sinne vergleichen die Gebr\u00fcder Weber das Ger\u00e4usch der Empfindung der weissen Farbe; S eeb eck macht die diese Behauptung best\u00e4tigende Angabe, dassjsich aus den Ger\u00e4uschen einzelne deutliche T\u00f6ne hervorh\u00f6ren lassen, wenn man sich dem ger\u00e4uscherzeugenden Gegenstand mehr oder weniger n\u00e4here oder sich in verschiedener Richtung gegen ihn stelle.\n2. Gesondertes H\u00f6ren gleichzeitig erregter T\u00f6ne.\nDie \u00fcberraschende Thatsache, dass bei gleichzeitiger Erregung verschiedener Schallbewegungen und bei gleichzeitigem Eindringen derselben in das Ohr in diesem nicht eine aus allen Bewegungen re-sultirende Empfindung geschieht, sondern die einzelnen T\u00f6ne geson-","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nH\u00f6ren gleichzeitiger T\u00f6ne.\ndert geh\u00f6rt werden, hat man aus einer specifischen Eigent\u00fcmlichkeit des Geh\u00f6rorgans abzuleiten gesucht. Man glaubte, den besondern Formen der Pauke oder des Labyrinths die F\u00e4higkeit zuschreiben zu d\u00fcrfen, dass diese verm\u00f6gend seien eine ihnen mitgetheilte zusammengesetzte Bewegung, wieder in ihre Componenten, aus denen sie hervorgegangen sei, zu zerlegen. Abgesehen von der physikalischen Unm\u00f6glichkeit, die dieser Vorstellung zu Grunde liegt, ist nun auch durch Versuche von Seebeck erwiesen worden, dass jede schon ausserhalb oder innerhalb des Ohres eintretende Combination zweier oder mehrerer Schallbewegungen zu einer resultirenden, von den Geh\u00f6rnerven nur als diese resultirende empfunden wird. Wir m\u00fcssen demgem\u00e4ss voraussetzen, dass jeder gesondert empfundene Ton sich auch durch ein Merkmal aus einer Summe gleichzeitig erscheinender aus-sondert, mit andern Worten, dass die gleichzeitig vorhandenen, spezifisch verschiedenen Schallbewegungen sich im Ohr entweder \u00fcberhaupt nicht zu einer resultirenden Bewegung zusammensetzen, oder wenn, doch zu einer solchen, welche die spezifischen Eigenth\u00fcmlich-keMen der einzelnen T\u00f6ne nicht verdeckt. Wenn unsere physikalischen Kenntnisse im akustischen Gebiet dereinst so weit gediehen sein werden, dass wir die Bahnen, welche die Theilchen des schallenden K\u00f6rpers durchlaufen, kennen, wird es vielleicht gelingen, zu er\u00f6rtern, dass zu Gunsten der hier besprochenen Funktionen die Vertheilung der Nerven in den besondern Fl\u00e4chen der Schnecke und der S\u00e4ckchen geschehen ist.\nFig.\n79.\nDie physikalisch und physiologisch gleich interessanten Versuche von Seeheck*) wurden an der Sirene angestellt. Wenn er gleichzeitig aus zwei entgegengesetzt gerichteten R\u00f6hren gegen die L\u00f6cher der drehenden Scheibe blies, so wurde der Ton vollkommen ausgel\u00f6scht; im Ohr langten dann gleichzeitig zwei T\u00f6ne gleicher St\u00e4rke und H\u00f6he nher entgegengesetzter Richtung an, die vollkommen interferirten. Diesem entsprechend konnte bei derselben Art des Anblasens ein Ton um eine Oktave heruntergestimmt werden, wenn er auf einer Scheibe zwei conzentrische L\u00f6cherreihen anbrachte, in der Art, dass die L\u00f6cher der einen Reihe jedesmal eines der andern \u00fcbersprangen, also nur \\ so zahlreich vorhanden waren, wie dies Fig. 79 angibt.\nHier interferirten begreiflich die St\u00f6sse der \u00fcberein-anderstehenden Oeffnungen, so dass nur die der mittleren tonerzeugend wirkten. \u2014 Seebeck zeigte ferner, dass wenn man von derselben Seite her gleich -zeitig die Oeffnungen zweier conzentrischen Reihen anblies, deren einzelne Glieder so gestellt waren, dass die einen den Zwischenraum der andern haibir-ten, (siehe Fig. 80) die Oktave des Tons erhielt, welchen jede L\u00f6cherreihe f\u00fcr sich gab. Hier erh\u00f6hten sich also zwei an verschiedenen Orten erzeugten T\u00f6ne. \u2014 An diesen Ort geh\u00f6ren wahrscheinlich auch die bekannten S org\u2019schen T\u00f6ne und das, was man in der Musik die St\u00f6sse nennt**); beide Erscheinungen m\u00fcssen aber noch eine bessere Erl\u00e4uterung erfah-\nFig. 80.\n*3 Dove's Repertorium VI. u. VIII. Bd. **) Dove\u2019s Repertorium III.","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Nachtonen5 Musikalisches Geh\u00f6r; Nachaussensetzen des Tons.\n285\nreu, als die von S\u00e7heibler herruhrende, welche in alle Lehrb\u00fccher der Physik und Physiologie aufgenommen und dort nachzusehen ist. Nach dieser Erkl\u00e4rung soll n\u00e4mlich das Geh\u00f6rorgan die Resultirende und dann auch wieder die Com-ponenten h\u00f6ren, was nat\u00fcrlich nicht angeht.\n' 3. Nacht\u00f6nen.\nDie Empfindung muss die Ersch\u00fctterung der Geh\u00f6rnerven \u00fcberdauern, wie aus den Thatsachen \u00fcber die Empfindung der Tonh\u00f6he hervorgeht, aber dieses Ueberdauern betr\u00e4gt nur sehr kurze Zeiten wie daraus folgt, dass verschiedene rasch hinter einander erzeugte T\u00f6ne sich in der Empfindung nicht st\u00f6ren. Zudem ist es eine bekannte Erfahrung, dass selbst nach anhaltender Einwirkung eines Tons kein Nacht\u00f6nen (\u00e4hnlich den Nachbildern) eintritt. Doch kann nicht alles Nacht\u00f6nen gel\u00e4ugnet werden; nach stunden- oder tagelangem An-dauern eines Tons bleibt er endlich, selbst wenn das t\u00f6nende Objekt entfernt ist, im Ohr zur\u00fcck. \u2014 Die Umst\u00e4nde seiner Entstehung bed\u00fcrfen noch genauerer Untersuchung.\n4. Feinheit der Tonunterscheidung; musikalisches Geh\u00f6r.\nDie F\u00e4higkeit T\u00f6ne \u00fcberhaupt zu h\u00f6ren, ist wesentlich von dem Verm\u00f6gen, die geh\u00f6rten T\u00f6ne ihrer H\u00f6he nach in eine richtige Reihenfolge zu stellen, verschieden ; bekanntlich ist ein scharfes Geh\u00f6r noch kein musikalisches. Ob die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Feinheit des musikalischen Geh\u00f6rs nur in einer besonderen Ausbildung der Seelenf\u00e4higkeiten oder auch in einer gleichzeitigen der Geh\u00f6rnerven gesucht werden m\u00fcssen, ist vorerst eine m\u00fcssige Untersuchung. Ueber das Verm\u00f6gen seihst gen\u00fcgt es, hier nur anzumerken, dass nach S e eb e ck*) von ge\u00fcbten Musikern mit Leichtigkeit noch T\u00f6ne als verschieden erkannt und richtig geordnet werden, welche auf 1200 Schwingungen in der Sekunde um 1 Schwingung differiren.\nDie gew\u00f6hnlichen d\u00fcrftigen Andeutungen \u00fcber Accorde, Harmonie u. s. w., welche in den physiologischen Lehrb\u00fcchern abgehandelt werden, haben wir hier absichtlich unterdr\u00fcckt. Sie geh\u00f6ren in die Theorie der Tonkunst.\n5. Nachaussensetzen der Geh\u00f6rempfindung. Richtungen des H\u00f6rens.\nDie Empfindungszust\u00e4nde der Geh\u00f6rnerven setzt die Seele, gleich denen des Gesichtsnerven, nicht in die Nerven oder in unsern K\u00f6rper, sondern jenseits desselben in den Raum. Nach der bemerkenswerthen Entdeckung von Ed. Weber sind es die Schwingungen des Trommelfells, welche uns diese Vorstellung verschaffen ; denn es zeigte sich, dass wir nur so lange die schallerzeugende Ursache als ausserhalb unseres K\u00f6rpers befindlich ansehen, als das Trommelfell zu Schwingungen bef\u00e4higt ist; w\u00e4hrend wir augenblicklich den ausserhalb unse-\n*) Dove's Repertorium VIII. Akustik 106.","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"Richtung des H\u00f6rens.\n286\nres Kopfes erzeugten Schall in diesen selbst versetzen, sowie das Trommelfell an seinen Schwingungen vollkommen behindert ist.\nZur Bestimmung der Richtungen des Schalles bedienen wir uns, wie ebenfalls Ed. Weber entdeckte, der Ohrmuschel und der Trommelfellschwingung, und zwar unterscheiden wir das Oben und Unten, das Hinten und Vorn durch das erstere Werkzeug, das Rechts und Links dagegen mittelst des Trommelfells. Nach den Erfahrungen des t\u00e4glichen Lebens tritt ausserdem noch als das Bestimmungsmittel die verschiedene Intensit\u00e4t des Schalles bei Drehungen des Kopfes um die vertikale und horizontale Achse hinzu, indem wir die Richtung des Schalles in die Verl\u00e4ngerung des Geh\u00f6rganges bei der Stellung verlegen, in welcher die Empfindung die gr\u00f6sste St\u00e4rke erlangt. Von diesem Gesichtspunkt aus erh\u00e4lt auch die Gegenwart zweier Ohren und ihre diametrale Stellung am Kopfe eine Bedeutung.\nDie absolute Entfernung der schall erzeugenden Ursache von\nunserem Ohr empfinden wir nur sehr unvollkommen; die relative beur-\n?\ntheilen wir wahrscheinlich nur nach der verschiedenen St\u00e4rke der zu\nuns dringenden Schallbewegung.\nUm die Wirklingen des Trommelfells fiir die Empfindung der Richtung zu untersuchen, tauchte Ed. W eber denbald mit Luft gef\u00fcllten und bald vollkommen mit Wasser gef\u00fcllten Geh\u00f6rgang unter Wasser; in dem ersten Falle, in welchem das Trommelfell noch schwingen konnte, legte der Beobachter den Ort eines Schalles, der im Wasser erregt wurde, noch ausserhalb seines K\u00f6rpers; auch unterschied er noch die Richtung von rechts oder links, dagegen nicht mehr die von oben und unten. War der Geh\u00f6rgang aber unter diesen Bedingungen mit Wasser augef\u00fclit, welches die Schwingung des Trommelfells verhinderte, so erschien nun der Ort des Schalles im Kopf selbst zu liegen und es konnte \u00fcber die Richtung desselben gar nichts mehr ausgesagt werden. Die Leistungen der Ohrmuschel ermittelte er, entweder durch Untertauchen des Kopfes, wodurch das Urtheil \u00fcber oben, unten, hinten und vorn verloren geht, oder er legte durch ein Band die Ohrmuschel fest an den Kopf und dr\u00fcckte die Hand vor dem \u00e4ussern Geh\u00f6rgang fest auf die Wange, so dass sie ungef\u00e4hr die Form der Ohrmuschel nachahmt. Unter diesen Umst\u00e4nden kehrt sich die Richtung der Empfindung des vorn und hinten um, so dass der vor der Angesichts-Hache erregte Schall vom Hinterhaupt her zu kommen scheint.\nMan glaubte fr\u00fcher nach einer Beobachtung von Dove+) annehmen zu d\u00fcrfen, dass beide Geh\u00f6rnerven in \u00e4hnlicher Weise wie die identischen Netzhautstellen ihre Empfindungen auf einander \u00fcbertragen oder ausgleichen k\u00f6nnten. Diese Behauptung soll hier nur erw\u00e4hnt werden, um darauf hinzu weisen, dass sie von S e e b e c k *) **) vollkommen widerlegt ist.\n6. Bimient\u00f6ne.\nT\u00f6ne, denen eine ausserhalb unseres K\u00f6rpers liegende veranlassende Schallbewegung fehlt, treten sehr h\u00e4ufig ein. Wir z\u00e4hlen zu ihnen : 1. Selbstt\u00f6nen der Luft des \u00e4usseren Geh\u00f6rganges. Dieses sogenannte Selbstt\u00f6nen der Luft im \u00e4usseren Geh\u00f6rgang erscheint, wenn durch fremde K\u00f6rper, Ohrenschmalz etc. der Geh\u00f6rgang verstopft ist; geringe\n*) Repertorium III. 404.\n**) Repertor. VIII. Bd, Akustik 10T\u00ab","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Binnent\u00f6ne ; Geruclisinn.\n287\nErsch\u00fctterungen (durch die Kopfknochen ect.) reichen dann hin, um stehende Schwingungen dieser Luft zu veraiilassen. Sie verschwinden, wenn die Communication zwischen Atmosph\u00e4re und Trommelfell wieder hergestellt ist. \u2014 2. Selbstt\u00f6nen der Luft der Trommelh\u00f6hle. Dieses T\u00f6nen erscheint, wenn die tuba Eustachii verstopft ist. \u2014 3. T\u00f6ne durch Zerrungen am Trommelfell und durch Reibung der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen bei Bewegung der Muskeln der Trommelh\u00f6hle. Sie sind schon fr\u00fcher erw\u00e4hnt. \u2014 4. T\u00f6ne durch Ersch\u00fctterungen des Felsenbeines mittelst des Arterienpulses. Hierher geh\u00f6ren die klopfenden T\u00f6ne bei Kopf-kongestionen. \u2014 5. Endlich beobachtet man noch sogenannte Binnent\u00f6ne, die einen zu vollen und reinen Klang zeigen, als dass man ihren Ursprung in einem der erw\u00e4hnten Umst\u00e4nde suchen k\u00f6nnte. Woher sie r\u00fchren, ist unbekannt.\nF. Geruclisinn.\n1.\tAnatomische Einleitung*). Die Verbreitungsbezirke des n. olfactorius, an welche sich die Geruchsempfindungen kn\u00fcpfen, sind bekanntlich in eine vorzugsweise verengerte Stelle der Nasenh\u00f6hle, n\u00e4mlich den obern Theil der Nasenscheidewand und die beiden ersten Muscheln gelegt. Die Besonderheit des Baues der Nasenwandungen hierselbst liegen theils in der muscheligen Unebenheit derselben, theils aber in der Gegenwart von besondern Dr\u00fcsen und Oberhautbildungen. Diese letzteren bestehen nach Beobachtungen von Bowmann aus einem geschichteten Cylinderepithelium, dem hier, im Gegensatz zu dem umgebenden, die Flimmerhaare fehlen. Dieses Epithelium zeichnet sich auch noch durch seine ausserordentlich grosse Zerst\u00f6rbarkeit, insbesondere durch die von Seiten des Wassers aus; K\u00f6lliker. Die Dr\u00fcsen, welche man in den Verbreitungsstellen des n. olfactorius findet, sind einfache Schl\u00e4uche, die ihrem Bau nach in der Mitte zwischen den Lieb erk\u00fchn\u2019schen und Schweissdr\u00fcsen stehen; \u00fcber ihre Absonderungsstoffe ist leider nichts bekannt. Man k\u00f6nnte sich denken, dass die Abwesenheit der Flimmerhaare insofern Bezug auf die Leistungen der Geruchswerkzeuge \u00fcbe, als dadurch die Luftstr\u00f6mungen und Luftcon-densationen auf der Nasenoberfl\u00e4che ver\u00e4ndert w\u00fcrden, und ferner, dass die Gegenwart der Dr\u00fcsen von Bedeutung sei f\u00fcr die Bildung eines besonderen L\u00f6sungsmittels f\u00fcr die Riechstoffe.\n2.\tErregungsmittel. Zu ihnen z\u00e4hlt man a. Spannungs- und Lagenver\u00e4nderungen der Nerven, wie sie durch Dr\u00fccke auf die Nase herbeigef\u00fchrt werden; Valentin**). Da die Geruchsnerven nur sehr weniger Menschen auf diese Weise erregt werden, so bezweifelt man\n*) K \u00f6llik er, Haudbuch der Gewebelehre 1852. p. 632.\n**) Lehrbuch der Physiologie II. Bd. b. 2te Aufl. 292.","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nErreger des Geruchnerveu; St\u00e4rke des Geruchs\u00bb\ndie gerucherweckende Leistung der Dr\u00fccke noch bis dahin*).\u2014 b. Electrische Str\u00f6me. Gegen diese Angabe macht Sch\u00f6nbein mit Recht geltend, dass es, seitdem er das Ozon aufgefunden, mindestens zweifelhaft erscheinen m\u00fcsse, ob der Geruch, welchen die Electricit\u00e4t erregt, geradezu von einem Eingriffe des Stromes auf die Nervensub-stanz oder von der Entwicklung des Ozons abh\u00e4ngig sei. \u2014 c. Eine begrenzte Zahl luftf\u00f6rmiger Atome, die Riechstoffe, sind endlich die gew\u00f6hnlichen Erreger des Geruchssinnes. Von welchen Eigenschaften der Atome die gerucherzeugenden Wirkungen \u00fcberhaupt abh\u00e4ngig sind, ist gegenw\u00e4rtig noch im Dunkeln; wir wissen nur, dass wenn auch nicht alle Gase zu den Riechstoffen z\u00e4hlen, diese letzteren jedoch, wenn sie riechbar sein sollen, gasf\u00f6rmig in die Nase gelangen m\u00fcssen; ferner, dass wahrscheinlich die Atome durch ihre chemischverwandtschaftlichen Kr\u00e4fte den Nerven oder dessen Umgebung erregen ; wir schliessen dieses daraus, weil das sogenannte unerregte, das gew\u00f6hnliche Sauerstoffgas geruchlos ist, entsprechend seinen schwachen Verwandtschaften, w\u00e4hrend das erregte, das Ozon, sehr kr\u00e4ftig riecht, und weil im Allgemeinen Stoffe mit kr\u00e4ftiger Verwandtschaft, wenn sie Riechstoffe sind, auch sich als intensive Erreger des n. olfactorius auszeichnen.\nZu dem letzten Satz muss aber sogleich die Beschr\u00e4nkung kommen, dass nicht jede Um\u00e4nderung der Geruchsfl\u00e4chen durch chemische Mittel \u2014 also nicht jeder Angriff derselben durch die Verwandtschaft einen Geruch erzeugt,wie die Zerst\u00f6rungen der Nase durch Aetzmittel darthun. \u2014 Ferner, dass die verwandtschaftlichen Kr\u00e4fte der Geruchsfl\u00e4che ganz besondere sein m\u00fcssen, da sonst milde Stoffe, wie z. B. die \u00e4therischen Oele, die Salzverbindungen der Aetherarten und dergl., so intensive Ger\u00fcche erzeugen. \u2014 Der Untersuchung w\u00fcrdig d\u00fcrfte essein, ob man nicht empirisch die scheinbar uns\u00e4gliche Mannigfaltigkeit der Riechstoffe nach ihren Geruchswirkungen in Gruppen, welche gleichartige Glieder enthielten, zerspalten k\u00f6nnte, deren anderweite chemische und physikalische Analogien zu vergleichen w\u00e4ren. Dieses Unternehmen erscheint nur von dem Gesichtspunkt aus bedenklich, dass derselbe Stoff, je nach der Menge, in welcher er auf den Nerven w^irkt, verschiedene Ger\u00fcche erregen soll (Valentin**), weniger dagegen von dem, dass nachweislich Stoffe der verschiedensten chemischen Constitution, wie Phosphor, Arsenik und Knoblauch einen \u00e4hnlichen Geruch bieten. Mangelhafte Versuche hiezu siehe bei Linn\u00e9***), Lorreyf) und Fourcroyff)\n3. Die St\u00e4rke des Geruchs steht in Abh\u00e4ngigkeit von dem Erregbarkeitsgrade der empfindenden Werkzeuge, dem Zustand der den Nerven umgebenden und bedeckenden Theile (Gef\u00e4sse, Bindegewebe, Dr\u00fcsen, Epithelien) und der besonderen Einwirkung der Riechstoffe.\nAuf die wechselnde Erregbarkeit des empfindenden Theils der Geruchsorgane schliessen wir, abgesehen von der Analogie mit allen\n*) Fr\u00f6lich in Valentins Jahresbericht der Physiologie \u00fcber 1851. 163,\n**) 1. c. 283 u. 288.\n***) Am\u0153nitates academic\u00e6 tom. III. 1T56. p. 183. f ) Observations sur les parties volatiles et odorants etc. Hist, et memor. de la socie't\u00e9 royale de m\u00e9d. 1T85. p. 306.\nff) Memoire sur l\u2019esprit recteur etc. Ann. d. chim. 26. Bd.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Einfluss der bedeckenden Gebilde f der Geruchst\u00e4rke.\n289\nandern nerv\u00f6sen Theilen, aus Vergiftungen des Nerven und aus den sogenannten Verstimmungen des Geruchs in Nervenkrankheiten.\nStrychnin \u00f6rtlich und innerlich angewendet, soll nicht allein den Geruch in der Art versch\u00e4rfen, dass man nun Riechstoffe von einer Verd\u00fcnnung wahrnimmt, in der sie sonst nickt mehr empfunden werden, sondern es soll sich auch die Art der Empfindung \u00e4ndern. Andere Narkotika, namentlich Atropin und Morphin sind bei \u00f6rtlichem und allgemeinem Gebrauche ohne Einfluss auf den Geruch; Fr\u00f6lich.\nDie Oberhaut, die Dr\u00fcsen und das Bindegewebe der Geruchsfl\u00e4chen m\u00fcssen von Einfluss auf die Wechselwirkung zwischen Nerven und Riechstoffen sein. Dieses bedarf einer Erl\u00e4uterung eben so wenig f\u00fcr den Fall, dass wir uns vorstellen, es dringe der Riechstoff durch diese Umgebungen hindurch zu dem Nerven, als wenn wir annehmen, der Riechstoff trete nur zu den die Nerven umgebenden Stoffen, deren Ver\u00e4nderungen sodann empfunden werden. Vpn der Art dieses Einflusses auf die Geruchsempfindung sind wir nur wenig unterrichtet ; man erl\u00e4utert aber aus denselben die Thatsaehen, dass bei einem vermehrten oder verminderten Erguss der Dr\u00fcsens\u00e4fte in die Nase (bei Trockenheit der Nase und heim Schnupfen) die Sch\u00e4rfe des Geruchssinnes leidet; ferner dass, wenn man in die Nase reines, k\u00f6rperwarmes 'Wasser einbringt durch welches die Epithelialzellen nachweislich ver\u00e4ndert werden, der Geruch f\u00fcr kurze Zeit (1 bis 2 Minuten) ganz aufgeh\u00f6rt hat z\u00f9 bestehen. E. H. Weber*).\nNach der Entdeckung von E. H. Web er l\u00e4sst sich die Nasenh\u00f6hle eines horizontal auf dem Rucken liegenden Menschen f\u00fcr einige Zeit dauernd mit Wasser f\u00fcllen, da sich auf reflektorischem Wege der arc. pharyngopalatinus vollkommen wasserdicht schliesst. Die Geruchsempfindlichkeit ist nach Entfernung des Wassers f\u00fcr einige Minuten vollkommen aufgehoben, gleichgiltig, ob die Temperatur des Wassers von 0\u00b0 bis 50\u00b0C. schwankt, so dass demnach die Geruch zerst\u00f6rende Wirkung nur dem Wasser und nicht der Temperatur beigemessen werden muss. \u2014 Da die Empfindung so rasch wiederkehrt, so kann man, abges\u00ebhen von den schon erw\u00e4hnten Gr\u00fcnden der Leichtver\u00e4nderbark eit der Zellen, die Unterbrechung der Th\u00e4tigkeit des Geruchsorganes nur von einer Umwandlung in der Beschaffenheit der obersten Zellenlage ableiten, welche mit Wasser durchtr\u00e4nkt den Riechstoffen den Durchgang erschwert. Hiermit w\u00e4re es vielleicht in Uebereinstimmung, dass bei diesem Verfahren Essigs\u00e4ure, Aether und Ammoniak (in W7asser l\u00f6sliche Stoffe) fr\u00fcher wieder empfunden werden, als \u00e4therische Oele ; Valen tin. \u2014 Aus diesen Beobachtungen erkl\u00e4rt sich nun auch die Mittheilung von Tour tu al, welche E. H. Wreberver-vollkommnete, dass Riochstoffe in fl\u00fcssiger Form, z. \u00df. verd\u00fcnntes k\u00f6llnisches Wasser in die Nase gebracht, gar keine Geruchsempfindung erzeugen.\nEndlich \u00fcben einen Einfluss auf die St\u00e4rke des Geruchs die Menge der in den Geruchsfl\u00e4chen verbreiteten Riechstoffe, die Dauer ihrer Anwesenheit daselbst, die Richtung und St\u00e4rke der durch die Nase gehenden Luftstr\u00f6me, a) Die Menge des gleichzeitig in den Geruchsfl\u00e4chen vorhandenen und demnach auf die Nerven wirkenden Stoffes kann geradezu nicht bestimmt werden ; man sch\u00e4tzt sie dagegen ent-\n*3 M\u00fcllers Archiv 184T. p. 351 Ludvrig, Physiologie I.\n19","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"\\\n\u00bb\ns\t.\t!\n290 Wie die Art der erregenden Einwirkung die Geruchst\u00e4rke bestimmt.\nfernt angen\u00e4hert aus der Menge von Stoff, welche in einem gegebenen Luftvolum enthalten war, das in der Zeiteinheit bei einer Einathmung durch die Nase strich. Aus solchen Sch\u00e4tzungen schliesst Valentin *), dass wenn gleichzeitig auf den Geruchsfl\u00e4chen vertheilt sind noch weniger als 0,0016 Milligram Brom, 0,02 M.G. Phosphorwasserstoff, 0,002 M G Schwefelwasserstoff, 0,00005 M.G. Rosen\u00f6l deutliche Empfindung entstehe, dass Moschus aber in noch viel geringerer Menge schon stark rieche. Diese Thatsachen zeigen nicht allein, dass eine grosse Feinheit der Geruchsreaktion, sondern auch, dass eine Scala der Verschiedenheit f\u00fcr die Wirksamkeit der Riechstoffe besteht; es bleibt zweifelhaft, ob dieses herr\u00fchrt von dem \\\\ iderstand, den die Umgebungen des Nerven dem Durchdringen der Riechstoffe entgegen stellen, oder von einem eigens th\u00fcmlichen Verhalten der Nerven selbst. In welchem Verh\u00e4ltniss mit der\n9\nMenge der in der Nase vorhandenen Riechstoffe die St\u00e4rke des Geruches w\u00e4chst, wissen wir begreiflich nicht; nur das ist bekannt, dass wenn wir mit nur einer Nasenh\u00e4lfte riechen, die Empfindung schw\u00e4cher ist als bei Einziehen der Luft in beide Nasen\u00f6ffnungen.------\u00df) Die Dauer der An-\nwesenheit eines Riechstoffes wirkt nach entgegengesetzten Richtungen bestimmend auf die Geruchsst\u00e4rke. Einmal steigert sich, namentlich bei sehr verd\u00fcnnten Riechstoffen mit der Dauer ihrer Anwesenheit die Intensit\u00e4t des Geruchs (Valentin), dann aber nimmt allgemein mit der Dauer der Einwirkung die Geruchsintensit\u00e4t ab. Diese Abstumpfung f\u00fchren im Allgemeinen dichtere Riechstoffe eher herbei als verd\u00fcnnte; einzelne Substanzen, wie z. B. conzentrirter Moschus, sollen nach Valentin so vernichtend wirken, dass der Zeitraum, in dem sie Empfindung erregen, verschwindend klein ist. Aus dieser Eigenschaft der Geruchswerkzeuge erl\u00e4utert sich vielleicht auch die Erscheinung, dass die von dem riechenden Individuum selbst dauernd ausstr\u00f6menden Ger\u00fcche nicht empfunden werden, y) Luftstr\u00f6me, welche mit riechenden Stoffen geschw\u00e4ngert sind, erzeugen vorzugsweise Empfindungen, wenn sie mit einer grossen Beschleunigung durch die Nase in der Richtung von vorn nach hinten dringen ; demgem\u00e4ss erweitern wir unwillk\u00fcrlich die Nasenm\u00fcndung und ziehen rasch und stossweise die Luft oin, wenn wir einen Gegenstand auf seinen Geruch pr\u00fcfen wollen. Man darf nach den vorliegenden Thatsachen schliessen, dass die n\u00e4chste Wirkung der rascheren Luftstr\u00f6me darin bestehe, die Geruchsfl\u00e4chen auf eine vollkommenere Art mit den Riechstoffen in Ber\u00fchrung zu bringen, indem theils durch den Anstoss des Stromes und theils durch die Reibung desselben ein die Absorption bef\u00f6rdernder Druck erzeugt wird. Ob sich aus diesem Gesichtspunkt auch die Thatsache erl\u00e4utern l\u00e4sst, dass die aus der Lunge kommenden Luftstr\u00f6me weniger geeignet sind, die Geruchsempfindung zu erwecken, als die in die Lunge tretenden, bedarf genauerer Untersuchungen,\n*) 1. c. p. 281 u. f,","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"291\nBeharrung, Naehaussensetzen, Verkn\u00fcpfung der Ger\u00fcche.\nDen Einfluss der Richtung und St\u00e4rke der Luftstr\u00f6mung auf den Geruch hat besonders Bidder*) behandelt;* er zeigte, dass beim Fehlen der untern Nasenmuschel, also bei mangelnder Beengung der Stromr\u00f6hre, der Geruch abgeschw\u00e4cht wird: ferner dass beim Anblasen von riechenden Substanzen gegen die Riechfl\u00e4chen die Empfindung fehlt oder schwach wird; ferner dass der in die Nasenh\u00f6hle gehaltene Kampfer, w\u00e4hrend des Anhaltens der Athmung einen sehr schwachen Geruch gibt, der sich aber sogleich beim Einziehen von Luft steigert, und endlich dass, -wenn man Kampfer in die Mundh\u00f6hle bringt und gleichzeitig durch die Nase die Luft ausst\u00f6sst, eine nur schwache Empfindung auftritt.\n4.\tDer Zeitraum, welcher verfliegst, bevor die Geruchsempfindung erscheint nach dem Einbringen eines riechenden Luftstromes in die Nase, ist noch nicht bestimmt; eben so wenig als die Dauer der Empfindung nach Entfernung der Riechstoffe und die Geschwindigkeit, mit der im Geruchsorgan die Empfindung wechseln kann. Wir haben Ursache, zu vermuthen, dass alle diese Zeitr\u00e4ume einen verh\u00e4ltniss-m\u00e4ssig betr\u00e4chtlichen Werth besitzen.\n5.\tDas Objekt der Geruchsempfindung legt die Seele geradezu in den Luftstrom, welcher in die Nase dringt; insofern wir im Stande sind, die \u00f6rtlichen Verh\u00e4ltnisse dieses zu sch\u00e4tzen, verm\u00f6gen wir auch den Ort und die Richtung im Gange des Riechstoffes durch die Nase zu bestimmen.\n6.\tVermischung der Geruchsempfindung zweier verschiedener Riechstellen, und der Ger\u00fcche mit Gef\u00fchls- und Geschmacksempfindungen. \u2014 a) Str\u00f6mt in jedes der beiden Nasenl\u00f6cher gleichzeitig ein verschiedener Geruch, so vereinigen sich, nach Valentin, die beiden Ger\u00fcche nicht zu einem mittleren, sondern es entsteht ein wechselndes Eintreten bald des einen und bald des andern Geruchs in die Empfindung. \u2014 \u00df) Gef\u00fchle und Ger\u00fcche , die von ein und derselben Substanz in der Nase erweckt werden, combiniren sich dagegen zu einer zusammengesetzten Empfindung ; Beispiele hierf\u00fcr bieten die zugleich riechenden und \u00e4tzenden Stoffe wie das Ammoniak, die Essigs\u00e4ure u. s. w. Man empfindet in der That die Wirkungen zum Theil wenigstens gesondert, wenn man die erw\u00e4hnten Substanzen bei angehaltenem Athem in die Nase bringt; sie \u00e4tzen dann den n. trigeminus und regen zugleich die von ihm abh\u00e4ngigen Reflexe (Thr\u00e4nenlau-fen, Messen) an, ohne dass wir die Substanzen riechen, Bidder. 7) Eben so h\u00e4ufig verschmelzen Geruch- und Geschmackempfindungen zu einer einzigen; wir werden beim Geschmack hierauf zur\u00fcckkommen.\n7.\tWie sich unmittelbar mit den Empfindungen des n. opticus Raum - und mit denen des n. acusticus Zeitvorstellungen verkn\u00fcpfen, so verbindet sich die Geruchsempfindung gew\u00f6hnlich mit einer leidenschaftlichen Stimmung, welche sich entweder begehrend oder abstossend gegen das Geruch ausstr\u00f6mende Objekt verh\u00e4lt; die-\nWagners Handw\u00f6rterbuch II.Bd. p. 920. Siehe jedoch auch Longet, Trait\u00e9 de physiologie. Paris 1850. p. 159 u. f.\n19*","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nGeruchsvorstellungen ; Binnenger\u00fcche.\nsein Umstande verdankt man es, dass die Ausdr\u00fccke angenehmer, widerlicher u. s. w. Geruch selbst beim Gebildeten weitaus die Oberhand haben \u00fcber die stoffliche Bezeichnung der Geruchsempfindung. Die Leidenschaften, welche bestimmte Ger\u00fcche erwecken, sind aber bekanntlich nicht immer dieselben, so dass einen Geruch jedesmal den Durst, Hunger, Geschlechtstrieb u. s. w. ausl\u00f6sste, sondern sie erregen nach der gerade gegenw\u00e4rtigen Seelenstimmung bald Ekel und bald Durst u. s. w. Wir heben diesen Punkt hier nur hervor, um darauf aufmerksam zu machen, dass man ihn im Gegensatz zu den gew\u00f6hnlichen Darstellungen des Geruchssinnes, trenne von der unmittelbaren Beziehung zwischen Riechstoffe und Riechwerkzeugen. Im Einzelnen l\u00e4sst sich \u00fcber diese merkw\u00fcrdigen Erscheinungen noch nichts sagen.\n8. Binnenger\u00fcche. \u2014 Ohne dass die Atmosph\u00e4re geruchausstr\u00f6-mende Stoffe enth\u00e4lt, entstehen doch h\u00e4ufig Geruchsempfindungen. In der Mehrzahl der F\u00e4lle k\u00f6nnen dieselben zur\u00fcckgef\u00fchrt werden auf die Gegenwart von Riechstoffen in den Lungen, der Mundh\u00f6hle, der Nase, welche aus dem Blute, oder auf irgend welche andere Art, hier abgesetzt sind. Seltener ereignet es sich, dass im Hirn Zust\u00e4nde ein-treten, welche zum Geruch Veranlassung geben; Tr\u00e4ume, in denen der Geruch eine analoge Rolle spielt, wie Gesicht, Geh\u00f6r und Gef\u00fchl, kommen, wenn \u00fcberhaupt, gewiss sehr sparsam vor.\nG. Geschmack sinn.\n1. Anatomische Einleitung*). Die Fl\u00e4chen, die den Geschmack zu empfinden verm\u00f6gen, sind noch nicht festgestellt; nach allgemein \u00fcbereinstimmenden Angaben geh\u00f6ren zu den Tr\u00e4gern des Geschmacksinnes die Wurzel, die R\u00e4nder und deren n\u00e4chste Umgebung auf Ober- und Unterfl\u00e4che, die Spitze der Zunge und ein Theil der Vorderfl\u00e4che des weichen Gaumens ; nach bestrittenen Aussagen rechnet man aber auch dazu den Ueberzug der Mandeln, den Pharynx und endlich sogar die hintere Fl\u00e4che des weichen Gaumens und den\nSchleimhaut\u00fcberzug der Sublingualdr\u00fcsen.\nDa es keine sichere anatomische Merkmale f\u00fcr die Ausdehnung dieses Sinnes gibt, wie sie Gesicht, Geh\u00f6r, und Geruch zukommen, und da die Nerven, an deren Verbreitung sich der Geschmack kettet, nicht durchweg bekannt sind, so muss die Vergleichung der Mundschleimhaut mit schmeckenden Stoffen in Anwendung gebracht w erden, um die Orte unseres Geschmackssinnes zu ermitteln. Diese Versuche haben mit manchen Schwierigkeiten zu k\u00e4mpfen : \u00ab) Viele Empfindungen die sich aus einer Combination von Ger\u00fcchen und Tastempfindungen der Mundh\u00f6hle zusammensez-zen, werden als Geschmack gedeutet; die Versuche m\u00fcssen darum entweder mit geruchlosen Stoffen angestellt werden, oder die Nasenl\u00f6cher m\u00fcssen gut verstopft sein, \u00df) Viele Stoffe bedingen ganz besondere mechanische Um\u00e4nderungen derMund-\nLong et, Trait\u00e9 de physiol. II. Bd. a. 165. \u2014 Bidder, Art. Schmecken in Wagners Handw\u00f6rterbuch III. Bd. a.","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Verbreiten lind Erregen des Geschmackssinnes.\t293\nh\u00f6hle, z. B. Verschrumpfungen, An\u00e4tzungen, Abk\u00fchlungen u. s. w., die mit einem eigenthiimlichen Gef\u00fchl empfunden werden; darum sind die Stoffe in mundwar-men L\u00f6sungen anzuwenden, welche weder rasch verdunsten, noch am Zahnfleisch, der Wangenfl\u00e4che, oder \u00fcberhaupt an Orten, die nachweislich nicht schmecken, die bezeichneten Gef\u00fchle hervorrufen y) Nicht alle Geschmacksmittel scheinen \u00fcberall, wo \u00fcberhaupt die spezifische Empfindung vorhanden ist, wirksam zu sein; es m\u00fcssen darum jedesmal zur Pr\u00fcfung verschiedene, mit entgegengesetzten Geschm\u00e4cken begabte Stoffe in Anwendung gebracht w erden. d) Die schmeckenden Fl\u00e4chen der Mundh\u00f6hle finden sich bei demselben Menschen nicht zu allen Zeiten in einem Zustand, der sie zur Geschmacksempfindung bef\u00e4higte, es sind darum entweder gleichzeitig viele Menschen oder es ist derselbe Mensch zu verschiedenen Zeiten zu untersuchen, f) Da die Pr\u00fcfungsmittel in w\u00e4sseriger L\u00f6sung angewendet werden m\u00fcssen, die Geschmacksfl\u00e4chen aber mit capillaren R\u00e4umen \u00fcberzogen sind, welche die Verbreitung der Fl\u00fcssigkeit beg\u00fcnstigen, und da endlich die Geschmacksempfindungen nur lebhaft hervortreten, wenn die Schmeckstoffe \u00fcber die Schleimhautfl\u00e4chen hin bewegt werden, so bietet die willk\u00fcrliche Beschr\u00e4nkung der eimvirkenden Stoffe Schw ierigkeiten. Um diese zu erzielen, bedient man sich der befeuchteten Pinsel und Schw\u00e4mme, schmeckender Pasten, die man in beschr\u00e4nkten R\u00e4umen bewegt, oder man bedeckt mit Wachstafft und dergl. einzelne Theile der Zunge und des Gaumens , w\u00e4hrend man andere mit Fl\u00fcssigkeiten bestreicht. Sollten sich die elektrischen Erregungsmittel nicht vorzugsweise zur Pr\u00fcfung eignen?\nDa auch Fl\u00e4chen, welche keine Papillen besitzen, Theil am Geschmackssinn nehmen, so versteht es sich von selbst, dass die Papillen nicht die Bedingungen f\u00fcr ihn enthalten; ob nicht dennoch aber an dem Orte, wo sie Vorkommen, die Papille von Bedeutung ist f\u00fcr Modifikationen des Geschmackes, kann nicht entschieden werden.\nDie alte Streitfrage, ob die Geschmacksnerven nur in der Bahn des n. glosso-pharyngeus oder zugleich auch in der des ram. III. n. trigemini laufen, muss so lange als unerledigt angesehen werden, als nicht in alle Geschmacksfl\u00e4chen, wie namentlich in die Zungenspitze, die R\u00f6hren aus den Zungenschlundkopfnerven verfolgt sind, oder aber bis sichere mit allen Cautelen angestellte Beobachtungen an Individuen mit \u00f6rtlichen Verletzungen des n. glossopharyngeus oder des ram. III. n. trigem. vorliegen, welche zeigen, dass nach Abt\u00f6dtung des ersten Nerven der Geschmack \u00fcberall erloschen oder nach Vernichtung des zweiten der Geschmack \u00fcberall erhalten ist.\n2. Erreger der Geschmacksempfindung *). Der Sprachgebrauch des gew\u00f6hnlichen Lebens ertheilt den Namen \u201eGeschmack\u201c einer grossem Reihe von Empfindungen, denen er im strengeren Wortsinn nicht zukommt; namentlich werden Verkn\u00fcpfungen von Temperatur-oderGeruchseindr\u00fccken mit Tastempfindungen der Mundh\u00f6hle geradezu als Geschm\u00e4cke bezeichnet, und ausserdem Verkn\u00fcpfungen von Temperatur- Tast- und Geruchseindr\u00fccken, mit wahren Geschmacksempfindungen, mit Besonderheiten der Geschm\u00e4cke, verwechselt. Wie h\u00e4ufig dieses in der That geschieht und wie sehr die eben so oft ausgesprochene als auch wieder vernachl\u00e4ssigte Meinung begr\u00fcndet ist, dass\ndie k\u00fchlenden, brennenden, stechenden, aromatischen Geschm\u00e4cke gar\n#\nnicht als besondere Empfindungen der oben genannten Fl\u00e4chen bestehen, lehrt tausendf\u00e4ltige und t\u00e4gliche Erfahrung. Wenn man beim\n*) Chevreul. Journal de physiol, experimentale tom. IV. 1JS24.","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nFalscher und wahrer Geschmack.\nGenuss aromatischer, \u00e4therisch-\u00f6liger Mittel, z. B. des Knoblauchs, des Zimmts, der Vanille u. s. w., die Nasen\u00f6ffnungen mit dem Finger schliesst. In dem Moment, in welchem dieses geschieht, wird auch der aromatische Geschmack ausgel\u00f6scht, der aber zur\u00fcckkehrt so wie die Nase der Luftstr\u00f6mung wieder ge\u00f6ffnet ist. Brennende, k\u00fchlende und schrumpfende Geschm\u00e4cke k\u00f6nnen aber gleichgut auf den Lippen, dem Zahnfleisch, kurz in jeglichem Mundtheil hervorgerufen werden, wie auf den Geschmacksfl\u00e4chen; Chevreul. Da man nun auch in den physiologischen, den Geschmack betreffenden Untersuchungen sehr h\u00e4ufig diesen Punkt vernachl\u00e4ssigte, so d\u00fcrften in den folgenden Mittheilungen \u00f6fter Unrichtigkeiten enthalten sein. Als Erreger der Geschmacksempfindung z\u00e4hlen nun :\na.\tGalvanische Str\u00f6me*). Diese Str\u00f6mung erregt an dem Orte ihres Eintritts in die Geschmacksfl\u00e4che eine saure und an dem des Austritts entweder keine oder eine schwache kalische Empfindung, eine Empfindung, welche nach Versuchen von Volta und Monro unabh\u00e4ngig von den in dem galvanischen Strom erscheinenden elec-trolytischen Produkten der Mundfl\u00fcssigkeit ist. \u2014 Ueber die besondere Beziehung des Geschmacks zu der Richtung und Intensit\u00e4t der Str\u00f6mung gibt es bis dahin nur wenige Aufschl\u00fcsse ; die in der Zunge (von der Spitze zur Basis) aufsteigende Stromrichtung soll st\u00e4rker (oder sogar anders schmeckend?) wirken, als die absteigende; Pfaff. Obwohl der Geschmack w\u00e4hrend der ganzen Dauer einer geschlossenen Kette anh\u00e4lt, so sollen doch Schwankungen in der Intensit\u00e4t des Stroms wie namentlich das Oeffnen desselben eine Verst\u00e4rkung erzeugen; Ritter und L eh ot.\nLegt man einen metallischen Bogen aus Kupfer und Zink an die Zunge, so dass das Zink die Zungenspitze und das Kupfer den Zungenr\u00fccken ber\u00fchrt, so entwickelt sich deutlich saurer Geschmack am Zink; da hier nun auch aus dem Speichel S\u00e4ure ausgeschieden wird, welche diese Empfindung h\u00e4tte erzeugen k\u00f6nnen, so muss, wenn gezeigt werden soll, dass der Strom geradezu, d. h. unabh\u00e4ngig von den Zersez-zungsprodukten die Empfindung erregt, in die Umgebung des Zinkpoles eine alkalische Fl\u00fcssigkeit gebracht werden, in welche die Zunge getaucht wird. Volta, der diese Modifikation des Versuchs ausf\u00fchrte, erhielt dann ebenfalls noch den sauren Geschmack. Andere beweisende Versuche siehe noch bei du Bois. \u2014 Dieser Geschmackserreger bedarf neuer Untersuchungen.\nb.\tEine gewisse Zahl von Fl\u00fcssigkeiten geh\u00f6rt ebenfalls zu den Geschmackserregern; ihr allgemeines Merkmal, den geschmacklosen Fl\u00fcssigkeiten gegen\u00fcber, ist unbekannt.\nA. Die Art der Empfindung, a) Zun\u00e4chst ist diese bestimmt von der chemischen Natur der Fl\u00fcssigkeit; unter dieser ist hier jedoch keineswegs die Qualit\u00e4t und Quantit\u00e4t der Atome, aus der das Schmeckbare\n*3 du Bois-Reymond 1. c. 1. Bd. p. 287 Anmerk. u. p. 339.","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Schmackhafte Fl\u00fcssigkeiten; Art des Geschmacks.\t295\nzusammengesetzt ist, zu verstehen, sondern gewisse allgemeine Ca-tegorien der Verwandtschaft. Denn es erzeugen z. B. den Geschmack des Sauren, des Kalischen, des Metallischen, des Salzigen Stoffe der allerverschiedenartigsten chemischen Zusammensetzung, wie z. B. Kali und Stibmethyliumoxyd, Schwefel- und Essigs\u00e4ure, Eisen- und Kupfersalze u. s. w. ; gleichschmeckende Stoffe haben dagegen in dem etwas gemeinsames, was man ihr electrochemisches Verhalten nennt. F\u00fcr mehrere Geschm\u00e4cke fehlt uns aher auch noch dieses gemeinsame Merkmal, wie z. B. f\u00fcr das S\u00fcsse und Bittere; wir wissen insbesondere nicht welches gemeinsame Merkmal den S\u00fcssigkeiten des Zuckers, Glycerins, Glycocolls, Plumbum aceticum u. s. w. und anderseits den Bitterstoffen Chinin, Salicin, der Magnesia sulfurica u. s. w. zukommt. Bemerkenswerth f\u00fcr die Beziehung zwischen den Verwandtschaftsund Geschmacks\u00e4usserungen der Atome ist noch die Erscheinung, dass jedes Atom neben dem allgemeinen Geschmack des Sauren, Metallischen u. s. w. noch einen besonderen Beigeschmack besitzt, analog den Besonderheiten der Verwandtschaft, die jedes Atom vor andern voraus hat.\nDa das Geschmacksorgan ein vielseitigeres lind ebenso allgemeines, wenn auch kein so empfindliches chemisches Reagens ist, wie das Lakmuspapier, so w\u00fcrde es schon im chemisch-technischen Interesse sein, die Geschm\u00e4cke genauer als bisher zu pr\u00fcfen, und Geschmacksreihen aufzustellen, in die man begreiflich nur die entschieden schmeckenden, chemisch reinen Verbindungen aufzunehmen h\u00e4tte. Bei diesem Verfahren w\u00e4re ausser andern erw\u00e4hnten Vorsichtsmassregeln noch R\u00fccksicht zu nehmen auf die Speichelzersetzung, deren Einfluss schon Chevreul gew\u00fcrdigt hat.\n\u00df) Der Ort der Empfindung soll in der Weise auf den Geschmack Einfluss \u00fcben, dass ein und derselbe Stoff an der Spitze ganz anders schmeckt als an der Basis der Zunge oder an den Gaumenfl\u00e4chen; Horn*). So sollen namentlich der Zungenspitze mehrere Stoffe s\u00fcss oder sauer erscheinen, die der Gegend der umwallten Warzen bitter Vorkommen. Dieser Geschmackswechsel desselben Stoffes auf verschiedenen Fl\u00e4chen unseres Sinnes gilt nun wohl nicht in der Ausdehnung, wie ihn Horn zuerst behauptete, jedoch ist er f\u00fcr einzelne Stoffe, namentlich f\u00fcr Salze, ausgesprochen genug. Auch dieser Gegenstand verdient neuere und ausgedehntere Untersuchung.\nAls Beispiele seien Hier erw\u00e4hnt:\nStoff.\t|\tZungenspitze.\tZungenwurzel.\tStoff.\tZungenspitze.\tZun gen wurzel.\nKO AC\tbrennencf sauer\tfadbitter\tAlaun\tsauer zusam-\ts\u00fcsslich ohne\n\t\t\t\tmenziehend.\tS\u00e4ure\nNa CI\tsalzig\ts\u00fcsslich (?)\tNa 0 S 03\tsalzig\tbitter.\nB. Die Intensit\u00e4t der Geschmacksempfindung bei Gegenwart fl\u00fcssiger Erreger ist abh\u00e4ngig von sehr zahlreichen Umst\u00e4nden und zwar\n*) lieber den Geschmackssinn der Menschen. Heidelberg 1825. Siehe einen Auszug mit Tabelle in Valentins Lehrbuch der Physiol. II. b. 301. \u2014 Guyot u. Admirault bei Longet 1. c.\np. 166.","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nSt\u00e4rke des Geschmacks. Verkn\u00fcpfungen des Geschmacks.\na) von dem Erregbarkeitszustand des Nerven, wie wir mehr vermu-then als sicher wissen, \u2014 \u00df) Yon dem Ort der Erregung, indem nach Guyot und Admirault gewisse Stoffe (Milch, Butter, Oel, Brod u. s. w.) auf der Zungespitze gar nicht, dagegen im Gaumen, und der Zungenwurzel sehr intensiv schmecken sollen. Auf welche Art von Sch\u00e4tzung sich der gew\u00f6hpliche Ausspruch gr\u00fcndet, dass die Zungenspitze, oder nach andern der Gaumen, vorzugsweise fein schmecke, ist nicht angegeben. \u2014 y) Die Menge der gleichzeitig erregten R\u00f6hren der Geschmacksnerven ; wir schmecken bekanntlich einen Stoff der unsre ganze Mundh\u00f6hle ausf\u00fcllt intensiver, al*s einen solchen der nur wenige Stellen der Zunge ber\u00fchrt. Der Unterschied von mehr oder weniger gleichzeitig erregten Nerven zeigt sich namentlich darin, dass sehr verd\u00fcnnte w\u00e4ssrige L\u00f6sungen schmeckender Stoffe keine Empfindung mehr erregen,* wenn sie in geringer Menge in den Mund genommen werden, w\u00e4hrend sie in grossem Quantit\u00e4ten deutlich schmecken; Valentin. \u2014 d) Zeitdauer der Einwirkung; der Geschmack steigt zuerst mit der Dauer der Anwesenheit des schmek-kenden Stoffes und nimmt dann mit ihr ab, analog den Empfindungen der \u00fcbrigen Sinne. \u2014 s) Die Empfindung wird gesteigert durch den Contrast, d. h. wenn Stoffe, welche verschieden schmecken, in rascher zeitlicher Folge die Geschmacksnerven treffen. \u2014 Zust\u00e4nde der absondernden Dr\u00fcsen der Mundh\u00f6hle und ihrer S\u00e4fte, des Epithelial\u00fcberzugs, des Wassergehaltes ; der Blutgef\u00e4ssf\u00fcllung, der Temperatur der Geschmacksfl\u00e4chen. Die Wirkungen dieser Umst\u00e4nde sind nur sehr oberfl\u00e4chlich bekannt; K\u00e4lte und Trockenheit des Mundes, Zungenbeleg, gelinde Entz\u00fcndungen der Mundh\u00f6hle vermindern die Empfindlichkeit, wahrscheinlich nur darum, weil sie die Wechselwirkung der Nerven und des Erregers beeintr\u00e4chtigen. \u2014 77) Die St\u00e4rke des Geschmacks w\u00e4chst mit dem Procentgehalt einer L\u00f6sung an schmeckbaren Stoffen. Nach Valentin*) liegt f\u00fcr w\u00e4sserige L\u00f6sungen von Zucker zu l,2pCt. ; von NaCl zu 0,2 bis 0,5 pCt.; von S 03 zu 0,001 ; von schwefelsaurem Chinin zu 0,003 pCt. die Grenze der Schmeckbarkeit, vorausgesetzt dass die Stoffe unter den g\u00fcnstigsten Bedingungen in die Mundh\u00f6hle gebracht wurden. \u2014 \u00a3) Die F\u00e4higkeit des Schmeckens wird unterst\u00fctzt durch Bewegungen, welche die schmeckenden Fl\u00e4chen und Stoffe aneinander vornehmen, wie durch Zungen- und Gaumenbewegung oder durch Einpinseln der Schmecksipffe auf Gaumen und Zunge.\n3.\tGeschwindigkeit des Eintrittes des Geschmacks; Nachgeschmack, Wechsel des Geschmackes sind Namen die mehr aufzuk\u00fcnf-tige, als schon begonnene Untersuchungen deuten.\n4.\tDie Verbindungen der Leistungen der Geschmack-, Geruch-und Tastnerven zu einer einzigen Empfindung ist noch niemals einer\nLehrbuch der Physiologie II. Bd, b. p. 301.","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"GeschmacksvorstelliiBgen.\n297\ngenauen Untersuchung unterworfen gewesen; aus den Thatsachen des gew\u00f6hnlichen Lebens scheint aber zu folgen, dass nur der Geruch als eine Erregung der Geschmacksnerven empfunden wird, dessen erzeugender Luftstrom von der Mundh\u00f6hle ausgeht, w\u00e4hrend gleichzeitig die Tastnerven des Mundes in energischer Weise erregt sind. Durch die Verkn\u00fcpfung der last- und Geschmacksempfindung scheint uns die Vorstellung der Oertlichkeit im Geschmackssinn zu entstehen; denn wir schmecken bekanntlich jedesmal zugleich den Ort der Ber\u00fchrung zwischen Schmeckstoff und Geschmackfl\u00e4chen.\n4. In fast noch h\u00f6herm Grade als an den Geruch kn\u00fcpfen sich an den Geschmack leidenschaftliche Vorstellungen, die auch hier sehr h\u00e4ufig,* selbst f\u00fcr Physiologen den Beweggrund abgeben von angenehmen, widerlichen, ekelhaften Geschm\u00e4cken zu sprechen, obwohl alle diese Worte keine unmittelbare Geschmackseindr\u00fccke bedeuten, sondern sich auf Vorstellungen beziehen, die der Geschmack erweckte. \u2014 Zugleich sind die Geschmacksnerven reflektorisch mannigfach verkettet, wie z. B. mit Speichelnerven, den Nerven der Schlingorgane zum Einleiten des Sehlingens und Brechens u. dgl. Treten solche reflektorische Wirkungen neben den Geschm\u00e4cken ein, so entstehen besondere weiter combinirte Gef\u00fchle, z. B. der Ekel und dgl., die man ebenfalls h\u00e4ufig mit einfachen Geschmacksempfindungen verwechselt hat.\nBinnengeschm\u00e4cke, denen eine andere Ursache als eine Ver\u00e4nderung in der Zusammensetzung der Munds\u00e4fte zu Grunde liegt\nsind nicht bekannt. Geschmackstr\u00e4ume sind ebenfalls nicht beobachtet.\n*\nc H. Gef\u00fchlsinn.\nAlle *) Massen und Fl\u00e4chen des menschlichen K\u00f6rpers, welche aus den hinteren Spinalwurzeln und den empfindlichen St\u00fccken der Nn. trigeminus, glossopharyngeus, vagus und accessorius ihre Nerven erhalten, bringen gewisse Ver\u00e4nderungen ihrer Zust\u00e4nde unter der be-sondern Empfindung des Gef\u00fchls zum Bewusstsein. Die Gef\u00fchle aller dieser K\u00f6rperregionen zeigen nun unter gewissen Umst\u00e4nden eine vollkommene Uebereinstimmung; unter andern Bedingungen weichen dagegen die Gef\u00fchle einer Reihe von Oertlichkeit en betr\u00e4chtlich ab von denen der \u00fcbrigen. Die Uebereinstimmung liegt darin, dass alle f\u00fchlenden Orte Schmerz empfinden; die Verschiedenheit begr\u00fcndet sich aber dadurch, dass eine beschr\u00e4nkte Zahl von Stellen des menschlichen K\u00f6rpers neben dem Schmerze auch noch die Temperatur- und Druckempfindung erzeugt. Die Stellung der Nerven zur Seele, wenn sie schmerzen, zeichnet sich vor der mit noch andern Gef\u00fchlen begabten, auch dadurch aus, dass sie weniger deutliche Vorstel-\n*) E. H, W e b e r Artikel Tastsinn in W a g n e r s Handw\u00f6rterbuch.","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nErreger des Schmerzes. Electricit\u00e4t.\nlungen der empfindenden Oertlichkeit veranlassen ; darum nennt man ihre Empfindungen auch wohl Allgemeingef\u00fchl im Gegensatz zu den deutlicheren! Gef\u00fchlen des Druck-, Tast- und Temperatursinnes. \u2014\nA. Schmerz, Gemeingef\u00fchl.\nZur Schmerzempfindung sind alle Orte bef\u00e4higt, in welchen sich Enden und St\u00e4mme der oben erw\u00e4hnten Nerven finden; da er nicht der Art, sondern einzig der St\u00e4rke nach ver\u00e4nderlich ist, so beziehen sich unsere Betrachtungen auch zun\u00e4chst nur hierauf.\n1. Erreger, a. Elektrizit\u00e4t ; *) sie erzeugt sowohl als constanter galvanischer, wie als schwankender oder momentaner Strom (In-duktions- und Reibungselektrizit\u00e4t) Schmerzen; mit R\u00fccksicht auf den Nerven ausgedr\u00fcckt, begleitet also nicht allein die negative Schwankung, sondern auch die dipolare Anordnung seiner Molekeln den Schmerz. \u2014 In dem ersten Falle w\u00e4chst der Schmerz mit der St\u00e4rke und Dichtigkeit des Stroms, und im zweiten mit der Gr\u00f6sse der Schwankung, d. h. mit der in der Zeiteinheit sich ab gleichenden Elektrizit\u00e4tsmenge. \u2014 Die St\u00e4rke des Schmerzes, welchen die Schliessung und Oeffnung der Kette, oder ein elektrischer Funke erzeugt, ist immer betr\u00e4chtlicher als diejenige, welche von der geschlossenen Kette abh\u00e4ngt. Innerhalb dieser letztem tritt der Schmerz vorzugsweise\nan der K\u00f6rperstelle auf, die vom negativen Pol ber\u00fchrt wird.\nMit je mehr Flinken man eine mit Stanniol \u00fcberzogene Glasplatte l\u00e4det, lim so schmerzhafter wird der Schlag, welchen sie bei der Ber\u00fchrung ertheilt. Wenn man zwei Platten von ungleicher Gr\u00f6sse so mit Electrizit\u00e4t f\u00fcllt, dass die Spannung in beiden gleich ist, mit andern Worten, dass das Verh\u00e4ltnis zwischen der aufgeh\u00e4uften Elektrizit\u00e4t und der Oberfl\u00e4che der Platten in beiden dasselbe ist, so schl\u00e4gt die gr\u00f6ssere Platte st\u00e4rker als die kleinere. Hieraus folgt auch erfahrungsgem\u00e4ss, dass Elektrizit\u00e4t von demselben Spannungsgrade einen Schlag mitzutheilen oder nicht mitzutheilen vermag, je nachdem sie auf einer grossen oder kleinen Platte vertheilt war. Schliesst man mittelst der befeuchteten Finger eine constante galvanische S\u00e4ule von vielen Plattenpaaren, so empfindet man den Schmerz w\u00e4hrend ihrer Schliessung zun\u00e4chst nur an den Fingern; steigert man die Summe der Kettenglieder, so erstreckt er sich auch gegen den Arm in der Art, dass er an der Hand schwach, am Handgelenke stark, am Vorderarm schwach, am Ellbogengelenk wieder stark auftritt. Die Ursache dieser Erscheinungsreihe sucht man darin, dass der electrische Strom an den schmerzenden Stellen dichter ist; man vermuthet aber eine gr\u00f6ssere Dichtigkeit, weil man einzelne Bestandtheile der Gelenke (Knorpel oder andere) f\u00fcr schlechtere Leiter ansieht, als die Haut, Knochen und Muskeln.\nb.\tChemische Atome ; von ihren schmerzerregenden Eigenschaften ist nur bekannt, dass die verschiedensten Stoffe und Yerwandtschafts-kategorien, n\u00e4mlich alle Arten von S\u00e4uren, Alkalien, Salze, Alkohol, gepaarte Basen etc., im Stande sind Schmerzen zu erregen, wenn sie in einiger Conzentration auf den Nerven wirken. \u2014\nc.\tTemperaturen. Die Zunahme sowohl als die Abnahme der normalen K\u00f6rpertemperatur bedingt bekanntlich Schmerzempfindung,\n*) Du Bois-Reymond 283 und 354.","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Erregendes Schmerzes; Temperaturen, Mechanische Wirkungen. 299\nwenn die Abweichung einen nicht zu beschr\u00e4nkten Werth erreicht; wie bedeutend die Temperatur des Nerven zu dem Ende steigen oder sinken muss, ist nicht ermittelt. Nach Beobachtungen von E. H. Weber ist eine Steigerung der Oberhauttemperatur auf 48 bis 49\u00b0 C. und eine Erniedrigung derselben auf 12 bis 110 C. hinreichend um Schmerz zu erregen. Ausserdem lehrt a. die t\u00e4gliche Erfahrung, dass, alles Andere gleichgesetzt, der Schmerz innerhalb gewisser Grenzen, um so heftiger wird, je h\u00f6her, bez\u00fcglich je tiefer die einwirkende Temperatur ausf\u00e4llt. Mit irgend einem noch n\u00e4her zu bestimmenden Werth der Tem-peraturerniedrigung, oder ihrer Erh\u00f6hung scheint dagegen die Schmerzempfindung ihr Maximum zu erreichen, so dass dann mit noch weiter getriebenem Steigen oder Sinken der Temperatur keine weitere Steigerung der Schmerzempfindung proportional geht. \u00df. Aus den Beobachtungen von E. H. Weber geht hervor, dass, alles andere gleichgesetzt, der Schmerz anf\u00e4nglich mit der Einwirkungsdauer der erregenden\nTemperatur w\u00e4chst und dann auch wieder mit ihr abnimmt.\nBegreiflich kann aus der Temperatur der Oberhaut oder gar des Mediums z. B. des Wassers, in welches ein Glied eingetaucht wird,\u00bb die Temperatur der Nerven nicht erschlossen werden, da die Temperatur, die W\u00e4rmeleitung u. s. w. des in dem Nervenlager str\u00f6menden Blutes, ebenfalls bestimmend f\u00fcr den W\u00e4rmegrad des Nerven mit eintritt. Schon aus diesem Grund d\u00fcrfte es schwer oder besser unm\u00f6glich sein, den Temperaturgrad anzugeben, den ein Medium besitzen muss, damit ein in dasselbe eingetauchtes Glied verschiedenen Menschen Schmerz erzeugt; denn je nachdem das Blut in einem Gliede mehr oder weniger rasch kreisst oder gleichzeitig in gr\u00f6sseren Mengen vorhanden ist, oder endlich eine etwas niedere oder h\u00f6here Eigenw\u00e4rme besitzt, wird es im Stande sein dem Eindringen einer fremden Temperatur, einen gr\u00f6sseren oder geringeren Widerstand entgegen zu setzen. \u2014Die Steigerung des Schmerzes mit der Dauer der TemperatureinWirkung hat man verschieden erkl\u00e4rt: 1.) Man nahm an, dass mit derZeit erst die W\u00e4rme oder K\u00e4lte in einem zur Schmerzerzeugung n\u00f6thigen Grad zu den Nerven dringe. Diese Annahme kann f\u00fcr sich geltend machen, dass geringere Abweichungen von der Normaltemperatur der Nerven, l\u00e4ngere Zeit einwirken m\u00fcssen um Schmerz zu erzeugen, als diess bei betr\u00e4chtlichen Abweichungen n\u00f6thig ist. Geringere Abweichungen werden aber aus bekannten Gr\u00fcnden\nnur langsamer eine Ver\u00e4nderung der Normaltemperatur herbeif\u00fchren. \u2014 2.) Erkl\u00e4rte\n\\\nman die Erscheinung, dass sich die schmerzerregenden Eigenschaften der Temperatur mit der Zeit steigern, daraus, dass sich die in den Nerven zeitlich getrennten Wirkungen im Hirn summiren. Diese Hypothese ist vorerst unerweisbar, aber auch unwiderleglich. \u2014 3.) Endlich glaubte man auch annehmenzu d\u00fcrfen, dass durch die l\u00e4ngere Dauer der einwirkenden Temperaturnicht allein der W\u00e4rmegrad der zun\u00e4chstber\u00fchrten Nerven, sondern auch der unter der Haut gelegenen St\u00e4mme ver\u00e4ndert werde; diese Hypothese macht die alsbald zu besprechende Thatsache f\u00fcr sich geltend, dass die Schmerzhaftigkeit der Empfindung mit der Ausbreitung der erregenden Ursache w\u00e4chst. \u2014 Die Abnahme der Schmerzhaftigkeit bei noch l\u00e4ngerer Fortsetzung der Einwirkung des erregenden Mittels erkl\u00e4rt sich aus der Abstumpfung der Empfindlichkeit \u00fcberhaupt. \u2014\nd. Mechanische Einwirkungen. Welche Ver\u00e4nderung der Nerv unter dem Einfluss mechanischer Gewalten erlitten haben muss, um Schmerz zu erregen, ist unbekannt; es steht hier nur fest, dass nicht jede Verst\u00fcmmelung des Nerven schmerzhaft ist; denn ein rasch","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nBestimmung des schmerzenden Ortes.\ndurchschnittener Nerv erzeugt w\u00e4hrend und nach seiner Trennung kaum einen Schmerz, den selbst schwache aber anhaltende Zerrungen und Dr\u00fccke der Haut sehr heftig erregen. \u2014\nAusser von den Erregern und von der Erregbarkeit ist St\u00e4rke des Schmerzes noch bedingt von der Ausbreitung und dem Orte der Einwirkung des Erregers. \u2014 Denn a. mit der Summe der gleichzeitig erregten Primitivr\u00f6hren w\u00e4chst der Schmerz. Diese Thatsache weist auf eine Summirung der in den einzelnen Primitivr\u00f6hren vorkommenden Erregung durch die Empfindungsorgane hin; E. H. Weber. \u2014 b. Derselbe Angriff auf eine gleich grosse Zahl4von Primitivr\u00f6hren desselben Nerven erscheint schmerzhafter, wenn man das Erregungsmittel auf die normale Yerbreitungsstelle, als wenn man es auf den Stamm des Nerven anwendet. Pag. 140.\nDie Beweise f\u00fcr die erste dieser Angaben hat E. H. Weber geliefert, zu den be-merkenswerthesten, unter seinen auf unsern Gegenstand bez\u00fcglichen Versuchen d\u00fcrfte der geh\u00f6ren, dass eine Fl\u00fcssigkeit, deren Temperatur 48\u00b0 oder -f- 12-\u00b0 C angen\u00e4hert ist, nur dann Schmerzen erzeugt, wenn man die ganze Hand in sie taucht, w\u00e4hrend beim Eintauchen nur eines Fingers kein Schmerz entsteht. \u2014 Die zweite Behauptung ist aus der Thatsache abstrahirt, dass chemische und mechanische Erregungsmittel, welche man auf den ganzen plexus ischiadicus des Frosches anwendet, weniger auffallende Reflexbewegungen erzeugen, als wenn man sie beschr\u00e4nkt auf die Schwimmhaut anwendet. \u2014 Von dem Einfluss, den die Verbreitung des Nerven auf sein Verm\u00f6gen Schmerzempfindling zu wecken, \u00e4ussert, l\u00e4sst man auch die Erscheinung abh\u00e4ngig sein, dass dieselben Erregungsmittel an manchen Hautstellen Schmerz erwecken, an andern nicht; es ist aber die Frage ob diese Hautstellen nicht einfach durch ihren grossem Nervenreichthum empfindlicher sind, oder etwa sich einer Lagerung erfreuen, bei welcher, trotz scheinbar gleichstarker Anwendnng eines Erregungsmittels dasselbe in dem einen Nerven doch zu gr\u00f6sserer Wirksamkeit kommt als im andern. Dieses ist z. B. offenbar der Fall bei der grossem Schmerzf\u00e4higkeit einzelner Hautparthieen f\u00fcr die Temperatureindr\u00fccke, indem bei gleichen W\u00e4rmegraden die mit einer zarten Epidermis bedeckten Stellen leichter und intensiver schmerzen als die mit dicker Epidermis versehenen.\n2. Bestimmung des schmerzenden Ortes. Die Schmerzempfindung ist stets mit einer Ortsempfindung verkn\u00fcpft ; und zwar empfinden wir jedesmal den schmerzhaften Ort als einen Theil unseres Leibes. Diese Ortsangabe wird nun insbesondere bestimmt durch den in Erregung versetzten Nerven, in der Art, dass jeder Nerv eine bestimmte Ortsempfindung erweckt, die niemals durch einen andern gegeben werden kann. \u2014 Jeder Nerv scheint aber auch wiederum nur\n\\\nzur Erzeugung einer einzigen Ortsempfindung geschickt zu sein, so dass es in dieser Beziehung f\u00fcr die Empfindung gleichg\u00fcltig ist, auf welchem Punkt seines Verlaufs er von der schmerzerregenden Einwirkung getroffen wird. Dieser letzteren Angabe gem\u00e4ss wird der Ort eines Angriffs sehr h\u00e4ufig in der Empfindung ein anderer als der des wirklichen Angriffs auf den Nerven sein; der s cheinbare Ort des Angriffs, auf welchen jedesmal die Empfindung verlegt wird, ist immer derjenige der normalen peripherischen Verbreitung des Nerven. \u00e4","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Scheinbarer Ort der Empfindung.\n301\nWie dieser Ort sehr h\u00e4ufig nur der scheinbare des Angriffs ist, so ist er auch immer derjenige der scheinbaren Empfindung, indem erwiesener Massen nicht in der Peripherie des Nerven, sondern in irgend einer noch n\u00e4her zu bestimmenden Stelle des Hirns diejenige Wechselwirkung zwischen Seele und Nerven stattfindet, welche zun\u00e4chst die Empfindung darstellt.\n*\nDen obigen S\u00e4tzen liegen tausendf\u00e4ltige, leicht zu beobachtende Thatsachen zu Grunde. Zun\u00e4chst wissen wir aus der t\u00e4glichen Erfahrung, dass die Nerven eines ' jeden K\u00f6rpertheils nur die Empfindung einer Oertlichkeit veranlassen; es tritt hierin niemals eine Verwechslung ein. Wenn aber auf irgendwelche Anregung neben dem Orte des urspr\u00fcnglich ergriffenen noch der eines anderen Nerven schmerzt, so liegt der Grund hierf\u00fcr nachweislich immer darin, dass durch den urspr\u00fcnglich von der schmerzhaften Empfindung ergriffenen Nerven innerhalb des Organismus ein Vorgang eingeleitet wird, verm\u00f6ge dessen der Nerv des anderen Ortes ebenfalls in Erregung kommt. Demgem\u00e4ss empfindet man den zweiten Ort immer in Folge einer besondern Affection eines zweiten Nerven. \u2014 Davon aber, dass ein Nerv, insofern er schmerzt, nur eine einzige Ortsempfindung zu geben im Stande ist, selbst wenn er auf sehr verschiedenen Stellen seines Verlaufs vom Hirn oder R\u00fcckenmark zur Peripherie angeregt wurde, davon \u00fcberzeugen uns die mannigfachsten Erscheinungen an Gesunden und Kranken. So geben z. B. die in dem n. ulnaris verlaufenden sensiblen F\u00e4den immer die Empfindung der Ulnarseite der Hand und der beiden letzten Finger, mag man sie an ihrer Endverbreitung oder an ihrem Verlauf um den condylus humeri internus, oder am humerus neben der arter. brachialis dr\u00fccken. Aehnlich verhalten sich der n. ischiadicus, medianus etc., kurz jeder Nerv, der den Einwirkungen erregender Mittel noch au andern SteHen als an seiner peripherischen Verbreitung zug\u00e4nglich ist. Noch \u00fcberraschender gestalten sich die Erscheinungen an Kranken; bei Anschwellungen in den R\u00e4ndern derjenigen Knochenoeff-nungen, durch welche Nervenst\u00e4mme oder -Aeste treten, und einem durch diese Anschwellungen auf deffNerven ausge\u00fcbten Druck suchen die Kranken jedesmal den Sitz der heftigen Schmerzen in den peripherischen Enden des Nerven, d. h. es schmerzt nicht die Stelle des Druckes, sondern das Glied, in welchem der gedr\u00fcckte Nerv sich ausbreitet. Dieses ist am auffallendsten, wenn in Folge einer Amputation etc. die Peripherie des Nerven fehlt; es erscheint dann, wenn die noch mit dem Hirn in Verbindung stehenden St\u00fcmpfe der Nerven, die zu dem abgeschnittenen K\u00f6rper-theil geh\u00f6ren, erregt werden, der Schmerz in den fehlenden Theilen mit einer solchen Lebhaftigkeit, dass die Kranken den Verlust der Glieder vergessen. Die Allgemeingiltigkeit dieser wichtigen, von J. M\u00fcller zuerst in ihrer ganzen Bedeutung aufgefassten Thatsache ist von Volkmann bestritten worden. Er hob hervor dass, wenn man einen Nervenstamm auf seinem Verlaufe presse, man neben dem Schmerz im Nervenende auch an der Stelle des Druckes eine schmerzhafte Empfindung besitze. Dies\u00e9s treffe namentlich zu, wenn man den nerv, ulnaris auf seinem Verlauf um den condyl. intern, humeri presse. \u2014 Es besteht hier unzweifelhaft ein der Druckstelle entsprechender \u00f6rtlicher Schmerz neben den Schmerzen der Hand; sehr \u2022wahrscheinlich r\u00fchrt dieser aber nur von sehr zahlreichen Ausbreitungen des n. cutan. internus her, die hier \u00fcber dem n. uln\u00e4r. in der Haut geschehen; denn in der That ist die von Volk mann hervorgehobene die einzige Stelle, wo neben dem Schmerz in der Peripherie Schmerz an der Druckstelle erzielt wird, wie man sich sogleich \u00fcberzeugt, wenn man durch leises Zerren mit dem Finger den n. ulnaris neben der arter. brachialis erregt. Hier f\u00fchlt man deutlich ausser der Ber\u00fchrung der dar\u00fcberliegenden Haut keinen andern Schmerz als den der Hand.\nDie auf die Empfindung des Orts bez\u00fcglichen Thatsachen erkl\u00e4rt","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302 Weber\u2019s Theorie des scheinbaren Ortes der Schmerzen. Nachschmerz.\neine von E. H. Weber angeregte und von J. M\u00fcller weiter gebaute Hypothese ; nach dieser sind die Nervenprimitivr\u00f6hren in einer bestimmten \u00f6rtlichen Beziehung zu den Empfindungsorganen im Hirn gelagert, so dass jeder empfindliche Theil unseres K\u00f6rpers im Hirn durch eine Primitivr\u00f6hre repr\u00e4sentirt wird. Erregungszust\u00e4nde, welche in diesenPrimitivr\u00f6hren stattfinden, dringenin denselben isolirt, ohne sich einer benachbarten R\u00f6hre mitzutheilen, in das Empfindungsorgan. An der Ber\u00fchrungsstelle dieses letztem mit dem Nervenprimitivrohr geschieht die Empfindung. Aus diesem Theil der Hypothese ist begreiflich, dass jedes Nervenrohr nur eine Empfindung* geben kann, mag auch der Eindruck auf dasselbe wo immer geschehen; ferner dass die Empfindung in gleicher Weise fortbesteht, so lange das Nervenrohr noch in ungetr\u00fcbter Verbindung mit dem Hirn sich findet, mag es auch in seinem Verlauf noch so sehr verst\u00fcmmelt sein und endlich, dass jedes Nervenrohr eine von dem anliegenden verschiedene Empfindung gibt. Um aber begreiflich zu machen, warum die Empfindung nicht als ein Zustand des Hirns \u2014 d. h. des Ortes an dem sie nach obiger Hypothese geschieht \u2014 sondern als ein solcher der Organe gef\u00fchlt werde, muss man zu einer besondern Seelenwirkung seine Zuflucht nehmen, verm\u00f6ge deren, um den Sprachgebrauch der Physiologen anzuwenden, die Empfindung ausserhalb des Hirns an die Peripherie des Nerven gesetzt, d. h. auf eine Ursache an den Nervenenden bezogen wird. Die Seele soll aber gerade auf diesen Ort des Nerven-verlaufs die Empfindung beziehen, weil dieser durch seine Lagerung\nden meisten Angriffen ausgesetzt ist. \u2014\nDie vorgetragene Hypothese, welche sich bis auf die noch ganz unklare Lehre vom Nachaussensetzen s'chon durch ihre Bestimmtheit und Einfachheit empfiehlt, kann nicht weit fehl gehen, weil ohne ihr Bestehen der ganze Mechanismus des Nervensystems, wie E. H. Web er richtig bemerkt, sinnlos w\u00e4re.\n3. Beharrungsverm\u00f6gen des Schmerzes; Nachschmerz. Wie es scheint momentan mit dem Beginn der Einwirkung des erregenden Mittels entsteht die Empfindung. Keineswegs verliert sie sich aber mit dem Verschwinden der Einwirkung des Erregungsmittels unter allen Umst\u00e4nden. Sie kann die Zeit der Einwirkung dieses letz-. teren betr\u00e4chtlich \u00fcberdauern, wie die Thatsachen des gew\u00f6hnlichen Lebens lehren. Die Art, in welcher sich diese sogenannte Nachempfindung geltend macht, ist verschiedenartig; entweder es besteht die Empfindung in ganz gleicher Weise fort, als w\u00e4hrend der Gegenwart des Erregungsmittels ; oder es ist die Empfindung in dem fr\u00fcher schmerzhaften Nerv dumpfer, als in den benachbarten Stellen, wenn sie beide gleichzeitig von einer anderweitigenErregungsursache getroffen werden. In beiden F\u00e4llen scheidet sich also der Nerv in der Empfindung von seinen Nachbarn aus ; in dem erstem wie es scheint, durch einen dauernden Erregungszustand ; in dem zweiten dagegen offenbar dadurch, dass der Nerv geschw\u00e4cht zur\u00fcckbleibt, so dass er","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"303\nNerven f\u00fcr besondere Gef\u00fchle.\nnun durch eine neue Einwirkung weniger erregt wird, als seine ungeschw\u00e4chten Nachbarn. Die Nachschmerzen scheinen um so st\u00e4rker hervor zu treten, je anhaltender das Erregungsmittel einwirkte. Hierher geh\u00f6ren die Beispiele der andauernden Schmerzempfindung nach langen Druckwirkungen seitens enger Kleidungsst\u00fccke etc.\nDie Lehre von der Nachempfindung, d. h. von dem Antheil, welcher dem Nerven an ihr zukommt, wird erst dann einen Fortschritt machen, wenn man die Folgen genauer zu w\u00fcrdigen gelernt hat, welche das Erregungsmittel auf die den Nerv umgebenden Gewebe aus\u00fcbt, deren Zustand unter vielen Umst\u00e4nden empfindungserweckend auf den Nerven wirken kann.\nB. Besondere Gef\u00fchle.\nDie Orte der besondern Gef\u00fchle empfinden neben dem Schmerz auch noch gelinde mechanische Einwirkungen, als Druck, Zug, Kitzel u. s. w. und die Temperaturschwankungen als W\u00e4rme und K\u00e4lte; ihre Nerven stehen ausserdem in engerer Beziehung zur Seele, durch die sie vor allen Uebrigen deutliche Vorstellungen der erregten Oertlich-keit erwecken, und endlich verkn\u00fcpfen sich ihre Erregungen mit Bewegungsvorstellungen zur Erzeugung complizirterer Urtheile.\nZu diesen ausgedehnten Leistungen sind die Nerven bef\u00e4higt, welche sich in der \u00e4ussern Haut, der Mundh\u00f6hle bis zum vordem Gaumensegel, einschliesslich dieses letztem, der Zunge, dem Eingang der Nasen- und After\u00f6ffnung verbreiten.\n1. Eigent\u00fcmlichkeiten in der Verbreitung und den Urspr\u00fcngen dieser Nerven. Die Fl\u00e4chen, in welchen die erw\u00e4hnten Nerven ihr peripherisches Ende finden, sind mit Einrichtungen versehen, welche in mehr oder weniger inniger Beziehung zu ihren besondern Gef\u00fchlen stehen; E. H. Weber, a. Die Nervenr\u00f6hren enden in der Cutis und der Zunge wahrscheinlich als abgestuzte F\u00e4den, nachdem sie vorher mannigfache Plexus gebildet und sich wiederholt getheilt haben; ihr Ende liegt aller Orten in den Forts\u00e4tzen, welche als Papillen die Haut und Zunge bedecken und die, m\u00f6gen sie gef\u00e4ss-haltig oder gef\u00e4sslos sein, ein schwammiges, elastisches mit Fl\u00fcssigkeit durehtr\u00e4nktes Gewebe darstellen, welches einen Ueberzug aus dem starren Pflasterepithelium erh\u00e4lt. Nach einer wichtigen Entdeckung von Meissner un4 R\u00bb Wagner*), sind bestimmte Papillen, Handfl\u00e4che, des Handr\u00fcckens, des rothen Lippenrandes, der Fusssohlen und nach K\u00f6lliker **) auch die pap. fungiform, linguae ausserdem noch mit einem eigent\u00fcmlich gebauten Theile, dem Tastk\u00f6rperchen, versehen, das entfernt an ein Vater\u2019sches K\u00f6rperchen erinnert, in welches der Nerv eindringt. An den Orten dieses Vorkommens entbehrt die Papille, welche eine Nervenendigung in sich schliesst, der Gef\u00e4sse. Durch diese Einrichtungen wird die Haut geschickt\n*) G\u00f6ttinger gelehrte Anzeige, Februar 1852. \u2014 M\u00fcllers Archiv 1852. 493.\n**) K\u00f6lliker, Handbuch der mikrosk, Anatomie p. 85.","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304 Anatomische Eigent\u00fcmlichkeiten der besonderen Gef\u00fchlsnerven.\ndie Reibung mit den sie ber\u00fchrenden Oberfl\u00e4chen zu bef\u00f6rdern, und zugleich sind diese Orte der Nervenendigungen geeignet die zartesten Ver\u00e4nderungen der umgebenden Temperatur dem Nerven unter der Form von Z\u00fcgen und Dr\u00fccken mitzutheilen ; denn da die Papille die Haut \u00fcberragt, so wird sie vorzugsweise leicht erw\u00e4rmt und erk\u00e4ltet werden, und da die Papille mit leicht ausdehnbarer Fl\u00fcssigkeit durchtr\u00e4nkt und mit einer unnachgiebigen Hornschichte \u00fcberzogen ist, so muss die Temperatur\u00e4nderung ausdehnende und zusammenpressende Spannung erzeugen. Die mit Tastk\u00f6rperchen versehenen Papillen werden in diesem Sinne besonders bevorzugt sein, und darum wahrscheinlich auch der Blutgef\u00e4sse entbehren, wodurch die subjektiven Gef\u00fchle abgeschnitten werden, die Begleiter der wechselnden Gef\u00e4ssdurchmesser h\u00e4tten sein m\u00fcssen. \u2014 b. lieber den gr\u00f6ssten Theil der Haut finden sich Haare verbreitet, welche durch ihre innige Anheftung an empfindliche Hautstellen kleine Sonden darstellen, welche in Folge zarten Zugs und Drucks besondere Lagenverschiebungen der Haut erzeugen. \u2014 c. Die kleinen, von K\u00f6lliker entdeckten Muskeln der Haut und Hautdr\u00fcsen sind dadurch von Bedeutung, dass sie die Blutmenge sowohl als den Elastizit\u00e4tscoeffizienten der Haut, mit andern Worten Temperatur und Widerstandsf\u00e4higkeit derselben, vor\u00fcbergehend \u00e4ndern k\u00f6nnen. Ihre Bewegungen erzeugen auch geradezu eigenth\u00fcmliche Temperatur- und Kitzelgef\u00fchle, welche unter dem Namen des Ameisenlaufens, des Schauers u. s. w. bekannt sind. \u2014 d. Unsere Fl\u00e4chen sind endlich zum Theil auf sehr bewegliche Gliedmassen gestellt, wodurch die Haut der Hand, des Fusses, der Lippen, der Zunge in mannigfaltige und beliebige Stellungen zu den erregenden Gegenst\u00e4nden gebracht werden kann.\nNicht unwahrscheinlich ist es aber, dass n\u00e4chst den erw\u00e4hnten besondern Bedingungen in der Haut, auch eine eigenth\u00fcmliche in dem Hirn erscheint. E. H. Weber hat auf den Umstand die Aufmerksamkeit gelenkt, dass nach den h\u00e4ufig vorkommenden und zerst\u00f6renden Blutergiessungen in die Hirnmasse, welche das Dach des Seitenventrikels dafstellt, vorzugsweise nur die Empfindungen und Bewegungen der Arme und Beine, aber nicht die des Rumpfes gel\u00e4hmt sind. Diese Thatsache zeigt allerdings, dass die Nerven der wesentlichsten Tastorgane im Hirn einen andern Verlauf besitzen, als diejenigen des Rumpfes Dieser zusammengedr\u00e4ngte Verlauf von Nerven, die ausserhalb des Hirns so weit auseinandergezerrt sind, gesondert von andern, welchen sie an der Peripherie so nahe liegen, muss allerdings auffallen.\nObwohl cs noch durchaus nicht gelingt anzugeben, wie im einzelnen die erw\u00e4hnten Eigenth\u00fcmlichkeiten die Besonderheit der Empfindung bedingen, so l\u00e4sst sich doch mit Sch\u00e4rfe ihr im Allgemeinen bestimmender Einfluss durch Versuche zeigen. Denn a. dieselben Nerven-","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"\u00bb\tg>\nErreger\tder besonderen Gef\u00fchle; Ortsinn.\t305\nr\u00f6hren geben, je nachdem sie an ihrer Hautausbreitung oder in ihrem Verlauf durch den Stamm erregt werden, entweder das besondere oder nur das Schmerzgef\u00fchl; E. H. Weber. Taucht man z. B. den Ellenbogen\tin\teine Mischung von\tEis\tund\tWasser,\tbis\tdass\tdie\tAbk\u00fchlung allm\u00e4lig durch\tdie Haut\tzu\tdem\tn. ulnaris\tdringt,\tso\tent-\nsteht in diesem niemals das Gef\u00fchl der K\u00e4lte, sondern nur des Schmerzes, welches sich aus bekannten Gr\u00fcnden gegen den Ulnarrand der Hand erstreckt. Ebenso sind grosse Hautnarben, in denen die Cutis vollkommen zerst\u00f6rt ist, nicht mehr geeignet K\u00e4lte- und W\u00e4rmeempfindung zu erzeugen. Endlich entbehren auch die Hautfl\u00e4chen, welchen die beschriebenen Organe fehlen, der ebengenannten Empfindungen, so erzeugt z. B. Eiswasser, in^den Magen oder Dickdarm eingebracht, keine K\u00e4lteempfindung; E. H. Weber. \u2014 b. Nach Einathmung von Aether tritt bekanntlich ein eigenth\u00fcmlicher Zustand unseres Hirns ein, in diesem empfinden wir h\u00f6chst auffallender Weise sehr intensive Verletzungen nicht mehr als Schmerzen, dagegen geben schwache Angriffe auf die Haut Tastempfindungen; dieses Ausl\u00f6schen der Schmerzf\u00e4higkeit neben dem Bestehen der Tastempfindlichkeit scheint allerdings darauf hinzudeuten dass diesen beiden spezifisch verschiedene Prozesse des Hirns zu Grunde liegen; Gerdy, Pirogoff*).\n2.\tErreger der besondern Gef\u00fchle. \u2014 Die benannten Fl\u00e4chen scheinen aber nur dann die besondern Empfindungen erzeugen zu k\u00f6nnen, wenn die Erregung der Nerven einen gewissen Grad der Intensit\u00e4t nicht \u00fcberschreitet; jede heftige Ver\u00e4nderung der Nerven wird n\u00e4mlich augenblicklich schmerzhaft, und damit verlieren wir die Bef\u00e4higung, gleichsam als ob die Vorstellung von der Empfindung \u00fcber-t\u00e4ubt w\u00fcrde, zur Auffassung einiger Besonderheiten <|er Erregung.\nWenn es nun zur Bildung der besondern Gef\u00fchle kommt, verkn\u00fcpft sich sogleich die Empfindung und die Vorstellung auf das innigste. Darum scheint es E. H. Weber in der meisterhaften Darstellung seiner fundamentalen Entdeckungen vorgezogen zu haben, die n\u00e4chsten und entfernteren Wirkungen der Erreger zugleich abzuhandeln, indem er die Gesammtheit der durch Druck, Zug und Temperaturschwankung in der Empfindung und Vorstellung hervorgerufenen Erscheinungen beschreibt als Ort- Druck- und Temperatursinn. Wir werden diese Reihenfolge, abweichend von der bisher bei den Sinnen eingeschlagenen, ebenfalls zu Grunde legen.\n3.\tOrt sinn. Dieser Namen bezeichnet die F\u00e4higkeit, unmittelbar durch die von mechanischen Erregern erzeugten Empfindungen, zu einer Vorstellung von der Gestalt der erregten sensiblen Fl\u00e4chen zu gelangen. \u2014 Dieses Verm\u00f6gen ist, wie die Versuche von E. H. Weber lehren, an verschiedenen Stellen sehr verschieden ausgebildet.\n*) E. H. Weber 1. c. p. 563, Ludwig, Physiolog. I.\n20","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nFeinheit des Ortsinnes*\nNach ihm besitzen den feinsten Ortsinn die Zungenspitze, die Volarseite des letzten Fingergliedes, dann, aber schon geringer, die rothen Lippen und die Volarseite des zweiten Fingergliedes ; in absteigender Ordnung folgen dann aufeinander Dorsalseite der letzten zwei Fingerglieder, Nasenspitze, Volarseite des Handtellers, Mittellinie und Seite der Zunge, die einen Zoll von der Spitze entfernt ist, die fleischfarbenen Lippen und Metacarpus des Daumens, Plantarseite des letzten Grosszehengliedes, R\u00fcckenseite des zweiten Finger gliedes, Backen, \u00e4ussere Oberfl\u00e4che des Augenlides, Mitte des harten Gaumens; Haut auf dem vordem Theil des Jochbeins, Plantarseife des Mittelfusskno-chens der grossen Zehe, R\u00fcckenseite des ersten Fingergliedes; Haut der capitula ossium metacarpi auf der Dorsalseite, innere Oberfl\u00e4che der Lippen; hinterer Theil des Jochbeins, unterer Theil der Stirn, hinterer Theil der Ferse; behaarter Kopf, Hals unter der Kinnlade, Handr\u00fccken; Kniescheibe, Kreutzbein, Hinterbacke, Unterarm, Unterschenkel; Brustbein; R\u00fcckgrath am obern und untern Theil des Halses und R\u00fcckens, die Lenden ; R\u00fcckgrath in der Mitte des Halses und des\nR\u00fcckens, Mitte des Ober- und Unterschenkels.\nDie mitgetheilte Classification der Hautstellen nach ihrem Ortsinn st\u00fctzt sich auf mehrere sinnreiche Versuchsreihen von E. H. Weh er. In der ersten derselben betastete er mit stumpfen (gedeckten) Spitzen eines in verschiedener Weite ge\u00f6ffneten Zirkels die Haut eines Menschen, dessen Augen verbunden waren, w\u00e4hrend m\u00f6glichst normaler Erregbarkeit desselben. Hier fand sich, dass die Zirkelspitzen auf verschiedenen HautsteUen in verschiedener Entfernung von einander aufgestellt werden mussten, wenn dieselben als zwei getrennte Punkte empfunden werden sollten. So z. B. empfand die Zungenspitze, dass der Zirkel noch ge\u00f6ffnet sei, wenn seine Spitzen um l/2 Linie; das letzte Fingerglied, wenn sie um 1 Linie; die Haut des Oberarms aber erst, wenn sie um 30 Linien entfernt waren. Wurden sie mehr gen\u00e4hert, so entstand an den betreffenden Punkten immer nur die Empfindung, als ob eine einzige Zirkelspitz\u00eb aufgesetzt gewesen sei. Eine Modifikation desselben Versuchs besteht darin, dass m\u00e4ft mit einem constanten Spitzenabstand \u00fcber zusammenh\u00e4ngende Hautstellen verschiedener Feinheit des Ortsinns hinf\u00e4hrt. Tritt man aus den Regionen stumpferen Ortsinnes in die der feineren, so scheinen sich die Spitzen zu entfernen, w\u00e4hrend sie sich beim ipngekehrten Gang zu n\u00e4hern scheinen. In einer andern Versuchsreihe legte er verschiedene Hohlfiguren auf die Haut, z. B. die abgeschnittenen R\u00e4nder von R\u00f6hren, Hohlprismen etc. War der Durchmesser des Hohlraumes kleiner als der Abstand, in welchem zwei Zirkelspitzen getrennte Empfindungen erregen, so erschien der K\u00f6rper solid, im umgekehrten Falle kam es dagegen zum Bewusstsein, dass von den R\u00e4ndern ein freier Raum umschlossen wurde.\nDiese Thatsachen erl\u00e4utert Weber durch die Annahme, dass eine erregte Nervenr\u00f6hre den Kreis von bestimmter Ausdehnung welchen sie versorge, in der Empfindung als Einheit zum Bewustsein bringe. Demnach m\u00fcssen also, wenn zwei gleichzeitig auf die Haut gemachte Eindr\u00fccke als gesondert unterschieden werden sollen, Avenigstens auch zwei solcher Gef\u00fcblskreise gleichzeitig getroffen werden; erfahrungs-gem\u00e4ss scheint es ihm jedoch f\u00fcr das Entstehen der Empfindung des Abstandes der erregten Gef\u00fchlskreise nothwendig zu sein, dass auch zwischen den erregten noch ein oder mehrere andere gelegen seien Je kleiner ein Gef\u00fchlskreis sei, und je gedr\u00e4ngter dieselben liegen, um so zahlreicher sind dann die getrennten Empfindungen, welche ein Hautst\u00fcck vermitteln kann. Um begreiflich zu machen, wie es geschehe, dass sich die gleichweit abstehenden Zirkelspitzen je nach dem Eintreten in mehr","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"E. H. Weber\u2019s Theorie des Ortsinnes.\n307\noder weniger nervenreiche Hautstellen bald zu n\u00e4hern, bald zu entfernen scheinen, f\u00fchrt er die Annahme ein, dass der Mensch wegen h\u00e4ufigen Gebrauchs ein dunkles Bewusstsein der gesonderten Gef\u00fchlskreise besitze und demgem\u00e4ss z\u00e4hle, wie viel solcher Kreise zwischen den gerade erregten befindlich seien. F\u00fcr die Richtigkeit dieser Hypothese im Allgemeinen spricht die Thatsache, dass die Regionen des feinsten Ortsinnes mit sehr zahlreichen Nerven\u00e4stchen versorgt werden; zugleich ist sie eine nothwendige Folgerung der wohlkonstatirten Thatsachen von der isolirten Leitung in den Nervenr\u00f6hren und von der Besonderheit des Nervenrohres, nur eine einzige Ortsempfindung vermitteln zu k\u00f6nnen. Mit dieser Annahme glaubten einige Gelehrte aber verschiedene Thatsachen nicht in Einklang bringen zu k\u00f6nnen. Die meisten ihrer Eiuw\u00fcrfe scheinen aber Missverst\u00e4ndnissen ihren Ursprung zu verdanken. Dahin geh\u00f6rt namentlich 1) da die Zahl der Nervenr\u00f6hren, welche in die Orte feinster Tastempfindlichkeit eintreten, viel zu betr\u00e4chtlich sei, als dass auf einem Kreis von einer halben Linie Durchmesser nur ein Nervenrohr sich ver\u00e4steln solle, so m\u00fcsse eigentlich die Feinheit in der Unterscheidung der Oertlichkeit noch unter diesen Werth sinken. 2) Setzt man die Zirkelspitzen an dem Rumpf so auf, dass sie die Mittellinie desselben zwischen sich fassen, so dass also die eine derselben diesseits und die andere jenseits der Mittellinie zu liegen kommt, so entsteht dadurch dennoch bei selbst betr\u00e4chtlichem Abstand nur eine Empfindung, obgleich hier R\u00f6hren verschiedener R\u00fcckenmarkh\u00e4lften getroffen werden. 3) Man fand es ferner unbegreiflich, dass die in der Reihenfolge ab c liegenden Gef\u00fchlskreise die Empfindung der gesonderten geben, wenn die Zirkelspitzen auf a und c aufgesetzt sind, w\u00e4hrend sie sich einfach darstellen bei Auflage auf a und b sowohl als bei der auf c und b. K\u00f6l-liker*), Lotze**). Aus diesen Thatsachen k\u00f6nnen aber keine Einw\u00fcrfe gegen Weber hergenommen werden, da sie es gerade waren, welche Veranlassung gaben zu dem Ausspruch, dass nicht durch die gleichzeitige Ber\u00fchrung der Verbreitungsorte zweier Nervenr\u00f6hren \u00fcberhaupt die Empfindung des doppelten Ortes entstehe, sondern dass diese letzte Empfindung nur erzeugt werden k\u00f6nne, wenn ein oder mehrere Empfindungskreise zwischen den erregten Stellen liegen. Diese Annahme wird aber von Weber nicht allein aus den vorgef\u00fchrten Thatsachen gefolgert sondern auch noch aus dem schon beigebrachten Versuch, dass zwei Zirkelspitzen von konstantem Abstand sich zu n\u00e4hern scheinen, wenn man mit ihnen aus nervenreichern in nerven\u00e4rmere Hautstellen \u00dcbertritt. Eine weitere B\u00fcrgschaft f\u00fcr diese Weber\u2019scheBehauptung, wonach die Seele gleichsam den Abstand der Nervenr\u00f6hren im Hirn sch\u00e4tzt, Hegt endlich darin, dass sich bei g\u00fcnstigen Stimmungen und durch Uebung die Gr\u00f6sse des Durchmessers der sogenannten Empfindungskreise verkleinert, w\u00e4hrend sie sich durch Einnehmen narkotischer Gifte, Atropin, Daturin, Morphin vergr\u00f6ssert. Lichtenfeis.**)\nScheinbar bedeutender scheint der Einwurf, dass man das Fortr\u00fccken einer Zirkelspitze innerhalb eines Raumes f\u00fchlt, das an zwei gleichzeitig aufgesetzten Spitzen nur eine Empfindung erzeugt; es birgt also offenbar dieser im letzten Falle als Einheit empfundene Raum die M\u00f6glichkeit differenter Raumempfindung; Lotze. Auch dieses ist von Weber nicht \u00fcbersehn worden. Der Grund des Widerspruchs beider Beobachtungen scheint \u00fcberhaupt nur gesucht werden zu d\u00fcrfen in Verschiedenartigkeiten, welche den beiden Erregungen zukommt, wie schon daraus sich ergibt, dass man bei der Bewegung der Spitze ausser dem Orte der Ber\u00fchrung auch noch die Richtung der Bewegung empfindet. Die Aufgabe steHt sich also dahin, aus der verschiedenen Art der Erregung unter Festhalten der gut begr\u00fcndeten Web er\u2019-scheu Annahme den Unterschied der Wirkungen gleichzeitiger und ungleichzeitiger Erregung abzuleiten.\n*) Lehrbuch der mikrosk. Anatomie II. a. p. 89 u. f.\n**) Lotze medizinische Psychologie. Leipzig 1852. p. 395 u. f.\n***) Lichtenfels, Sitzungsberichte der Wiener Akademie. VI. 338.\n20*\n/","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nDrucksinn ; Hilfe der Muskeln.\n4. Drucksinn bezeichnet die Leistung unserer Tastorgane unmittelbar aus der Empfindung, eine Vorstellung \u00fcber den Grad der Zusammenpressung oder Ausdehnung, den unsere Haut durch ein mechanisch wirkendes Mittel erf\u00e4hrt, zu erzeugen. Dieses Verm\u00f6gen \u00e4ussert sich an verschiedenen Parthien der Haut nicht so wechselvoll wie der Ortsinn. Die empfindlichsten Hautstellen wie die Fingerspitzen unterscheiden noch einen Druckunterschied eines Gewichtes von 20:19,2 Unzen, w\u00e4hrend der Vorderarm einen solchen von 20: 18,7 empfindet.\nWeber pr\u00fcfte die Feinheit des Drucksinns dadurch, dass er auf die Haut eines K\u00f6rpertheiles, der sehr gut unterst\u00fctzt wurde, Gewichte von gleicher Grundfl\u00e4che, z.B. Geldst\u00fccke, auflegte, diese entfernte und rasch durch neue ersetzte. Wenn dieZeit, welche zwischen dem Auflegen von einem Gewichte verstrich, hinreichend gering ist, so gelingt es auf diese Weise viel unbedeutendere Gewichtsunterschiede zu empfinden, als dadurch, dass man auf verschiedenen Hautstellen gleichzeitig oder nacheinander Gewichte auflegt. \u2014 Das Verm\u00f6gen, auf derselben Hautstelle die St\u00e4rke eines nicht mehr vorhandenen mit der eines noch bestehenden Erregungsmittels zu vergleichen, nimmt f\u00fcr kleine Gewichtsdifferenzen mit der Zeit rascher ab, als f\u00fcr gr\u00f6ssere. So nahm Weber den Gewichtsunterschied von 14 (oder 14,5) zu 15 Unzen nur dann wahr, wenn zwischen dem Aufliegen beider kein gr\u00f6sserer Zeitraum als der von 30 Sekunden verstrichen war. Verhielten sich die Gewichte wie 4 : 5, so konnte aber noch nach 90 Sekunden der Unterschied bestimmt werden. Ein Zug au den Haaren wird bekanntlich ebenfalls mit grosser Genauigkeit auf seinen Werth bestimmt.\nDie Thatsache, dass an nervenreichen Theilen das Unterscheidungsverm\u00f6gen f\u00fcr Dr\u00fccke nicht oder nur weniges sch\u00e4rfer ist, als an nervenarmen, steht in noch ungel\u00f6sstem Widerspruch mit der Beobachtung, dass auf nervenreichen Theilen schmerzerregende Mittel von gleicher Ausdehnung und St\u00e4rke viel intensiver wirken als auf nervenarmen.\nDie schon durch ihren Nervenreichthum bevorzugten Organe, Fingerspitzen, Lippen und Zunge sind endlich, zur Vervollkommnung ihres Verm\u00f6gens Form und Druck zu empfinden, noch mit einer grossen Beweglichkeit versehen; hierdurch erw\u00e4chst begreiflich der Vortheil, dass durch Anschmiegen an die betasteten Fl\u00e4chen, durch willk\u00fcrliches Hin- und Herf\u00fchren \u00fcber dieselben, ihre Form, Gr\u00f6sse, Widerstand einzelner Parthien etc. sehr genau bestimmt werden kann. Die Genauigkeit der Vorstellung die aus der Auflagerung der nervenreichen Hautstellen auf sehr bewegliche Organe erw\u00e4chst, steigert sich aber noch um ein betr\u00e4chtliches dadurch, dass die Zusammenziehungen der hier in Betracht kommenden Muskeln ebenfalls auf irgend welche, in ihrem Mechanismus noch n\u00e4her zu bestimmende Weise dem Grade nach von der Seele gesch\u00e4tzt oder empfunden werden. Aus diesem Zusammenhalten der zum Angreifen eines K\u00f6rpers n\u00f6thigen Bewegung, oder der zu seiner Fortbewegung n\u00f6thigen Muskelanstrengung und der diese Bewegungen begleitenden Empfindungen in der Haut, entstehen eine Zahl sehr comphzirter Urtheile. Es beziehen sich diese auf die Richtung und St\u00e4rke eines Widerstan-","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"W\u00e4rmesinn.\nBO\u00d6\ndes oder Zuges, auf die Bestimmung der Form eines complizirten K\u00f6rpers aus der Betastung weniger Fl\u00e4chen desselben, und endlich auf die Bestimmung des Ortes, an welchem sich der empfindungerregende K\u00f6rper befindet.\nZu den hier erw\u00e4hnten Erscheinungen, die im Zusammenhang hei dem sog. Mus-kelsinn noch eine Besprechung finden werden, z\u00e4hlt a. Wir sind im Stande einen viel geringeren Unterschied zweier Gewichte beim Emporheben derselben aufzufassen, als beim Auflegen derselben auf die Hand; ebenso k\u00f6nnen wir bei leisen Bewegungen des Kopfs eine an die Haare angebrachte Zugwirkung ihrer Richtung nach sehr genau bestimmen, b. Bei der Bestimmung der Form eines der Betastung unterworfenen K\u00f6rpers erweist sich der Einfluss der Bewegungen auf die Beurtheilung der von den Hautfl\u00e4chen gelieferten Empfindung in der Weise helfend, dass wir dieselben Empfindungen als Folge ganz verschiedener Formen erkl\u00e4ren, je nach der Stellung, welche die Tastfl\u00e4chen bei der jeweiligen Ber\u00fchrung zu einafider besassen. So werden z. B. bekanntlich zwei Kugelfl\u00e4chen als convergirend (zu einer Kugel geh\u00f6rig) angesehen, wenn wir sie mit den in der gew\u00f6hnlichen Fingerstellung einander zugekehrten R\u00e4ndern der Fingerspitzen umgreifen; dieselben Kugelfl\u00e4chen werden aber als divergirend (als zwei verschiedenen Kugelfl\u00e4chen zugeh\u00f6rig) angesehen, wenn wir sie mit zwei im Ruhezustand von einander abgewendeten Fl\u00e4chen der Fingerspitzen, wiediess beim\u00fceber-einanderschlagen der Finger m\u00f6glich ist, umfassen, c. Endlich empfinden wir viele Eindr\u00fccke gleichzeitig in einer gr\u00f6sseren und geringeren Entfernung von den empfindlichen Fl\u00e4chen, wenn diese Bewegungen ausf\u00fchren. Weber hat darauf aufmerksam gemacht, dass z. B. ein St\u00e4bchen, welches wir auf den Tisch setzen, und auf diesem bewegen, zwei Empfindungen veranlasst, von denen die eine an der Ber\u00fchrungsstelle der Finger und des St\u00e4bchens und die andere an der des Tisches und St\u00e4bchens gelegen ist. Dieser letztere Empfiudungsort wird vorzugsweise beim sog. Sondiren den Aerzten von Bedeutung. Als Sonden, die an dem menschlichen Organismus angewachsen sind, und demgem\u00e4ss nur eine Empfindung, an ihren freien Enden veranlassen, m\u00fcssen die Z\u00e4hne betrachtet werden.\n5. W\u00e4rme sinn. Die freie W\u00e4rme erzeugt uns nur die Empfindungen der Temperatur, wenn sie innerhalb gleich anzugebender Grenzen Schwankungen in ihrer Intensit\u00e4t erleidet; sie biisst in diesen Grenzen ihre erregenden Wirkungen ein, wenn sie in constanter St\u00e4rke auf die Haut ein wirkt ; mit andern Worten : ein constanter Thermometerstand wird innerhalb der anzugebenden Grenzen nicht empfunden, wohl aber seine Ver\u00e4nderung und zwar begleitet das Steigen der Quecksilbers\u00e4ule die Empfindung der W\u00e4rme und das Sinken derselben die der K\u00e4lte. \u2014 Aber nur Schwankungen der Temperatur in engen Grenzen bedingen W\u00e4rme- oder K\u00e4lteempfindungen; wenn sie unter + 10 bis 11\u00b0 C. sinkt und auf + 46 bis 47\u00b0 C. steigt, so ruft sie\nSchmerz hervor.\nWie wenig eine constante Temperatur Empfindungen erweckt, beweist die That-sache, dass wir eine verschiedene Temperatur unserer Hautfl\u00e4chen, z. B. der Stirn und Finger, erst gewahren, wenn wir sie in gegenseitige Ber\u00fchrung bringen; d. h. wenn wir das eine Glied auf Kosten des andern abk\u00fchlen.\nDas Verm\u00f6gen Temperaturunterschiede wahrzunehmen, scheint innerhalb der angegebenen Grenzen unabh\u00e4ngig von dem absoluten Stand des Thermometers ; inflem wir nach W e b e r + 14 0 von + 14,4 0 R<","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\tW\u00e4rmesinn; Verkn\u00fcpfung von Druck und W\u00e4rmesinn.\neben so gut unterscheiden k\u00f6nnen als + 30\u00b0 von + 30,4\u00b0 R. Abh\u00e4ngig ist es dagegen: a. von der Geschwindigkeit, mit welcher derTempera-turwe\u00e7hsel erfolgt; b. von der Temperatur der Haut; c. von der Gr\u00f6sse der Hautfl\u00e4chen, welche gleichzeitig der Temperaturver\u00e4nderung unterworfen werden und endlich d. von dem besondern Hautorte, in welchem der Temperaturwechsel vorgeht. \u2014\nZu a. Erfahrungsgem\u00e4ss empfinden wir bei allm\u00e4ligem Uebergange von einer Temperatur zur andern den Abstand beider weniger scharf, als bei raschem Ueber-gang. Dieser Umstand muss einen Einfluss auf die F\u00e4higkeit der einzelnen Hautstellen, W\u00e4rmeunterschiede zu empfinden, aus\u00fcben; da die Haut jnit einem die W\u00e4rme schlecht leitenden Ueberzug und durch den stets kreisenden Strom des constanten temperirten Blutes, mit einem W\u00e4rmeregulator versehen ist, so muss je nach der Dicke der Epidermis und der Stromgeschwindigkeit des Bluts in verschiedenen Hautparthien die Abk\u00fchlung oder Erw\u00e4rmung der Nerven durch dieselbe Temperatur in verschiedener Zeit erfolgen. \u2014 Zu b. Je entfernter die Temperatur, die jeweilig auf unsere Haut einwirkt, von derjenigen dieser letztem ist, um so lebhafter wird der durch sie hervorgebrachte Eindruck sein, wie sich aus dem vorhergehenden von selbst versteht und wie es die Erfahrung best\u00e4tigt. \u2014 Zu c. hat Weber noch die ausserordentlich wichtige Bemerkung gef\u00fcgt, dass zwei benachbart gelegene Hautfl\u00e4chen sich mehr unterst\u00fctzen als zwei entfernt gelegene; so dass, wenn uns \u00fcberhaupt die Differenzen zweier Temperaturen deutlicher bei Anwendung derselben auf gr\u00f6ssere als auf kleinere Hautfl\u00e4chen erscheinen, die gr\u00f6sseren wiederum am empfindlichsten wirken, wenn alle dem Temperaturwechsel ausgesetzten Hautfl\u00e4chen im unmittelbaren Zusammenhang stehen. \u2014 Zu d. Endlich sind die Hautfl\u00e4chen, welche empfindlicher f\u00fcr den Temperaturwechsel sind, dieses nicht sowohl durch ihren Nervenreichthum, sondern aus andern noch nicht erforschten Gr\u00fcnden. Weher steHt folgende Reihenfolge der Temperaturempfindlichkeit auf, die von den h\u00f6heren Graden beginnt: Zungenspitze, Augenlider, Backen, Lippe, Hals, Rumpf; von der Gesichts-, Brust - und Bauchhaut gilt als Regel, dass die der Mittellinie n\u00e4her gelegenen Theile weniger empfindlich sind, als die seitlichen. An den Extremit\u00e4ten scheint bald dieser bald jener Theil eine gr\u00f6ssere F\u00e4higkeit zur Temperaturempfindung zu besitzen.\nDie beste Pr\u00fcfungsmethode f\u00fcr einen Temperaturunterschied besteht nach den mitgetheilten Thatsachen darin, die verschiedenen Temperaturen auf eine und dieselbe m\u00f6glichst grosse Hautfl\u00e4che in unmittelbar auf einander folgenden Zeiten einwirken zu lassen.\nF\u00fcr eine zuk\u00fcnftige Theorie der W\u00e4rmeempfindung verspricht die von Weber entdeckte Thatsache von Wichtigkeit zu werden, dass zwei Gegenst\u00e4nde von gleichem absoluten Gewicht vom Drucksinn verschieden schwer gesch\u00e4tzt werden, wenn ihre Temperatur ungleich ist; der k\u00e4ltere erscheint schwerer.\nBemerkenswerth d\u00fcrfte es auch sein, dass sehr heftige galvanische Str\u00f6me wechselnd bald W\u00e4rme baldK\u00e4lte erzeugen, wiebei du B ai s *) angemerkt ist.\n, 6. U eber die Dauer der Nachwirkung inFolge vonDr\u00fccken, Nachgef\u00fchl\u00bb und der daraus hervorgehenden Verschmelzung von Eindr\u00fccken, hat Valentin**) Versuche angestellt; er legte n\u00e4mlich den Finger gegen ein Zahnrad, das sich mit\n, *) 1. c. 1. Bd. 283.\nArchiv f\u00fcr pbysiolog. Heilkunde. XI. Bd. 3. u. 4* Heft.","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Nachgef\u00fchl.\nan\nverschiedenen aber messbaren Geschwindigkeiten drehte; je nach dieser Umdrehungsgeschwindigkeit konnten die einzelnen Z\u00e4hne noch als gesonderte unterschieden werden, oder es entstand durch Verschmelzung einzelner Eindr\u00fccke die Empfindung des Glatten, indem, bevor der erste Eindruck verschwand, der folgende schon eingetreten war. \u2014 Bei dieser Beobachtungsmethode wird unter allen Umst\u00e4nden die Haut zusammengedr\u00fcckt, welche als ein elastischer K\u00f6rper eine endliche Zeit zu ihrer Wiederausdehnung braucht ; daraus ist ersichtlich, dass von dem Zahn zugleich ein R\u00fccklass in dem Nerven und in der Haut bleibt. Da Valentin hierauf keine R\u00fccksicht genommen, so l\u00e4sst sich nicht angeben, wie die einzelnen von ihm beobachteten Erscheinungen zu deuten sind. \u2014Er gibt nur an, dass 640*) Eindr\u00fccke in der Sekunde noch als stark gesonderte gef\u00fchlt werden. Die Sonderung der Eindr\u00fccke soll beg\u00fcnstigt werden durch eine d\u00fcnne Oberhaut; durch Excoriation en; durch Baden in Blaus\u00e4ure, im w\u00e4sserigem Opiumextrakt, in Kali, in Wasser von 40\u00b0 bis 45\u00b0 C., Ueberziige \u00fcber die Finger von feinem Leder, von Oelpapier, von Wasser, durch starken Druck von Seiten der Finger und spitzige Form der Z\u00e4hne. \u2014 Die Verschmelzung der Eindr\u00fccke soll aber beg\u00fcnstigt sein durch anhaltende Wasserb\u00e4der mittlerer Temperatur, durch B\u00e4der in verd\u00fcnntem Weingeist, in K\u00e4ltemischung und Wasser von -{- 54\u00b0 C; durch Hemmung des Blutlaufs, durch Aetherbet\u00e4ubung.\nAndere besondere Gef\u00fchle, wie der Hunger, Durst, Wollustgef\u00fchl u. s. w. werden bei der Verdauung u. s. w. abgehandelt.\n*) Valentin d\u00fcrfte den bei dieser Gelegenheit gemachten Fehler \u00fcber Leitungsgeschwindigkeit der Erregung irgendwo selbst verbessern.","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nVierter Abschnitt.\nPhysiologie des Muskelsystems.\nI. Allgemeine Muskelphysiologie.\nDie Anatomen unterscheiden bekanntlich mehrere Formen des Muskelelementes, die quergestreifte und die glatte. Da dieser Formverschiedenheit, wie wenigstens zum Theil nachweislich, auch eine Abweichung in der Anordnung der Kr\u00e4fte parallel geht, so muss die Physiologie diesen Unterschied adoptiren.\nA. Physiologie der quergestreiften Muskelr\u00f6hre.\nAnatomisches Verhalten. *) An der quergestreiften Muskelr\u00f6hre unterscheidet das bewaffnete Auge die H\u00fclle, eine strukturlose h\u00e4utige R\u00f6hre, die Kerne, d. h. Zellen, welche im mehr oder weniger regelm\u00e4ssigen Abstande von einander an der inneren Fl\u00e4che der H\u00fclle liegen, und endlich den Inhalt. \u2014 Ueber die Form dieses Letzteren, des wesentlichsten Bestandtheiles, l\u00e4sst sich hier nur als wahrscheinlich angeben, dass sie aus regelm\u00e4ssigen, prismatischen K\u00f6rnchen gebildet (Bowmanns primitive particles) sei, welche im lebenden Zustand durch eine Zwischensubstanz zu mehr oder weniger homogenen F\u00e4serchen vereinigt sind. Diese aus den K\u00f6rnchen bestehenden F\u00e4serchen, die in gr\u00f6sserer Zahl in einem Schlauch vereinigt liegen, sind von einer Fl\u00fcssigkeit, der Muskelfl\u00fcssigkeit, durchtr\u00e4nkt. \u2014\nDie Bilder, welche man mit dem Mikroskop von der Muskelsuhstanz gewinnt, sind bez\u00fcglich ihres Inhaltes sehr vieldeutig. Bald sieht man die Muskelr\u00f6hren nur mit Querstreifen versehen, die in regelm\u00e4ssigen Abst\u00e4nden aufeinander folgen; diese Querstreifung, obgleich oft nur ganz oberfl\u00e4chlich erscheinend, geh\u00f6rt dennoch nicht der Scheide an, weil sie auch noch besteht, wenn diese zerrissen ist und weil man sie sehr h\u00e4ufig auch in die Tiefe des Muskelrohres verfolgen kann, ln andern F\u00e4llen und zwar sowohl w\u00e4hrend des Lebens als im Tode ist der Inhalt in eine Zahl von feinen L\u00e4ngsf\u00e4den zerfallen. In noch andern gleichzeitig durch L\u00e4ngs- und Querstreifen getheilt, so dass der Muskelinhalt von der Scheide befreit aus varik\u00f6sen\n*) K\u00f6lliker, Mikroskopische Anatomie II. 1. p.","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Chemisches Verhalten der quergestreiften Muskelr\u00f6hre.\t313\nF\u00e4den zu bestehen scheint. \u2014 Eine Hypothese, welche die Gestalt des R\u00f6hreninhaltes erl\u00e4utern soll, muss begreiflich eine Erkl\u00e4rung dieser verschiedenen Anschauungen geben. Drei z\u00e4hlen zu diesen mit scheinbarer Gleichberechtigung. Die erste, welche die meisten Anh\u00e4nger findet, nimmt an, dass der R\u00f6hreninhalt aus feinen, chemisch homogenen L\u00e4ngsfaden bestehe, welche in regelm\u00e4ssigen Abst\u00e4ndenmitEinschn\u00fcrungen versehen seien (varik\u00f6se Primitivfaser); die zweite erkl\u00e4rt den Inhalt f\u00fcr L\u00e4ngsfasern, welche regelm\u00e4ssig wellig gekr\u00e4uselt seien, und die dritte endlich behauptet, der Inhalt werde durch kleine prismatische oder cylinderische Stucke gebildet, welche durch eine chemisch verschiedene Zwischensubstanz zu Fasern vereinigt w\u00fcrden (Bowmann, Lehmann). Die Thatsachen scheinen im gegenw\u00e4rtigen Augenblicke f\u00fcr diese letztere Annnahme zu sprechen. Denn abgesehen davon, dass sie die Bilder lebender Muskelsubstanz so gut erl\u00e4utert, wie die beiden andern Hypothesen, ist mit ihr in Harmonie, dass der Inhalt durch Essigs\u00e4ure, con-zentrirte Salz- und Salpeters\u00e4ure, doppelt chromsaures Kali und F\u00e4ulniss in regelm\u00e4ssig parallelepipedische St\u00fccke zerf\u00e4Ht, deren L\u00e4nge ungef\u00e4hr dem Abstande der Ou er Streifung entspricht (Lehmann). Diese Thatsache ist vollkommen unvereinbar damit, dass die Fasern gleichartig seien; denn unter dieser Voraussetzung m\u00fcssten sie unter dem Angriffe eines L\u00f6sungsmittels feiner und feiner werdend, verschwinden. \u2014 N\u00e4chstdem muss aber auch noch eine zweite, anders zusammengesetzte, die einzelne L\u00e4ngsfasern verbindende Zwischensubstanz vorhanden sein. Ihre Gegenwart lehrt die mikroskopische Beobachtung, indem das Muskelrohr auf dem Querschnitt mit distinkten, durch eine Zwischenmasse getrennten Punkten, die den abgeschnittenen Fasern entsprechen, versehen erscheint. F\u00fcr die besondere chemische Natur dieser Zwischenmasse erhebt sich die Beobachtung, dass durch Kali und destillirtes Wasser die L\u00e4ngsstreifung vorzugsweise hervortritt unter Verschwinden oder Zur\u00fccktreten der Querstreifung; es scheint hieraus hervorzugehen, dass sich die der L\u00e4nge nach eingelagerte Zwischenmasse l\u00f6se und die chemisch discontinuirliche L\u00e4ngsfaser auf quelle zur Bildung einer optisch gleichartigen Faser. \u2014 Immerhin mag es aber noch besser sein, keine der Hypothesen f\u00fcr den wahren Ausdruck der Thatsache anzusehen, sondern durch methodischere Untersuchung tiefer in den Gegenstand einzudringen.\nChemisches Verhalten.*) Die organische Grundlage der drei Formen des quergestreiften Muskelelements ist von verschiedener chemischer Zusammensetzung. Die H\u00fclle besteht wahrscheinlich aus elastischer Substanz, die Kerne und'der feste R\u00f6hreninhalt aus besondern eiweissartigen Stoffen; von diesen beiden ist die letztere, die Substanz der Fasern, charakterisirt durch ihre Leichtl\u00f6slichkeit in sehr verd\u00fcnnter Salzs\u00e4ure (von o, 1 p. c. Liebig) und ihre Unl\u00f6slichkeit in kohlensaurem Kali (Virchow), \u2014\nDie Behauptung, dass die Muskelh\u00fcHe aus elastischem Stoff bestehe, gr\u00fcndet sich auf die Schwerl\u00f6slichkeit derselben in Kali und Minerals\u00e4uren. \u2014 Die Substanz der Fasern n\u00e4hert sich in ihren Eigenschaften dem geronnenen arteriellen Faserstoff; eine Analyse des aus der salzsauren Aufl\u00f6sung gef\u00fcllten Stoffes ergab C 54,5; HT,3; N 15,8; S 1,1 ; 0*21,4; Strecker. Diese Zahlen weichen nun freilich von den f\u00fcr den Faserstoff gefundenen sehr ab. Obwohl wir nun den Stoff weder zum Faserstoff noch zu einem andern eiweissartigen stellen k\u00f6nnen, so berechtigt uns diess dennoch nicht, eine eigene Spezies von eiweissartigen K\u00f6rpern aus dieser Substanz zu bilden, und zwar um so weniger, als wir es schon wahrscheinlich fanden, dass die Faser auf den verschiedenen Abschnitten ihrer L\u00e4nge chemisch ungleichartig und somit der analysirte Stoff ein Gemenge sei. \u2014 Der Stoff der Kerne l\u00f6st sich leicht in K 0,\n*) Lehmann, physiolog. Chemie. Leipzig 1851. III. Bd. T6.","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nMuskelfl\u00fcssigkeit.\ndagegen widersteht er der verd\u00fcnnten Salzs\u00e4ure, und ist somit weder mit der H\u00fclle noch mit den Fasern identisch.\nAusser den erw\u00e4hnten Stoffen enth\u00e4lt der feste Theil der Muskeln noch Fett, das entweder zwischen den Fasern liegt, oder vielleicht auch in ihnen selbst enthalten ist; denn h\u00e4ufig kommen dem bewaffneten Auge Fetttropfen innerhalb des frischen Muskelrohrs zu Gesicht; jedesmal aber erscheinen sie in demselben, wenn aus der Scheide der Stoff der Fasern durch verd\u00fcnnte Salzs\u00e4ure ausgezogen wurde. Endlich enth\u00e4lt der feste Theil der Muskeln auch noch 2 Mg 0, Ph 05 ; 2CaO, Ph 05 und 2 Fe2 03, Ph 05. \u2014\nDiese festen Massen werden nun von einer Fl\u00fcssigkeit sehr wechselnder Zusammensetzung durchtr\u00e4nkt; im Falle h\u00f6chster Complication enth\u00e4lt sie Eiweiss; Kreatin; Kreatinin (Liebig) Hypoxanthin ; Inosit; (Scherer) Inosins\u00e4ure (Liebig) Milchs\u00e4ure (Berze-lius); Butter - Essig - Ameisens\u00e4ure (Scherer); S03 ; Ph 05 ; C 02; C1H; Na 0 ; KO; Ca 0 ; Mg 0 ; Sauerstoffgas und Wasser. Der Wechsel in der Zusammensetzung dieser Fl\u00fcssigkeit trifft soweit wir wissen,\nvorzugsweise das Kreatin und die organischen S\u00e4uren.\nDie Gruppirung dieser Stoffe zu Verkinduugen zweiter Ordnung ist noch nicht vollkommen gelungen, weil der Analytiker die Bestimmung nur zum kleineren Theil aus der frischen Fleischfl\u00fcssigkeit zum gr\u00f6ssten Theil aber aus der Asche des R\u00fcckstandes machen muss. Die indifferenten Eiweiss, Kreatin, Hypoxanthin und Inosit befinden sich wahrscheinlich als solche in L\u00f6sung. Die organischen S\u00e4uren sind, wahrscheinlich an KO und NaO gebunden; wir glauben dieses, weil die fl\u00fcchtigen S\u00e4uren erst nach einem Zusatz von S 03 zur Fleischfl\u00fcssigkeit abzudestilliren sind und aus der Gegenwart von kohlensauren Salzen und phosphorsauren mit 3 Atom fixer Basis in der Asche, welche in der frischen Fl\u00fcssigkeit nicht Vorkommen. Die S 03, die man in der Asche findet, ist wahrscheinlich ein bei dem Verbrennungsprozess aus dem S der eiweissartigen K\u00f6rper entstehendes Kunstprodukt; man h\u00e4lt sich zu dieser Annahme berechtigt, weil in der Fleischfl\u00fcssigkeit kein S 03 nachweisbar ist (Liebig). Das CI ist an Na vorzugsweise aber an K gebunden. Die Ph05 ist theils an die Ka-lien theils an Erden gekn\u00fcpft; mit den Erden bildet sie 2MgO, Ph05 und 2CaO, Ph05. Die kalischen Salze der Phosphors\u00e4ure sind wahrscheinlich bald nach der Formel 2KO, HO, Ph05 bald nach der K 0,2 HO, Ph05 zusammengesetzt. Obwohl in der Asche zuweilen K 0 fast in solcher Menge vorhanden ist, um einer Verbindung von der Form 3K0,Ph0\u00e4 zu gen\u00fcgen, so ist man doch geneigt die Gegenwart des basischen Kalisalzes zu verwerfen, w7eil die in der Fl\u00fcssigkeit vorhandenen organischen S\u00e4uren das Bestehen einer solcher Verbindung nicht erlauben, und weil beim Gl\u00fchen mit kohlensauren Salzen (die aus den organisch-sauren entstanden sind) das 2K0,H0,Ph05 unter Austreibung von C02in3K0, Ph05 verwandelt wird. Meist gen\u00fcgt jedoch nach Abzug des an CI gebundenen Theiles, das in der Asche vorhandene KO nicht einmal um s\u00e4mmtliche Ph05 als 2K0, HO, Ph05 zu binden; in diesem Falle muss saures phosphorsaures Kali in der Fleischfl\u00fcssigkeit vorhanden gewesen sein, da die geringe Menge von Ph, welche frei (?) in den eiweissartigen K\u00f6rpern vorhanden, die Annahme nicht rechtfertigt, dass die \u00fcbersch\u00fcssige Phosphors\u00e4ure von seiner Verbrennung herr\u00fchre. \u2014 Die C 02 muss in der Fleischfl\u00fcssigkeit diffundirt sein, da sie beim Eindampfen derselben so vollkommen entfernt wird, dass der R\u00fcckstand bei Uebergiessen mit S\u00e4uren nicht brausst. Der 0 ist ebenfalls als Gas aufgel\u00f6st.\nDie Menge der einzelnen festen Theile der Fleischfl\u00fcssigkeit ist wechselnd. Helmholtz hat die wichtige Entdeckung gemacht, dass der in Alkohol l\u00f6sliche","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologisches Verhalten.\n315\nTheil des R\u00fcckstandes bedeutender wird wenn die Fl\u00fcssigkeit aus einem angestrengten Muskel gezogen ist. du Bois hat diese Beobachtung dahin vervollst\u00e4ndigt, dass der angestrengte Muskel sauer reagirt, w\u00e4hrend der ruhige sich neutral verh\u00e4lt. Aus der Untersuchung von J. Li e big ergibt sich ferner, dass alle Muskeln, welche sich bis zum Tode sehr lebhaft bewegten, mehr Kreatin enthalten, als die ruhig verbliebenen Nach G. Liebig nimmt endlich mit der Muskelzusammenziehung auch die Menge der C 03 zu*. \u2014 Sehr bemerkenswerth erscheint es, dass die Muskelfl\u00fcssigkeit wie Braconnot entdeckte, vorzugsweise Kalisalze im Gegensatz zum Blutserum in dem die Natronsalze das Uebergewicht haben, enth\u00e4lt. Diese eben geschilderten Verschiedenheiten machen die quantitativen Analysen der Muskelfl\u00fcssigkeit werthlos, wenn diese letztere, was bisher unterblieb, nicht als eine mit den Muskelfunktionen variable aufgefasst wird.\nUeber die Lagerung der einzelnen Bestandtheile der Fleischfl\u00fcssigkeit befinden wir uns ebenfalls noch nicht im Klaren. Man hat offenbar das Recht dazu, einen Theil der Fl\u00fcssigkeit f\u00fcr Blut, welches in den Gef\u00e4ssen der Muskelsubstanz enthalten war, anzusprechen*). Aber abgesehen davon, dass man nicht weiss, welcher Theil dem Blut und welcher dem Muskel angeh\u00f6rt, ist wohl auch unzweifelhaft die eigentliche Muskelfl\u00fcssigkeit selbst verschieden gelagert, so dass die die R\u00f6hren umsp\u00fclende Fl\u00fcssigkeit eine andere Zusammensetzung besitzt, als die in ihnen enthaltene. Es ist dieses darum mehr als wahrscheinlich, weil das zerhackte und mit Wasser ausgekochte Fleisch beim Verbrennen eine Asche hinterl\u00e4sst die noch phosphorsaures Kali aber keine CI Verbindungen oder C03salze mehr enth\u00e4lt (Keller). Das erste in Wasser l\u00f6sliche Salz muss also sehr innig und inniger als die andern dem Fleische adh\u00e4riren, da es durch das Auskochen mit Wasser nicht entfernt werden konnte.\nPhysiologisches Y er halt en.\nDer Muskel wird dem thierischen K\u00f6rper als Bewegungswerkzeug von Wichtigkeit ; hiezu wird er aber bef\u00e4higt durch die Eigenth\u00fcmlich-keit seiner kleinsten Thcilchen, verschiedene Stellungen gegen einander anzunehmen, verm\u00f6ge deren das Muskelrohr bald k\u00fcrzer und breiter, bald l\u00e4nger und d\u00fcnner erscheint. Diesen Ver\u00e4nderungen seiner Form geht constant eine Reihe von andern Erscheinungen parallel, Erscheinungen, in denen zum Theil wenigstens der Grund der Formumwandlung zu liegen scheint; diese die Lagenver\u00e4nderung der Theilchen begleitende Erscheinungen sind nun so best\u00e4ndig, dass sie selbst auch dann noch ein treten, wenn der Muskel durch mechanische Hindernisse gehemmt ist in die den andern vorhandenen Bedingungen entsprechende Form zu gelangen; sie sind also constanter als die Formumwandlungen. Wenn wir nun dennoch in den folgenden Betrachtungen die Ueberschriften der Abschnitte von den Formerscheinungen nehmen, so geschieht diess mit Vernachl\u00e4ssigung der Logik, die wir alter Gewohnheit zu Liebe geschehen lassen und die nach dieser Verst\u00e4ndigung auch unsch\u00e4dlich ist. Weiterhin muss bemerkt werden, dass die im Folgenden mitzutheilenden Ergebnisse meist von Froschmuskeln gewonnen sind, die man darum als Beobachtungs-\n*) Siehe \u00fcber Asche des ganzen Pferdefleisches (der urspr\u00fcnglich festen und fl\u00fcssigen Theile)\nnach und vor Austreiben des Blutes aus den Gef\u00e4ssen Weber in Pqggendorf Annal. 76. Bd.\np. 305 und 81. Bd. p. 91.","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316 Verl\u00e4ngerter Zustand des Muskelrolirs. Elektrische Eigenschaften.\n< -\nObjekte w\u00e4hlte, weil sie weniger rasch ver\u00e4nderliche Apparate darstellen, als die der warmbl\u00fctigen Thiere.\nA\u00bb Verl\u00e4ngerter Zustand des Muskelrohrs.\nIn verl\u00e4ngertem Zustand ist der Muskel mit besonderen elektrischen, elastischen, chemischen Eigenschaften und einer spezifischen Form begabt.\n1. Elektrische Eigenschaften. Aufschl\u00fcsse, welche uns \u00fcber die merkw\u00fcrdigen elektrischen Eigenschaften des Muskels zu Theil geworden sind, verdanken wir den auch hier ausserordentlichen Leistungen von du Bois. Die Methoden, mittelst*deren er die elektrischen Eigenschaften des Muskels untersucht, sind dieselben, die er bei der Aufdeckung der gleichen Verh\u00e4ltnisse der Nerven anwendete. Er bedient sich des Multiplikators und des strompr\u00fcfenden Froschschenkels;\nDer Multiplikator dient ihm abermals dazu, das Vorhandensein , das Wachsen, Sinken und die Richtung der im Muskel vorhandenen Str\u00f6me anzuzeigen. Da aber die Muskeln viel kr\u00e4ftigere Str\u00f6me nach aussen senden, als die Nerven, so ist es geboten, hier ein Werkzeug von einer viel geringeren Zahl, von h\u00f6chstens 4000 bis 6000 Windungen anzuwenden. Im Uebrigen ist aber die Einrichtung dieses Multiplikators ganz dieselbe, welche demjenigen f\u00fcr den Nervenstrom zuk\u00f6mmt; hier wie dort m\u00fcnden die Drahtenden in Platinplatten aus, welche am oberen Ende gefirnisst, am unteren mit einer H\u00fclle von Fliesspapier \u00fcberzogen sind, und eben so tauchen sie in eine ges\u00e4ttigte Kochsalzl\u00f6sung. In den beiden Gef\u00e4ssen, welche die Kochsalzl\u00f6sung enthalten, liegt ausserdem der bekannte Zuleitungsbausch. Um den Kreis fortw\u00e4hrend elektrisch gleichartig zu erhalten, werden beide Zuleitungsb\u00e4usche durch den Schliessungsbausch \u00fcberbr\u00fcckt, und ihre freien Enden werden jedesmal mit Eiweissh\u00e4utchen \u00fcberkleidet, auf die der Muskel zu liegen kommt, wenn er in den Multiplikatorenkreis eingeschaltet wird. Um leicht und allgemein verst\u00e4ndliche Angaben \u00fcber den Ort des auf die B\u00e4usche aufgelegten Muskelst\u00fcckes machen zu k\u00f6nnen, denkt man sich auch den Muskel als einen Cylinder, und nennt die der L\u00e4ngsausdehnung der R\u00f6hren entsprechende Seite den L\u00e4ngsschnitt, die seine L\u00e4nge halbirende Linie den Aequator, und die senkrecht auf die L\u00e4ngsausdehnung gehende Richtung den Querschnitt, welcher den Namen des nat\u00fcrlichen f\u00fchrt, wenn er noch mit der Sehne in Verbindung ist, so dass diese eigentlich als Fortsatz des stumpfen Muskelendes den nat\u00fcrlichen Querschnitt vorstellt; k\u00fcnstlicher Querschnitt heisst dagegen der senkrecht gegen die L\u00e4ngsausdehnung gef\u00fchrte Schnitt, welcher ' das rothe Fleisch blosslegt.\nDer Multiplikator ergibt unter der Voraussetzung gleicher Spannweite des ableitenden Bogens, dass auch ein Muskel durch den Draht Str\u00f6me in der Richtung von der Oberfl\u00e4che zum Querschnitt sendet und dass je nach der Auflegung des Muskels sogenannte unwirksame, schwache und starke Combinationen Vorkommen, oder mit andern Worten, dass bei Auflegung gewisser Muskelstellen gar keine, bei Auflegung anderer, schwache, und bei Auflegung noch anderer, starke Ablenkungen der Nadeln erwirkt werden.\n\u00ae\t\u2019S\nDer Muskel schickt n\u00e4mlich gerade wie der Nerv keinen Strom durch den Multiplikator, wenn er mit zwei Punkten auf den B\u00e4uschen ruht, die symmetrisch zum Aequator liegen, gleichgiltig ob diese","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Ruhender Muskelstrom.\n317\nzwei Punkte des L\u00e4ngs - oder des Querschnittes sind. (Unwirksame Combination.) Setzt man dagegen den einen Bausch auf den Aequator und den andern in einen nahegelegenen Ort des L\u00e4ngsschnitts, so erh\u00e4lt man eine schwache Nadelablenkung, die allm\u00e4lig w\u00e4chst, wenn man bei gleichbleibender Entfernung der abgeleiteten Stellen gegen den Querschnitt hinr\u00fcckt; dasselbe ereignet sich, wenn man den einen Bausch auf den Mittelpunkt des Querschnittes aufsetzt und den andern gleichfalls auf den letzten in der N\u00e4he des Mittelpunktes, und dann bei gleichbleibender Entfernung der B\u00e4usche auf den Querschnitt sie gegen die Grenze des L\u00e4ngenschnitts vorr\u00fcckt (Schwache Anordnungen). Die starke Anordnung erh\u00e4lt man endlich, wenn man den einen Bausch auf den (k\u00fcnstlichen oder nat\u00fcrlichen) Quer - und den andern auf den L\u00e4ngenschnitt auflegt. Aus dem Gang der Nadelablenkung erh\u00e4lt man also das Gesetz der allm\u00e4ligen Stromeszunahme durch dieselbe Curve ausgedr\u00fcckt, die uns schon der Nervenstrom gab. Fig. 81. Diese Curve hat zur Ordinatenachse die\ngeraden, welche Fig. 81.\tdie Ecken des\nRechteckes hal-biren , wo durch der Muskeldurchschnitt dargestellt ist. Sie bedeutet, dass wenn man die B\u00e4usche auf der Oberfl\u00e4che und zwar den einen im und den andern nahe bei demAequator aufsetzt ( 1 ) ( 2 ) die Nadelablen-\nkung gering ist und dass sie nach dem Werthe von 2x\\ 3#; 4x; 5x w\u00e4chst, wenn man die B\u00e4usche auf 2, 3; 3, 4; 4, 5; u. s. w. fort-r\u00fcckt. Setzt man beide B\u00e4usche zugleich an den Querschnitt an, so erscheint auf ihm dasselbe Gesetz des S trom wachs thums, wenn man mit der Stellung der B\u00e4usche 6, 7 beginnt und zu 6, 5 fortschreitet. Da die Str\u00f6me, welche den Muskel umkreisen, vom Aequator nach entgegengesetztenRichtungen mit gleicher St\u00e4rke ausgehen und gegen den Querschnitt gleichm\u00e4ssig ansteigen, so werden bei einer Anlegung der B\u00e4usche symmetrisch um den Aequator z. B. auf II, 2; 3, III u. s.f. zwei Str\u00f6me von entgegengesetzter Richtung durch den Multiplikator kreisen, deren Wirkungen auf die Nadel sich gegenseitig aufheben m\u00fcssen.","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nRuhender Muskelstrom.\nAm Muskel gilt ebenfalls die Thatsache, dass der Strom mit derselben Gesetzm\u00e4ssigkeit an St\u00fccken von allen Gr\u00f6ssen wiederkehrt, so dass man gleicher Richtung der Str\u00f6me und gleichen Gesetzen des Anwachsens begegnet, mag man ein l\u00e4ngeres oder breiteres St\u00fcck noch so oft der Quer und L\u00e4nge nach zerspalten. \u2014 Fernerhin ist auch hier nachweislich, dass Oberfl\u00e4che und Querschnitt von einer Schichte indifferenten Leiters \u00fcberzogen sind, und somit der Ort der elektrischen Gegens\u00e4tze in dem Innern des Muskels, oder in der Muskelr\u00f6hre zu suchen sei, denn ohne dieses w\u00fcrden die schwachen Str\u00f6me auf L\u00e4ngs - und Querschnitt nicht erscheinen k\u00f6nnen, und man d\u00fcrfte kein Minimum geschweige, wie es der Fall ist, ein Maximum der Nadelabweichung erhalten, wenn man die Anordnungen Bausch, L\u00e4ngenschnitt, Querschnitt L\u00e4ngenschnitt, Bausch (s. d. entsp. Fig. 14 in der Nervenlehre) w\u00e4hlt.\nDie Umst\u00e4nde, von denen bei sonst gleichen Verh\u00e4ltnissen die Gr\u00f6sse der Nadelablenkung abh\u00e4ngt, sind wiederum dieselben, denen wir bei den Nerven begegneten, die L\u00e4nge, die Breite und die Lebenskr\u00e4ftigkeit des Muskels ; denn es w\u00e4chst die Nadelablenkung mit der Verl\u00e4ngerung und Verbreiterung des Muskelst\u00fcckes, und die Gr\u00f6sse des elektrischen Gegensatzes zwischen L\u00e4ngen- und Querschnitt tritt um so m\u00e4chtiger hervor, je f\u00e4higer der Muskel sich zeigt, mechanische Widerst\u00e4nde beim Uebergang der verl\u00e4ngerten in die verk\u00fcrzte Form zu \u00fcberwinden, mit andern Worten: je weniger erm\u00fcdet er ist. Demgem\u00e4ss schliesst du Bois auch hier auf die Gegenwart sehr kleiner, mit elektrischen Gegens\u00e4tzen behafteter Theil-chen, welche sich in der sogenannten peripolar en Anordnung finden.\nNach allem diesen braucht nicht hervorgehoben zu werden, dass alles was bei dem ruhendem Nervenstrom \u00fcber das Gr\u00f6ssenverh\u00e4ltniss zwischen dem Stromarm, der die Molekeln unmittelbar umkreisst, und dem durch den Multiplikatordraht wandernden gesagt worden ist, auch hier seine Anwendung findet.\nDer frische*) Muskel zeigt, so lange seine Sehne mit keinen andern Fl\u00fcssigkeiten als mit Blut und Lymphe in Ber\u00fchrung war, die Eigent\u00fcmlichkeit, dass der von der Oberfl\u00e4che zum Querschnitt gehende Strom sehr schwach auftritt; er erscheint aber augenblicklich verst\u00e4rkt, sobald man die Sehne in eine beliebige Fl\u00fcssigkeit, die nur eine andere als Blut und Lymphe sein muss, eintaucht; denselben verst\u00e4rkenden Einfluss \u00fcbt eine Ber\u00fchrung der Sehne mit einem festen K\u00f6rper und noch lebhafter wird der Strom, wenn man die Sehne ganz entfernt und statt des nat\u00fcrlichen den k\u00fcnstlichen Querschnitt auf die B\u00e4usche legt. Aus diesen Thatsachen geht hervor, dass der frische nur mit Blut und Lymphe ber\u00fchrte Muskel an dem nat\u00fcrlichen Querschnitt eine leicht zerst\u00f6rbare Schichte besitzen muss,\n*) da Bois Fortsetzung der Untersuchungen \u00fcber tkier.Electrizit\u00e4t. Berliner akadem.Monatsberichte. Juni 1851,\n!","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Pare\u00eeectronomische Schicht.\n819\nwelche das Hervortreten des Gegensatzes zwischen Oberfl\u00e4che und Querschnitt verhindert. Du Bois vermuthet, es geschehe dieses dadurch, dass von den zu einem peripolaren Systeme zusammengeordneten Molekeln am Ende der R\u00f6hre nur die eine Abtheilung vorhanden sei, wie dieses die Fig. 82 versinnlicht, in welcher 1 u.2 ein voll-\nFig? 82.\tkommen peripolares Molekel\ndarstellen, 8 aber ein nur zur H\u00e4lfte vorhandenes. Es bedarf keiner Aus ein ander sez-zung, dass durch eine solche Einrichtung, welche Oberfl\u00e4che und Querschnitt positiv macht, der Gegensatz zum Verschwinden kommt. \u2014 Bei den Bewegungserscheinungen der Muskelmolekeln werden wir erfahren, warum gerade diese Annahme die meisten Gr\u00fcnde f\u00fcr sich hat.\nDiese besonders gelagerte Schichte von Muskelmolekeln, welche du Bois mit dem Namen der par electro nomischen belegt, ist im lebenden Thier in verschiedentlicher Ausbildung vorhanden; am ausgepr\u00e4gtesten oder vollst\u00e4ndigsten erscheint sie bei Fr\u00f6schen, welche sich l\u00e4ngere Zeit in der Temperatur des schmelzenden Eises aufhielten, so dass an den Muskeln dieser Thiere scheinbar gar kein Strom oder auch ein Strom in umgekehrter Richtung erscheint. \u2014 Aber auch hier gen\u00fcgt die nur kurz dauernde Ber\u00fchrung der Sehne mit Wasser, Eiweiss, Alcohol, S\u00e4uren, Alkalien, Salzl\u00f6sung u. s. w. u. s. w., um den Strom zu erwecken.\nDurch den strompr\u00fcfenden Froschschenkel gelingt der Nachweiss des elektrischen Gegensatzes zwischen L\u00e4ngs- und Querschnitt ebenfalls leicht; und wegen der kr\u00e4ftigeren Str\u00f6me mit geringeren H\u00fclfsmit-teln als bei den Nerven. Es gen\u00fcgt, den freipr\u00e4parirten n. ischiadicus des strompr\u00fcfenden Schenkels auf den L\u00e4ngsschnitt zu legen und ihn dann pl\u00f6tzlich mit einem andern Theile seiner L\u00e4nge auf den Querschnitt zu senken um die Zuckung erscheinen zu machen. Hiebei ist es gleichg\u00fcltig, ob man den nat\u00fcrlichen oder k\u00fcnstlichen Querschnitt w\u00e4hlt, vorausgesetzt, dass am* erstem die parelectronomische Schicht durch ein entsprechendes Mittel (Salzwasser, Erhitzen etc.) zerst\u00f6rt ist. \u2014 Der hier erw\u00e4hnte Versuch stellt die voreinst so ber\u00fchmte Zuckung ohne Metalle dar, welche von Gal va ni entdeckt und durch v. Humboldt den Angriffen Volta\u2019s gegen\u00fcber aufrecht erhalten wurde.\n2. Elastische Eigenschaften. Die Untersuchung der elastischen Eigenschaften des Muskels, welche von Ed. Weber*) in ausgezeichneter Weise begonnen wurde, ist aus theoretischen und praktischen Gr\u00fcnden von grosser Bedeutung. Zun\u00e4chst gibt sie uns Aufschluss \u00fcber die sogenannten molekul\u00e4ren Verh\u00e4ltnisse des Muskels, oder mit andern Worten, \u00fcber den Werth der fcraft, mit welcher\n*) Muskelbewegung ia Wagner\u2019s Handw\u00f6rterb, III, % Abth,","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nElastische Eigenschaften.\ndie kleinsten Theilchen einer Masse ihre gegenseitige Lagerung zu erhalten, oder wenn sie aus ihr entfernt sind, wieder einzunehmen streben. Dieses Streben der kleinsten Theilchen einer scheinbar noch so homogenen Masse, ihre gegenseitige Lagerung zu behaupten, ist nun aber, wie die Erfahrung lehrt, meist nicht die Folge einer einfachen, sondern sehr complizirter Gegenwirkungen, und so u. A. namentlich der electrischen Spannungen, der W\u00e4rme, der Entfernung der Molek\u00fcle von einander (des spez. Gewichts) u. s. w. Soll demgem\u00e4ss die Untersuchung \u00fcber Elastizit\u00e4t dazu dienen uns \u00fcber die molekul\u00e4ren Verh\u00e4ltnisse in das Klare zu bringen; so muss dieselbe mit R\u00fccksicht auf die erw\u00e4hnten und andere Umst\u00e4nde geschehen, so dass z. B. die Ausdehnbarkeit einer Masse durch Gewichte bestimmt w\u00fcrde, w\u00e4hrend sie verschiedene Temperaturen, electrische Spannungen u. s. w. angenommen h\u00e4tte. Diese interessante Beobachtungsreihe ist am lebenden Muskel nicht in w\u00fcnschenswerther Ausdehnung m\u00f6glich, weil derselbe nur in sehr engen Grenzen m\u00f6glicher Ver\u00e4nderungen seine Lebenseigenschaften bewahrt. Weber hat sich darum darauf beschr\u00e4nkt, die Elastizit\u00e4t des ruhenden Muskels in ihrer Ver\u00e4nderlichkeit zu bestimmen, mit dem Wechsel der Entfernung der Molekeln von einander (oder wie man auch sagt ihrer jeweiligen Spannung) und mit ihrem Verm\u00f6gen, mechanische Leistungen zu vollf\u00fchren (oder mit dem Grade ihrer Erm\u00fcdung). \u2014 Die Untersuchung der Muskelelastizit\u00e4t ist aber auch von nicht minderer praktischer Bedeutung; denn es versteht sich von selbst, dass eine Substanz, welche wie die des Muskels zum Tragen von Gewichten bestimmt ist, untersucht werden muss auf die Ver\u00e4nderungen der Form, die sie unter dem Einfluss der Gewichte erleidet.\nDie Weber\u2019schen Untersuchungen am frischen Froschmuskel haben gelehrt: a. Innerhalb niederer Grenzen des Werthes und der Zeitdauer der Ausdehnung ist die Elastizit\u00e4t (gleich der des Kautschouks) eine sehr vollkommene, d. h. es nimmt der Muskel genau seine fr\u00fchere Form wieder an, wenn die durch Gewichte veranlasste Ausdehnung eine nicht allzubetr\u00e4chtliche war, und wenn \u2018der Muskel nicht allzulange im ausgedehnten Zustande verharren musste. \u2014 b. Mit zunehmender Spannung des Muskels nimmt die Ausdehnbarkeit desselben rasch ab oder was Gleiches bedeutet, der Elastizit\u00e4tscoeffizient rasch zu ; denn die Beobachtung gab das Resultat, dass durch kleine Gewichte die Muskelfaser um einen grossen Bruchtheil ihrer L\u00e4nge ausgedehnt wurde, dass aber die proportionale Ausdehnung nicht entsprechend dem Wachsthum derBelastung zunahm. Das Verh\u00e4ltniss zwischen dem Zuwachs der Verl\u00e4ngerung und der Belastung ist durch die Curve Fig. 83 versinnlicht. Auf die Ordinatenachse Y ist der L\u00e4ngenzuwachs in Bruchth\u00eailen der L\u00e4ngeneinheit aufgetragen, welche durch die an die Ouerschnittseinheit angeh\u00e4ngten Gewichte, wie sie der Rei-","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"W\u00e4rme eigens chaf ten.\n321\nhenfolge nach auf X verzeichnet sind, erzeugt wurde. *) \u2014Vergleicht man die von gleichen Gewichten 1 g\\ \\g bis 2g; 2g bis 3 g; u. s. f.\nerzeugten Verl\u00e4ngerungen \u00d6L', L\u2018 L\u201c, L\u201c L\u201c\u2018 u. s. f. so sieht man sogleich, dass eine gleich grosse Steigerung der Gewichte ei-nen immer geringem L\u00e4ngenzuwachs erzeugt ; demnach erh\u00e4lt die Curve eine Kr\u00fcmmung deren Convexit\u00e4t nach oben geht. \u2014 c. Die Ausdehnbarkeit des Muskels nimmt mit steigender Erm\u00fcdung desselben um ein Geringes zu.\nDa die Muskelsubstaiiz in den verschiedenen Orten des thierischen K\u00f6rpers einen ungleichen Gehalt an Binde- und elastischem Gewebe besitzt, so kann der absolute Werth der oben verzeichneten Ordinate (OL'L' L\", u. s. f.) nicht in allgemein g\u00fctiger Weise angegeben werden.\n3. W\u00e4rmeeigenschaften. Die Temperatur des lebensf\u00e4higen, ruhenden Muskels ist in gewisse Grenzen eingeschlossen; f\u00fcr den Froschmuskel liegen dieselben ungef\u00e4hr zwischen \u20143\u00b0C bis -J- 38\u00b0 C; tritt der Muskel aus dieser Temperatur heraus, so hat er momentan entweder seinen lebensf\u00e4higen Zustand \u00fcberhaupt oder seinen ruhenden Zustand eingeb\u00fcsst. \u2014 Aber auch innerhalb dieser Grenzen ist keineswegs jeder Grad gleich geeignet zur Erhaltung des Muskels; zahlreiche Erfahrungen haben festgestellt, dass der Muskel, wenn seine Temperatur dem obern oder untern Werthe der bezeichneten Grenze sich n\u00e4hert, unter sonst gleichen Bedingungen rascher seinen lebensf\u00e4higen Zustand einb\u00fcsst, als wenn er auf die mehr gegen die Mitte liegenden Temperaturgrade erw\u00e4rmt wird.\nDaraus geht die Folgerung hervor, dass die freie W\u00e4rme sehr bestimmend auf das molekul\u00e4re Verhalten des Muskels einwirkt; inwiefern muss durch weitere Versuche noch ermittelt werden.\nDie bis dahin vorliegenden Untersuchungen beschr\u00e4nken sich darauf, die Zeit zu ermitteln, welche nothwendig ist, damit ein in Wasser von constanter Temperatur liegender Muskel seine F\u00e4higkeit einb\u00fcsst, durch einen electrischen Schlag in Zuckung versetzt zu werden. Diese Versuche, richtig angestellt, geben h\u00f6chstens Aufschluss dar\u00fcber, dass \u00fcberhaupt dem lebensf\u00e4higen ruhenden Muskel eine Normaltemperatur n\u00f6thig sei. Vorerst leidet aber auch dieser Aufschluss noch an schweren M\u00e4ngeln; denn man hat sich weder \u00fcberzeugt, wrie rasch der schlecht w \u00e4rmeleitende Muskel die Temperatur des umgebenden Mediums annimmt; noch ob das Wasser nicht unabh\u00e4ngig von der Temperatur sch\u00e4dlich sei; noch wdeviel in jedem Fall auf die Eigent\u00fcmlichkeit der Zusammensetzung und auf die von der Temperatur unabh\u00e4ngige Ver\u00e4nderlichkeit des jeweilig untersuchten Muskels zu schieben sei. Die wahre Aufgabe besteht nun aber darin, zu ermitteln, wie mit der Temperatur die inneren Zust\u00e4nde des Muskels, ausgedr\u00fcckt durch die chemische Zusammensetzung, die electrischen Str\u00f6me, und den Elastizit\u00e4tscoeffizienten wechseln. Als Anf\u00e4nge zu einer solchen Betrachtung sind anzusehen du Bois Untersuchungen \u00fcber die Steigerung des parelectronomischen Zustandes am erkalteten (?) und die zeitweise\nFig. 83.\n*3 Sie ist nach den Grundzahlen v. Ed. Weher 1. c. p. 109 entworfen. Ludwig, Physiologie I,\n21","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"Chemische Eigenschaften.\nUmkehrung des Stroms am erw\u00e4rmten Muskel; dieses letztere Verhalten werden wir Ibei der W\u00e4rmestarre noch einmal erw\u00e4hnen.\nZur Erhaltung seiner Normaltemperatur liefert der Muskel selbst im Ruhezustand einen kleinen Beitrag, wie wir erschlossen, weil der stets mit Sauerstoff durchdrungene Muskel C02 entwickelt. Zum gr\u00f6ssten Theil aber empf\u00e4ngt der Muskel im lebenden Zustand seine W\u00e4rme aus dem Blute. \u2014\n4. Chemis ehe Eigenschaften. In der allgemeinen chemischen Charakteristik des Muskels wurde schon erw\u00e4hnt, dass die Zusammensetzung desselben eine wechselnde sei, hier ist hinzuzuf\u00fcgen, dass dieser Wechsel mit dem physiologischen Zustand Hand in Hand geht. \u2014 Ob die ungel\u00f6sten Bestandtheile des Inhaltes der Muskelr\u00f6hre w\u00e4hrend ihrer Ruhe besondere nur diesem Zustand angeh\u00f6-rige Eigenschaften zeigen, ist unbekannt ; wir wissen dagegen, dass a. zur Behauptung der Lebenseigenschaften des Muskels die Gegenwart von freiem, in der Muskelfl\u00fcssigkeit aufgel\u00f6sten Sauerstoff-gase n\u00f6thig ist. (Humboldt, du Bois, G. Liebig*). Dieser Sauerstoff verbindet sich unter naehweisslicher C02-Bildung fortlaufend mit einem Theil der Muskelsubstanz, b. Dass die Muskelfl\u00fcssigkeit wenn sie aus einem Muskel gewonnen wurde, der l\u00e4ngere Zeit im Ruhezustand befindlich war, sehr wenige in Alkohol l\u00f6sliche Stoffe enth\u00e4lt (Helmholtz **) und neutral reagirt, sonach die sauren Salze oder die freie S\u00e4ure entbehrt (du Bois), c. Dass der R\u00f6hreninhalt solcher Muskeln, welche unter sonst noch so g\u00fcnstigen Verh\u00e4ltnissen sehr anhaltend der Ruhe \u00fcberlassen blieben, allm\u00e4lig sich nicht allein mindert sondern auch umwandelt.\nUm die Nothwendigkeit der Gegenwart des in den Muskeln anwesenden Ogases zu erweisen, hingen du Bois und G. Liebig die beiden Unterschenkel eines Frosches in verschiedene Gasarten und setzten, die Zeit fest, w\u00e4hrend welcher sie sich in beiden Gasarten zuckungsf\u00e4hig erhielten. Da jedesmal gleichzeitig die beiden Unterschenkel in verschiedene auf ihre Wirkung zu vergleichende Gasarten gebracht wurden, so waren damit die aus der Individualit\u00e4t des Frosches herr\u00f6hrenden Ungleichheiten beseitigt. Um den Gasen den Zutritt zur Muskelsubstanz zu erleichtern, waren die Schenkel vorsichtig ohne Verletzung der Fascien enth\u00e4utet; um das Eintrocknen der Schenkel zu verh\u00fcten, war der Gasraum, in dem sie sich befanden, gesperrt und mit HO-Gas ges\u00e4ttigt.^ Der electrische Schlag, durch den die Muskeln zur Zuckung veranlasst wurden, war f\u00fcr beide Schenkel dadurch gleichgemacht, dass derselbe zugleich durch beide Schenkel ging. Die Schenkel erhalten sich in 0 l\u00e4nger als in atmosph\u00e4rischer Luft zuckungsf\u00e4hig, und in dieser l\u00e4nger als in N, C02, H. \u2014 Das um die Muskeln befindliche Ogas wird von ihnen absorbirt, und zur Bildung von C02 verwendet, welche in die Atmosph\u00e4re austritt. Diese Sauer-stoffabsorption und C02-Bildung ist um so lebhafter, je frischer der Muskel. Da nun die Muskeln auch noch fortfahren, C02 zu entwickeln, wenn sie durch Injection mit Wasser von Blut befreit und ausserdem in eine Atmosph\u00e4re von N aufgeh\u00e4iigt waren, so muss 0 in der Muskelfl\u00fcssigkeit aufgel\u00f6st gewiesen sein, und daher r\u00fchrt es\n*) M\u00fcllers Archiv 1850. S93.\nM\u00fcllers Archiv 1845,72,","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Verk\u00fcrzter Zustand.\n323\ndenn auch, dass die Schenkel in der andern Gasart nicht sogleich, sondern erst nach Verfluss einiger Zeit ihre Zuckungsf\u00e4higkeit einb\u00fcssen. \u2014 Das Genauere \u00fcber die Abnahme des Gewichts und der Form der Muskeln in dem Zustand anhaltender Ruhe siehe bei der Ern\u00e4hrung derselben.\nDie Gegenwart aller andern chemischen Stoffe in dem Muskel die f\u00fcr denselben nicht als charakteristisch aufgef\u00fchrt wurden, ist f\u00fcr diesen von verschiedener Bedeutung; eine Zahl derselben zerst\u00f6rt die Lebenseigenschaft des Muskels f\u00fcr immer, so dass derselbe auch nach ihrer Entfernung todt zur\u00fcckbleibt; eine andere Zahl ver\u00e4ndert die Lebenseigenschaften nur so lange als sie selbst anwesend sind; zu diesen letztem geh\u00f6rt nach Stannius*) bemerkenswerther Weise die Blaus\u00e4ure; ein mit diesem Stoff inpr\u00e4gnirter Muskel b\u00fcsst zwar momentan seine Lebenseigenschaft ein, ist aber die S\u00e4ure, vorausgesetzt dass sie nicht zu lange einwirkte, verdunstet, so kehrt die Zuckungsf\u00e4higkeit des Muskels zur\u00fcck.\nB. Verk\u00fcrzter Zustand des Muskelrohrs.\nWenn der Muskel mit den bisher geschilderten Eigent\u00fcmlichkeiten angethan ist, so verwandelt er sich unter dem Hinzutritt einer beschr\u00e4nkten Zahl von neuen Bedingungen in die verk\u00fcrzte Form. Mit dem Eintritt dieser Formver\u00e4nderung erscheinen aber auch zugleich seine elastischen, elektrischenthermischen und chemischen Eigenschaften ge\u00e4ndert; mit einem Wort, es geschieht eine vollkommene Umwandlung der molekul\u00e4ren Eigenschaften des Muskels.\nDa diese Um\u00e4nderung der molekul\u00e4ren Eigenth\u00fcmlichkeiten als Folge einer Reihe von Bedingungen, die wir so eben als den lebenden, ruhenden Muskeln beschrieben haben, und einer Reihe von neuen, die man mit einem W orte Muskelerreger nennt, auftreten, so muss der Grad der Ausbildung, mit welchem die Verk\u00fcrzung in die Erscheinung tritt, abh\u00e4ngig sein von dem Zustand des ruhigen Muskels und der Art und der St\u00e4rke des Muskelerregers. Nun besteht aber der ruhige Zustand des Muskels selbst wieder durch das Zusammenwirken einer sehr betr\u00e4chtlichen Zahl von Bedingungen und es entwickelt sich darum die logische Aufgabe, zuerst zu untersuchen, welche Einfl\u00fcsse Muskelerreger sind; ferner wie mit der Ver\u00e4nderlichkeit derselben und dem gleichbleibenden Zustand des Muskels, die Werthe der Formum\u00e4nderung wachsen und fallen ; darauf wie sich die letztem gestalten, bei gleichem Werth des Muskelerregers, und einem verschiedenen Gehalt des Muskels an Sauerstoff, Eiweiss, S\u00e4uren, Kreatin, Salzen u. s. w. oder wenn die wissensaftlichen H\u00fclfsmittel die Zergliederung des Ph\u00e4nomens bis auf seine Elemente noch nicht erlauben, wie die Formver\u00e4nderungen wechseln mit den prim\u00e4ren resultirenden dieser Elementarfunk-tionen, n\u00e4mlich mit dem Elastizit\u00e4tscoeffizienten, der St\u00e4rke der elektrischen Str\u00f6mung, der W\u00e4rme des ruhenden Muskels.\n1, Muskelerr eg er. Zuerst werden wir demnach die Schwankungen der Muskelverk\u00fcrzung mit der Ver\u00e4nderlichkeit der sogenannten Muskelerreger aufzufassen suchen.\nM\u00fcllers Archiv 1852.\n21*","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324 Muskelerreger. Willen, Reflex, W\u00e4rme, chemishe Atome, Druck.\nlieber die Methode zur Anstellung dieser Versuche gilt das fr\u00fcher hei den Nerven bemerkte S. 109.\na. Die Verk\u00fcrzung tritt jedesmal ein, wenn die in den Muskel eingehenden Nerven in den erregten Zustand oder genauer ausgedr\u00fcckt, in denjenigen gelangen, der durch die elektronegative Stromesschwankung charakterisirt ist. Die Umst\u00e4nde aber, unter welchen der Muskelnerv \u00fcberhaupt erregt wird, sind a. bestimmte nicht n\u00e4her definir-bare Seelenzust\u00e4nde, die wir mit dem allgemeinem Namen Willen bezeichnen. \u2014 \u00df. Eigenth\u00fcmliche Verh\u00e4ltnisse des R\u00fcckenmarks und Hirns, die wir unter dem nichtssagenden Namen, automatischer und reflektorischer Erregung, begreifen. \u2014 7. Diejenigen Temperaturen, welche momentan mit ihrem Eintritt den Nerven zerst\u00f6ren. Nach Eckhard*) wird dieses im Froschnerven erreicht durch Tem-peraturen, welche jenseits \u2014 3\u00b0 bis \u2014 5\u00b0 R. und ebenso jenseits -f- 53\u00b0 bis -f- 54\u00b0 R. liegen. Mit der L\u00e4nge der von diesen K\u00e4lte- oder W\u00e4rmegraden getroffenen Nervenst\u00fccke, w\u00e4chst die St\u00e4rke der Zuk-kung, sie \u00e4ndert sich dagegen nicht mit der Entfernung des getroffenen St\u00fcckes von dem Eintritt in den Muskel. \u2014 \u00f6. Von den auf den Nerven angewendeten chemischen Atomen erzeugen nach Eckhard**) eine vor\u00fcbergehende Zuckung begleitet von dem Absterben des Nerven .L\u00f6sungen, die \u00fcber 1 bis 2p.C KO und NaO; \u00fcber 10 bis 20p.C N05 und C1H; \u00fcber 45 bis 60 p.C S03 enthalten; ferner Metaphosphors\u00e4ure, sehr conzentrirte Essig- und Weins\u00e4ure; w\u00e4ssriger Alkohol von \u00fcber 90 p.C, Kreosot; Ag0N05.\u2014Anhaltende sog. tetanische Erregung erzeugen dagegen die zwei- und mehrprozentigen L\u00f6sungen vonNa CI; Ca CI; Am CI; Kid; KO, 2C02 ; NaO, 2C02 ; NaO, S03 undKO, S03, ferner sehr conzentrirte Zuckerl\u00f6sungen. Durch Eintauchen in Wasser mit einem Wort durch Auswaschen dieser Substanzen aus dem Nerven werden die Zuckungen gehoben und es bleibt der Nerv erregbar zur\u00fcck. Zuckung erzeugt endlich ein rasches Eintrocknen des Nerven also eine Wasserentziehung (?). \u2014 Zahllose andere conzentrirte L\u00f6sungen selbst sehr kr\u00e4ftig wirkender chemischer Stoffe, wie die der gew\u00f6hnlichen Phosphors\u00e4ure, des Ammoniaks, der Metallsalze zerst\u00f6ren zwar den Nerven bringen ihn aber nicht in den Erregungszustand. \u2014 s. Mechanische Ver\u00e4nderungen des Nerven erzeugenden zuckungserregenden Zustand desselben, aber nur vorausgesetzt, dass sie mit einer gewissen Langsamkeit auf ihn eindringen, w\u00e4hrend sehr rasch verlaufende mechanische Affektionen des Nerven, wie z. B. eine rasche Durchschneidung desselben (Valentin) keinen solchen erzeugen. \u2014 #. Zu den Erregern des Muskelnerven geh\u00f6rt endlich der elektrische Strom ; dieser vermag jedoch nur dann den Nerven in den bewegungserzeugenden Zustand zu versetzen, wenn die St\u00e4rke desselben w\u00e4hrend der\n*) Henle u. Pfeufer X. 164.\nHenle u. Pfeufer Neue Folge II. Bd.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Elektricit\u00e4t. Gesetz der schwankenden Dichtigkeit.\t325\nDauer seiner Einwirkung auf den Nerven in Schwankungen begriffen ist ; er erzeugt dagegen keine Zuckung so lange er mit gleichbleibender St\u00e4rke durch den Nerven str\u00f6mt. Dieses von du Bois zuerst ausgesprochene Gesetz wird durch eine graphische Darstellung in vollem Umfang verst\u00e4ndlich werden. Es m\u00f6gen zu dem Behuf, Fig. 84, die Ordinaten Adie St\u00e4rken des Stromes bedeuten, welche er in verschiedenen Zeiten Xt X2 \u2022 \u2022 . besitzt, w\u00e4hrend er auf den Nerven wirkt,*)\ndie Zeiten denken wir uns auf die Abszisse aufgetragen. Dem obigen Gesetz gem\u00e4ss w\u00fcrde also ein Strom, dessen Intensit\u00e4ten sich auf Y\\ Y^ Z3, u. s. w. w\u00e4hrend der entsprechenden Zeit Xu X2, Z3, X4 u. s. w. \u00e4ndern, erregend wirken, w\u00e4hrend ein Strom von der Form a c, dessen Ordinaten w\u00e4hrend der ganzen Stromdauer unver\u00e4nderlich sind, den Nerven in scheinbarer Ruhe l\u00e4sst.\nDie Mittel um die Elektrizit\u00e4t in ver\u00e4nderlicher Dichtigkeit durch den Nerven str\u00f6men zu lassen, sind sehr zahlreich; es m\u00f6ge gen\u00fcgen, einige derselben, die zugleich als Best\u00e4tigung des Gesetzes dienen, anzuf\u00fchreu. Ber\u00fchrt man einen Nerven, an dem noch der zugeh\u00f6rige Muskel befindlich, mit den Polen einer constanten elektrischen Batterie, so dass diese durch den Nerven geschlossen wird, so erscheint mit der Schliessung eine Zuckung,\u2014 die S chliessungszu ckung\u2014, w\u00e4hrend der Dauer des Schlusses bleibt der Muskel ruhig, er zuckt aber von Neuem, sowie man den Pol von dem Nerven entfernt, \u2014 die Oeffnungszuckung\u2014,im ersten Fall stieg also der Strom in dem Nerven von Null bis zu dem hier m\u00f6glichen Maximum seiner St\u00e4rke an; im zweiten Fall sank er von diesem auf Null zur\u00fcck. \u2014 Die Schwankung der St\u00e4rke, die hier durch Oeffnung und Schliessung erzeugt wurde, kann begreiflich auch erzielt werden durch Ver\u00e4nderung in dem Leitungswiderstand bei geschlossener Kette. Schliesst man z. B. wie in Fig. 85 den Strom K, Z, 2?, N durch den Nerven, so kann man letztem so oft man will in den zuckungserregenden Zustand versetzen, wenn man die Nebenschliessung B bald \u00f6ffnet und bald schliesst, weil hierdurch die Dichtigkeit des Stromarmes, welcher durch den Nerven kreist, fortw\u00e4hrend ver\u00e4ndert wird, indem dann die entwickelte E. bald durch beide Stromarme gehen kann, bald aber auch nur auf einen sich beschr\u00e4nken muss.\nDie Ordinaten bedeuten also die Menge von Electrizit\u00e4t, welche in jedem unendlich kleinen . Zeittheil durch den Querschnitt des Nerven str\u00f6mt.\nFig. 85.\nFig. 84.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nSteilheit der Stromcurve.\nAus dem du Bois\u2019schen Gesetz folgt die wichtige Ableitung \u2014 die praktisch aber schon fr\u00fcher bekannt war \u2014 dass man von dem Nerven aus einen Muskel in dauernde oder tetanische Zusammenziehung versetzen kann, wenn man auf ihn einen elektrischen Strom von fortw\u00e4hrend ver\u00e4nderlicher St\u00e4rke (Intensit\u00e4t und Dichtigkeit) wirken l\u00e4sst. Zu den elektrischen Apparaten, welche fortw\u00e4hrend ver\u00e4nderliche Str\u00f6me entwicklen und sich demgem\u00e4ss zur Herbeif\u00fchrung tetanischer Erregung besonders eignen, geh\u00f6rt die Saxton\u2019sche Maschine (elektromagnetischer Rotationsapparat) und das Neef\u2019sche Blitzrad, welches in einer von du Bois verbesserten Form *) sich vorzugsweise dem Physiologen n\u00fctzlich erweist. \u2014\nDas Abh\u00e4ngigkeitsVerh\u00e4ltniss des zuckungserregenden Nerven-zustandes von der elektrischen Strommesschwankung gestaltet sich nun folgendermassen.\nDer Umfang der Verk\u00fcrzung w\u00e4chst mit dem Werthe der Schwankung die der Strom in der Zeiteinheit erf\u00e4hrt, d u B o i s. Dieser Ausspruch istinFig. 86 graphisch dargestellt. Man trug zu dem Behuf auf die Abszisse A wiederum die Zeit auf, w\u00e4hrend deren ein Strom auf den Nerven wirkt, und auf die Ordinate .Fdie Ver\u00e4nderungen seiner Dichtigkeit w\u00e4hrend dieser Einwirkung. Wir wollen nun annehmen, es haben zu verschiedenen aber gleich langen Zeiten ob zwei Str\u00f6me auf den Nerven gewirkt, von denen der eine im Moment seiner Einwirkung mit der St\u00e4rke oa begann und nach Beendigung der Zeit ob mit Nullst\u00e4rke schloss, w\u00e4hrend der andre mit der Dichtigkeit o a begann und nach Verfluss der Zeit ob mit einer solchen, welche bc entspricht, schloss, Dem obigen Gesetz gem\u00e4ss wird der Strom ac schw\u00e4chere Zuckung erregen als ab, weil die Steilheit des Abfallens der Schwankungs-curve bei dem ersten Strom eine geringere war, als bei dem letzteren.\nObwohl das genauere Verh\u00e4ltnis zwischen der Schwankung der Stromst\u00e4rke und dem Umfang der Zusammenziehung noch nicht ermittelt ist, so l\u00e4sst sich doch in der oben mitgetheilten Weise das Bestehen irgend welcher Proportionalit\u00e4t zwischen beiden Vorg\u00e4ngen behaupten. Als eine der vielen Erfahrungen zur St\u00fctzung des Satzes diene die unter dem Namen des Einschleichens in die Kette bekannte Thatsache. Es besteht dieses Einschleichen darin, dass ein Muskel von einer sehr starken Kette nicht zur Zuckung gebracht wird, wenn man die St\u00e4rke ihrer Wirkung sehr allm\u00e4lig wachsen l\u00e4sst; dieses geschieht u. A. dadurch, dass man den Nerven in dieselbe einschaltet, w\u00e4hrend man gleichzeitig noch einen ganz ausserordentlich grossen Widerstand in sie einschiebt, so dass im Moment des Nerveneintritts kaum ein Strom den Kreis durchl\u00e4uft ; vermindert man nun ganz allm\u00e4lig den Widerstand, oder mit andern Worten steigert man ganz allm\u00e4lig den Strom, so kann man den Nerven ohne eine\nFig. 86. Y\n*) Du Bol s; thierische Electr. II. Bd. 1. Abth. 393 Note.","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Absoluter Werth der Stromst\u00e4rke; Gesetz der Zuckungen.\n327\nZuckung von ihm zu erhalten in einen Strom bringen, der den Nerven, vorausgesetzt, dass derselbe rasch in ihn eingef\u00fchrt worden w\u00e4re, in die lebhafteste Erregung ver-\ni\nsetzt haben w\u00fcrde.\nDie Gr\u00f6sse der Verk\u00fcrzung wechselt ferner bei gleicher Schwankung des Stromes mit dem absoluten Werth der Stromst\u00e4rken zwi-sehen denen die Schwankung vor sich geht; graphisch ausgedr\u00fcckt wird also die durch die Curve ab Fig. 87 dargestellte Schwankung\nFig. 87.\teine gr\u00f6ssere Wirkung aus\u00fcben\nals die der Curve c d entsprechende. Indem wir n\u00e4mlich auch hier, nach der uns schon gel\u00e4ufigen Bezeichnungsweise die Stromst\u00e4rken und Zeiten durch Y und X ausdr\u00fccken, gewahren wir, dass die Differenzen zwischen den Stromst\u00e4rken, welche zu Anfang und Ende der Zeit** einheit bestanden, in beiden F\u00e4llen gleich sind, dass dagegen die absoluten Werthe dieser Stromst\u00e4rken selbst in beiden F\u00e4llen verschieden waren. Dieses Wachsthum der Muskelverk\u00fcrzung mit dem Werthe der Stromstr\u00e4rken gilt jedoch nur so lange als der Strom \u00fcberhaupt ein schwacher ist; ist die Dichtigkeit des Stromes, welcher den Nerven durchfliesst nur einigermassen\nX\nbedeutend geworden, so erzielt er sogleich das Maximum der m\u00f6glichen Verk\u00fcrzung d. h. es kann durch weitere Steigerung der Stromst\u00e4rke keine noch weitergehende Verk\u00fcrzung erzielt werden. \u2014 Belege f\u00fcr diese Behauptung siehe bei Helmholtz.*)\nIn einem sehr merkw\u00fcrdigen Verh\u00e4ltniss steht weiterhin die Erregung des Muskelnerven zu der Richtung des ihn durchkreisenden Stromes; wir werden hier in der K\u00fcrze alle darauf bez\u00fcgliche sichere Thatsachen mittheilen, die unter dem Namen des Gesetzes der Zuckungen und der Ver\u00e4nderung der Erregbarkeit durch den ges chlossenen Strom bekannt sind. \u2014\nGesetz der Zuckungen. In den h\u00f6hern Graden der Erregbarkeit erscheint jedesmal eine Zuckung bei Schliessen oder Oeffnen eines den Nerven durchkreisenden Stromes gleichgiltig ob dieser in der Richtung vom Muskel zum R\u00fcckenmark \u2014 aufsteigend **) \u2014 oder in der Richtung vom R\u00fcckenmark zum Muskel\u2014 absteigend \u2014 den Nervei* durchfloss; wenn dagegen die Erregbarkeit sich allm\u00e4hlig abschw\u00e4cht, erscheint beim Schliessen des absteigenden Stroms eine heftige, bei Er\u00f6ffnen desselben dagegen nur eine sehr schwache oder gar keine Zuckung mehr; gerade umgekehrt verh\u00e4lt sich der aufsteigende Strom; beim Schluss desselben tritt entweder keine oder nur eine sehr schwache Zuckung auf, w\u00e4hrend sie bei Er\u00f6ffnung desselben ausserordentlich stark wird. Diese von Ritt er zuerst aufgestellte Regel erleidet jedoch mannigfache Ausnahmen, so dass unter Umst\u00e4nden die Str\u00f6-\n*) Messungen \u00fcber den zeitlichen Verlauf u. s. w. M\u00fcllers Archiv 1850.\n**) Iu gebr\u00e4uchlicher Weise verstehen wir auch hier unter Stromesrichtung die des positiven Stromes, welcher durch die fl\u00fcssigen Theile der Kette in der Richtung von dem positiven zum negativen Metall geht.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nVer\u00e4nderung der Erregbarkeit durch den Strom.\nmungsrichtung sich zwar noch von Einfluss erweist, aber gerade umgekehrte Erfolge erzeugt. Eine dieser Umkehrungen des Gesetzes der Zuckungen findet sich normal nach Longet\u2019s und Matteucci\u2019s Erfahrungen an den vordem Wurzeln der R\u00fck-kenmarksnerven ; wenn man auf diese, statt auf den Nervenstamm nach seinem Austritt aus dem R\u00fcckenmarkskanal verschiedene Str\u00f6mungsrichtungen wirken l\u00e4sst, so ei scheint, unter der Bedingung eines niederen Grades der Erregbarkeit, mit der Schliessung des aufsteigenden Stroms und der Oeffnung des absteigenden Zuckung,\nw\u00e4hrend sie bei der Oeffnung des aufsteigenden und der Schliessung des absteigenden ausbleibt.\nVer\u00e4nderung der Erregbarkeit durch den geschlossenen Strom. Der geschlossene Strom schw\u00e4cht den Muskelnerven wie alle andere ab, er ver\u00e4ndert ihn aber auch eigenthiimlich und zwar verschiedentlich, je nach der Stromst\u00e4rke, der Stromdauer und je nachdem der Strom auf den herausgeschnittenen Nerven oder den des unversehrten Thiers einwirkt. \u2014 L\u00e4sst man den aus dem Thier herausgel\u00f6sten, nur noch mit einem Muskel in Verbindung befindlichen Nerven in einem schwachen absteigenden Strom l\u00e4ngere Zeit z. B. % bis 1 Stunde hindurch liegen, so bleibt der Muskel bei wiederholtem Oeffnen und Schliessen der Kette regungslos, er ger\u00e4th dagegen unter denselben Umst\u00e4nden in die lebhaftesten Zuk-kungen wenn der Strom in aufsteigender Richtung durch ihn drang. Es ist also wenigstens scheinbar durch den absteigenden Strom die Erregbarkeit gel\u00e4hmt, durch den aufsteigenden aber erh\u00f6ht worden, Ritter. Anders gestaltet sich die Erschei-nung, wenn man statt eines schwachen einen starken Strom anwendet; in diesem Falle bleibt der Nerv scheinbar erregungslos zur\u00fcck, wenn anhaltend ein Strom gleichgiltig in welcher Richtung durch ihn ging, denn es kann durch Oeffnen oder Schliessen desselben Stroms keine Zuckung erzeugt werden. Kehrt man nun aber die Str\u00f6mlingsrichtung um, l\u00e4sst man also z. B. einen Nerv, der bisher absteigend durchflossen war, aufsteigend durchstr\u00f6men, so verh\u00e4lt er sich dieser neuen Str\u00f6mungsrichtung gegen\u00fcber wieder erregbar; so kann man wechselnd den Nerven bald f\u00fcr die aufsteigende, bald f\u00fcr die absteigende Richtung l\u00e4hmen; w\u00e4hrender der Anregung des jeweilig entgegengesetzten Stroms Folge leistet. Voltaische Alternative* Die Zeitdauer, in welcher die vollkommene Tr\u00e4gheit des Nerven gegen den gerade ihn durchkreisenden Strom eintritt, ist \u00fcber eine gewisse Grenze unabh\u00e4ngig von der Stromst\u00e4rke, Marianini. Diese ganze Ercheinungsweise der Voltaischen Alternative soll nach Marianini an dem unversehrten mit dem ganzen Thier in Verbindung befindlichen Nerven nicht sichtbar werden, indem hier in jedem Augenblick die durch den Strom erzielten Ver\u00e4nderungen von den nerv\u00f6sen Central-theilen wieder ausgeglichen werden. \u2014,Siehe \u00fcber diesen f\u00fcr die Theorie der Nebenwirkungen wichtigen Gegenstand d u B o i s, I. Bd. 258 u. f.\nEinen besonderen Fall von Ver\u00e4nderung der Erregbarkeit durch den galvanischen Strom hat C. Eckhard er\u00f6rtert, der nicht allein durch seine praktische Folgen, sondern auch darum Wichtigkeit empf\u00e4ngt, w eil er als eine Ableitung aus der elektrischen Theorie der Nervenkr\u00e4fte anzusehen ist. Dieser Fall besteht aber darin, dass ein Muskelnerv, wrenn ein aliquoter Theil desselben in den constanten galvanischen Strom eingeschaltet ist, durch einen gleichzeitig anwesenden Erreger nicht mehr in den zuckungserzeugenden Zustand versetzt wrerden kann; mit andern Worten der Nerv ist so lange gel\u00e4hmt als ein Theil desselben von einem constanten Strom durchflossen wird. Der Grund dieser Erscheinung scheint darin gesucht werden zu m\u00fcssen, dass der constante Strom die elektrischen Molekeln der Nerven peripolar anordnet (in den elektrotonischen Zustand versetzt p. 82) und sie somit verhindert in die Schwankungen zu gerathen, wrelche der Erregung der Nerven eigen sind.\nDer Versuch zur Darstellung dieser Erscheinung besteht darin, dass man durch ein St\u00fcck eines ausgeschnittenen mit dem Muskel noch in Verbindung stehenden","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Einfluss des Stromlaufs zur Richtung und der L\u00e4nge des N.\t329\nFroschnerven die Pole einer galvanischen S\u00e4ule schliesst; wenn man dann die Schl\u00e4ge eines Induktionsapparats, mechanische oder chemische Mittel,. sei es auf das freie Ende des Nerven oder auf das zwischen constanter S\u00e4ule und Muskel liegende Stuck anwendet, so sind diese erst dann verm\u00f6gend Zuckung zu erzeugen, wenn man die constante Kette \u00f6ffnet. \u2014 Unter den Variationen, welche Eckhard an diesem Grund-versuch vorgenommen hat, sind diejenigen hervorzuheben, in welchen er sich als Erregungsmittel des elektrischer Stromes von schwankender St\u00e4rke bediente. Hiebei ergab sich 1) dass das Verh\u00e4ltniss zwischen der St\u00e4rke des erregenden (schwankenden) und constanten Stromes nicht gleichgiltig ist; soll der letztere die physiologische Wirkung des ersteren aufheben, so darf er nicht unteV eine gewisse St\u00e4rke sinken. 2) Die l\u00e4hmende Wirkung der constanten Kette tritt betr\u00e4chtlicher hervor, wenn sie eingeschaltet ist zwischen den Muskel und die erregende, w\u00e4hrend sie schw\u00e4cher wirkt, wenn sie (vom Muskel an gerechnet) jenseits der erregenden liegt. 3) Die aufsteigende Richtung des Stromes (vom Muskel gegen das freie Ende) in der constanten Kette h\u00e4lt st\u00e4rkeren erregenden Str\u00f6men das Gleichgewicht als die absteigende. Diese Versuche verdienen eine genaue Verfolgung mit dem Multiplikator.\nDer Winkel, unter welchem der erregende elektrische Strom die L\u00e4ngenachse des Nerven durchsetzt, ist von nicht minderer Bedeutung f\u00fcr den Umfang der Verk\u00fcrzung; durchdringt er den Nerven recht-winklich, so bleibt er vollkommen wirkungslos. Seine volle Wirkung entfaltet er nur dann, wenn er den Nerven nach der L\u00e4ngenachse desselben durchflies st; Gal va ni.\nDie einfachste und sicherste Methode zur Darstellung dieser Thatsache ist die, den Nerven mit einem w ohl befeuchteten leinenen Faden, der von einem Strom durchzogen wird, in Verbindung zu bringen und zwar bald in der Art, dass man den Nerven senkrecht auf die Richtung des Fadens legt, bald ihn der L\u00e4nge nach an ihn anschmiegt.\nEndlich \u00fcbt es einen Einfluss auf die St\u00e4rke der Zuckung, ob ein k\u00fcrzeres oder l\u00e4ngeres St\u00fcck des Nerven zwischen die Pole der erregenden S\u00e4ule gefasst wird ; im Allgemeinen w\u00e4chst mit der Verl\u00e4ngerung des eingeschalteten Nervst\u00fcckes der Werth der Verk\u00fcrzung; du Bois.\nb. Genau dieselben Mittel, welche den Nerven in die zuckungserregende Beschaffenheit versetzen, bringen die Zuckung auch hervor, wenn sie direkt mit den Muskeln in Ber\u00fchrung kommen. DieUeber-einstimmung ist, so weit unsre Kenntnisse reichen, vollkommen genau, so dass alles hier und dort gleichm\u00e4ssig gilt; es lag darum die Controverse nahe, dass der Muskel \u00fcberhaupt nur durch den Nerv hindurch zur Zusammen Ziehung angeregt werde, indem man annahm, dass auch die in den Muskel direkt eindringenden Einfl\u00fcsse zun\u00e4chst auf die in ihm enthaltenen Nerven wirkten. Wir werden diese Controverse erst an einen sp\u00e4teren Ort (p. 354) aufnehmen.\n2. Muskelerregbarkeit. Wir wenden uns zu der zweiten Reihe von Bedingungen mit denen der Werth der Verk\u00fcrzung des Muskels ver\u00e4nderlich ist ; n\u00e4mlich zu der Variation der inneren Zust\u00e4nde des Muskels. \u2014 Leider ist dieser schwierige aber unendlich wichtige Theil unseres Gegenstandes noch sehr wenig und da auch","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330 Muskelerregbarkeit abh\u00e4ngig vom 0, Extractivstoffe, elect. Gegensatz.\nnoch meist sehr mangelhaft in Angriff genommen. \u2014 a. Mit dem vermehrten Sauerstoffgehalt des Muskels steigt nach Humboldt und\nG. Liebig die durch denselben Erreger erzeugbare Yerk\u00fcrzung.\nDie Beweise f\u00fcr diesen Satz liegen darin, dass ein in Ogas aufgeh\u00e4ngter Frosch-Schenkel schon durch ein Minimum von Anregung in ein Maximum der Verk\u00fcrzung kommt; Humboldt. Noch sch\u00e4rfer sind die Thatsachen von G. Liebig, welcher in den oben beschriebenen Versuchen oft den Muskel, welcher in 0 haltendem Gase und einen anderen der in Ngas und Hgas sich auf hielt, auf gleiche Weise erregte; hier ergab der in 0 haltendem Gas h\u00e4ngende Muskel immer kr\u00e4ftigere Bewegungen.\nb. Die Gegenwart bestimmt zusammengesetzter Extractivstoffe \u00fcbt einen Einfluss auf die Yerk\u00fcrzbarkeit ; wir erschlossen dieses, weil auf die tetanische Zusammenziehung des Muskels eine auffallende Unf\u00e4higkeit zur Yerk\u00fcrzung folgt; der einzige nachweisliche Unterschied zwischen dem Muskel vor und nach dem Tetanus besteht nun aber darin, dass im letztem Zustand die Summe der w\u00e4ssrigen Extracte ab-, um die der weingeistigen zugenommen, ferner, dass die n\u00e9utrale Reaction des Muskels in eine saure \u00fcbergegangen ist, und dass wahrscheinlich die im Muskel enthaltene C02 sich gemehrt hat. \u2014 c. Je ausgesprochener der elektrische Gegensatz zwischen Oberfl\u00e4che und dem von seiner parelectronomischen Schicht befreiten Querschnitt erscheint, um so verk\u00fcrzbarer ist der Muskel; du Bois. \u2014 d. Die Bedeutung des W\u00e4rmegrades f\u00fcr den Muskel ist schon vorhin gew\u00fcrdigt.\nDa nun aber die Ver\u00e4nderlichkeit, welche in den Werth der Zuckung durch den jeweiligen Muskelzustand eingef\u00fchrt wird, nur in ganz wenigen F\u00e4llen auf einen ihrer wahren Gr\u00fcnde zur\u00fcckgef\u00fchrt ist, und dieses in dem einzelnen Versuch fast niemals geschehen kann und man doch ein Wort zum Yerst\u00e4ndniss braucht, welches diese Ver\u00e4nderlichkeit andeutet, so hat man sich die harmlosen Ausdr\u00fccke, Erregbarkeit, Leistungsf\u00e4higkeit gebildet, welche ohne auf den Grund der Erscheinung einzugehen, die einfache Thatsache aussprechen, dass der Grad der Zusammenziehung eines Muskels auch noch von etwas anderem als dem besonderen Auftreten der Erreger abh\u00e4ngig sei.\nDas Wort Erregbarkeit bezieht sich im Allgemeinen auf die Ver\u00e4nderlichkeit der Verk\u00fcrzung durch denselben Erreger, w\u00e4hrend die Leistungsf\u00e4higkeit hindeutet auf das Verm\u00f6gen, Gewichte zu einer bestimmten H\u00f6he zu heben, oder w\u00e4hrend einer bestimmten Zeit unter dem Einfluss eines Erregers seine Form zu behaupten.\nDie Leistungsf\u00e4higkeit eines Muskels nimmt nun, wie Jedermann bekannt, mit der unternommenen Anstrengung ab; diese besondere Ver\u00e4nderung der Leistungsf\u00e4higkeit belegt man mit dem Namen der Erm\u00fcdung. Wie demn\u00e4chst bewiesen wird, erm\u00fcdet die Zusammenziehung den Muskel darum, weil sie die chemische Beschaffenheit umgestaltet. Man sollte darum auf den ersten Blick denken, dass es sinnvoll w\u00e4re, dieses Mittelglied, die Beschaffenheitsver\u00e4nderung des Muskels, einmal ganz bei Seite zu setzen und den Grad der erniedrigten Leistungsf\u00e4higkeit mit der Zeit und der Energie der sie bedingen-","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Erm\u00fcdung.\n831\nden Zusammenziehung zu vergleichen, d. h. die Erm\u00fcdung als eine Funktion des letzteren Umstandes aufzufassen; in diesem Sinne k\u00f6nnte denn auch die Erm\u00fcdung einen Massstab abgeben, wie mit der Zusammenziehung die chemische Umwandlung der Muskelsubstanz wachse und falle. Diese Hoffnung verwirklicht sich aber in nur sehr untergeordneter Weise, da es sich herausstellt, dass die durch die Zusammenziehung eingeleiteten Ver\u00e4nderungen nicht die einzigen sind, welchen der Muskel ausgesetzt ist. Namentlich aber ergibt eine genauere Ueberlegung, dass die in der Erm\u00fcdung zum Vorschein kommende Leistungsf\u00e4higkeit resultirt aus gleichzeitig vorhandenen erhaltenden und vernichtenden Einfl\u00fcssen.\nZu allen Zeiten und insbesondere auch in der Zeit der Zusammenziehung wirken sich in Muskeln Umst\u00e4nde entgegen, von denen die einen eine erhaltende und die andern eine zerst\u00f6rende Resultirende erzeugen; die ersten dieser beiden, die erhaltenden Einfl\u00fcsse, wirken in dem Muskel, welcher sich noch mit dem lebendigen Blutstrom in Ber\u00fchrung befindet, kr\u00e4ftiger, als in dem ausgeschnittenen. Dieses geht schon daraus hervor, dass der ausgeschnittene Muskel durch viel geringere Anstrengung erm\u00fcdet, als der noch im lebenden Thiere befindliche; sie fehlen jedoch auch dort nicht, da erwiesener Maassen ein ausgeschnittener Muskel, der durch eine vorhergehende Anstrengung seine Zusammenziehungsf\u00e4higkeit g\u00e4nzlich verloren hatte, sie nach einiger Zeit der Ruhe wieder gewinnt. Diese erhaltenden Einfl\u00fcsse sind wahrscheinlich dargestellt durch das Blut und die Muskelfl\u00fcssigkeit, welche, obwohl sie ebenfalls aus dem Blute stammt, doch in so fern neben ihm selbst\u00e4ndig steht, als sie unabh\u00e4ngig von demselben sich in ihrer Zusammensetzung \u00e4ndert. Die Betheiligung des Blutes zeigt sich eben darin, dass ein unversehrter, von normalem Blute durchstromter Muskel sp\u00e4ter in die Erm\u00fcdung tritt; ferner darin, dass mit der steigenden Muskelanstrengung der Verbrauch des Bluts w\u00e4chst, und endlich, dass man im Blute die Reste der umgesetzten Muskelstoffe findet. \u2014 Auf die erhaltenden Wirkungen der Muskelfl\u00fcssigkeit schliessen wir aber aus der Art und Weise, wie sich der ausgeschnittene Muskel wieder erholt. Diese Wiederherstellung geschieht n\u00e4mlich nur in sehr engen Grenzen, indem der zum ersten Mal vollkommen ersch\u00f6pfte Muskel sich nur zu einem sehr untergeordneten Grad von Leistungsf\u00e4higkeit er* hebt; wird diese noch einmal durch anhaltende Zusammenziehung vernichtet, so erholt sich der Muskel zwar noch einmal, aber in weit geringerem Maasse; hiermit schliesst dann aber \u00fcberhaupt die Erholungsf\u00e4higkeit ; die ganze Erscheinung bietet sonach das Aussehen, als ob die Wiederherstellung aus einem sich verbrauchenden Vorrath von Ern\u00e4hrungsfl\u00fcssigkeit geschehe. \u2014 Wie nun schon aus dem bisherigen hervorgeht, muss die Bedeutung dieser erhaltenden Einfl\u00fcsse mit den Umst\u00e4nden sich sehr \u00e4ndern, eine Ableitung, welche die Erfahrung vollauf best\u00e4tigt, da auch ein und derselbe Muskel innerhalb des Thierk\u00f6rpers, oder die gleichnamigen ausgeschnittenen Muskeln ha\u00f6glichst gleichartiger Thiere durch dieselbe Anstrengung auf ganz verschiedene W^eise ersch\u00f6pft werden.\nWollte man demgem\u00e4ss in der oben angegebenen Weise die Erm\u00fcdung , d. h. den vernichtenden Einfluss der Muskelzusammenziehung studiren, so m\u00fcsste man entweder die Erholung erzeugenden Umst\u00e4nde ganz zum Verschwinden bringen, oder sie wenigstens beim Wechsel der erm\u00fcdenden Bedingungen gleich erhalten. Diese schwierige Aufgabe hat man nun bis dahin nicht zu l\u00f6sen versucht ; es ist somit Erm\u00fcdung im gew\u00f6hnlichen Sinne als der Zustand zu nehmen.","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nForm des verk\u00fcrzten Muskels.\nwelcher resultirt aus beiden Einfl\u00fcssen. Bei der wahrscheinlichen Zusammengesetztheit der Wirkungen eines jeden derselben, k\u00f6nnen nat\u00fcrlich die resultirenden Prozesse eine uns\u00e4gliche Mannigfaltigkeit besitzen. Im Allgemeinen scheint aber doch festzustehen, dass die Erm\u00fcdung w\u00e4chst mit der Zeitdauer der Anstrengung, mit dem Werthe der Verk\u00fcrzung und mit der Gr\u00f6sse des zu hebenden Gewichtes.\n3.\tForm des verk\u00fcrzten Muskels. Gr\u00f6sse der Verk\u00fcrzung. Die bei der Zusammenziehung stattfindenden sichtbaren Vorg\u00e4nge bestehen darin, dass die w\u00e4hrend der Ruhe im Zickzack gebogenen oder geschl\u00e4ngelten Muskelr\u00f6hren sich unter Verminderung ihrer L\u00e4nge und Vergr\u00f6sserung ihres Querschnitts gerade strecken; zugleich erscheinen die Querstreifen sch\u00e4rfer und deutlicher, indem sie n\u00e4her aneinder r\u00fccke ; E d. Web e r. \u2014 Um welchen Proportionaltheil der urspr\u00fcnglichen L\u00e4nge sich der Muskel verk\u00fcrzt, h\u00e4ngt von Umst\u00e4nden ab, die wir theils schon kennen lernten, theils noch kennen lernen Werden ; das von E d. Weber unterden g\u00fcnstigsten Bedingungenbeobachtete Maximum betrug % der L\u00e4nge des ruhigen Muskels. Hiebei verbreitert der Muskel nicht genau seinen Queerschnitt um eben soviel als seine L\u00e4nge abnimmt, so dass eine unbetr\u00e4chtliche Volum\u00e4nderung und zwar eine Raumverkleinerung eintritt; bei der Umlegung der einen in die andere Form verdichtet sich also der Muskel um ein Geringes; Erman.\nDie mikroskopische Beobachtung des sich verk\u00fcrzenden Muskels geschieht nach Ed. Weber am besten, wenn man mit einem sehr d\u00fcnnen Muskel eines Frosches die Enden eines elektrischen Induktionsapparates \u00fcberbr\u00fcckt, welchem das Objektivglas eingelassen sind. W\u00e4hrend der Beobachtung setzt man den Muskel in teta-nische Erregung. \u2014 Zur Bestimmung der Muskelverdichtung dient ein geschlossenes mit Fl\u00fcssigkeit gef\u00fclltes Gef\u00e4ss, in das die Enden eines Induktionsapparates geleitet sind, und das nach oben in ein feines, zum Theil mit Fl\u00fcssigkeit gef\u00fclltes R\u00f6hrchen \u00e4usl\u00e4uft. Wen man nun den Muskel auf die Enden des Induktionsapparates in der Fl\u00fcssigkeit legt und durch denselben den Muskel in Zusammenbringung bringt, so kann man aus dem Sinken und Steigen des Fl\u00fcssigkeitsstandes im R\u00f6hrchen ersehen, ob Volumver\u00e4nderungen des Muskels eintreten. Bei Anstellung des Versuchs ist begreiflich n\u00f6thig, die Anwesenheit von Luftblasen in den Blutgef\u00e4ssen des Muskels zu vermeiden, und zweckm\u00e4ssig als Fl\u00fcssigkeit statt des Wassers Milch, Blutserum und \u00e4hnliche Stoffe zu w\u00e4hlen, weil in diesen der Muskel l\u00e4ngere Zeit seine Lebenseigenschaften erh\u00e4lt.\n4.\tZeitlicher Verlauf der Zusammenziehung*). Wenn ein Erreger auf den Muskel wirkt, so beginnt nicht augenblicklich mit dem Eintritt desselben die Verk\u00fcrzung, sondern erst eine kurze Zeit nach dem Eintreten jenes; hieraus folgt, das wenn ein Erreger w\u00e4hrend einer verschwindend kleinen Zeit den Muskel trifft, dieser seine\n*) Helmholtz, Ueber den zeitlichen Verlauf u. s. w. M\u00fcllers Archiv 1850. 276. Messungen \u00fcber Fortpflanzungsgeschwindigkeit u. s. w. ibid. 1852.199. \u2014 Volkmann, lieber das Zustandekommen der Muskeleontraktion. Leipziger Berichte. Mathemat. physischeClassel851.1. . Ueber die Kraft u. s. w. ibid. 1851, 54.","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Zeitlicher Verlauf der Zusammenziehung.\n383\nZusammenziehung erst beginnt, nachdem der erregende Einfluss schon entfernt war, wie sich dieses z. B. ereignet,.wenn man durch den Muskel einen electrischen Funken sendet; Helmholtz. Hat aber die Bewegung des Muskels begonnen, so verk\u00fcrzt er sich zuerst mit beschleunigter und dann abnehmender G eschwindigkeit und erreicht dabei ein bestimmtes Maximum der Verk\u00fcrzung; von hier ab verl\u00e4ngert sich nun der Muskel und zwar mit allm\u00e4lig steigender Beschleunigung. Zwischen den Zeiten des Auf- und Absteigens scheint kein bestimmtes Verh\u00e4ltniss zu bestehen. Die ganze Zeit, welche verwendet wird zur Vollendung eines solchen Ganges w\u00e4chst im Allgemeinen mit der Gr\u00f6sse der Verk\u00fcrzung (Ed. Weber, Helmholtz) mit der Schwere des zu hebenden Gewichtes und mit der abnehmenden Leistungsf\u00e4higkeit des Muskels; Helmholtz.\nDie zeitlichen Beziehungen, welche zwischen dem Eintritt des zuckungerregen-den Einflusses dem Beginne und Maximum der Verk\u00fcrzung und der Wiederherstellung des verl\u00e4ngerten Zustandes stattfinden, sind beispielsweise in Fig. 88 ausgedr\u00fcckt. \u2014 In dieser Curve bedeuten die H\u00f6hen, welche auf der .Ordinate y verzeichnet sind, die absoluten Werthe der Verk\u00fcrzung, welche eintreten, als ein momentaner elektrischer Schlag den Muskel traf ; die auf der Abszisse x gleichweit abstehenden Zahlen 0, 1, 2, 3, 4,... 8 dr\u00fccken die Zeiten aus, welche verbraucht wurden, um den Muskel in den jeweiligen Zustand der Verk\u00fcrzung zu bringen. Die gleichen Zwischenr\u00e4ume zwischen je zwei aufeinander folgenden Zahlen entsprechen einer Zeit von 0,025 Secunden; w\u00e4hrend der elektrische Schlag, welcher zur Zeit 0 den Muskel traf, bei weitem noch nicht 0,0015 Sec. anhielt. Demgem\u00e4ss kann die Zeit w\u00e4hrend welcher der elektrische Schlag anhielt, als verschwindend klein gegen den ganzen von 0 bis 8 betragenden Zeitraum angesehen werden. Betrachten wir nun die Curve genauer, so ergibt sich, dass ungef\u00e4hr 0,02 Sec. nach Anwendung des momentan dauernden Erregers verstrichen, bevor der Muskel sich zu verk\u00fcrzen anfing; dass dann vom Beginn der Zuckung an sich der Muskel zuerst mit gr\u00f6sserer und dann immer abnehmender Geschwindigkeit verk\u00fcrzt, wie dieses durch die immer kleiner werdenden Zwischenr\u00e4ume zwischen y\" y\\yly2 u. s. w. ausgedr\u00fcckt wird, und umgekehrt, dass der Muskel sich zuerst langsamer und dann rascher und rascher verl\u00e4ngert. Die ganze Zeit, in der vom Beginn der Verk\u00fcrzung an der Muskel das Maximum derselben erreichte, betr\u00e4gt 0,180 Sec. und derjenige, welche zur Einkehr in seine alte Lage nothwendig 0,105 Sec.\nDie mitgetheilte Curve hat Helmholtz unmittelbar durch den Froschmuskel zeichnen lassen; es geschah dieses nach den Grunds\u00e4tzen des graphischen Verfahrens von Watt. Der Muskel wurde n\u00e4mlich an seinem oberen Ende befestigt aufgeh\u00e4ngt , an dem untern Ende wurde mittelst einer Klemme ein Schreibstift angebracht, welches ohne Reibung auf eiuen berussten, ebenfalls vertikal stehenden Cylinder reichte; der Cylinder wurde dann mit gleichm\u00e4ssiger Geschwindigkeit bewegt, so dass fortlaufend andere Punkte desselben mit dem Stift in Ber\u00fchrung kamen; war der Muskel in seiner normalen L\u00e4nge, so beschrieb er beim Umgang des Cylinders auf diesen die Linie x (unserer Abszisse). Verk\u00fcrzte er sich aber, so erhob sich der Stift und dieser zeichnete eine Linie, welche den zeitlichen Gang und den Grad der Verk\u00fcrzung darstellte. Ueber das Genauere dieser feinen Versuche siehe Helmholtz.\nFig. 88.\n12345678","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nElastische Eigenschaften.\nDie Richtigkeit und Allgemeing\u00fcltigkeit des Verlaufes der Curve hat Helmholtz noch auf eine andere Weise und Volkmann durch ein \u00e4hnliches Verfahren dargethan. Es braucht wohl kaum bemerkt zu werden, dass dagegen jede von einem andern Muskel entnommene Curve Besonderheiten zeigen wird, entsprechend dem ihm angeh\u00e4ngten Gewicht und seiner Erregbarkeit.\nDie \u00fcber den zeitlichen Verlauf der Zuckung mitgetheilten That-sachen fordern die Annahme, dass w\u00e4hrend derselben die kleinsten Theilchen des Muskels unter der Einwirkung von Kr\u00e4ften stehen, deren resultirende Wirkungen nach zwei entgegengesetzten Richtungen gehen, indem die eine die Muskelr\u00f6hren zu verk\u00fcrzen strebt, w\u00e4hrend die andere umgekehrt den urspr\u00fcnglichen Zustand zu erhalten oder den Muskel, wenn er verk\u00fcrzt worden, wieder zu verl\u00e4ngern sucht. Betrachten wir nach dieser Voraussetzung die Curve noch einmal, so sehen wir zun\u00e4chst, dass von dem Augenblicke an, wo die Wirkungen der verk\u00fcrzenden Kraft in die Erscheinung treten, diese zuerst ein steigendes Uebergewicht erh\u00e4lt, indem anfangs in gleich langer aufeinanderfolgender Zeit gr\u00f6ssere und gr\u00f6ssere Strecken auf der Bahn der Verk\u00fcrzung zur\u00fcckgelegt werden. Neben diesen verk\u00fcrzenden steigern sich aber auch bei einer gewissen Gr\u00f6sse der erlangten Formumwandlung die verl\u00e4ngernden Kr\u00e4fte, und erhalten sogar bald das Uebergewicht \u00fcber die verk\u00fcrzenden, was an der Curve sich dadurch ausdr\u00fcckt, dass von einem gewissen Zeitraum an die Verk\u00fcrzung mit abnehmender Geschwindigkeit geschieht; dieses Wachsthum der verl\u00e4ngernden Kr\u00e4fte steigert sich endlich zu dem Grad, dass in der That eine Umkehr der Bewegung stattfindet, d. h. dass der Muskel sich wieder so lange ausdehnt, bis er seine urspr\u00fcngliche L\u00e4nge erhalten.\nIn Anbetracht der Untersuchuugsweise von Helmholtz, bei welcher der Muskel senkrecht, mit einem Federhalter beschwert, aufgeh\u00e4ngt wird, so dass er bei der Verk\u00fcrzung neben seinem eigenen auch noch das angef\u00fcgte Gewicht zu heben hat, konnte man zu dem Glauben kommen, dass das, was wir verl\u00e4ngerende Resultirende nannten, nichts anderes als die Schwere sei. Diese Annahme ist aber, wie Volkmann besonders hervorhebt, widerlegt durch die Thatsachen, dass auch ein horizontal gelegter Muskel sich nach gleichen Gesetzen verk\u00fcrzt und verl\u00e4ngert; ferner, dass der erm\u00fcdete Muskel langsamer steigt und f\u00e4llt, als der noch frische und endlich, dass die Zeit des Auf- und Absteigens viel zu gross ist, um einzig von der beschleunigenden Kraft der Schwere abh\u00e4ngig sein zu k\u00f6nnen.\n5. Elastische Eigenschaft des zusammengezogenen Muskels. Eine breite Bahn in das bisher so dunkle Gebiet der elastischen Eigenschaften des zusammengezogenen Muskels hat Ed. Weber*) gebrochen. Die Entdeckungen, die ihm hier gelungen sind, machen auf den Weiterbau dieses Gebietes sehr begierig. Zuerst stellte er fest, dass der Elastizit\u00e4tscoeffizient eines Muskels sich erniedrigt, wenn dieser aus dem ruhigen in den zusammengezogenen Zustand \u00fcbergegangen ist; oder mit andern Worten, das-\n*) Wagners Handw\u00f6rterbuch III. 1. 110,","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Abnahme des E co\u00ebfficienten in der Verk\u00fcrzung.\n335\n*\nselbe Gewicht dehnt denselben Muskel im zusammengezogenen Zustand um einen grossem Bruchtheil seiner L\u00e4nge aus, als im ruhigen Zustande. Aus diesem Satz fliesst die, schon durch eine fr\u00fchere Untersuchung Schwann's festgestellte Folgerung, dass die gesamm-ten bei der Formumwandlung des Muskels th\u00e4tigen Kr\u00e4fte kein inni-\ngeres Zusaramenhaften der Muskelmolekeln bedingen.\nObwohl der gegebene Ausdruck des Weber\u2019schen Gesetzes keiner Missdeutung f\u00e4hig ist, so wollen wir doch noch zum vollkommenen Verst\u00e4ndniss eine ihn erl\u00e4u-\nternde Beobachtung beif\u00fcgen.\nDie L\u00e4nge eines von Weber gemessenen ruhenden Muskels betrug bei Anh\u00e4ngen eines Gewichtes von 5 Gr. = 41,9 m.m., als nun 30 Gr. an ihn geh\u00e4ngt wurden verl\u00e4ngerte er sich auf 45,9 m.m. \u2014 Die proportionale Verl\u00e4ngerung des ruhenden Muskels durch\neinen Gewichtszusatz von 25 Gr.erzielt, war also\n45,9 \u2014 41,9 1 (45,9 + 41,9)\n\u2014 0,091. Unter den\nelektrischen Schl\u00e4gen eines Rotationsapparates verk\u00fcrzte sich derselbe Muskel w\u00e4hrend ein Gewicht von 5 Gr. an ihm hing, auf 16,75 m. m. und durch Vermehrung des Gewichtes auf 30 Gr. verl\u00e4ngerte er sich auf 27,2 m. m. Die proportionale Ver-\n27 20 \u2014 16 75\nl\u00e4ngerung f\u00fcr einen Gewichtszusatz von 25 Gr. betrug also hier \u25a0 \u2014\t75 ~x 27 2\u00d6~\n= 0,47.\nDiese Thatsache ist, wie man leicht erkennt, nicht im Widerspruch mit den Schl\u00fcssen, welche aus der Untersuchung von Helmholtz gezogen sind, denn die Ergebnisse dieses letzteren Gelehrten waren nur verst\u00e4ndlich unter der Voraussetzung, dass die Verk\u00fcrzung einen Gleichgewichtszustand darstellte hervorgegangen aus der Gegenwirkung verk\u00fcrzender und verl\u00e4ngernder Kr\u00e4fte; sie sagten also aus, dass ein zu seinem Maximum verk\u00fcrzter Muskel durch Anh\u00e4ngung eines auch noch so kleinen Gewichtes sogleich verl\u00e4ngert werden musste; \u00fcber die Gr\u00f6sse der proportionalen Verl\u00e4ngerung durch Gewichte gaben sie jedoch keinen\nAufschluss.\nIn scheinbaren Widerspruch tritt dagegen die Erniedrigung des Elastizit\u00e4ts-Coeffizienten mit der Thatsache, dass der Muskel bei seiner Verk\u00fcrzung sich verdichtet. Es l\u00f6st sich derselbe aber sogleich, wenn man in Erw\u00e4gung zieht, dass die Muskelsubstanz aus Stoffen von sehr verschiedenem physiologischem Werth besteht, indem nur der Inhalt der Muskelr\u00f6hre Theilchen enth\u00e4lt, deren Anziehung prim\u00e4r ge\u00e4ndert wird, w\u00e4hrend die Theilchen der primitiven und secund\u00e4ren Scheiden erst durch die Lagenver\u00e4nderung des Inhalts gespannt, oder auch zusammengepresst werden. Man k\u00f6nnte sich versucht f\u00fchlen, irgend welche genauere Hypothese aus dieser Betrachtung abzuleiten, indem man noch weiter voraussetzte, dass die Spannung und Zusammenpressung dieser Scheiden diejenigen Kr\u00e4fte darstellte, welche wir die verl\u00e4ngernden genannt haben, wenn Weber nicht die Thatsache gefunden h\u00e4tte, dass ein sehr erm\u00fcdeter aber ruhiger Muskel durch ein angeh\u00e4ngtes Gewicht in dem Moment, wro er durch die Induktionsschl\u00e4ge erregt wird, statt verk\u00fcrzt zu werden sich verl\u00e4ngert. Da in diesen F\u00e4llen also die verl\u00e4ngernde Kraft nicht durch die ans einer Verk\u00fcrzung des Muskels herr\u00fchrende Spannung und Zusammenpressung der Scheiden erzeugt sein konnte, so m\u00fcssen noch andere ganz unbekannte Umst\u00e4nde eintreten, die w\u00e4hrend die Muskelerregung das Zusammeuhaften der Theilchen mindern.\nN\u00e4chst der wichtigen Thatsache, dass der Elastizit\u00e4tscoeffizient des Muskels sich bei der Zusammenziehung verkleinert, ermittelte Ed. Weber die nicht minder bedeutende, dass entsprechend der steigenden Erm\u00fcdung die Curve des Elastizit\u00e4tscoeffizienten sich \u00e4ndert;","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\tAbnahme des Ecoeffizenten mit der Erm\u00fcdung.\nmit andern Worten, die stufenweis aufeinander folgende proportionale Ausdehnung, welche durch dieselbe Reihenfolge angeh\u00e4ngter Gewichte erzeugt werden, \u00e4ndert sich an demselben Muskel mit' der wachsenden Erm\u00fcdung. Den allgemeinen Gang dieser Ver\u00e4nderung geben die Curven 89, 90, 91. In ihnen bedeuten die Werthe Z, U \u2014 Z, Z\" \u2014 Z' u. s. w. die in Bruchtheilen der mittleren Muskell\u00e4nge ausgedr\u00fcckten L\u00e4ngenzuw\u00e4chse, welche * durch eine Steigerung der Gewichte von 5 Gr. auf 10 Gr,,\n15 Gr. u. s. w. erzielt wurden. Diese drei\n\u2713\nCurven sind ein und demselben Muskel angeh\u00f6rig; die zu je einerderseiben geh\u00f6rigen Werthe gelten f\u00fcr einen w\u00e4hrend der ganzen Beobachtung constant erhaltenen Erm\u00fcdungsgrad, und zwar ist Fig. 89 nach Beobachtungen bei der niedrigsten, Fig. 91 nach denen bei der h\u00f6chsten Erm\u00fcdung entworfen.\nHier ergibt sich nun, dass ein allm\u00e4li-ger Uebergang im Gesetz des Wechsels von dem niedrigsten zum h\u00f6chsten Grad der Erm\u00fcdung stattfindet. Merkw\u00fcrdiger Weise n\u00e4hert sich bei h\u00f6chster Leistungsf\u00e4higkeit die Curve der geraden Linie an, d, h. es verh\u00e4lt sich die Elastizit\u00e4t wie die eines getrockneten organischen K\u00f6rpers, w\u00e4hrend die folgenden den stufenweisen Uebergang dieser in die Curve des unth\u00e4tigen Muskels (S. 321) darstellen. Zugleich ergibt sich aber auch, dass der absolute Werth des Co effizienten der Ausdehnbarkeit (der unmittelbar durch den Werth von Z', Z\"\u2014 Z' u. s. w. ausgedr\u00fcckt ist) f\u00fcr niedere Gewichte bei gr\u00f6sseren Erm\u00fcdungen sehr viel betr\u00e4chtlicher ist, als bei gr\u00f6sserer Leistungsf\u00e4higkeit.\nDie Beobachtungen \u00fcber die Elastizit\u00e4t des nicht erm\u00fcdeten Muskels bewegen sich leider in noch zu engen Grenzen; wahrscheinlich gehen die noch fehlenden Curvenst\u00fccke in einer andern Richtung als die anf\u00e4nglichen.\nZur Ermittlung der vorgef\u00fchrten Thatsachen hing Ed. Weber den m. hyoglos-sus des Frosches passend auf, beschwerte ihn mit einem Gewicht, mass dann auf sichere Weise seine L\u00e4nge; darauf setzte er ihn den Schl\u00e4gen des Induktionsapparates so lange aus, bis er das Maximum seiner Verk\u00fcrzung erreicht hatte. Wehdem die L\u00e4nge des Muskels abermals gemessen war, \u00f6ffnete er den Induktionskreis und wiederholte den Versuch mit andern Gewichten und zwar in der Weise, dass er auf das zuerst angeh\u00e4ngte Gewicht von 5 Gr. der Reihe nach aufsteigend die von 10 Gr., 15 Gr., 20 Gr., 25 Gr., 30 Gr., und dann der Reihe nach absteigend die von 25 Gr., 20 Gr., 15 Gr., 10 Gr., 5 Gr. folgen liess. Einer solchen auf- lind absteigenden Beobachtungsreihe\nFig. 89.\nFig. 91.","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Electrische Eigenschaften\u00bb\n337\nwurde dann derselbe Muskel f\u00fcnf bis sechsmal unterworfen. Diese sinnreiche Art zu beobachten war nach verschiedenen Richtungen hin vortheilhaft. Zun\u00e4chst n\u00e4m-lieh konnte der Muskel zahlreichere Thatsachen liefern, als wenn er ununterbrochen den erregenden Einfl\u00fcssen ausgesetzt gewesen w\u00e4re, die ihm keine Zeit zur Erholung geg\u00f6nnt h\u00e4tten; dann aber erm\u00f6glichte das Anh\u00e4ngen der in regelm\u00e4ssiger Folge auf- und absteigenden Gewichte, die verschiedenen Beobachtungen mit einander vergleichbar zu machen, indem man unter der wahrscheinlichen Voraussetzung einer mit der Zeit und mit der Anstrengung geradezu wachsenden Erm\u00fcdung die zu einer Reihe geh\u00f6rigen Beobachtungen auf denselben Erm\u00fcdungsgrad redu-ziren, d. h. den verl\u00e4ngernden Einfluss der Erm\u00fcdung eliminiren konnte. Denn in einer jeden Reihe besass man ja f\u00fcr die Gewichte von 5 bis 25 Gr. zwei Beobachtungen, welche jedesmal gleichweit abstanden von der nur einmal vorhandenen mit 30 Gr.; aus den Muskell\u00e4ngen je zweier zu einander geh\u00f6riger Zahlen braucht man also nur das Mittel zu nehmen, um sie mit der nur ein Mal vorhandenen Beobachtung vergleichbar zu machen. In dieser Reihe ist die L\u00e4nge des Muskels, welche er bei 5 Gr. Belastung annahm, als die normale, dem unbelasteten Zustand entsprechende angesehen worden; dieses musste geschehen, weil der Muskel an und f\u00fcr sich zu schlaff war, um eine sichere Messung seiner L\u00e4nge zu erlauben.\n6. Electrische Eigenschaften. Negative Stromesschwankung\u00bb Unter Anwendung besonderer Yorsichtsmassregeln ergibt sich nun, dass die am ruhigen Muskel zum Vorschein tretenden electrischen Gegens\u00e4tze beim zusammengezogenen, scheinbar sich mindern, indem n\u00e4mlich je zwei abgeleitete Stellen eines zusammengezogenen Muskels eine viel geringere Nadelablenkung erzeugen als dieselben des ruhigen. Man gewinnt eine deutliche Vorstellung von dem Gesetz, nach welchem die Nadelablenkung wechselt f\u00fcr den Fall dass man mit gleichbleibendem Abstand der ableitenden B\u00e4usche um den zusammengezogenen Muskel allm\u00e4lig herumwandert, wenn man an der Fig. 81 dargestellten Curve die Ordinaten \u00fcberall erniedrigt.\nZur Untersuchung der electrischen Eigenschaften des zusammengezogenen Muskels durch die Magnetnadel kann nur der tetanisch erregte ben\u00fctzt werden, weil die Wirkungen einer einzelnen Zuckung, gegen die Tr\u00e4gheit der Nadel gehalten, zu fl\u00fcchtig sind, um von dieser vollkommen aufgefasst zu werden. \u2014 Damit man sicher sei, dass die Stellungsver\u00e4nderungen der Nadel, welche beim Uebergang des ruhigen Muskels in den zusammengezogenen eintreten, nicht die Folge unwesentlicher Umst\u00e4nde sei, wie z. B. einer Ver\u00e4nderung des Leitungswiderstandes, erzielt durch die Formumwandlung des Muskels oder die Verkleinerung der Ber\u00fchrungs-Stellen mit den B\u00e4uschen u. s. w. legt du Bois einen Muskel auf, der an beiden Enden so fest eingespannt ist, dass bei seinem Uebergang in den Tetanus auch nicht die geringste Formver\u00e4nderung zum Vorschein kommt. \u2014 Um endlich die reinen Wirkungen des zusammengezogenen Muskels auf die Nadel zu erhalten, ist es noth-wenrlig, den tetanisirten Muskel in den ganz gleichartigen Multiplikatorenkreis zu bringen; daraus folgt die Regel, dass man in den gleichartigen Multiplikatorenkreis nicht erst den ruhigen Muskel legen und diesen dann tetanisiren, sondern dass man den Kreis sogleich durch den tetanisirten Muskel schliessen soll; denn offenbar w\u00fcrde sonst durch den Strom des ruhenden Muskels eine Polarisation der Platinplatten hervorgebracht, welche das klare Erscheinen einer folgenden Stromver\u00e4nderung wesentlich beeintr\u00e4chtigen k\u00f6nnte.\nLudwig, Physiologie I.\n22","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nNegative Stroinesscliwankiiiig.\nDieser Venn in de run g in der Ablenkung, welche die Nadel erleidet,\nk\u00f6nnen zweierlei Arten von Verhalten des Muskelstromes zu Grunde\nliegen; entweder es tritt in der That eine con stante Ernie drigung\nder Str\u00f6mung ein, oder es wechseln w\u00e4hrend der Zusammenziehung\nzwei im entgegengesetzten Sinne gerichtete Str\u00f6me so\nrasch miteinander ab, dass die tr\u00e4ge Nadel nicht die Ver\u00e4nderung\njedes einzelnen, sondern nur der Resultirenden aus beiden Str\u00f6men\nanzeigte. \u2014 Auf die Zust\u00e4nde des Muskels bezogen w\u00fcrde diese\nAlternative die Bedeutung haben: entweder es nehmen die Gegens\u00e4tze\nzwischen Ouerschnitt und Oberfl\u00e4che in der Zusatnmenziehung con-\nstant ab, oder es tritt eine solche Schwankung ein, dass der L\u00e4ngen-\nsChnitt bald + und bald \u2014 und diesen entsprechend der Ouerschnitt\nbald \u2014 und bald 4- w\u00fcrde.\n* \\\nZur Entscheidung zwischen diesen beiden M\u00f6glichkeiten verhelfen die Eigent\u00fcmlichkeiten des strompr\u00fcfenden Froschschenkels, und zwar sowohl seine verschwindende Tr\u00e4gheit, so dass er durch einen auch nur momentan dauernden Strom erregt wird, als auch die andere nicht minder wichtige Eigenschaft, nur durch electrische Str\u00f6me von ver\u00e4nderlicher Dichtigkeit und St\u00e4rke zur Zuckung veranlasst zu w erden.\nIn der That entscheidet der strompr\u00fcfende Froschschenkel zu Gunsten der Yorstellung, dass w\u00e4hrend der tetanischen Zusammenziehung die electrischen Muskelmolekeln in stetigen Bewegungen begriffen sind, denen zufolge die den Muskel umkreisenden electrischen Str\u00f6me sowohl ihrer Richtung als auch ihrer Intensit\u00e4t nach in stetige Schwankungen gerathen.\nDenn \u00fcberlbr\u00fcckt man gleichzeitig Quer- lind L\u00e4ngenschnitt eines Muskels mit dem Nerven des strompr\u00fcfenden Schenkels, so ger\u00e4th dieser letztere augenblicklich in Zuckung, sowie man den ersteren durch Erregung seines Nerven zur Zusammen-ziehuug bringt. Sekund\u00e4re Zuckung von Matte uc ci. Diese einmalige Zuckung des strompr\u00fcfenden Schenkels verw andelt sich aber selbst in eine anhaltende, eine tetanische, sowie man den prim\u00e4r sich zusammenziehenden Muskel te-tanisirt, du Bois; dieses w\u00fcrde aber nicht m\u00f6glich sein, wenn der prim\u00e4r tetanisirte Schenkel von einem Strom constanter St\u00e4rke umkreisst w\u00fcrde.\nWir haben bisher den Muskel betrachtet, welcher seiner parelec-tronomischen Schicht (s. p. 319) beraubt war; es gew\u00e4hrt nun mit R\u00fccksicht auf die Richtung der Bewegung, welche die Molekeln ausf\u00fchren, ein besonderes Interesse, sie auch an solchen Muskeln zu un~\ntersuchen, welche mit dieser Schicht versehen sind. War dieselbe in vollkommener Ausbildung vorhanden, so wurde dadurch, wie wir uns erinnern, der nat\u00fcrliche Querschnitt entweder indifferent oder sogar positiv gegen den L\u00e4ngenschnitt, so dass durch einen solchen Muskel im ruhenden Zustand die Nadel entweder gar nicht oder umgekehrt wrie gew\u00f6hnlich abgelenkt wurde. Tetanisirt man nun einen solchen","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"W\u00e4rmeeigenschaften.\n339\nMuskel, so erscheint auch hier die Schwankung der Magnetnadel, in der Art jedoch, dass ihre Bewegung jedesmal auf einen eintretenden\noder noch verst\u00e4rkten Strom von dem Ouerschnitt zur Oberfl\u00e4che\n.\ndeutet. Hieraus darf der wichtige Schluss gezogen werden, dass der die Zusammenziehung des Muskels begleitende electrische Hergang nicht in einer solchen Umstellung der Gegens\u00e4tze bestehe, dass dahin, wo im ruhenden Zustand das Positive gewesen war, jedesmal das Negative hinkomme, sondern dass eine absolut negative Schwankung der Molekeln eintrete, d. h. dass der Ouerschnitt immer positiver und der L\u00e4ngenschnitt immer negativer werde. Du Bois nennt darum tden electrischen Vorgang des Muskels bei seiner Zusammenziehung die negative Stromesschwankung.\nAls sich von selbst verstehend ist die Bemerkung anzusehen, dass man den zusammengezogenen Muskel, welchen man auf den B\u00e4uschen liegend untersucht, ent-weder durch andere als elektrische Mittel vom Nerven aus tetanisiren muss, oder w enn man sich des Induktionsapparates bedient, Vorrichtungen zu treffen hat, die den Eintritt der erregenden Str\u00f6me in den Multiplikatorenkreis hindern. \u2014 Der Entdecker der secund\u00e4ren Zuckung bem\u00fchte sich zu beweisen, dass dieselbe durch keine Ver\u00e4nderung des den ruhenden Muskel umkreisenden Stromes erzeugt werde. Es treten aber, wde bei du Bois*) des Ausf\u00fchrlicheren nachzusehen, die vorgebrachten Bew eise gerade f\u00fcr das Gegentheil der Ma tte ucci\u2019schen Behauptung in die Schranken.\nDie negative Schwankung vollendet die Analogie, welche die electrischen Einrichtungen der Nerven Und Muskeln bieten ; es wird darum alles das, was \u00fcber die Zusammensetzung des Nerven aus electrischen Molekeln gesagt wurde, hierher zu \u00fcbertragen sein. Der einzige bemerkenswerthe Unterschied zwischen dem electrischen Verhalten der Nerven und Muskeln, soweit es uns bekannt ist, beruht darauf dass die Muskeln nicht in den electrotonischen Zustand gerathen.\n7. W\u00e4rmeeigenschaften. W\u00e4hrend seiner Zusammenziehung entwickelt der Muskel eine gewisse Menge von W\u00e4rme, die jedoch zu gering ist als dass sich \u00fcberhaupt ermitteln liesse, in welchem Verh\u00e4ltniss sie zur Masse und dem Verk\u00fcrzungsgrad des Muskels steht.\nDie Messung der im Muskelentw\u00fcck eiten W\u00e4rme geschieht durch die Thermo-kette; M. Becquerel hat sie zuerst hiezu in Anw endung gebracht; seine Untersuchungsmethode ist jedoch mit zu vielen Fehlern behaftet, als dass die durch sie gewonnenen Resultate w erthvoll w^\u00e4ren. Helmholtz**), der so ausserordentliche Verdienste um die L\u00f6sung der schwierigsten Aufgaben der Muskel- und Nervenphy-siologie besitzt, hat auch hier zuerst fehlerfreie Versuche angestellt. Sein Verfahren bedient sich der folgenden Mittel: a) Seine Thermokette besteht ans einem sehr d\u00fcnnen und schmalen Eisenblech, an dessen beiden Enden entsprechende, je halb so\n*) II. Bd. 1. Abthl. p. 93 u. f.\n**) Ueber die bei der Muskelaction entwickelte W\u00e4rmemenge. M\u00fcllers Archiv 1848.\n22*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nW\u00e4rmeeigenschaften.\nlange Neusilberbleche angel\u00f6thet sind. Die Eisen-Neusilberkette ist mit Ausnahme ihrer \u00e4ussersten Enden mit Firniss \u00fcberzogen; diese Enden selbst laufen spitz aus, damit man sie durch den Muskel bohren k\u00f6nne. Solcher Bleche werden von Helmholtz mehrere, gew\u00f6hnlich drei in den Muskel gestossen, welche nach ihrer Einf\u00fchrung in denselben zu einer Kette nach dem in Fig. 92 dargestelJten Schema vereinigt werden. In der Zeichnung sind die Neusilberst\u00fccke schraffirt; die Kettenenden sind PP. \u2014 b) Thermomultiplikator; an die Kettenenden P P f\u00fcgt man einen Multiplikator, dessen sehr gut astatische Nadeln hier von einem dicken Draht von nur 50 bis h\u00f6chstens 100 Windungen umgeben sein d\u00fcrfen, und dies zwar darum, weil die thermoelektrischen 9 Str\u00f6me an und f\u00fcr sich sehr schwach sind und sie an ihrem Entstehungsort in der metallischen Kette keinen nennenswerthen Widerstand zu \u00fcberwinden haben, Sie w\u00fcrden demnach durch den Leitungswiderstand einer gr\u00f6sseren Zahl von Drahtwindungen bald so weit geschw\u00e4cht werden, dass der Verlust, der aus der Schw\u00e4chung der Stromintensit\u00e4t entstehen w\u00fcrde, nicht zu ersetzen w\u00e4re durch die Multiplikation, die aus den Drahtwindungen hervorgeht.\nErw\u00e4rmt man die eine Reihe von L\u00f6thstellen unserer Kette, w\u00e4hrend man die andere Reihe auf ihrer fr\u00fchem niedrigem Temperatur erh\u00e4lt, so entsteht ein Strom in der erw\u00e4rmten L\u00f6thstelle in der Richtung vom Neusilber zum Eisen, dessen Intensit\u00e4t proportional der Temperaturdilferenz der beiden Reihen von L\u00f6thstellen steigt. Desshalb gelingt es nun, da die Abh\u00e4ngigkeit der Winkelablenkung der Magnetnadel von der Stromintensit\u00e4t bekannt ist, durch die Nadelablenkung den Grad der W\u00e4rme zu bestimmen, welchen diezweite L\u00f6thstelle angenommen, wenn die Temperatur der ersten bekannt ist. Bei Anwendung so feiner Apparate ist es aber gerathener, ja nothwendig, geradezu das Verfahren der empirischen Gra-duirung des Multiplikators zu benutzen, wenn man aus der Nadelablenkung auf die Temperatur schliessen will. Helmholtz\u2019s Apparat war so genau, dass mit Sicherheit noch TemperaturdiiTerenzen beider L\u00f6thstellen von 0,0007\u00b0 C ermittelt werden konnten.\nc) Der Muskel, welchen man der Untersuchung unterwirft, darf nicht mehr vom Blut durchstr\u00f6mt sein, weil das ven\u00f6se und arterielle Blut mit wesentlichen Tem-peraturdifferenzen begabt sind, so dass je nach dem Uebergewicht der einen oder andern Blutart sehr betr\u00e4chtliche Fehler entstehen k\u00f6nnten ; man w\u00e4hlt also am besten einen ausgeschnittenen Froschschenkel, durchst\u00f6sst diesen mit den Kettengliedern, verbindet diese zur S\u00e4ule und die Enden derselben mit dem Multiplikator, wartet dann so lange, bis die Nadel des Multiplikators auf den Nullpunkt gegangen, und versetzt endlich den Muskel in Zusammenziehung durch schwache electrische - Schl\u00e4ge, die man durch den Nerven des Muskels oder auch durch diesen selbst ohne Schaden leiten kann, weil die Kette durch den Firniss\u00fcberzug innerhalb des Muskels isolirt ist. Diese sehr feinen Versuche machen auch noch mannigfache Vorsichts-massregeln nothwendig zur Erhaltung einer gleichm\u00e4ssigen Temperatur der nicht ira\nFig. 92.\nAnnales de chim. et physiq. 2\u00b0 ser. 39. Bd. 132,","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Chemische Eigenschaften.\n341\nMuskel befindlichen L\u00f6thstellen, wor\u00fcber das Genauere bei Helmholtz. \u2022\u2014 Das Schema des ganzen Versuchs gibt die Fig. 93. NS bedeutet Nerv mit den zugeh\u00f6rigen Muskeln ; durch den Oberschenkel des Froschbeins ist die hier nur eingliedrig gezeichnete Kette eingeschoben; die im Fleisch verborgene Loth-stelle scheint in der Zeichnung durch, die andere Lothstelle ist frei; der Strom w\u00fcrde bei Erw\u00e4rmung des Muskels in der Richtung der Pfeile zum Multiplikator Mgehen.\u2014 Die Temperaturerh\u00f6hung, welche H e lm-ho Itz bei derZusammenziehung an den Froschmuskeln beobachtete, betrug im Mittel 0,16\u00b0 C.\n8. Chemische Eigenschaften. W\u00e4hrend seiner Zusammenziehung \u00e4ndert der Muskel nachweislich seine chemischen Eigenschaften; worin aber diese Yer\u00e4nderung bestehe, l\u00e4sst sich bis jetzt nicht auf eine, dem gegenw\u00e4rtigen Standpunkt der Chemie entsprechende Weise ausdr\u00fccken. \u2014 Den ersten Nachweiss dass eine Yer\u00e4nderung vor sich gehe hat Helmholtz *) geliefert, indem erzeigte, dass die festen in der Fleischfl\u00fcssigkeit gel\u00f6sten Substanzen, welche aus dem bis zur Ersch\u00f6pfung tetanisirten Muskel gezogen wurden, verschieden von denjenigen seien, welche aus dem gleichnamigen Muskel desselben Thieres, der sich in Ruhe befunden hatte gewonnen werden konnten ; namentlich hatte sich im zusammengezogenen Muskel der in Weingeist l\u00f6sliche Theil des R\u00fcckstandes der Fleischbr\u00fche gemehrt und der nur in Wasser l\u00f6sliche gemindert. Aus den Untersuchungen von Liebig**) und Scherer***) scheint weiter der Schluss gezogen werden zu k\u00f6nnen, dass sich in den zusammengezogenen Muskeln die Menge des Kreatins (und Hypoxanthins?) mehre. Denn sie fanden in den Muskeln lebhaft sich bewegender und im Herzmuskel aller Thiere diesen Stoff in betr\u00e4chtlichster Menge. \u2014 Endlich hat du Bois noch entdeckt dass ein frischer Muskel eines Thieres, das sich lange in Ruhe befunden, neutral reagire, dass dagegen dieser Muskel sogleich eine saure Reaktion annehme, sowie er einige Zeit hindurch in den Zustand der Yerk\u00fcrzung gebracht worden war.\nAusser diesen unzweideutigen Thatsaclien weisen aber noch andere, vieldeutigere Erfahrungen darauf hin, dass eine Umsetzung der Muskelsubstanz bei ihrer\n*) M\u00fcllers Archiv 1845. Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion.\n**) Annal, d. Chem. v. Liebig u. W\u00fchler. Bd. 62.\n***) Annal, d. Chem. v. Liebig u. W\u00f6hler T3. Bd.\nFig. 93","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nArbeitsleistung des Muskels.\nZusammenziehung vor sich gehe. Dahin z\u00e4hlt, dass die Sauerstoffmenge, welche ein Mensch durch die Lunge aufnimmt, sich mehrt w\u00e4hrend der Muskelanstrengung (Seguin) und dass sich w\u00e4hrend (Scharling*) und nach (Vierordt** ***)) der Muskelanstrengung die Menge der von der Lunge ausgehauchten C02 sich betr\u00e4chtlich steigere. \u2014 Nicht minder bemerkenswerth ist die von Lehmann*\u2019*) beobachtete Thatsache, dass bei gleichbleibender Kost nach starken Anstrengungen der Harnstoffgehalt des Urins sich mehrt.\n9. Arbeitsleistung; Nutzwerth des Muskelsf). Bevor wir nun zu einer Betrachtung der noch \u00fcbrigen besonderen Zust\u00e4nde der quergestreiften Muskelsubstanz vorschreiten, wollen wir die Prinzipien er\u00f6rtern, nach denen die sog. Arbeitskr\u00e4fte des Muskels zu beurtheilen sind. Der Muskel kann begreiflich und bekanntlich die Bewegung, welche seine eignen Theile bei der Formver\u00e4nderung erleiden, andern K\u00f6rpern mittheilen, und damit im Sinne der Mechanik Arbeit verrichten. In dieser Beziehung f\u00e4llt die Betrachtung unseres Apparates mit derjenigen aller arbeitenden Maschinen zusammen.\nDas Maass der lebendigen Kr\u00e4fte, weiches f\u00fcr die Leistungen solcher Maschinen in Anwendung gebracht wird, ist wie allbekannt ein Produkt aus den Faktoren der Zeit (/), der Gewichte (g) und der Hubh\u00f6he (h) also = gfh. Mit andern Worten dem Techniker ist es wichtig zu wissen, welche Zeit hindurch oder wie oft in gegebener Zeit und wie hoch ein gewisses Gewicht durch eine Maschine gehoben werden kann, weil nach diesen Angaben die Werthung der von einer Maschine gelieferten auf andere Massen \u00fcbertragbaren Kr\u00e4fte geschehen kann. Wir legen, indem wir dieses Maass auf die Muskelkr\u00e4fte anwenden, zun\u00e4chst ein und denselben Muskeln von einer beliebigen Einheit des Querschnittes und der L\u00e4nge zu Grunde.\nIn Bezug auf den Faktor der Zeit gilt zuerst der Satz, dass die Leistungsf\u00e4higkeit des Muskels mit der Dauer seiner Wirkung abnimmt, mit andern Worten der Muskel entwickelt, wie in der Lehre von der Erm\u00fcdung dargethan, den gr\u00f6ssten Werth seiner Kr\u00e4fte im Beginn seiner Leistung, w\u00e4hrend nach einer gewissen geringeren oder gr\u00f6sseren Andauer der Kraftentwicklung die Leistungsf\u00e4higkeit Null wird ; \u2014 diese dem Nutzeffekt des Muskels sch\u00e4dliche Wirkung der dauernden Leistung ist jedoch nicht f\u00fcr alle Werthe von hg, d. h. f\u00fcr jede Verk\u00fcrzung und jedes Gewicht gleich; sie w\u00e4chst mit dem Werthe von hg und zwar wie es scheint viel rascherer als diese selbst; aber auch f\u00fcr den niedrigsten Werth von hg, wenn z. B. das zu hebende Gewicht in nichts anderm besteht, als in der eigenen Masse des Muskels macht sie sich rasch geltend, wie jedermann aus\n*) Journal f\u00fcr prakt. Chemie Bd. 48. p. 435.\n**) Wagners Handw\u00f6rterbuch II. Bd. p. 886.\n***) Physiolog. Chemie 1. Bd. 2. Aufl. p. 169. f) Ed. Weber. Wagners Handw\u00f6rterbuch III. 2. Abth. p. 91.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Arbeitsleistung; des Muskels.\n343\nErfahrung weiss. Aus diesem Grunde ist der Muskel nicht dazu geeignet einen K\u00f6rper auf den ein stetig sich wiederholender Antrieb wirkt in seiner Bewegung derartig zu hemmen, dass er constant dieselbe Ortlage behauptet. Der sch\u00e4dliche Einfluss den die Dauer der Verk\u00fcrzung mit sich f\u00fchrt wird dagegen sehr gemindert wenn der verl\u00e4ngerte und der verk\u00fcrzte Zustand im Wechsel begriffen sind, wenn, wie man sich ausdr\u00fcckt, der Muskel in einer zwischen gelegten Ruhezeit von der Anstrengung sich zu erholen im Stande ist.\nDa sich aber r\u00fccksichtlich dieser Umst\u00e4nde nichts befriedigendes sagen l\u00e4sst, so werden wir im Folgenden die Zeit in welcher der Muskel seine Leistung vollf\u00fchrt als so klein setzen, dass wir die Erm\u00fcdung w\u00e4hrend derselben vernachl\u00e4ssigen k\u00f6nnen und darum als Maass des Nutzeffektes nur gh ansehen, d. h. das Produkt aus dem Gewicht in diejenige H\u00f6he, auf welche es der Muskel zu heben vermag. Zur Be-urtheilung des Nutzeffektes in diesem Sinne dienen uns die von Ed. Weber gelieferten Thatsachen \u00fcber die elastischen Kr\u00e4fte des zusammengezogenen Muskels. Wir haben dort erfahren, dass ein Muskel im Maximum seiner Zusammenziehung kein auch noch so kleines Gewicht tragen kann ohne in seiner Form ver\u00e4ndert beziehungsweise verl\u00e4ngert zu werden, mit andern Worten er kann Null Gewicht auf das Maximum der Hubh\u00f6he bringen. Setzen wir diesen Werth in den Ausdruck gh^ wobei h eine bekannte in idillimetei odei Zollen aus gedr\u00fcckte Zahl, g aber Null bedeutet, so sehen wir sogleich, dass in diesem Fall der Nutzeffekt selbst Null wird. Anderseits lernten wir aber auch aus den Web er\u2019sehen Beobachtungen, dass derselbe Zuwachs an Gewichten den Muskel um einen um so geringeren Bruch-theil seiner L\u00e4nge ausdehnt, je mehr er sich schon der Foim gen\u00e4heit hat, welche er besass bevor er durch die Zusammenziehung dieselbe \u00e4nderte, oder umgekehrt ausgedr\u00fcckt, dass der Muskel um so betr\u00e4chtlichere Gewichte zu heben vermag, je weniger er hierbei sich verk\u00fcrzt. Daraus folgt unmittelbar dass das Maximum des Gewichtes, welches er \u00fcberhaupt heben kann, gerade an dem Punkt liegt, wo ei im Begriff ist seine Verk\u00fcrzung zu beginnen. Uebersetzen wir diesen Fall wiederum in den Ausdruck gh, so wird nun h \u2014 Null, w\u00e4hrend g ein in Grammen oder \u201ePfunden ausdr\u00fcckbares Gewicht darstellt; also auch hier i'st das Produkt, der Nutzeffekt = Null. Aus der Darstellung dieser beiden Grenzf\u00e4lie k\u00f6nnen wir schliessen, dass das Maximum des Nutzeffektes zwischen beiden liege in der Art, dass mit abnehmender Hubh\u00f6he, wegen m\u00f6glicher Steigerung des Gewichts, der Nutzeffekt w\u00e4chst bis zu dem Punkt, wo die Abnahme der Hubh\u00f6he zu gross geworden, um das Steigen des Faktors der Gewichte zu kompensiren. \u2014 Es ist dieses der einzige allgemeine Ausdiuck, den wir f\u00fcr den Nutzeffekt des Muskels zu finden im Stande sind, weil wir das Gesetz de** wechselnden Ausdehnungscoeffizienten mit dei","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nPhysikalisches Maas der Muskelkraft.\nZusammenziehung des Muskels noch nicht kennen, welches wie wir\nerfuhren mit dem sog. M\u00fcdigkeitsgrade ein sehr ver\u00e4nderliches ist.\nGestaltete sich die Beziehung zwischen der Ausdehnbarkeit des Muskels und dem angeh\u00e4ngten Gewichte wie in der Curve 89, d. h. w\u00e4re die Ausdehnung immer direkt proportional dem Gewichtszuwachs, so w\u00fcrde die f\u00fcr jeden Werth der Zusammenziehung erzielbare Leistung leicht abzuleiten sein; denn setzen wir voraus, es betrage die Verk\u00fcrzung des Muskels ohne Gewichte 4 M. M., die Last aber, welche der Muskel ohne sich zu verk\u00fcrzen tragen k\u00f6nnte 4 Gr., so w\u00fcrde er bei 3 M. M. Verk\u00fcrzung 1 Gr., bei 2 M. M. Verk\u00fcrzung 2 Gr., bei 1 M. M. Verk\u00fcrzung 3 Gr. heben; der Nutzeffekt war also nacheinander 0, 3, 4, 3, 0 Millimetergramme.\nWeil nun das Gesetz der mit der Verk\u00fcrzung wechselnden Nutzeffekte unbekannt ist, so hat man sich damit behelfen m\u00fcssen, als vergleichbaren Werth einen Ausdruck zu w\u00e4hlen, der von der Hubh\u00f6he unabh\u00e4ngig ist, d. h. das Gewicht, welches gerade gross genug ist, um zu verhindern, dass der Muskel, wenn er aus der Ruhe in dem Zustand der Erregung tritt, seine Form \u00e4ndert. \u2014 Siehe die hierzu angewendete Verfahrungsarten bei Ed. Weber*). \u2014 Wenn man diesem Ausdruck gem\u00e4ss die Kraft verschiedener Muskeln untereinander vergleichen will, so muss man die von einem Querschnitt bekannter, aber beliebiger Gr\u00f6sse ausgef\u00fchrten Leistungen auf die einer Ouerschnittseinheit zur\u00fcckf\u00fchren , was einfach geschehen kann, da offenbar der Nutzeffekt in obengenommenem Sinne geradezu mit dem Querschnitt w\u00e4chst. \u2014 Nach solchen Bestimmungen war das Xraftmaass f\u00fcr den Quadrat-Centimeter der Menschenmuskeln 1,087 Kilogr. und f\u00fcr den der Froschmuskeln 0,692 Kilogr. Ed. Weber.\nEine kurze Ueberlegung zeigt uns nun, wie im Allgemeinen der Nutzwerth der Muskeln von ihrer L\u00e4nge und ihrem Querschnitt abh\u00e4ngig sei. Denn offenbar wird das Muskelrohr von gleichem Querschnitt aber von gr\u00f6sserer L\u00e4nge dasselbe Gewicht absolut h\u00f6her heben k\u00f6nnen als das von geringerer L\u00e4nge, w\u00e4hrend ein Muskelrohr von gr\u00f6sserem Querschnitt ein betr\u00e4chtlicheres Gewicht auf gleiche H\u00f6he hebt als ein gleichlanger Muskel von geringerem Querschnitt.\n10. Physikalisches Maass der Muskelkraft. Die jenseits der Grenze eines Muskelrohrs oder eines Gesammtmuskels mittheilbaren Kr\u00e4fte geben nun noch keineswegs eine Vorstellung von der Gr\u00f6sse der Anziehungen, welche zwischen den wirksamen Theilen innerhalb des Muskels bei der Zusammenziehung frei werden. Dass dieses nicht geschehe, erhellt schon aus den Betrachtungen und That-sachen die mitgetheilt wurden, als von dem zeitlichen Verlauf der Zuckung und den elastischen Eigenschaften der Muskeln die Rede war. Denn dort erwiess es sich dass der verk\u00fcrzte Zustand des Muskels Folge war von zwei nach entgegengesetzten Richtungen wirksamen Anziehungen, wodurch also offenbar wieder freie Kr\u00e4fte in gespannte umgesetzt wurden. Dazu ist es noch fraglich, ob die Anziehungen, welche zwischen den Molekeln wirksam sind in der Richtung der L\u00e4ngenachse des Muskelrohrs geschehen, d. h. in derjenigen, in welcher der Nutzeffekt wirkt. W\u00e4re das nicht der Fall, so w\u00fcrde dieser letztere selbst erst wieder eine Resultirende unbekannter Einzel-\n*) 1. c. p. 86 u. f.","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Muskelstarren ; W\u00e4rmestarre. _\t345\nkr\u00e4fte sein. \u2014 Dieses mag gen\u00fcgen um auf die Aufgabe der eigentlich wissenschaftlichen Maassbestimmung hinzudeuten; ihre L\u00f6sung ist noch niemals auch nur andeutungsweise versucht worden.\nC. Muskelstarren.\nZwei eigenth\u00fcmliche Erscheinungsformen des Muskels die W\u00e4rme-und die Todtenstarre, in welchen derselbe in eine andauernde Steifheit ger\u00e4th sind endlich noch zu betrachten. Obwohl der lebende K\u00f6rper selten oder niemals die Bedingungen einschliesst, unter denen jene Zust\u00e4nde sich erzeugen, so sind sie doch f\u00fcr uns von Wichtigkeit weil sie \u00fcberhaupt \u00fcber das Wesen des Muskels Aufschluss versprechen.\n1.\tW\u00e4rmestarre*). Verweilt ein Froschmuskel in Wasser von 65\u00b0 R. 25 Sekunden, (Pickford,) oder mehrere Minuten in Wasser von 30\u00b0 R., so wird derselbe, indem er sich verk\u00fcrzt, steif und kann durch die gew\u00f6hnlichen Muskelerreger nicht mehr in Zuckungen versetzt werden. In diesem Zustande lenkt er die Magnetnadel nach einer Richtung ab, welche darauf hinweisst, dass der Querschnitt positiv und der L\u00e4ngenschnitt negativ sei; du Bois. Dieses Zusammentreffen der Verk\u00fcrzung mit einer constanten Umdrehung der elektrischen Molekeln ist bedeutsam genug. \u2014 Diese Starre l\u00f6st sich jedesmal nach einigen Minuten, vorausgesetzt dass die sie erzeugende Temperatureinwirkung auf die oben bezeichneten Grade und Zeiten sich beschr\u00e4nkte. Pick ford.\nEinen ganz analogen Zustand hat du Bois an den Nerven entdeckt und weiter verfolgt ; setzte er einen Nerven den Strahlen eines stark gl\u00fchenden K\u00f6rpers aus so kehrte sich der Strom des Nerven um, und versetzte er in diesem Zustand den Nerven in Erregung, so verst\u00e4rkte sich dieser verkehrt gerichtete Strom noch. Wurde der Nerv in Muskelfleisch eingebettet der Ruhe \u00fcberlassen, so kehrte nach einiger Zeit die normale Str\u00f6mungsrichtung wieder.\n2.\tTodtenstarre**). Der Muskel geht unter Bedingungen die im todten Thiere gew\u00f6hnlich, im lebenden nur selten eintreten, eine eigenth\u00fcmliche Ver\u00e4nderung ein, bei der er seine Leistungsf\u00e4higkeit einb\u00fcsst. Von den Eigenschaften die der todtenstarre Muskel bietet sind folgende aufgedeckt worden:\na. Die optischen Erscheinungen der Muskelr\u00f6hren sind nicht wesentlich ge\u00e4ndert; er erscheint etwas undurchsichtiger als w\u00e4hrend des Lebens und die Querstreifen sind deutlicher hervorgehoben. Ausserdem sollen sich auch die R\u00f6hren wie bei der Zusammenziehung\n*) du Bois II. Bd. 1. Abth. p. 178 u. 550. \u2014 Pickford, Zeitschrift f\u00fcr rat. Medizin. Neue Folge. 1.110.\n**) Val eutin, Lehrbuch der Physiologie II. a. 113. \u2014 Stannius, Untersuchungen \u00fcber Leistungsf\u00e4higkeit d.Muskeln u. Todtenstarre. Archivf.phys.HeilkundeXI.\u2014Brown-Sequard, Compt. rend. Juni u. August 1851. \u2014 du Bois, Thier. Electr. II. Bd. 1. Abth. 156.","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nTodtenstarre. Ausdehnbarkeit, electrisches Verhalten.\nw\u00e4hrend des Lebens um etwas verk\u00fcrzen und verbreitern, was man aus Stellungsver\u00e4nderungen der Glieder, (wie z. B. dem Anziehen des vorher ge\u00f6ffneten Kiefers u. s. w.) folgert, welche mit dem Beginne der Todtenstarre sich einfinden. Hier\u00fcber fehlen aber noch genauere Messungen.\nb.\tDie Ausdehnbarkeit des Muskels ist vermindert; Ed. Weber. Seine Coh\u00e4sion soll nach einigen Angaben vermehrt, (Busch) nach andern vermindert sein; Valentin, Wertheim. Diese Widerspr\u00fcche werden darin ihre Erledigung finden, dass man bald zu Anfang und bald zu Ende (bei schon beginnender F\u00e4ulniss) der Todtenstarre die Muskeln den sie zerreissenden Gewichten aussetzte.\nc.\tDie elektrischen Gegens\u00e4tze zwischen Oberfl\u00e4che und Querschnitt des Muskels sind im Beginn der Todtenstarre entweder noch in gew\u00f6hnlicher oder aber in umgekehrter Ordnung vorhanden, so dass nun der Querschnitt positiv und der L\u00e4ngsschnitt negativ geworden ist; so oft sie aber vorhanden sind ist ihr Auftreten nur ein spurweises gegen dasjenige im leistungsf\u00e4higen Muskel : hat die Todtenstarre aber nur kurze Zeit hindurch bestanden, so verschwinden sie vollst\u00e4ndig; du Bois.\nd.\tEine chemische Charakteristik der Todtenstarre ist noch nicht geliefert worden, indem bisher nur Muskeln untersucht werden konnten, welche entweder schon in die Todtenstarre eingetreten waren oder diese gar schon \u00fcberstanden hatten. Man darf aus den von G. Liebig beobachteten Thatsachen dagegen mit einiger Sicherheit schliessen, dass in der Fl\u00fcssigkeit der todtenstarren Muskeln kein freies Sauerstoffgas mehr aufgel\u00f6st sei. Er fand, wie oben angegeben, dass der Verlust der Leistungsf\u00e4higkeit der Muskeln, resp. der Eintritt der Todtenstarre, durch den Aufenthalt in sauerstofffreien Gasarten beschleunigt wurde; hiermit in Leb er ein Stimmung befindet sich die Angabe von Stannius dass am lebenden Thiere diejenigen Muskeln in Todtenstarre versetzt werden k\u00f6nnen, zu welchen der Zutritt des Blutes und damit der des Sauerstoffs abgehalten wurde. \u2014 Weiterhin vermuthet Br\u00fccke, dass im todtenstarren Muskel der Faserstoff oder eine ihm \u00e4hnliche gerinnbare Substanz fest geworden, welche im leistungsf\u00e4higen Muskel fl\u00fcssig zwischen den Bestandtheilen des festen Inhaltes der Muskelr\u00f6hren eingelagert sei; die Gr\u00fcnde f\u00fcr diese Vermuthung findet er: in der offenbaren Analogie die die Erscheinungen des Eintritts der Todtenstarre mit einef\"Gerinnung zeigt, und in der That bieten beide Vorg\u00e4nge eine \u00fcberraschende Aehnlich-keit, wenn man die allm\u00e4lige steigende Tr\u00fcbung und Steifung der Muskeln ins Auge fasst; in der Uebereinstimmung, welche die Todtenstarre r\u00fccksichtlich der Zeiten ihres Eintritts und ihrer L\u00f6sung (durch F\u00e4ulniss) mit den in dem Blute eintretenden Gerinnungserscheinungen bietet* \u2014 Diese Gr\u00fcnde sind scheinbar sehr ersch\u00fcttert worden durch","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Todtenstarre. Chemische Charakteristik.\n347\ndie Untersuchungen von Stannius, welcher nachwiess, dass das in den Muskelffef\u00e4ssen enthaltene Blut noch fl\u00fcssig ist, wenn schon die Todtenstarre eingetreten war und noch mehr dass die schon hereingebrochene Todtenstarre wieder gel\u00f6st, mit andern Worten der Muskel in seinen leistungsf\u00e4higen Zustand zur\u00fcckgef\u00fchrt werden konnte, wenn man den Blutstrom, durch dessen Unterbrechung der Muskel todtenstarr geworden war, wieder durch die Muskelgef\u00e4sse gehen liess. Diese Thatsachen beweissen allerdings, dass wenn die Todtenstarre von einer Gerinnung einer im Muskelrohr enthaltenen Fl\u00fcssigkeit begleitet ist, diese Fl\u00fcssigkeit unter andern Bedingungen gerinnen muss als der Blutfaserstoff. Aber indem man dieses zugibt, verneint man noch nicht die Gegenwart des fl\u00fcssigen Faserstoffs in den Muskeln, da bekanntlich auch die Zeit der im Blut erschei-nenden Gerinnung durch Zusatz von Salzen, das Abhalten der Luft u. s. w. mannigfach modifizirt werden kann. Ebensowenig scheint die Br\u00fcck esche Anschauung durch die Thatsache widerlegt werden zu k\u00f6nnen, dass es nicht gelingt fl\u00fcssigen Faserstoff durch Auspressen der frischen Muskeln zu erhalten, da nach Br\u00fccke w\u00e4hrend des Auspressens die Muskeln todtenstarr werden. \u2014 Wenn nun die Gegenwart des geronnenen Faserstoffs in todtenstarren Muskeln nicht widerlegt ist, so ist sie aber auch mindestens nicht erwiesen; begreiflich kann auch auf anderm Wege als durch die Gerinnung einer faserstoff\u00e4hnlichen Fl\u00fcssigkeit die Steifigkeit und Tr\u00fcbung des todtenstarren Muskels erl\u00e4utert werden und in der That scheint das Verschwinden der electrischen Gegens\u00e4tze, eine Thatsache die zur Zeit der Entstehung jener Vorstellung noch nicht bekannt war, auf eine tiefgreifende chemische Revolution innerhalb des Muskels hinzu-weisen.\nDie Zeit des Eintretens der Todtenstarre im verstorbenen Thier ist eine sehr verschiedene; der Zeitraum, welcher im Menschen und im S\u00e4ugethier nach Ny s t en und Sommer, zwischen dem letzten Athem-zug und der beginnenden Todtenstarre verfliesst, wechselt zwischen zehn Minuten bis achtzehn Stunden. Die auf diesen Punkt bez\u00fcglichen Angaben, haben f\u00fcr den Gerichtsarzt vorerst noch mehr Interesse als f\u00fcr den Physiologen. Hier sei nur folgendes angemerkt. Je leistungsf\u00e4higer ein Muskel w\u00e4hrend des Lebens war, um so rascher f\u00e4llt er der Todtenstarre anheim; heftige Anstrengung der Muskeln vor dem Tode beschleunigen den Eintritt derselben; die Muskeln des Hauptes und Halses werden fr\u00fcher todtenstarr als die der oberen Extremit\u00e4ten und diese fr\u00fcher als die der unteren Gliedmassen; Sommer. \u2014\nDie Todtenstarre stellt nun keinen bleibenden, sondern einen vor\u00fcbergehenden Zustand des Muskels dar; sie verliert sich allm\u00e4lig und zwar nicht allein wie man bisher glaubte, durch die beginnende F\u00e4ul-niss, sondern auch durch den Hinzutritt von arteriellem Blut; Brown-","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nL\u00f6sung der Todtenstarre.\nSequard, Stannius \u2014 Unterbindet man an einem lebenden Kaninchen nach Stannius die aorta abdominalis und gleichzeitig die art. cruralis, so beginnt die Todtenstarre in der hinteren Extremit\u00e4t [und zwar entgegen dem Sommer sehen Gesetz in den Unterschenkeln zuerst] 1 y2 bis 3 Stunden nach vollendeter Operation einzutreten. L\u00f6st man nach vollkommen ausgepr\u00e4gter Starre (bis auf 5 Stunden nach Anlegung der Ligatur) die Unterbindung und stellt dadurch den Blutkreislauf in der hintern Extremit\u00e4t wieder her, so verschwindet die Starre mehr oder weniger vollkommen; die Zeit, welche der wiederhergestellte Blutkreislauf zur Erzielung dieses Erfolges bedurfte, betrug in verschiedenen F\u00e4llen von 20 Minuten bis zu 2 Stunden. \u2014 Die Zeit in welcher der F\u00e4ulnissprozess die L\u00f6sung der Todtenstarre vollbringt, ist eine viel betr\u00e4chtlichere; wechselnd betr\u00e4gt sie nach Erfahrungen von N y s t e n 48 bis 150 Stunden seit dem Eintritt derselben. \u2014 Die einzigen allgemeinen Regeln, welche zahlreiche Erfahrungen r\u00fccksichtlich der Andauer der Todtenstarre geliefert haben sind die, dass sie um so l\u00e4nger anh\u00e4lt, je sp\u00e4ter nach dem Tode sie auftrat. Eine Ausnahme von dieser f\u00fcr alle Thierklassen g\u00fctigen Regel machen nur die Muskeln der Fr\u00f6sche, welche an Strychninvergiftung starben, indem hier die Starre kurz nach dem Tode eintritt und sich erst sehr sp\u00e4t l\u00f6st.\nDie St\u00e4rke der Todtenstarre beurtheilt man nach dem Werth ihres Elastizit\u00e4tscoeffizienten, d. h. nach dem Widerstand den die todten-starren Muskeln der Ausdehnung entgegensetzen; zum Messen der Nachgiebigkeit hat man aber nur sehr selten genaue Versuche ange-x stellt, sondern nur ungef\u00e4hr den Widerstand gesch\u00e4tzt, welchen die todtenstarren Muskeln den zerrenden oder dr\u00fcckenden Bewegungen des Beobachters entgegensetzten. Aus diesen ganz unvollkommenen Versuchen glaubt man sich berechtigt zu den Angaben, dass die leistungsf\u00e4higsten Muskeln in die intensivste Starre gerathen, dass nach dem Tod durch Verblutung beim Menschen die Todtenstarre schw\u00e4cher, bei S\u00e4ugethieren aber st\u00e4rker war u. s. w.\nSo unvollkommen die Angaben \u00fcber die Todtenstarre auch noch sind, so gen\u00fcgen sie doch weitaus um den eingewurzelten Irrthum zu beseitigen, dass die Starre einen der Muskelzusammenziehung verwandter Zustand darstelle. Denn es ergibt sich bei einer Vergleichung der Eigenschaften beider Zust\u00e4nde, die durchgreifendste Verschiedenheit ; in der Zusammenziehung wird der Muskel weicher, in der Todtenstarre h\u00e4rter; in der Zusammenziehung erscheint die negative Schwankung des elektrischen Stromes, in der Starre verschwindet der Strom ; die Starre besteht bei Mangel an Sauerstoff, der zusammengezogene Muskel bedarf demselben; der zusammengezogene Muskel entwickelt W\u00e4rme, der starre keine; der zusammengezogene Muskel erm\u00fcdet im Gegensatz zum starren u. s. w. \u2014","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Muskul\u00f6se Faserzelle.\n349\nB. Physiologie der muskul\u00f6sen Faserzelle.\n1.\tAnatomisches Verhalten*). Die Faserzelle, das anatomische Element der glatten Muskulatur, stellt ein verschiedenartig gestaltetes Bl\u00e4ttchen dar, dessen Ausdehnung nach einer Richtung (der L\u00e4nge) diejenige nach der andern \u00fcberragt; die besonderen Formen ihrer Umgrenzung gleichen bald mehr Spindeln bald einem Oblong. Das einzelne Bl\u00e4ttchen ist aus einer entweder optisch vollkommen homogenen oder einer leicht gestreiften Masse gebildet, in welche eine kleine Zelle, ein sogenannter Kern, constant, eingebettet ist ; K\u00f6 Hiker. \u2014 Die Anwesenheit einer sogenannten Scheide, d. h. eines geschlossenen S\u00e4ckchens, in welchem das Muskelgewebe l\u00e4ge, ist nicht erwiesen. \u2014 Die Faserzellen sind meist mit ihren schmalen Enden zur Bildung von Fasern aneinander gelegt.\n2.\tChemisches Verhalten**). Die Grundsubstanz der Faserzellen theilt alle Eigenth\u00fcmlichkeiten des Inhaltes der quergestreiften Muskelr\u00f6hre; die Fl\u00fcssigkeit, welche die Grundsubstanz durchtr\u00e4nkt, ist nicht .minder der Fl\u00fcssigkeit des rothen Fleisches \u00e4hnlich; nachweislich enth\u00e4lt sie Hypoxanthin, Kreatin, Jnosit, Butter- Milch-und Essigs\u00e4ure, gr\u00f6ssere Mengen von Kali und phosphorsauren Salzen, (Lehmann,) statt des Eiweisses bietet sie jedoch an einzelnen Orten K\u00e4sestoff dar; Schultz e. \u2014 Eine besondere Scheidensubstanz ist auf chemischem Wege nicht nachzuweisen, indem durch Behandlung mit einer verd\u00fcnnten Salzs\u00e4ure (1. p. m. haltende L\u00f6sung) die ganze Masse mit Ausnahme der Kerne in Aufl\u00f6sung kommt. \u2014 Ueber die chemische Natur der Kerne ist nichts ermittelt. \u2014\nDie abweichenden Angaben \u00fcber die Reaktionen der MuskelfliissigkeitaufLaek-muspapier, S chultze fand sie alkalisch (Arterienhaut), Lehmann neutral (tunica dartos) und sauer (tunica muscularis des Magens), sind begreiflich einander nicht widersprechend ; sie stellen die von d u B o i s, an der Fl\u00fcssigkeit des gestreiften Muskels entdeckte Thatsache am glatten vor.\n3.\tPhysiologisches Verhalten. Dieser Muskel besteht in \u00e4hnlichen Zust\u00e4nden wie der quergestreifte. Die Eigenschaften derselben und die Bedingungen ihres Eintritts sind uns aber weit weniger bekannt als bei dem quergestreiften.\na. Verl\u00e4ngerter Zustand. Seine besondern elastischen, chemi-sehen und calorischen Eigenschaften sind noch niemals Gegenstand der Untersuchung gewesen.\nSein elektrisches Verhalten hat du Bois ganz analog dem des ruhenden quergestreiften Muskels gefunden ; der einzige Unterschied, der sich herauszustellen scheint, liegt darin, dass die St\u00e4rke der abgeleiteten Str\u00f6me weitaus nicht so betr\u00e4chtlich ist als die von dem quergestreiften erhaltenen.\n*\u25a0) He nie, Jahresbericht f\u00fcr Fortschritte d. allgem. Anatomie in den Jahren 1847 u. 1850.\n**) Lehmann, physiolog, Chemie III, 64,","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nMuskul\u00f6se Faserzelle.\nb. Verk\u00fcrzter Zustand. Um den glatten Muskel in den verk\u00fcrzten Zustand \u00fcberzuf\u00fchren, ist der Hinzutritt derselben \u00e4usseren Bedingungen nothwendig, welche der quergestreifte bedurfte; wie mit der Ver\u00e4nderung der Eigenschaften des Muskels selbst die Werthe der Verk\u00fcrzung Hand in Hand gehen ist unbekannt.\nDie Form des verk\u00fcrzten glatten Muskels ist noch nicht untersucht; die Maximahverthe der beobachteten Verk\u00fcrzung unter g\u00fcnstigen Bedingungen betragen an der Darmmuskulatur nach Valentin 68 p. C. der L\u00e4ngeneinheit der ruhenden Faser. Die zeitlichen Erscheinungen der Zusammenziehung sind abweichend von denen des quergestreiften Muskels ; indem die im quergestreiften Muskel rasch ineinander \u00fcbergehenden Akte hier sehr viel langsamer aufeinander folgen.\n__ Nach Einwirkung eines momentanen Erregungsmittels auf den\nNerven des Muskels oder auf den Muskel selbst beginnt meist (eine Ausnahme scheint die Iris zu bilden) erst nach Verfluss von einigen Sekunden der Akt der Zusammenziehung merklich zu werden, dann steigt sie sehr allm\u00e4lig an, verharrt scheinbar l\u00e4ngere Zeit auf einem Maximum und kehrt ebenso allm\u00e4lig zum alten Zustand zur\u00fcck. Die Geschwindigkeit der Reihenfolge und Andauer dieser einzelnen Akte ist jedoch an demselben St\u00fcck aus uns unbekannten Gr\u00fcnden sehr wechselnd; dem Anschein nach hat alles andere gleichgesetzt die Intensit\u00e4t des einwirkenden Erregungsmittels einen wesentlichen Einfluss auf die Geschwindigkeit der Zusammenziehung und die Andauer derselben. Ed. Web er der zuerst zeigte, dass diese Langsamkeit der Zuckung eine allgemeine Eigenschaft der glatten Muskelsubstanz sei, schl\u00e4gt vor, ihre Bewegung durch den Namen der organischen von derjenigen der quergestreiften der animalischen zu unterscheiden. \u2014\nDie Eigenschaften der zusammengezogenen Faserzellen sind nicht untersucht. \u2014\nc. Der ver\u00e4nderliche Werth der Nutzwirkung, welchen der glatte Muskel mit der steigenden Verk\u00fcrzung und Last; oder der absolute Werth derselben, den die Querschnitts einheit bei Null Verk\u00fcrzung zu entwicklen vermag, ist der mangelnden Untersuchung \u00fcber die Elastizit\u00e4t halber nicht anzugeben. \u2014 Wegen des sehr allm\u00e4ligen Eintritts und Steigens der Verk\u00fcrzung und der langen Dauer der letztem auf Anwendung eines Erregers von momentaner Dauer ist der glatte Muskel unabh\u00e4ngig von der dauernden Anwesenheit und sich steigernden Intensit\u00e4t der Erreger geschickt, sehr allm\u00e4lige Bewegungen mitzuthei-len und constante Ver\u00e4nderungen in der Ortiage der bewegten Gegenst\u00e4nde zu erzielen. Wir werden die Bedeutung dieser Eigenth\u00fcmlich-keit im thierischen Haushalte noch an mehreren Orten zu erw\u00e4hnen haben.","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der Muskelkr\u00e4fte.\n*\n851\nd. Todten starre. Die todtenstarre Faserzelle charakterisirt sich wie das starre quergestreifte Muskelrohr durch die Einbusse der mechanischen Leistungsf\u00e4higkeit, durch die elektrische Gleichartigkeit des L\u00e4ngen- und Querschnitts und durch eine gr\u00f6ssere Steifigkeit. \u2014\nDer Tod des Thieres f\u00fchrt die Bedingungen ihres Eintritts mit sich. Nach Ny st en erscheint sie bei warmbl\u00fctigen Thieren am Darm 45 bis 55 Minuten nach dem letzten Athemzuge und beginnt sich schon nach 24 Stunden zu l\u00f6sen, Angaben die tausendfache Ausnahmen erleiden d\u00fcrften. \u2014\nZur Theorie der Muskelkr\u00e4fte,\n1. Der Muskel entwickelt zu allen Zeiten seines lebensvollen Bestehens mancherlei Kr\u00e4fte, chemische, elektrische, thermische, mechanische; die Theorie hat zuerst die Aufgabe diese Kr\u00e4fte als Resultirende aus den in den Muskeln eingetretenen elementaren Bedingungen zu entwicklen, und dann nachzuweisen, weich innerer Zusammenhang zwischen diesen Kr\u00e4ften selbst wieder bestehe; ob z. B. ein Theii der mechanischen Leistungen als Folge der thermischen oder elektrischen aufgefasst werden k\u00f6nne. \u2014 Solchen Anforderungen gegen\u00fcber erweist sich aber unser jetziger wissenschaftlicher Erwerb noch als sehr k\u00fcmmerlich.\nMit einiger Sicherheit kann man die Behauptung wagen, dass die W\u00e4rmeentwicklung und die elektrischen Str\u00f6me des Muskels aus einer gemeinsamen Quelle, dem chemischen Umsatz seiner Substanz her-Vorgehen, weil a. diese Wirkungen h\u00e4ufige Folgen der chemischen Umsetzung sind. \u00df. Weil der Entwicklung dieser Kr\u00e4fte im Muskel die Umsetzung wenigstens einzelner Theile desselben parallel geht und diese Umsetzung Produkte (C02) erzeugt, mit deren Bildung immer W\u00e4rmeentwicklung verkn\u00fcpft ist. \u2014 Auf welche Art von chemischer Gruppirung, der Stoffe sich aber die Elektrizit\u00e4tsentwicklung und namentlich die zu verschiedenen Zeiten verschiedene Richtung und St\u00e4rke der Gegens\u00e4tze der Str\u00f6me gr\u00fcnden, bleibt zu ermittlen den Untersuchungen zuk\u00fcnftiger Zeiten Vorbehalten. \u2014\nUeber den Zusammenhang der einzelnen Kr\u00e4fte untereinander l\u00e4sst sich Yermuthungsweise aussprechen, dass die Lagenver\u00e4nderung der Molekeln, durch welche die sogenannte Zusammenziehung bewerkstelligt wird, abh\u00e4ngig sei von ihren elektrischen Spannungen. Diese Yermuthung gr\u00fcndet sich auf den von du Bois erwiesenen Parallelismus zwischen der Leistungsf\u00e4higkeit und der Auspr\u00e4gung der elektromotorischen Kr\u00e4fte, ferner darauf, dass mit der Zusammenziehung nachweislich Lagenver\u00e4nderung der elektromotorisch wirksamen Molekeln vor sich geht. \u2014 Da nun bekanntlich auch die Elektrizit\u00e4t als mechanische Kraft benutzbar ist, so w\u00fcrde es einen auf ganz grundlosem Boden beruhenden Zweifel verrathen, wenn man","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nUebereiiistimmung zwischen Nerv und Muskel.\ndie oben ausgesprochene Yermuthung nicht als eine sehr wahrscheinliche anerkennen wollte. Zur Gewissheit wird die Hypothese freilich erst erhoben werden, wenn man zu entwickeln im Stande ist, dass die Umlagerung, welche die elektrischen Molekeln beim Uebergang des Zustandes, welcher den ruhenden Muskelstrom erzeugt, in denjenigen, welcher der negativen Stromesschwankung angeh\u00f6rt, die Erscheinung der Muskelzusammenziehung nach sich ziehen muss.\nDie Ver\u00e4nderungen der elastischen Eigenschaften, welS\u00eeie w\u00e4hrend der Zusammenziehung hervortreten erl\u00e4utern sich, wie schon einmal erw\u00e4hnt, wenn man der Vorstellung huldigt, dafes im erregten Zu-stand nicht der ganze sondern nur ein Theil des Muskels seine Anziehungskr\u00e4fte \u00e4ndert. Indem dieser Theil, z. B. die elektromotorischen Molekeln, den neuen Anziehungen durch Einnehmen einer andern Stellung Gen\u00fcge zu leisten streben, setzen andere Theile des Muskels z. B. die primitive Scheide oder eingestreute elastische Massen, welche ihre alte Anziehung behaupten, dieser Lagenver\u00e4nderung einen Widerstand entgegen ; wenn nun mit der fortschreitenden Lagenver\u00e4nderung dieser Widerstand im Wachsen begriffen ist, und wenn er namentlich rascher w\u00e4chst als die anziehenden Kr\u00e4fte der Molekeln, so muss es begreiflich dahin kommen, dass die elastischen Kr\u00e4fte mit steigender Verk\u00fcrzung abnehmen.\nDie grosse Aehnlichkeit zwischen den Muskeln und Nerven wird auch ohne dass sie besonders hervorgehoben w\u00fcrde, schon aufgefallen sein. Denn es ist bemerkenswerth dass beide nur unter dem Best\u00e4nde einer bestimmten chemischen Zusammensetzung ihre Lebenseigenschaften behaupten; dass mit der Entwicklung ihrer physiologischen Kr\u00e4fte im ruhenden und th\u00e4tigen Zustande chemische Umsez-zungen in ihnen erfolgen, an denen sich das Sauerstoffgas betheiligt; ferner dass sie eine sehr \u00e4hnliche wenn nicht gleichartige elektrische Constitution besitzen; endlich dass sie von denselben Erregern eine Um\u00e4nderung in ihren molekularen Eigenth\u00fcmlichkeit erleiden. Darum sind aber die beiden Apparate noch nicht identisch, denn es ist zun\u00e4chst ihre mechanische Constitution eine verschiedene; ferner ist die elektrische dadurch als eine voneinander abweichende bezeichnet, dass den Muskeln die dipolare Anordnung (der electrotonische Zustand) der electrischen Molekeln nicht zukommt und endlich ist auch die chemische Zusammensetzung, wie wir aub den Hirnanalysen schliessen d\u00fcrfen eine in vieler Beziehung andere.","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"353\nVerkn\u00fcpfung der Muskeln und Nerren.\nII. Besondere Muskelphysiologie.\nIn hergebrachter Weise umspannnt die besondere Muskel-, lehre die Verbindung der Muskelelemente zu Muskelmassen, und deren Verkn\u00fcpfung mit Sehnen und Scheiden; dieser erste Theil der Aufgabe wird jedoch, da sich nur weniges im allgemeinen dar\u00fcber mittheilen l\u00e4sst, bei den zusammengesetzten Bewegungswerkzeugen beil\u00e4ufig Erw\u00e4hnung finden ; ferner die Beziehungen zwischen Muskel und Nerv und zugleich das Eingreifen der Muskelnerven ineinander, und in die Seelenth\u00e4tigkeiten ; endlich die besondere Art der Verwendung des Muskels zum Bewegen der aus Knochen, Knorpel und B\u00e4ndern zusammengesetzten Maschinen, insbesondere aber derjenigen, welche als das Rumpf-, Gliedmaassen- und Kehlkopfskelet beschrieben werden.\nA. Verkn\u00fcpfimg der Muskeln mit den Nerven.\n1.\tVerbreitung der Nervenr\u00f6hren in den Muskeln*). In allen Muskeln, die einer genauen Untersuchung unterworfen wurden, hat man Nerven gefunden. Diese letztem treten in die k\u00fcrzern quergestreiften Muskeln an einer, in die l\u00e4ngern an mehreren Stellen ein ; an diesen Orten des Eintritts bilden die Nervenr\u00f6hren zahlreiche Plexus und zerstreuen sich dann auf zweierlei Art durch den Muskel. Die weitaus gr\u00f6sste Zahl derselben und namentlich alle breitem R\u00f6hren beginnen sogleich sich vielfach zu theilen; E. Br\u00fccke, Joh. M\u00fcller, R. Wagner; diese Aeste endigen schliesslich auf der Scheide des Muskelrohrs stumpf; Reichert. Nach einer genauen Beschreibung von Reichert, der einzigen die wir besitzen, geschieht die Nervenvertheilung in einem Hautmuskel des Frosches so h\u00e4ufig, dass 7 bis 10 in den Muskel eintretende Nervenr\u00f6hren innerhalb desselben in mindestens 290 bis 340 Aeste zerfallen. Das Lagenver-h\u00e4ltniss dieser Aeste zu den Muskelr\u00f6hren ist weder in ihrem Verlauf noch in ihrem Ende ein regelm\u00e4ssig wiederkehrendes, jedoch scheint es, dass mindestens einmal ein Ast mit einer Muskelr\u00f6hre in Ber\u00fchrung kommt und dass die L\u00e4ngendurchmesser der Nerven\u00e4ste und Muskelr\u00f6hren im allgemeinen sich h\u00e4ufiger kreuzen als parallel laufen. \u2014 Eine geringe Zahl der in die Muskeln eintretenden Nervenr\u00f6hren, nach Bidder und Volkmann 10 bis 12 pCt., geh\u00f6rt zu den feinem; auch sie sollen (jedoch in eine geringere Zahl) von Aesten zerfallen und diese Theilung soll nur sehr allm\u00e4lig geschehen; K\u00f6l-liker; man ist geneigt die letzteren f\u00fcr sensible zu halten.\n2.\tZahlenverh\u00e4ltniss zwischen Muskel- und Nervenr\u00f6hren. Ausser dem Mengenverh\u00e4ltniss zwischen den Muskelelementen und den Aesten der Nervenr\u00f6hren ist auch das zwischen den in einen\n*) K\u00f6lliker, Lehrbuch der mikrosk. Anatomie II. a. 238.\u2014 Reichert, Ueher das Verhalten der .Nervenfaser u. s. w. M\u00fcllers Archiv 1851.\nLudwig, Physiologie I,\n23","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nZahl motorischer Nervenr\u00f6hren innerhalb des Muskels.\nMuskel eintretenden Nervenr\u00f6hren und den in ihm enthaltenen Muskelschl\u00e4uchen von Bedeutung; denn wie das erstere Aufschluss gibt \u00fcber die Gr\u00f6sse der Ber\u00fchrungsfl\u00e4che zwischen Muskel und Nerv, so bestimmt das letztere die Ber\u00fchrungsfl\u00e4che der Muskelnerven mit dem Hirn. In R\u00fccksicht hierauf liegen erst wenige brauchbare Untersuchungen vor; nach diesen laufen z. B. in der Bahn des n. oculo-motorius 15000, in der des n. trochlearis 1100 bis 1200 und in dem n. abducens 2000 bis 2500 R\u00f6hren; Purkinje und Rosenthal; im n. medianus fand Harting*) 22500 und im n. cruralis 35400 R\u00f6hren. Erw\u00e4gt man die bedeutenden Hautfl\u00e4chen, welche ilie letztem beiden Nerven neben sehr umfangreichen Muskeln versorgen, so ist ersichtlich, dass diese letzteren durch eine viel geringere Summe von Nervenr\u00f6hren im Hirn vertreten sind, als die von den erstgenannten drei\nNerven abh\u00e4ngigen.\n3. Ver\u00e4nderung der physiologischen Zust\u00e4nde der Muskeln durch die Nerven. \u2014 Wenn die Muskelnerven in die Art der Erregung gerathen, welche von der negativen Schwankung ihrer elektromotorischen Molekeln begleitet wird, so rufen sie in den ihnen beigeordneten leistungsf\u00e4higen Muskeln Ver\u00e4nderungen hervor. Diese Ver\u00e4nderungen sind ihrer Natur nach verschiedene ja scheinbar entgegengesetzte, denn es kann, ganz allgemein betrachtet, der erregte Nerv ebensowohl die der Verl\u00e4ngerung als die der Verk\u00fcrzung zu Grunde liegende Anordnung der Muskelmolekeln bedingen. Dieser Ausspruch ist jedoch dahin einzuschr\u00e4nken, dass ein und derselbe in Erregung befindliche Nerv nicht beliebig seine zugeh\u00f6rigen Muskeln verl\u00e4ngern oder verk\u00fcrzen k\u00f6nne, sondern dass ein Nerv seine zugeh\u00f6rigen Muskeln entweder nur verk\u00fcrzen oder nur verl\u00e4ngern kann ; gesetzt aber es kann ein Nerv seine zugeh\u00f6rigen Muskeln auch auf beide Arten ver\u00e4ndern, so kann er doch immer nur ein und denselben Zustand bedingen, wofern der Ort des Nerven, an welchem die Erregungsmittel angebracht sind, derselbe bleibt.\na. Verk\u00fcrzung des Muskels durch den erregten Nerven. _ Bei weitem die \u00fcberwiegende Zahl der Muskelnerven f\u00fchrt im erregten Zustand ihre zugeh\u00f6rigen Muskeln in die Verk\u00fcrzung \u00fcber, gleichgiltig an welchem Orte ihres Verlaufes die Mittel wirken, welche sie in Erregung brachten. \u2014 Nachdem wir schon fr\u00fcher dieses Verhalten der Muskelnerven kennen lernten, bleibt uns hier noch \u00fcbrig zu untersuchen : ob die Nerven unter allen Erregern einzig und allein im Stande sind, die im ruhigen Muskel vorhandenen Bedingungen so umzu\u00e4ndern, dass sich derselbe verk\u00fcrze.\nDer Gedanke, dass die Erreger nicht direkt, sondern nur durch\nRecherches micrometriques. Utrecht 1845.","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Verk\u00fcrzung des Muskels durch den Nerven.\n855\nVermittlung der Nerven den Muskel zur Zusammenziehung bringen, musste entstehen, weil dieselben Erreger die auf den Muskel angewendet die Zusammenziehung veranlassen, auch dasselbe vermittelst alleinigen Anspruchs der Nerven leisten, und weil man, indem man den Muskel als Erregungsort w\u00e4hlt, auch jedesmal den Nerven mit in Angriff nimmt, wegen der innigen Verflechtung von Nerv und Muskel. \u2014 Das Interesse, was sich an die Best\u00e4tigung oder Widerlegung dieser Vorstellung kn\u00fcpft, wird ein sehr weitgreifendes, wenn sich, wie geschehen, zugleich an dieselbe die Frage anreiht ob \u00fcberhaupt die Gegenwart der Nerven eine nothwendige Bedingung f\u00fcr die Zusammenziehung resp. das lebensvolle Bestehen des Muskels sei. In diesem weiteren Sinne gefasst kann die Streitfrage nur entschieden werden a) wenn* es gelingt eine Zuckung zu erhalten von einem Muskel der keine Nerven enth\u00e4lt, oder dessen Nerven bis an seine \u00e4ussersten Spitzen funktionell vernichtet sind; \u00df) wenn es m\u00f6glich ist eine Zuckung durch ein Mittel zu erhalten, das den Nerven auf jedem beliebigen Ort seines Verlaufs niemals in Erregung versetzt; y) oder wenn sich aus den Eigenth\u00fcmlichkeiten des Nerven und des Muskels der Nachweiss liefern l\u00e4sst, dass die Nerven zum lebensvollen Bestehen des Muskels nothwendig oder ihm unn\u00f6thig sind, da nur in diesem Falle ein negatives Resultat der unter a und \u00df angedeuteten Versuchsreihen einen allgemein g\u00fctigen Charakter annehmen w\u00fcrde. \u2014 Da die Mittel zur tadelfreien Ausf\u00fchrung der bemerkten Versuche fehlen, so ist unser seit mehr als einem Jahrhundert gef\u00fchrte Streit noch zu keinem Ende gebracht worden; wahrscheinlich ist es aber, dass die Erregung des Nerven nur einen der mannigfachen Umst\u00e4nde darstellt, durch welche der Muskel zur Zusammenziehung veranlasst werden kann. Denn es stimmen die Nerven und Muskeln in so vielen Eigenschaften \u00fcberein und namentlich zeigen sie durch die gleiche Gruppirung ihrer elektromotorisch wirksamen Theile in der Ruhe und Th\u00e4tigkeit so viel Analogie, dass die Annahme nahe liegt, es m\u00f6chten beide Apparate auch gegen dieselben Erreger sich vollkommen gleich oder mindestens sehr analog verhalten, so dass damit erkl\u00e4rt w\u00e4re, warum meist dieselben Einfl\u00fcsse im Nerven und im Muskel die negative Stromesschwankung erzeugen. Noch mehr aber spricht f\u00fcr die Selbstst\u00e4ndigkeit der Muskeln die Thatsache, dass es gelingt Zust\u00e4nde in ihnen zu erzeugen die, wie es wenigstens scheint, denen der Zusammenziehung sehr \u00e4hnlich sind, ohne dass zugleich die Nerven in eine nachweisliche Erregung kommen. Hierzu z\u00e4hlt vor allem der unter dem Namen der W\u00e4rmestarre beschriebene Zustand, der aus diesem Grund vorzugsweise auf seine anderweitigen physikalischen Eigenschaften untersucht zu werden verdiente.\nWir z\u00e4hlen nun noch eine Reihe von Versuchen auf, die zu keinem sichern Resultat f\u00fchren konnten, we\u00fc die zu Grunde liegende Methode eine mangelhafte ist$ sie\n23*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\tIst die Nervenerregung nothwendig zur Mxiskelverk\u00fcrzung.\nberuhen s\u00e4mmtlich auf dem Prinzip den Nerven bei der Erregung zu eliminiren, man stellte sich die Aufgabe Muskeln in Zusammeuziehung zu versetzen, von welchen man die Annahme machte, dass sie \u00fcberhaupt keine Nerven enthielten, a. Zu dem Behuf suchte man an mikroskopischen Muskelst\u00fccken,in denen man keinen Nerven nachweisen konnte, Zusammenziehung zu veranlassen. Gelang dieses, so widerlegte es die Hypothese der nothwendigen Gegenwart der Nerven nicht, weil bei der Schwierigkeit der Beobachtung niemals mit Sicherheit die Abwesenheit aller Nerven behauptet werden kann; misslang es den Muskel in Zusammeuziehung zu bringen, so st\u00fctzte dieses die Hypothese nicht, weil sehr kleine Muskelst\u00fccke ihre Lebenseigenschaften sehr schnell einb\u00fcssen *). b. Oder man suchte Muskelpartien in einer Zeit ihrer Entwickelung auf, in denen sie Beweglichkeit besitzen, ohne dass schon Nerven in ihnen nachgewiesen werden konnten; R. Wagner**). Zu diesen Muskeln geh\u00f6rt u. A. das Herz des H\u00fchnerembryo, das am zweiten Tag der Bebr\u00fctung das rhythmische Spiel seiner Bewegungen beginnt, zu einer Zeit, wo das Nervensystem \u00fcberhaupt noch durchaus keine den sp\u00e4teren analogen Formelemente darbietet; diese und \u00e4hnliche Versuche sind darum beweisunkr\u00e4ftig, weil in jener Zeit auch die Muskeln noch nicht aus Muskelr\u00f6hren zusammengesetzt sind. 2. Man suchte Muskeln in Zusammenziehung zu bringen, deren zugeh\u00f6rige Nerven, ihre Erregbarkeit vor\u00fcbergehend oder f\u00fcr immer eingeb\u00fcsst haben sollten. Hierher sind zu rechnen a. die Beobachtung an den Nerven und Muskeln der Verdauungswerkzeuge ; die Muskelh\u00e4ute dieser Apparate k\u00f6nnen zu Zeiten nur durch direkte Einwirkung der Erreger auf die Muskeln, zu andern aber auch durch eine solche auf die Nerven zur Verk\u00fcrzung gebracht werden, b. Kurz vor dem vollkommenen Absterben der Muskeln sind dieselben nicht mehr von den ihnen zugeh\u00f6rigen Nerven aus, sondern nur durch unmittelbare Ansprache zu verk\u00fcrzen, Harless, Schiff, c. Endlich die sehr zahlreich von Fontana, J. M\u00fcller, Sticker, Nasse, Stannius, Longet u. A. ausgef\u00fchrten Versuchsreihen. Diese fussen auf der Beobachtung, dass die Nervenr\u00f6hren, welche von dem zugeh\u00f6rigen Centralorgane (Hirn oder R\u00fck-kenmark) getrennt sind, in den St\u00fccken ihres Verlaufs, der in dem Nervenstamme geschieht, ihre Erregbarkeit sehr rasch einb\u00fcssen, bei S\u00e4ugethieren gew\u00f6hnlich nach 4 Tagen, w \u00e4hrend der Muskel seine Leistungsf\u00e4higkeit immer 6-bis 12 Wochen bewahrt Als ein constantes Resultat dieser Versuche ergab sich also, dass wenige Tage nach Durchschneidung eines Nerven die Muskeln von dem mit ihm in Verbindung stehenden Stumpf des ersteren nicht mehr in Verk\u00fcrzung gebracht werden konnten, w\u00e4hrend der Muskel durch unmittelbare Einwirkung der Erreger noch nach Wochen und Monaten in Zusammenziehung kam. \u2014 Allen unter dieser Nummer verzeich-neten Versuchen kann der vorerst nicht w^egzur\u00e4umende Eimvand entgegengesetzt werden, dass die Nerven wrohl im Verlauf durch den Stamm, nicht aber innerhalb der Muskeln selbst ihre Erregbarkeit eingeb\u00fcsst haben m\u00f6gen. Dieser Einwurf gewinnt an St\u00e4rke im Hinblick auf das Valli-Ritter\u2019sche Gesetz des Absterbens motorischer Nerven von dem Centralorgane zu der peripherischen Ausbreitung (v. p. 118). Vielleicht liesse sich jetzt, seitdem man die Nervenendigungen in den Muskeln kennt feststellen, ob die Nerven innerhalb derselben bei dem unter c erw\u00e4hnten Versuch \u00e4hnliche Strukturver\u00e4nderungen erlitten haben, als in den St\u00e4mmen. Damit wuirde der gegen ihn erhobene Einwurf beseitigt sein. 3. Man suchte endlich die Erregung des Muskels auf sehr kleine R\u00e4ume zu beschr\u00e4nken, und dann aus der Zergliederung der eintretenden Verk\u00fcrzungen den Bew eis zu ziehen, dass der Muskel Ohne Zuthun der Nerven in Verk\u00fcrzung gerathen sei; Wild, L udwig. Streicht man z. B mit einer fein gesch\u00e4rften Holzkante (einem Scalpellstiel) \u00fcber den Magen eines eben get\u00f6dteten Thiers, so kann man beliebige Formen und Ausbreitungen der Zu-\n*) S. hier\u00fcber besonders R. Wagner. Gott. gel. Anzeigen 1851. N. 14.\n**) G\u00f6ttinger gelehrte Anzeigen 1850, N. 15.","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Verl\u00e4ngerung des Muskels durch den erregten Nerven.\n357\nsammenziehung erzeugen; man findet diese Thatsache in einem scheinbaren Widerspruch mit der durch die Nervenerregung erzeugten Zusammenziehung, da diese sich immer erstrecken m\u00fcsste \u00fcber das ganze Gebiet, welches dem erregenden Nerven unterthan ist. Der Thatsache fehlt aber zum Beweis die Kenntniss der Verkeilung der Nerven in dem Magen \u2014 respective Darmmuskeln.\nb. Verl\u00e4ngerung, des Muskels durch den erregten Nerven. Eine geringe Zahl von Nervenr\u00f6hren scheint \u00fcberraschender Weise wenn sie in den von der negativen Schwankung der elektromotorischen Molekeln begleiteten Erregungszustand kommt eine Verl\u00e4ngerung in den ihnen zugeh\u00f6rigen Muskeln zu erzeugen. Als einzig unzweifelhaftes Beispiel f\u00fcr diese Art des Zusammenhangs zwischen Nerven und Muskeln dient das von Ed. Weber (und Budge ?) entdeckte Verh\u00e4ltniss zwischen dem n. vagus und der Herz^ muskulatur. Erregt man diesen Nerven vor seinem Eintritt in das Herz, so folgen die Schl\u00e4ge dieses letztem in grossem Zwischenr\u00e4umen als vorher, so dass das Herz oft minutenlang in der Erweiterung stille steht, und umgekehrt durchschneidet man den n. vagus, womit die Ausbreitung des Nerven im Herzen dem Hirneinfluss entzogen ist, so mehrt sich die Zahl der Herzschl\u00e4ge in einer ausserordentlichen Weise. Diese Erfahrung bedeutet aber genauer ausgedr\u00fcckt eigentlich etwas anderes, als das, was wir vorhin aus ihr folgerten; denn offenbar berechtigt sie nur zu dem Ausspruch, dass der erregte n. vagus ein die Zusammenziehung des Herzens veranlassendes Moment wegzur\u00e4umen im Stande sei. Dieser Ausspruch schliesst nun wie ersichtlich die Nothwendigkeit der Annahme gar nicht in sich, dass der Nerv geradezu auf den Muskel wirke. In Uebereinstimmung mit dieser Annahme steht die Thatsache, dass der nerv, vagus vor seiner Einsenkung in die Muskeln mit zahlreichen Ganglienkugeln belegt ist, und dass der Nerv, wenn er jenseits der Stellen, in denen er von dieser Masse umgeben ist, erregt wird, die beschleunigte Zusammenziehung des Herzens veranlasst; Hoffa, Ludwig. Man darf hieraus mit einiger Wahrscheinlichkeit schliessen, dass der Nerv, indem er das Herz beruhigt nicht auf die Muskeln\nsondern auf die Ganglienkugeln wirkt.\nEine gr\u00f6ssere Reihe anderer Beispiele, die man meist mit dem eben besprochenen Fall zusammenstellt, ist noch zu dunkel, als dass sie schon einer genaueren Erw\u00e4gung unterworfen werden k\u00f6nnte. Hierher geh\u00f6rt: dass eine durch Reflex eingeleitete Bewegung von dem Willen unterdr\u00fcckt werden kann, wie z. B. die Zusammenziehung des m. orbicularis palpebrarum, wenn ein Schlag gegen das Auge gef\u00fchrt wird; ferner vermuthet mit Wahrscheinlichkeit K\u00f6lliker*), dass die Erektion des penis durch eine von der Nervenerregung eingeleitete Erschlaffung der ca-vernosen* Muskeln erm\u00f6glicht werde u. s. w. Da man in diesen Beispielen nicht einmal den erregenden Einfluss kennt, so w\u00e4re es gedenkbar, dass hier dieser selbst ein anderer w\u00e4re, in Folge dessen m\u00f6glicher Weise die Nerven in einen von der gew\u00f6hnlichen Erregung abweichenden Zustand k\u00e4mmen. Siehe hier\u00fcber noch Reflexbewegung und Willenshemmung.\n'\t*) Verhandlungen der physik. med. Gesellschaft in W\u00fcrzburg II. Nr. 8 u. 9.","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\tAnordnung der Muskelnerven im Hirn und R\u00fcckenmark.\nEine Hypothese \u00fcber das Zustandekommen der Wechselwirkung zwischen Muskeln und Nerven, welche in Uebereinstimmung mit den\nbekannten Thatsachen sich befindet, ist nicht aufgestellt.\nDurch die du Bois\u2019schen Untersuchungen sind vir aber der Hoffnung auf eine solche sehr viel n\u00e4her getreten, und es lassen sieh jetzt schon aus der von ihm entdeckten gleichartigen elektrischen Constitution des Nerven und Muskels mancherlei Vorstellungen, wie \u00fcber die Weiterleitung der Erregung innerhalb des Nerven, so auch \u00fcber die Uebertragung der Erregung aus dem Nerven in den Muskel bilden. Dennoch scheint es geralhener, nicht ins N\u00e4here derselben einzugehen, bevor sie einer genaueren Pr\u00fcfung unterworfen sind.\n\u00ab\n4. Anordnung der Muskelnerven im Hirn und R\u00fcckenmark. Unzweifelhaft sind in dem Hirn und R\u00fcckenmark die Muskelnerven durch irgend welchen Mechanismus in eine solche Beziehung zueinander gebracht, verm\u00f6ge welcher eine einfache r\u00e4umlich und zeitlich beschr\u00e4nkte Erregung eine r\u00e4umlich und zeitlich geordnete Bewegung zu erzeugen vermag. Diese Behauptung ist nichts anderes als der Ausdruck der Thatsachen, dass auf eine vor\u00fcbergehende Erregung eines sensiblen Nerven die eomplizirten Muskelakte des Hustens, Niesens, Sehlingens u. s. f. eintreten; ferner dass die Seele, wenn sie in Leidenschaften befangen ist, wo ihr die F\u00e4higkeit abgeht mit Bewusstsein die Muskeln zu geordneten Bewegungen zu verkn\u00fcpfen, unbewusst einzelne Muskelgruppen in geordneter Weise anregt, die wir gew\u00f6hnlich als die leidenschaftlichen Ausdr\u00fccke des Schmerzes, der Freude, des Zorns u. s. w. bezeichnen; ferner dass die Seele die Bewegungen gewisser Muskeln nicht trennen kann, wie die der Augenmuskeln, des Cirkelmuskels der Iris und des m. rectus internus bulbi, die Heber und Senker des Zungenbeins, die beiderseitig entsprechend gelegenen Muskeln im Gaumensegel, larynx, pharynx, perinaeum u. s. w. Diese Verkn\u00fcpfung bezieht sich nun nicht allein auf ein r\u00e4umliches Nebeneinander, sondern auch auf die zeitliche Reihenfolge, da, wie wir wissen, durch einen momentan wirksamen Willenseinfluss, oder auf reflektorischem Wege durch einen kr\u00e4ftigen aber vor\u00fcbergehenden sensiblen Eindruck eine Bewegung erzeugt werden kann, welche aus einzelnen allm\u00e4lig sich abwickelnden Akten besteht; Beispiele daf\u00fcr bieten die auf willk\u00fcrliche Anregung des Schlundkopfs eingeleiteten peristaltischen Bewegungen der Speiser\u00f6hre u. s. w.\nDie Gewissheit, dass diese Ordnung der Bewegung abh\u00e4ngig sei von den Nervenmassen im Hirn und R\u00fcckenmark, gibt uns die Erfahrung dass nach theilweisen oder g\u00e4nzlichen Zerst\u00f6rungen dieser letzteren den Muskeln die F\u00e4higkeit ein und f\u00fcr allemal fehlt, sich in der angegebenen Weise zu combiniren.\nAuf welche Weise diese Anordnung ausgef\u00fchrt wurde, ist unbekannt. Hindeutungen auf die Art des Zustandekommens dieser Verkn\u00fcpfung liegen jedoch darin, dass derselbe Muskel aus verschiedenen Wurzeln Nervenr\u00f6hren empf\u00e4ngt; ferner dass aus ann\u00e4hernd gleichen Orten des Hirns und R\u00fcckenmarks die Nerven abgehen, wel-","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Muskelsitm.\n359\nche sich zu den Muskeln begeben, die an einer Gruppe von Bewegungen betheiligt sind ; und endlich dass Muskeln, welche in sehr vielfachen Verbindungen mit andern auftreten, auch st\u00e4rkere Nerven-stamme in sich zur Verbreitung bringen, lieber das Einzelne der Einrichtung dieser Bewegungsordner sind wir dagegen noch vollst\u00e4ndig ohne Kenntnisse. Schon bei der Betrachtung der Reflexbewegung wurde hervorgehoben, dass man sie sich nicht als eine einfache, r\u00e4umliche Gruppirung der Nervenr\u00f6hren zu denken habe.\n5. Ver\u00e4nderungen der Empfindungsorgane durch die Muskeln oder Muskelnerven. Muskelsinn.*) Die Mittheilungen, welche der Seele vom jeweiligen Zustande der Muskeln zukommen, \u00e4ussern sich unter verschiedenen Formen.\na. Alle der Willk\u00fcr unterworfenen Muskeln bringen das Bestehen und den Grad ihrer Zusammenziehung zum Bewusstsein ohne jegliche Empfindung innerhalb der bewegten Muskeln. Dieses Bewusstsein \u00e4ussert sich entweder unmittelbar als Vorstellung von der Stellung der Glieder, oder noch h\u00e4ufiger als eine Modifikation unserer aus anderweitigen Erfahrungen gezogenen Urtheile. \u2014 Solche Erscheinungen finden sich ausgesprochen\nIm Tastsinn, a) Die Form eines K\u00f6rpers wird uns nur dann zur Vorstellung, wenn wir mit den beweglichen Gliedern, auf denen tastende Fl\u00e4chen sich befinden, die Form umgreifen. Dass hier die Muskelbewegung das Urtheil der Form wesentlich bedingt, ergibt sich sogleich von selbst, wenn man bedenkt, dass den tastenden Fl\u00e4chen beim Umgreifen eines Cylinders, Viereckes etc. mit den Fingern selbst kein Unterschied in der Empfindung zu Theil werden kann. \u2014 \u00df) Wir beurtheilen aus unseren Bewegungen und aus dem ver\u00e4nderlichen Drucke, welchen tastende Fl\u00e4chen von widerstandleistenden K\u00f6rpern erfahren, die Richtung, in welcher ein Widerstand oder ein Zug auf unsern Organismus wirkt; so z. B. aus Bewegungen des Kopfes die Zugrichtung, welche auf unsere Haare ausge\u00fcbt wird; E. H. Weber. \u2014 y) Wir sch\u00e4tzen die L\u00e4nge eines in der Hand u. s. w. gehaltenen, und gegen eine unbewegliche Unter-lage festgestemmten Gegenstandes aus dem Umfang der Muskelzusammenziehung, die nothwendig ist um ihn um gleiche Winkel in ein und derselben Ebene zu drehen etc. \u2014\nIm Gesichtssinn, a) In das Urtheil \u00fcber die Stellung der gesehenen Gegenst\u00e4nde zum Horizont geht die Vorstellung \u00fcber die Lage des Rumpfes und Kopfes mit ein, wie dies unwiderleglich dadurch bewiesen wird, dass dieselben Netzhautfasern, die von einem Nachbild eingenommen sind, uns beim Aufrechtstehen des Kopfes senkrecht und beim Biegen des Kopfes wagrecht gelagert erscheinen. (R\u00fcte). \u2014 \u00df. Die scheinbare Gr\u00f6sse des gesehenen Objekts ist\n*) E. H. Web er, Tastsinn in Wagners Handw\u00f6rterbuch III. b.","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nMuskelsmn. Gleichgewichtsgef\u00fchl.\nzum Theil abh\u00e4ngig von dem Zustande der Accommodationsmuskeln, wie daraus erwiesen ist, dass genau dieselbe Netzhautfl\u00e4che sehr verschiedene Vorstellungen von ihrer Gr\u00f6sse erweckt, je nachdem man das Auge auf einen fernen oder einen nahen Gegenstand eingestellt hat, wie aus dem instruktiven Versuche p. 251 hervorgeht. \u2014 7) Wir beurtheilen die Entfernung eines Gegenstandes aus dem Grad der Zusammenziehung und der Art der Verbindung, in welcher sich die einzelnen Augenmuskeln befinden ; wie daraus hervorgeht, dass wir denselben Gegenstand, wenn auch seine absoluten Entfernung von der Netzhaut nicht ver\u00e4ndert wird, in sehr verschiedene Entfernungen sehen k\u00f6nnen, je nachdem wir denselben mit mehr oder weniger convergirenden Augen betrachten; H. Meyer. \u2014 d) Die Bewegung eines gesehenen Gegenstandes sch\u00e4tzen wir endlich aus der Bewegung unserer Augen, der des Kopfes und Rumpfes, und der gleichzeitigen Bewegung des Bildes \u00fcber die Retina, wie unzweifelhaft die Thatsache erweist, dass ein Gegenstand uns ruhend oder bewegt erscheint, je nachdem sein Bild \u00fcber die Retina gef\u00fchrt wird, w\u00e4hrend einer selbstst\u00e4ndigen Bewegung des Rumpfes, Kopfes oder Auges, oder w\u00e4hrend Rumpf, Kopf und Auge ohne Hinzuthun der ihnen zugeh\u00f6rigen Muskeln weitergeschoben werden. \u2014\nGef\u00fchl des Gleichgewichtes, Schwindel. Aus dieser stetigen Einwirkung der Muskeln auf das Hirn scheint auch das Bewusstsein des Gleichgewichtes hervorzugehen; es m\u00f6chte wenigstens schwer sein dieses eigenth\u00fcmliche, unwillk\u00fcrliche Bestreben anders zu erl\u00e4utern, in Folge dessen bei einer Verr\u00fcckung des Schwerpunktes unseres Rumpfes, jedesmal eine Bewegung zur neuen Unterst\u00fctzung desselben unternommen wird. Henle.\nEndlich wird durch das Bewusstsein von dem Grad der Muskelspannung die F\u00e4higkeit bedingt, Gewichte ihrer Gr\u00f6sse nach zu sch\u00e4tzen. Dieses Verm\u00f6gen ist von allen den erw\u00e4hnten dasjenige, welches einer genauen Untersuchung, und zwar durch E. H. \\Veb er unterworfen worden ist. Um die Sch\u00e4tzung der Gewichte, wie sie aus dem Druck auf die Hautnerven geschieht nicht einwirken zu lassen, liess er die Hand ein mit Gewichten beschwertes Tuch fassen, so dass kein Druck von Seiten des Gewichtes auf die Haut der Hand ausge\u00fcbt, sondern das Tuch nur durch Reibung festgehalten wurde; in allen F\u00e4llen wurde das Tuch m\u00f6glichst fest zwischen die Hautfl\u00e4chen gedr\u00fcckt, viel fester als n\u00f6-thig, um dasselbe zu halten. Selbst unge\u00fcbte Personen konnten dann noch aus zwei Gewichten, von denen das eine 78, das andere 80 Unzen betrug, das leichtere aussuchen.\nb. Die Muskeln, gleichgiltig ob sie der Willk\u00fcr unterworfen, oder ihr nicht unterworfen sind, erzeugen unter bestimmten Umst\u00e4nden und zwar meist entweder w\u00e4hrend des Bestehens (langdauernder oder heftiger) Zusammenziehungen, oder auch im unmittelbaren Ge-","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Muskelgef\u00fchle. Zur Theorie des Muskelsinns.\n361\nfolge ihres Nachlasses Empfindungen, die mit dem ganz bestimmten Bewusstsein vom Orte der Empfindung begleitet sind. \u2014\nDiese Empfindungen sind ebenfalls von E. H. Weber genauer untersucht. W\u00e4hrend die Muskeln auf Brennen und Schneiden etc. kaum eine Empfindung geben, erwecken sie einen fast unertr\u00e4glichen Schmerz durch sehr intensive Zusammenziehung (z. B. beim Wadenkrampf), oder wenn sie sehr lange, selbst in sehr m\u00e4ssiger Zusammenziehung erhalten wurden (Erm\u00fcdung). In diesem letzten Fall \u00fcberdauert der Schmerz die Zusammenziehung oft sehr lange Zeit. Diese Empfindung tritt auch in den unwillk\u00fcrlich beweglichen Muskeln wie in denen der D\u00e4rme, dem Uterus, vielleicht in der Contraktion des Magens (als Hunger ?) oder der glatten Muskelfasern der cutis (als Ameisenkriechen, Kitzeln u. dgl.) ein.\nc. Es scheint, als ob einige Muskeln im Stande w\u00e4ren (vermittelst der Nerven) dem verl\u00e4ngerten Mark oder andern Hirntheilen durch den Zustand der Zusammenziehung Erregungen mitzutheilen, welche Reflexbewegungen in andern Muskeln ausl\u00f6ssten. Diese F\u00e4lle scheinen selten zu sein und ihre Erkl\u00e4rung steht noch nicht ganz fest, wir verweisen auf die Schlund - und Darmbewegung bei der Lehre von der Verdauung.\nOb die Nerven, die dem Muskelsinne dienen, und diejenigen, welche die Muskelbewegung veranlassen dieselben sind, ist gegenw\u00e4rtig schwer zu entscheiden. *) Es w\u00e4re denkbar und nicht unwahrscheinlich, dass alle Einfl\u00fcsse, welche durch willk\u00fcrliche Nerven auf unsere Vorstellungen und sinnlichen Urtheile ausge\u00fcbt werden, sogleich durch den Akt der willk\u00fcrlichen Erregung geschehen, so dass die Willensanstrengung nach einer oder der andern Richtung hin als ein Element in unser Urtheil aufgenommen'w\u00fcrde. Diese Meinung findet ihre St\u00fctze darin, dass die das Urtheil bestimmenden Bewegungen in den \u00fcberwiegend meisten F\u00e4llen gar nicht als Muskelempfindungen auftreten. \u2014 Anderseits ist es dagegen wahrscheinlich, dass die 'Muskelgef\u00fchle und Muskelschmerzen sogenannten sensiblen Nervenr\u00f6hren ihren Ursprung verdanken, weil 1. fast allen urspr\u00fcnglich nur motorischen Nervenwurzeln auf ihrem Weg zu den Muskeln sensible beigemengt werden ; so den n. n. facialis, oeulomotorius,hypo-glossus u. s. w. 2. Weil man in unwillk\u00fcrlich beweglichen Muskeln ebenso heftige Schmerzen empfindet, als in willk\u00fchrlich beweglichen.\n3.\tWeil selbst die heftigsten Erregungsmittel auf die mit dem R\u00fcckenmark und Hirn in Verbindung stehenden vordem oder motorischen Nervenwurzeln angewendet keinen Schmerz erzeugen (Bell sches Gesetz.)\n4.\tWeil endlich die nach dauernden Anstrengungen in den Muskeln entstehenden Schmerzen noch Stunden und selbst Tage lang nach dem Aufh\u00f6ren der Erregung motorischer Nerven bestehen. Das Unternehmen\n*\nSpiess, Physiologie des Nervensystems, Braunschweig 1844. p. T6.","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"1\n\\\n362\tRumpf- und Glieder-Skelet.\neine solche Wirkung als Nachempfindung zu deuten, m\u00f6chte schwer seine Rechtfertigung in der Analogie finden; das Ph\u00e4nomen erl\u00e4utert sich dagegen einfach, wenn man annimmt, dass die Schmerzen durch Erregungsmittel bedingt werden, die aus der chemischen Destruktion der Muskeln hervorgehen, und die auf die in den Muskeln vorhandenen sensiblen Nerven wirken. Solche Destruktionen sind nun aber bekanntlich immer die Folgen anhaltender Bewegung.\nGegen diese Reihe von Gr\u00fcnden l\u00e4sst sich nur geltend machen, dass auch die Muskeln auf Angriffe, als Zerschneiden, Brennen etc., die sonst in sensiblen Nerven sehr lebhafte Schmerzen erwecken, nie oder selten mit Schmerzens\u00e4usserungen antworten. Dieser Einwand ist aber nicht einmal bindend, weil auch viele andere nachweislich sensible Fl\u00e4chen (Magenfl\u00e4che, Speiser\u00f6hre u. s. w.) erst schmerzen, wenn die wenigen in ihnen enthaltenen sensiblen Nervenr\u00f6hren in ganz besondern Erregbarkeitszust\u00e4nden sich finden.\nDie Verbindungen der Muskeln mit den besondern Erregungsquellen, und namentlich mit den Organen des Willens, der automatischen Erregung und der reflektorischen Uebertragung w\u00fcrden nun zu behandeln sein. R\u00fccksichtlich der Stellung der Muskelnerven zum Willen verweisen wir auf Seelen Wirkung; den k\u00e4rglichen Betrachtungen \u00fcber Reflex und Automatie, die wir schon gaben, ist nichts weiter zuzuf\u00fcgen.\nB. Das Skelet mit seinen Muskeln.\nDie folgende Betrachtung fasst das Skelet mit seinen Muskeln einzig von dem mechanischen Gesichtspunkt auf. In diesem Sinne stellt es ein Bewegungswerkzeug dar, das sich aus tr\u00e4gen, empfangene Bewegung \u00fcbertragenden (Knochen, Knorpelgebilden, B\u00e4nder, Sehnen) und aus lebendigen, freie Kr\u00e4fte erzeugenden Massen (Muskeln) zusammensetzt; oder nach einer andern Seite hin ausgedr\u00fcckt, das Skelet ist eine, mannigfache Zusammenordnung zahlreicher Hebel, welche von den zwischen liegenden Muskeln bewegt werden. \u2014\nMit Hilfe der bekannten mechanischen Prinzipien w\u00fcrde das Skelet und seine Bewegungen vollkommen zu verstehen sein, man w\u00fcrde eben so leicht jede noch so complizirte Leistung desselben aus ihren einfachen Bedingungen erl\u00e4utern k\u00f6nnen, als man auch alle seine Verrichtungen im Voraus zu bestimmen im Stande w\u00e4re, wenn die mechanischen Eigenschaften desselben aufgedeckt sein w\u00fcrden. Zu diesen w\u00e4re aber zu z\u00e4hlen, 1. die Festigkeit, die Elastizit\u00e4t und das spezifische Gewicht des Baumaterials s\u00e4mmtlicher Tr\u00e4ger und lebendiger Theile. 2. Die Form und das Gewicht der Hebel, die Lage der St\u00fctzpunkte und der Angriffspunkte der Kr\u00e4fte an ihnen. 3. Die Verbindungen der Hebel unter einander, insbesondere die Art, die Festigkeit und die Beweglichkeit derselben. 4. Die Kraft und die Richtung, mit welcher die Muskeln gegen die einzelnen Angriffspunkte angehen, und in welcher Ausdehnung sie sich verk\u00fcrzen.","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Baumittel des Skelets. Knochenmasse.\n363\nUnternimmt man nun den Versuch, von diesem Gesichtspunkte aus die Darstellung des Skelets durchzuf\u00fchren, so gewahrt man bald, dass ihm von Seiten der Anatomen fast noch nirgends vorgearbeitet ist; sie beschreiben fast \u00fcberall statt der wesentlichen die unwesentlichen Dinge. Darum ist es auch vollkommen unm\u00f6glich, die inhaltreichsten Fragen einer Beantwortung entgegenzuf\u00fchren, z. B. die nach der Harmonie des Skelets mit den \u00fcbrigen K\u00f6rperbestand-theilen d. h. warum gerade diese und keine andere mechanischen Prinzipien f\u00fcr den Aufbau des Skelets verwandt werden mussten, bei der gegebenen Leistung der Yerdauungskr\u00e4fte des Herzens und der von dem Skelet zu liefernden Arbeit; ferner die Ableitung der Grenzen innerhalb der sich das Yolum eines Skelettheils mindern oder mehren darf, wenn einer der \u00fcbrigen Skelettheile gegeben ist; ferner durch welche Mittel ein, z. B. durch Krankheit ausfallender Theil compensirt wird und wie weit diese Vertretung m\u00f6glich; welche Muskeln und Nerven sich an einzelnen Bewegungen betheiligen u. s. f. u. s. f.\nBaumittel des Skelets.\nDie Formen der tr\u00e4gen Skeletbestandtheile sind dargestellt aus Knorpel-, Knochen- und Bandmasse.\nDie* Knochenmasse verdankt im mechanischen Bez\u00fcge ihre wichtigsten Eigenschaften dem Umstand, dass in ein elastisches von Wasser durchtr\u00e4nkbares Grundgewebe eine kalkartige nicht oxydirbare Masse inkrustirt ist, in gerade hinreichender Menge um dieser einen hohen Grad von Steifheit und Festigkeit zu geben, so dass sie die Ei-genth\u00fcmlichkeit der Metalle und der Steine verbindet. \u2014 Eine Bestimmung des Coeffizienten der Federkraft und Festigkeit der Knochensubstanz \u00fcberhaupt ist mit den bisher ben\u00fctzten Methoden nicht m\u00f6glich.\nDie Festigkeit und Federkraft der Knochenmasse muss, wie aus der Natur der Sache hervorgeht, mit der Zusammensetzung, und noch mehr mit dem Gehalt an Mark -kan\u00e4lchen, Knochenh\u00f6hlen u. s. w. wechseln; die beiden Eigenschaften mussten darum als Funktionen dieser Bedingungen bestimmt werden. Die Untersuchungen von Wer t-h eim*) sind darum nur von Bedeutung insofern sie zeigen, dass im Allgemeinen bei Anh\u00e4ngen von Gewichten an m\u00f6glichst gleichartige Knochenstreifen die Verl\u00e4ngerungen direkt proporional mit der Vermehrung der Gewichte steigen ; dass in der Knochenmasse des Waden- und Schenkelbeins der absolute Werth des Elastizit\u00e4ts-coelfizienten mit dem Alter steigt und endlich, dass weder der Elastit\u00e4ts- noch der Coh\u00e4sionsmodul in \u00eainfacher Beziehung zu dem spezifischen Gewicht des Knochens steht. Die W e r t h e i m\u2019sche Untersuchung ergab :\nKnochens treifen.\tGeschlecht.\tAlter.\tspec. Gewicht.\tElastiz. Coeff.\tFestigkeit.\nder femur .\t.\tweiblich\t21 Jahr\t1,968\t2181\t6,87\n- perone\tweiblich\t21 -\t1,940\t2710\t10,26\n- femur.\t.\tm\u00e4nnlich\t30 -\t1,984\t1819\t10,50\n- perone\tm\u00e4nnlich\t30\t-\t0\t1,997\t2059\t15,03\n- femur .\t.\tweiblich\t-60 -\t1,849\t2421\t6,40\n- perone\tweiblich\t60 -\t1,799\t\u2014\t3,30\n- femur.\t.\tm\u00e4nnlich\t74 -\t1,987\t2838\t7,30\n- perone\tm\u00e4nnlich\t74 -\t1,947\t\u2014\t4,33\n*) Annal, de chim. et physiq. XXI. 184T.","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"/ .\n364\tKnorpel- und Bandmasse. Form der Knochen.\nIn dieser Tabelle bedeutet die Festigkeit das Gewicht in Kilogrammen, welches n\u00f6thig war, um ein \u25a1 mm. Substanz zum Zerreissen zu bringen. Alle \u00fcbrigen Zahlen und Bezeichnungen sind f\u00fcr sich verst\u00e4ndlich.\nDas Gewebe der Knorpel zeichnet sich vor dem der Knochen durch Biegsamkeit aus; neben dieser Biegsamkeit zeigt es jedoch eine grosse Z\u00e4higkeit, welche aber namentlich in einzelnen Richtungen gr\u00f6sser als in andern ist. Einen besondern Charakter erh\u00e4lt es noch durch die zahlreichen mit incompressibler Fl\u00fcssigkeit erf\u00fcllten H\u00f6hlen, welche zwischen seine festen Massen gelagert sind. Allge-meingiltige Coh\u00e4sions- und Elastizit\u00e4tsmoduli sind aus \u00e4hnlichem Grunde wie bei den Knochen nicht bestimmbar.\nZur Bildung der Bandmassen sind bekanntlich verschiedene Elementargebilde benutzt; namentlich gibt es elastische, Bindege webs-und Fett-B\u00e4nder; von allgemeinerer Wichtigkeit sind Bindegewebs-und elastische B\u00e4nder vorz\u00fcglich dadurch, dass sie bei niedern Spannungsgraden sehr dehnbar, bei h\u00f6heren dagegen sehr steif sind, und ferner dadurch, dass sie bei ihrer grossen Dehnbarkeit eine ausserordentliche Festigkeit besitzen. \u2014\nForm der Knochen.\nDie Form besitzt Antheil an der Bestimmung der Widerstandsf\u00e4higkeit der Knochenmasse; ferner an der Richtung, Art und Ausdeh-n\u00fcng der Beweglichkeit der Knochen aneinander; ferner an der Wirkung des auf sie ausge\u00fcbten Muskelzuges, vornehmlich ob dieser letztere Druck oder Bewegung erzeuge ; ferner welchen Umfang und welche Geschwindigkeit die auf den Knochen \u00fcbertragene Bewegung gewinne.\nEin und derselbe Stoss wird den Zusammenhang derselben Masse je nach ihrer Yertheilung im Raume zu l\u00f6sen oder nicht zu l\u00f6sen verm\u00f6gen; bei gleichbleibender Anordnung und wechselnder Richtung eines Stosses wird die Masse dem Angriff bald widerstehen oder durch ihn zerbrechen\u00bb Diesen allgemeinen Grundsatz hat die Mechanik in seine Einzelheiten verfolgt und namentlich hat sie festgestellt, welche Widerstandsf\u00e4higkeit dieselbe Masse je nachdem sie als Platte, S\u00e4ule, W\u00fcrfel, Kegel u. s. w. geformt ist dem Stoss und Druck entgegensetzt, wenn letztere senkrecht, parallel oder drehend gegen die verschiedenen Ebenen und Kanten jener Gebilde treffen\u00bb Man hat es bis dahin vers\u00e4umt in einer genauer durchgef\u00fchrten Untersuchung eine Anwendung dieser Regeln auf die Osteographie zu machen, so dass sich ausser selbst verst\u00e4ndlichen Dingen, w. z. B. ein R\u00f6hrenknochen, welcher an einem Ende befestigt ist, zerbricht leichter durch einen Stoss der senkrecht gegen die L\u00e4ngenachse geht als durch einen der gegen die Cylinderbasis trifft u. s. w., nichts sagen l\u00e4sst. Soweit aber eine oberfl\u00e4chliche Betrachtung Einsicht gestattet, ist das menschliche Skelet den hier einschlagenden Regeln der Mechanik gem\u00e4ss gebaut, so dass z. B. Knochen und Knochenabtheilungen, welche grosse Lasten zu tragen, kr\u00e4ftigere Muskelz\u00fcge zu\n\\","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Form der Knochen.\n365\nerleiden haben, nicht allein massiver sind, sondern auch den zerdr\u00fck-kenden Kr\u00e4ften in der Richtung gr\u00f6ssten Widerstandes entgegen-treten, oder dass wenn dieser Regel entgegen starke Dr\u00fccke senkrecht gegen gr\u00f6ssere d\u00fcnne Platten gehen, diese nicht aus einem, sondern einer gr\u00f6sseren Zahl klotzf\u00f6rmiger Knochen bestehen u. s. w.\nDie Jtichtung, nach welcher sich zwei ber\u00fchrende Knochen aneinander bewegen lassen, findet eine ihrer wesentlichen Bestimmungen in der Form der sich treffenden Fl\u00e4chen; je nachdem diese s\u00e4ulenartig, kegelf\u00f6rmig, kugelig u. s. w. geformt sind wird der eine auf dem andern Knochen in dieser oder jener oder in mehrere Ebenen verschiebbar sein. Der Umfang m\u00f6glicher Bewegung w\u00e4chst sowohl mit der freien Stellung, die den Fl\u00e4chen an den Knochenenden zukommen, als auch mit der Zahl der Grade, die ihre Kr\u00fcmmungen umschliessen, vorausgesetzt dass dieselbe um einen Mittelpunkt gehen, oder wenn dieses nicht der Fall, mit ihren Ausdehnungen. Die Festigkeit der Verbindung endlich, soAveit sie vom Knochen selbst abh\u00e4ngt, steigt mit der Vermehrung der sich ber\u00fchrenden Punkte. Auch diese wichtige Verh\u00e4ltnisse sind bisher meist ganz oberfl\u00e4chlich behandelt, so dass eine Einordnung der einzelnen Knochenformen in ein auf die vorliegenden Grunds\u00e4tze gebautes System unm\u00f6glich ist.\nDie L\u00e4ngen und namentlich die Abst\u00e4nde der freien und eingelenkten Enden eines Knochens, der als Halbmesser um einen Drehpunkt oder eine Drehachse einen Kreis beschreibt, bestimmen das Verh\u00e4ltnis der Geschwindigkeit am Ende und Anfang des Knochens. Die Richtungen des Knochens gegen den Gelenkfortsatz, insbesondere gegen die Achse der Bewegung, weissen den ziehenden Muskelkr\u00e4ften ihren Ansatzwinkel an, d. h. denjenigen, welchen die Richtung der Muskelkr\u00e4fte mit ihrem zugeh\u00f6rigen Hebelarm bildet. Je mehr sich dieser Ansatzwinkel dem rechten n\u00e4hert, ein um so gr\u00f6sserer Antheil der Muskelkraft wird zur Ortsver\u00e4nderung und ein um so kleinerer zur Zusammenpressung der Gelenkenden verwendet. Je breiter endlich die nach einer Richtung hin sehende Fl\u00e4che ist, welche der Knochen den sich an sie setzenden Muskelfasern bietet, um so weniger AA^erden die zu einem Muskel zusammengefassten R\u00f6hren gegen diesen Knochen hin convergiren, so dass grosse Mengen gleich langer in gleicher Richtung wirkender Muskelr\u00f6hren hier entspringen k\u00f6nnen.\nDemn\u00e4chst w\u00e4re nun zu untersuchen, welche Folgen aus der Verbindung mehrerer Knochenformen entstehen; d.h. AA7ie sich der folgende Knochen gestalten muss r\u00fccksichtlich seiner Gelenkfl\u00e4che und der Gr\u00f6sse und Lage seiner Muskelansatzorte, wenn der vorhergehende gegeben ist. UnzAveifelhaft d\u00fcrften sich dann allgemeine mathematische Ausdr\u00fccke nicht allein f\u00fcr jeden Knochen, sondern auch f\u00fcr die zu einem kleineren oder gr\u00f6sseren System verbundenen herausstellen. Daf\u00fcr b\u00fcrgt uns nicht allein die immerhin noch ausserordentliche","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\tVerbindungen der Knochen.\nUebereinstimmung der Form der Knochen bei den verschiedensten Menschen, sondern noch mehr, dass trotz aller bestehenden Abweichungen dieser Formen, gewisse unwillk\u00fcrliche Leistungen des Skelets von allen Menschen auf ganz \u00e4hnliche Art erzeugt werden, mit andern Worten, dass trotz der sichtbaren Abweichung der betheiligten Einzelkr\u00e4fte doch immer dieselbe Resultirende zum Vorschein kommt, die wir mit dem trivialen Ausdruck, Gehen, Schwimmen, Sitzen u. s. w. bezeichnen. Diese auffallende Erscheinung einer gleichen Resultirenden bei abweichenden Componenten findet vielleicht darin ihre Erkl\u00e4rung, dass die constanten und w\u00easentlichen Eigenschaften des Skelets zu tief liegen, als dass wir sie durch eine nur oberfl\u00e4chliche oder sog. anatomische Beobachtung sogleich herausfinden k\u00f6nnten. Diese Yermuthung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, weil z. B. auch die Drehpunkte, die Achsen der Gelenke u. dgl. gar nicht als besonders wichtige Theile f\u00fcr das Auge ausgepr\u00e4gt sind. M\u00f6glicher Weise gleichen sich aber auch durch jedesmalige Abweichungen nach entgegengesetzten Richtungen hin die St\u00f6rungen aus, so dass wenn ein Knochen eine Form annimmt, welche dem Zustandekommen einer gewissen Resultirenden hinderlich ist, dieser hemmende Einfluss durch eine Abweichung aufgehoben wird, welche ein anderer Knochen nach\nentgegengesetzter Richtung erlangt.\nDiese Untersuchungen, die allen Scharfsinn des theoretischen Mechanikers erfordern, wurden die Osteologie aus dem traurigen Zustand heben, in den sie versunken ist. Die Resultate solcher Forschungen, zusammengehalten mit den Einfl\u00fcssen, welche die Aussenwelt auf die Weichtheile und durch sie auf das Knochensystem \u00fcbt, w\u00fcrden dann zu den h\u00f6chsten Aufgaben der Morphologie f\u00fchren, nemlich zu den Fragen \u00fcber die Stellung des Skelets in der Reihe organischer Wesen. Schon jetzt erscheint es uns ohne alle tiefer eingehende Ueberlegung sinnvoll, dass ein Gebilde von dem spezifischen Gewicht des menschlichen K\u00f6rpers als St\u00fctzpunkt seiner Bewegung den festen Boden ben\u00fctzt; dass die Masse des festen K\u00f6rpers, wenn sie sich einmal auf zwei Beinen bewegt, in vorzugsweise senkrechter Richtung aufgeth\u00fcrmt wurde und zwar in einer Aufeinanderfolge und Verkeilung, welche dem Schwerpunkt der Gesammtmasse seine Lage ann\u00e4hernd in der Horizontal ebene der Schenkelk\u00f6pfe anweist. Voll innerer Nothwendigkeit erhebt sich von dem Rumpf in das vorzugsweise schallleitende, durchsichtige, geruchf\u00fchrende Medium der Kopf als Tr\u00e4ger der Sinneswerkzeuge, durch seine Beweglichkeit zur Umschau bef\u00e4higt.\nVerbindungen der Knochen.\n1. Ausser der Verbindung durch N\u00e4hte, welche meist so innig ist, dass sie nur den Gewalten nachgibt, welche stark genug sind um den Knochen zu zerbrechen, kommen zwei wesentlich verschiedene Arten von Gelenken vor, die man in der Anatomie als Synchondrosen und Artikulationen beschreibt. Die Synchondrose zeichnet sich der Form nach dadurch aus, dass in ihr die einander gegen\u00fcberstehenden Knochenenden durch steife Weichtheile, Knorpel und B\u00e4nder, verwachsen sind. R\u00fccksichtlich der Bewegung ist sie dadurch charak-terisirt, dass sie den Knochenst\u00fccken, welche sie verbindet, eine bestimmte Lagerung gegeneinander anweist, aus der sie nur durch einen","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Synchondrose, Artikulation.\n867\ngewissen Kraftaufwand entfernt werden k\u00f6nnet!. Die verbindenden Zwischenst\u00fccke sind nun von dem beweglichen Rippenknorpel durch die ligamenta intervertebralia hindurch bis zur symphysis sacroiliaca von einer sehr verschiedenen Festigkeit und Steifigkeit. Einzelne Synchondrosen sind endlich noch dadurch verwickelt, dass die einander zugekehrten Kpochenfl\u00e4chen bis zu dem Grade uneben gestaltet sind* dass schon bei einer geringen Verbiegung des Knorpels die Knochen aneinanderstossen. Da die Verschiebung der synchondrisch verbundenen Knochenmasse aus ihrer Ruhelage nur in Folge von Verdrehung, Einknikung, Verk\u00fcrzung und Verl\u00e4ngerung der elastischen Zwischenst\u00fccke gesehen kann, so ergibt der Augenschein, dass die Beweglichkeit der Synchondrose [oder sch\u00e4rfer ausgedr\u00fcckt, der Umfang ihrer Winkelbiegung im Verh\u00e4ltnis zur Gr\u00f6sse der bewegenden Kr\u00e4fte] im Allgemeinen w\u00e4chst mit der L\u00e4nge und abnimmt mit der Vergr\u00f6sserung des Querschnittes der verbindenden Masse. Bei der Mannigfaltigkeit in der Zusammensetzung des Bindest\u00fcckes aus Knorpel, Fett und elastischem Bindegewebe, l\u00e4sst sich jedoch keine vergleichende Bestimmung \u00fcber die Beweglichkeit der einzelnen Synchondrosen geben.\nDie Artikulation ist zu definiren als das Gelenk, welches zwischen zwei sich ber\u00fchrenden freien Knochenenden besteht; diese Gelenke haben noch ganz besondere Hilfswerkzeuge als Zugabe erhalten. Namentlich bestehen diese aus knorpeligen oder faserigen Ueberz\u00fcgen der Gelenkfl\u00e4chen ; aus Bandmassen, welche von einem Gelenkende zum andern \u00fcberspringen, in die unter Umst\u00e4nden noch Spannmuskeln, Deckknochen, Bandbr\u00fccken und Fettpolster eingelagert sind; aus der schl\u00fcpfrigen, Reibung vermindernden Gelenkschmiere ; endlich in der Luftleere der Gelenkh\u00f6hle, welche durch Ventile und Capseimembranen erhalten wird. \u2014 Der allgemeinen Form der Fl\u00e4che nach kann man die Artikulationen eintheilen in solche, deren beide Fl\u00e4chen nach demselben Gesetz gebogen sind, wo dann beide immer Rotationsfl\u00e4chen sind ; und in solche, deren beide Fl\u00e4chen nach einem verschiedenen Gesetze sich kr\u00fcmmen.\na. Gelenke mit Fl\u00e4chen von einem Kr\u00fcmmungsgesetz. Zu dieser Gruppe geh\u00f4r\u00e9n die Kugel-, Kegel- und S\u00e4ulengelenke u. s. w. Ihre Fl\u00e4chen stellen niemals den ganzen Umfang einer Kugel, einer S\u00e4ule u. s. w., sondern immer nur ein Bruchst\u00fcck derselben dar. Da von den zu einem Gelenk geh\u00f6rigen Fl\u00e4chen die eine immer concav und die andere entsprechend convex gebogen ist, so sind beide ihrem gr\u00f6ssten Theile nach in jeglicher Stellung des Gelenkes in Ber\u00fchrung.\nZur Beurtheilung der Richtung und Gr\u00f6sse der Bewegung dient: Die Bewegung geschieht bei dem Kugelgelenk um den Mittelpunkt der Kugel, bei den \u00fcbrigen um die Achse der Rotationsfl\u00e4che. Die Ausdehnung der Bewegung wird bestimmt durch die Zahl von Graden, welche das an dem einen der beiden Gelenkenden wirklich dargestellte St\u00fcck der","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nGelenke mit Rotationsfl\u00e4chen.\nRotationsfl\u00e4che umspannt, durch das Vorhandensein oder Fehlen von Knochenvorsprungen in der Gelenkumgebung, durch die Spannung oder Torsion der Gelenkb\u00e4nder. Diese letzteren sind bei Kugel-, Kegel- und S\u00e4ulengelenken verschiedentlich eingerichtet. Beim Kugelgelenk werden sie durch einfache Streifen dargestellt, welche jedesmal die einander grade gegen\u00fcberliegenden Punkte der Gelenkr\u00e4nder verbinden; diese B\u00e4nder gen\u00fcgen, um die Drehung nach allen m\u00f6glichen Achsen zu hemmen welche \u00fcber einen gewissen Umfang hinausgehen. Denn geschieht die Bewegung derartig, dass die Bandstreifen der einen Seite erschlafft werden, so m\u00fcssen sich die der entgegengesetzten spannen; verschieben sich aber die in der Ruhe einander gegen\u00fcberliegenden Punkte der Gelenkr\u00e4nder, so werden alle Bandstreifen in einem gewissen Grad verdreht. \u2014 Das S\u00e4ulengelenk, der reine Ginglymus der Anatomen, empf\u00e4ngt seine Hemmung durch B\u00e4nder, welche sich excentrisch in dem Kreise ansetzen, in welchem das Gelenk sich dreht, welche mit andern Worten ihren Ursprung an dem einen der Knochen nicht in, sondern neben der Gelenkachse finden ; solche B\u00e4nder Fig. 94 sind aber nur dann bekanntlich im Minimum ihrer Spannung, wenn sich ihre Ansatzpunkte an den beiden Knochen A,B und der Einschnittspunkt der Gelenkachse auf die Knochenoberfl\u00e4che C in einer geraden Linie befinden, und beide Ansatzpunkte zugleich auf derselben Seite der Gelenkachse liegen. \u2014 Die Hemmungsb\u00e4nder des Kegelgelenkes Fig. 95 sind schief gegen die Achse A A gestellt; wenn wie meistenteils zwei in entgegengesetzten Richtungen verlaufende B\u00e4nder BB und CC vorhanden sind, so wird durch eine Bewegung aus der Stellung, in welcher beide B\u00e4nder in mittlerer Spannung B liegen, das eine derselben (BB\u2018) an und das andre (CC') abgespannt werden. \u2014 Alle Gelenke erfahren zudem noch Beschr\u00e4nkungen durch Muskeln, Sehnen, Fettpolster u. s. w. \u2014 b. Den Gelenkenden, deren zugekehrte Fl\u00e4chen nach verschiedenen Gesetzen gebogen sind, kommt meist eine sehr complizirte Form zu, so dass sogar \u00f6fter ein jedes Ende Abschnitte ganz verschiedener Biegung tr\u00e4gt, die nicht auf ein und dieselbe Curve zur\u00fcckf\u00fchrbar sind; oder es sind sogar die beiden Fl\u00e4chen nicht in unmittelbarer Ber\u00fchrung, indem sich zwischen\nFig. 94.\na\u00bb...,,* \u2018 \u00c6A2' rj\n\u00c4\u00dc'V\nA","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Unterkiefergelenk.\n369\ndieselben noch knorpelig elastische Massen, die Menisci, einf\u00fcgen. Aus dieser Angabe folgt, dass die Zahl der Ber\u00fchrungspunkte beider Gelenkfl\u00e4chen je nach ihrer Stellung sehr wechseln muss. Ueber ihre Beweglichkeit l\u00e4sst sich im Allgemeinen nichts aussagen.\n2. Die folgende Betrachtung der Gelenke im Einzelnen soll durch ihre L\u00fcckenhaftigkeit zu neuen Untersuchungen auffordern.\nUnterkiefergel enk.\nSeine Sch\u00e4delfl\u00e4che a a stellt hinten eine Grube und vorn einen H\u00fccker dar; die Fl\u00e4che des Gelenkkopfes b ist wenigstens keinem Umdrehungsk\u00f6rper angeh\u00f6rig ; auf dem Kopf schleift ein Meniscus der\nvorn und hinten ff, a an der Sch\u00e4delfl\u00e4che , rechts und links an dem Gelenkkopfe befestigt ist. Das Gelenk ist in seinen zwei ihm zukommenden Stellungen verschieden beweglich, a. Der Kopf steht in der hintern Grube, der Meniscus klemmt sich fest zwischen tuberculum articulare und den Gelenkkopf, so dass er die vordere Wand der Gelenkfl\u00e4che bildet; sein vorderes Verbindungsst\u00fcck mit der Schl\u00e4fenfl\u00e4che ist stark genug gespannt, um sich bei der Bewegung des Gelenkkopfes nicht zu verr\u00fccken. Die Bewegung geschiehtin dieser Stellung um eine Achse, die durch die l\u00e4ngste Ausdehnung (von rechts nach links) des Gelenkkopfes geht, nach Art derjenigen eines S\u00e4ulen- oder Cylinder-gelenks. Hemmungen f\u00fcr die Bewegungen geben die Z\u00e4hne, das Gelenk der entgegengesetzten Seite, und die zwischen process, mastoideus und dem Unterkieferast eingeklemmten Theile ab. \u2014 b. Der Gelenkkopf steht auf dem tubercul. articulare, der Meniscus legt sich gegen die hintere Fl\u00e4che des Kopfes, und ist durch seine hintere Verbindung mit der Schl\u00e4fenfl\u00e4che festgestellt; bei den Bewegungen folgt er dem Gelenkkopfe. Die Bewegung selbst geschieht durch Verr\u00fcckung des ganzen Gelenk-kopfs nach vorn oder nach aussen und nicht durch Abwicklung seiner Fl\u00e4chen indem die Achse um welche die Drehung geschieht durch das gespanntelig. laterale externum bestimmt ist; H. Meyer. Die Hemmung geschieht durch das ligamentum laterale extern., den Meniscus, die hintern Backenz\u00e4hne und die mm. masseter und pterygoideus internus. \u2014 Durch allm\u00e4ligen Uebergang beider Bewegungsweisen in einander entsteht der Anschein einer Rotation um eine auf die l\u00e4ngste Ausdehnung des Kopfes senkrechte Achse. \u2014 Beide Kiefergelenke gehen entweder in ihrer Bewegung gleichzeitig und gleichstark, oder es Ludwig, Physiologie I.\t24\nFig. 96.","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nGelenke am Hinterhaupt, Atlas lind Epistropheus.\nkann das eine festgestellt und das andere um dasselbe im Kreisbogen gezogen werden.\nGelenk zwischen Hinterhaupt und Atlas. Beide Gelenkenden schliesen genau auf einander; sie sind mit doppelter, ungleicher Kr\u00fcmmung versehen; die Kr\u00fcmmung von rechts nach links, (von welcher Fig. 97 den Durchschnitt gibt; A ist das occiput, B der Atlas) ist\nFig. 97.\nmit einem gr\u00f6sseren Halbmesser beschrieben als die von vorn nach hinten gehende. Aus diesem Grunde sind in diesem Gelenke Bewegungen um zwei Achsen m\u00f6glich von denen eine von vorn nach hinten und die andre von rechts nach links geht; die Bewegungen um eine senkrechte Achse , die Kopfverdrehung, kann dagegen nicht in ihm vorgenommen werden. \u2014 Die Ausdehnung der m\u00f6glichen Bewegungen ist nicht unbetr\u00e4chtlich , da die copvexen Fl\u00e4chen des Hinterhauptes die concaven des Atlas um ein bedeutendes \u00fcbertreffen. Als Hemmungen der Bewegung wirken, ausser den benachbarten Knochenvorspr\u00fcngen, ligam. obturatorium anterius et posterius und der apparat, ligamentosus.\nGelenk zwischen Atlas und Epistropheus. \u2014 Zu ihm geh\u00f6ren an jedem Wirbel drei Fl\u00e4chen; und zwar zwei schwach schief ansteigende an den proc. obliqui und an dem Zahnfortsatz xesp. am vordem Atlasbogen. H. Meyer glaubt diese Fl\u00e4chen auf St\u00fccke eines Kegels mit concaver Erzeugungslinie zur\u00fcckf\u00fchren zu k\u00f6nnen, dessen Achse mitten durch den Zahn, parallel seiner gr\u00f6ssten L\u00e4nge geht. Um diese Achse geschieht auch die einzig m\u00f6gliche Bewegung. Der Gang am Zahn ist durch das ligamentum transversum gesichert. Die Hemmung geschieht durch das ligamentum longitudinale anterius, die lig. alaria propria (zum Zahn) und accessoria (zum Epistropheusk\u00f6rper) (H. Meyer) in der bei dem Kegelgelenk erw\u00e4hnten Weise. \u2014 Die Ausdehnung der Bewegung ist unbekannt.\nGelenke zwischen den \u00fcbrigen Wirbeln *). Von den mannigfachen Verbindungs- und Ber\u00fchrungsst\u00fccken der Wirbel soll zuerst die Synchondrose durch das lig. intervertebrale in Betracht gezogen werden. Diese B\u00e4nder bestehen an ihrer Peripherie aus ineinandergesteckten\n*) E.H. Weber, Hildebrand\u2019s Anatomie II. Bd. p. 145 u. 161. \u2014 Ed. n. W. Weber, Mechanik der Gehwerkzeuge \u00a7. 42 u. f. \u2014 Ein Manuscript von H. Meyer. \u2014 E.H. Weher, lieber den Bau des Seehundes. Leipziger Berichte II, 128.","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"371\nWirbe\u00eegelenke 5 lig. intervert\u00e9brale.\nfibr\u00f6s-knorpeligen aufrecht gestellten R\u00f6hren; E. H. Weber. In den R\u00e4umen zwischen den einzelnen R\u00f6hren finden sich als Ausf\u00fcllungsmittel Fettmassen, die in Bindegewebe geh\u00fcllt sind. Im innersten Rohr, also im Centrum des Intervertebralbandes liegt ebenfalls ein aus Fett und Bindgew^ebe bestehender Inhalt, der Kern, eingeschlossen. Die Ansicht eines Durchschnittes senkrecht auf die Achse der Cylinder gew\u00e4hrt Fig. 98. Der Kern ist aber in dem innersten Rohre nicht\nFig. 98.\tblos locker eingelagert, sondern\ner findet sich in ihm in einem betr\u00e4chtlich comprimirten Zustand, so dass er von der umgebenden H\u00fclle befreit, einen gr\u00f6sseren Raum, als in der normalen Lage einnimmt. Diese Spannung des Kerns, der wahrscheinlich von endosmotischen Wirkungen herr\u00fchrt, \u00fcbt einen Druck auf seine Umgebungen, der wohl nach allen Richtungen hin mit gleicher St\u00e4rke geschieht, weil der Kern fl\u00fcssige und halbfl\u00fcssige Substanzen enth\u00e4lt.\nN\u00e4chst dieser erhalten die lig. intervertrebralia eine weitere Spannung bei der aufrechten Stellung durch die Schwere der \u00fcberliegenden Theile; dieselbe wird ungleich stark auf die hintere und vordere Seite des Intervertebralknorpels wirken, weil der gespannte nucleus als einHypomoch-lion angesehen werden muss , um welches sich die seitlichen Theile drehen, wenn ein einseitiger Druck auf sie f\u00e4llt. H. Meyer glaubt behaupten z\u00fc d\u00fcrfen unter Annahme eines gegen den Horizont senkrechten Druckes der auf die vordere H\u00e4lfte der oberen Fl\u00e4che der Wirbelk\u00f6rper f\u00e4llt, dass die gr\u00f6sste Spannung in der Brustwirbels\u00e4ule an der hinteren Wand und in der Lendenwirbels\u00e4ule an der vorderen Wand gelegen sei, w\u00e4hrend in dem Uebergang einer zur andern Kr\u00fcmmung sie allseitig gleichstark bestehe. Ausser diesen allgemeingiltigen Yerh\u00e4ltnissen zeigen die einzelnen Intervertebralb\u00e4nder bekanntlich noch Yerschiedenheiten r\u00fccksichtlich ihrer Dimensionen, die von Ed. Weber genauer bestimmt sind. Nach Ed. Weber w\u00e4chst der Diameter der Querschnitte, die er ann\u00e4hernd als Kreise betrachtet von dem obersten Halsknorpel bis zum vorletzten Lendenknorpel von 14,7 bis 29,5 M. M. Die aus diesen Bestimmungen fliessende Berechnung des Fl\u00e4cheninhalts darf nur ann\u00e4hernd als richtig betrachtet werden, weil in der That die Querschnitte keine Kreise, sondern am Hals und Lendenwirbels\u00e4ule eine elliptisch, an der R\u00fck-kenwirbels\u00e4ule eine herzf\u00f6rmig begrenzte Fl\u00e4che darstellen. \u2014 Die H\u00f6he der Knorpel nimmt in dem von Weber gemessenen Fall vom obersten bis zum untersten Intervertebralknorpel mit mancherlei Spr\u00fcngen von 2,7 bis 10,9 M. M. zu. \u2014 Aus diesen Thatsachen scheint der Schluss erlaubt, dass die Intervertebralknorpel der Hals-\n24*","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nWirbelgelenke; lig. longitudinalia 11. flava; processus obliqui.\nWirbel durch dasselbe Gewicht betr\u00e4chtlicher gedreht und geknickt werden k\u00f6nnen, als die der Lendenwirbel und diese betr\u00e4chtlicher als die der Brustwirbel.\nft\nEd. Weber hat, um die Vorstellung \u00fcber die Beweglichkeit der Wirbels\u00e4ule, insofern sie von den Intervertebralknorpeln abh\u00e4ngt, noch sch\u00e4rfer zu fassen, s\u00e4mmtliche Knorpel der Halswirbels\u00e4ule und ebenso die des R\u00fccken- und die des Lendentheils zu einem einzigen addirt. Indem er jedes dieser drei St\u00fccke als Cylinder von gleichartiger Struktur und gleichen accessorischen Spannungen betrachtete, und annahm, dass eine sie beugende Kraft parallel der Achse dieses Cylinders wirke, fand er, dass f\u00fcr gleiche Kr\u00e4fte der Beugungswinkel der Hals-, Brust- und Lendens\u00e4ule sich verhalten w\u00fcrde nahe wie 846 : 29T : 298. Selbstverst\u00e4ndlich sind diese Zahlen kein Ausdruck f\u00fcr das Verli\u00e4ltniss der Beweglichkeit an den zugeh\u00f6rigen Wirbels\u00e4ulest\u00fccken.\nDie ligamenta longitudinale anterius und posterius, welche die hin-tere und vordere Fl\u00e4che der Wirbelk\u00f6rper \u00fcberziehen sind als Verst\u00e4rkungen der ligamenta intervertebralia anzusehen und zu beurtliei-len. Das ligamentum fl\u00e4vum, das sich bekanntlich zwischen die Bogen legt, ist als eine Verst\u00e4rkung des ligam. long, posterius zu betrachten, welche an einem l\u00e4ngern Hebelarm wirkt.\nDie Bewegung der Wirbels\u00e4ule w\u00fcrde, wenn sie nur von den Intervertebralknorpeln abh\u00e4ngig w\u00e4re, an allen Orten ungef\u00e4hr mit gleicher Leichtigkeit nach,allen Richtungen hin geschehen; die einzige Ungleichheit, die hier vorkommmen k\u00f6nnte, w\u00fcrde bedingt sein durch die bald mehr hinten, bald mehr vorn gesteigerte Spannung der Wandungen, und durch das Gegen\u00fcbertreten des steifen Brustbeins und der Brustwirbel. Da nun aber in der That an verschiedenen Stellen der Wirbels\u00e4ule die Bewegung mit ungleicher Leichtigkeit nach verschiedenen Richtungen hin stattfindet, so m\u00fcssen sich noch andere Beschr\u00e4nkungen finden. Diese letzteren liegen in den Gelenkfl\u00e4chen der schiefen Forts\u00e4tze, welche ausser dieser Bestimmung auch noch darum von Bedeutung sind, weil sie als steife K\u00f6rper die Intervertebralknorpel vor einer Zusammenpressung durch\nFig. 99.\tdas K\u00f6rpergewicht sch\u00fctzen. Um\neine Vorstellung von der Gelenkfl\u00e4che zu erhalten, schneiden wir dieselbe nach drei aufeinander senkrechten Richtungen. EinSchnitt gef\u00fchrt parallel mit der L\u00e4ngenachse der Wirbels\u00e4ule von vorn nach hinten, ergibt, dass in den oberen Halswirbeln, Fig. 99, die Gelenkfl\u00e4che A A einen sehr kleinen Win-\nkelmit demHorizont bildet,w\u00e4hrend\nein gleicher durch dieLendenwirbel,","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Schiefe Forts\u00e4tze.\n373\nFig. 100.\tFig. 100, e(n sehr steiles\nAbfallen der Gelenkfl\u00e4che darlegt. Demnach wird in den Halswirbeln die Beugung und Streckung durch die schiefen Forts\u00e4tze keine Hemmung erfahren, w\u00e4hrend sie in den Lendenwirbeln wohl nur m\u00f6glich ist, wenn die beiden Gelenkfl\u00e4chen sich in ir-gend welchemUmfang von einander abheben. \u2014 Ein Durchschnitt parallel mit der Wirbels\u00e4ule von rechts nach links, zeigt dass die Halswirbel, Fig. 101, mit Leichtigkeit in dieser Ebenebewegtwerdenk\u00f6nnen, da die den beid\u00e8n Gelenken angeh\u00f6rigen Fl\u00e4chen, ann\u00e4hernd wenigstens einem und demselben Kreisbogen angeh\u00f6ren. In der Lendenwirbels\u00e4ule (Fig. 102.) ist dagegen die Be-wegungnurm\u00f6glichjWenn sich w\u00e4hrend derselben die Fl\u00e4chen von einander heben, da die den beiden schiefen Forts\u00e4tzen angeh\u00f6rigen Gelenkfl\u00e4chen einander parallel laufen. \u2014 Zur Drehung um eine L\u00e4ngsachse sind, wie die Durchschnitte 103. 104. 105 lehren , nur Hals- und R\u00fcckenwirbel bef\u00e4higt,\nFig. 102.\n\\","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nBeweglichkeit der Wirbels\u00e4ule.\nFig. 104\ndenn nur bei diesen (103. 104), geh\u00f6rt die Durchschnitts-Linie beider Fl\u00e4chen A, A demselben Kreise an, w\u00e4hrend die beiden Gelenkforts\u00e4tze in der Lendenwirbel - S\u00e4ule, wie die Z\u00e4hne eines Zahnrades gestellt sind und somit grade-zu jedeDrehung in der Horizontal - Ebene hemmen; E. H. Web er. Die Drehungen der Hals- und Brustwirbel unterscheiden sich voneinander dadurch, dass der Drehungsmittelpunkt der ersteren gegen die Dorsalforts\u00e4tze, der der letzteren gegen die Wirbelk\u00f6rper gelegen ist. \u2014 Nach E. H. u. E d. W e -her, welche \u00fcber die Beweglichkeit der Wirbels\u00e4ule Beobachtungen angestellt haben, kann die Halswirbels\u00e4ule nach allen Richtungen sich biegen und drehen ; der Brustwirbels\u00e4ule fehlt das Verm\u00f6gen der Beugung und Streckung, w\u00e4hrend die Lendenwirbels\u00e4ule sich nicht um ihre L\u00e4ngeachse drehen kann; dagegen vermag sie sich rechts, links, vorw\u00e4rts und r\u00fcckw\u00e4rts zu beugen. Diese letzten beiden Bewegungen kann sie aber in gr\u00f6sster Ausdehnung an ihren Grenzen gegen die Brustwirbel und das Kreuzbein ausf\u00fchren. \u2014 Der Winkel, welchen der","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Symphysen des Beckens,\n375\nKopf von vorn nach hinten zu umschreiben im Stande ist, vorausgesetzt , dass er sich nur auf den kleinen Gelenken und der Halswirbels\u00e4ule bewegt, betr\u00e4gt nach Ed. Weber in Mittel 161\u00b0, w\u00e4hrend der Beugungswinkel der Lendenwirbels\u00e4ule nur 84\u00b0 umgreift. \u2014\nSymphyses sacroiliacae und ossium pubis. Da diese drei Synchondrosen von ann\u00e4hernd gleicher Festigkeit sind und an demselben Ringe sitzen, so geschieht ihre Bewegung immer gleichzeitig; bei dem grossen Widerstande, welchen die breiten und kurzen Knorpelmassen einer jeglichen Yerbiegung entgegensetzen, geh\u00f6ren sehr betr\u00e4chtliche Kr\u00e4fte dazu, um eine merkliche Bewegung in den durch sie vereinigten Knochen zu veranlassen. Diese tritt u. A. ein, wenn zu der des Rumpfs, noch andere grosse Lasten an die Wirbels\u00e4ule geh\u00e4ngt werden. Da die Erl\u00e4uterung dieses Falles, welche H. Meyer gegeben hat, gen\u00fcgt, um eine Einsicht in den Mechanismus der Bewegung zu gewinnen, so werden wir uns auf die Zergliederung desselben beschr\u00e4nken Wir setzen die Bedingung, dass eine zum Horizont senkrecht gerichtete Last die schief abgestutzte Kreuzbeinfl\u00e4che treffe, und dass die Schwerlinie, (ein vom Schwerpunkt der Last gegen den Boden gef\u00e4lltes Perpendikel) unterst\u00fctzt sei von der Verbindungslinie zwischen den Mittelpunkten der Schenkelk\u00f6pfe. Zur Yersinnlichung des Hergangs, insbesondere der an der Kreuzdarmbeinsynchondrose eintretenden Bewegung soll die Fig. 106 dienen; sie stellt einen Durchschnitt durch das\nFig. 106.\nBecken dar, welcher durch den Ber\u00fchrungspunkt der Schwerlinie und der Kreuzbeinfl\u00e4che A, und die Drehpunkte der beiden Schenkelk\u00f6pfe BB bestimmt ist. Der senkrechte Druck, w'elcher auf die schiefe Kreuzbeinfl\u00e4che f\u00e4llt, wird dieselbe nach unten und hinten dr\u00fccken; der ersten dieser Druckrichtungen wird Folge gegeben werden k\u00f6nnen, da das","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nRippengelenke ; Brust-Schl\u00fcsselbeingelenk\u00bb\nKreuzbein nach Art eines Keils mit nach oben sehender Spitze zwischen dem Darmbein ruht CC, DD. Entsteht aber in der That eine Bewegung, so werden die obern Theile des Darmbeins, welche noch besonders durch Bandmassen an dem Kreuzbein h\u00e4ngen, zugleich mit nach unten gezogen, so dass sich die Schambeinfuge namentlich ihr arcus pubis entsprechend spannt. Diese Spannung der Symphyse wird dann nach Entfernung des Druckes dem Darmbein wieder behilflich sein zur Annahme seiner alten Stellung. Durch die zweite Druckwirkung, nach hinten, wird das Kreuzbein aber nur an das Darmbein gepresst, da der Knochenbau keine Bewegung erlaubt.\nRipp engelenke. Die Rippe ist bekanntlich dreimal an relativ festen Fl\u00e4chen angelehnt. Zuerst an die Wirbelk\u00f6rper ; die Kr\u00fcmmung nach der die Fl\u00e4chen dieses Gelenkes gebogen, ist nicht genauer bestimmt; jedenfalls ist hier nur geringe Verschiebung m\u00f6glich, theils wegen der ligam. capituli radiatum, posterius und colli costae, theils wegen des ligam. interarticulare, welches bekanntlich nach Art eines Meniscus die Gelenkh\u00f6hle in 2 Abtheilungen bringt. \u2014 An der zweiten Anlehnung in welcher die Rippe an den processus transversus liegt, gehen zwei scheinbar ebene Fl\u00e4chen aufeinander; auch hier ist die Beweglichkeit sehr untergeordnet; es kann wegen des ligam. costae transversarium und wegen der gegenseitigenLage von Rippe undOuer-fortsatz eine nur geringe Erhebung und Senkung geschehen, welche zudem noch durch das ligam. colli costae gehemmt ist. \u2014 Beide Gelenkfl\u00e4chen am Wirbelk\u00f6rper und Querfortsatz k\u00f6nnte man als zu einer Kegelfl\u00e4che geh\u00f6rig ansehen, und von diesem Gesichtspunkt aus die Bewegungen der Rippe construiren, wenn sie nicht nach vorn durch den Rippenknorpel an das Brustbein geheftet w\u00e4re. Wegen dieser drei, nicht in einer geraden Linie liegenden Befestigungspunkte kann sich aber die Rippe, wie Helmholtz zuerst hervorgehoben, nur durch Verbiegungen in ihrer Masse, durch Ver\u00e4nderung ihrer Gestalt bewegen. Die Beweglichkeit der Rippe wird demgem\u00e4ss abh\u00e4ngen von der Biegsamkeit der Knochen und Knorpelsubstanz aus der sie besteht. Da diese Massen aber immer einen merklichen Steifigkeitsgrad zeigen, und an den drei erw\u00e4hnten Punkten festgestellt sind, so wird die Rippe eine stabile Gleichgewichtslage besitzen, in die sie immer zur\u00fcckzukehren strebt, wenn man sie nach oben oder unten daraus entfernt hat.\nBrust-Schl\u00fcsselbeingelenk. Die Gelenkfl\u00e4che des Sternums ist in der Richtung von hinten zu vorn convex nach oben gebogen, Fig. 107^; von innen zu aussen ist sie concav nach oben Fig. 108 A. Die Kr\u00fcmmungsgesetze beider Fl\u00e4chen sind unbekannt. Die Kr\u00fcmmung des Schl\u00fcsselbeinkopfes von hinten zu vorn, entfernt sich wenigstens nicht allzusehr von einer Kreislinie Fig. 107 B; auch im Durchschnitt des Kopfes von rechts zu links Fig.\u2019 108 B bietet sich am obern innern Theil eine sehr schwache, am \u00e4ussern untern Theil","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Gelenke zwischen Schulterblatt, Schl\u00fcsselbein u. Oberarm.\tS77\nFig. lOT.\neine starke Kr\u00fcmmung, die vielleicht einem Kreis angeh\u00f6rt. Zwischen beiden Gelenkfl\u00e4chen ist ein starker Meniscus eingeschoben, der vorn und innen vorz\u00fcglich an dem Schl\u00fcsselbeinkopf, aussen und hinten aber an der Sternaifl\u00e4che liegt; somit erscheint er auf jedem der beiden dargestellten Schnitte CC.\u2014 Der letztem Biegung entsprechend kann der Schl\u00fcsselbeinkopf von hinten nach vorn rollen, um eine Achse, welche im Allgemeinen durch ihn horizontal in der Richtung von vorn nach hinten geht; diese Bewegung hebt und senkt das Schl\u00fcsselbein; Beschr\u00e4nkungen erleidet sie durch das Aufrollen des Meniscus, das ligam. interclaviculare, costoclaviculare und die erste Rippe. \u2014 Die andere dem Schl\u00fcsselbein zukommende Bewegung, bei weicher sein K\u00f6rper von hinten nach vorn tritt, ist weniger klar; es l\u00e4sst sich \u00fcber dieselbe ohne eine genauere noch fehlende Untersuchung nur aus-sagen, dass die Bewegung gehemmmt werde durch das lig. coraco-cla-vicularia und den meniscus. Dieses wichtige und complizirte Gelenk verdient vor allem eine gr\u00fcndliche Untersuchung.\nSchulterblatt-Schl\u00fcsselbeingelenk. Um dieses schmale Gelenk sind verschiedene Verbiegungen des Schulterblatts zul\u00e4ssig; zuerst ein Vor-und R\u00fcckw\u00e4rtsr\u00fccken desselben. Diese Bewegung wird gehemmt durch einen starken Sehnenstreifen, der von der Mitte des Schl\u00fcsselbeins zum proc. coracoideus tritt, welcher sich anspannt, wenn das Schulterblatt nach hinten geht. Diese Bewegung addirt sich zu der entsprechenden des Schl\u00fcsselbeins am Sternum. Eine zweite Bewegung f\u00fchrt das Schulterblatt um eine Achse aus, welche von dem untern Winkel desselben gegen dieses Gelenk zu ziehen ist. Diese Bewegung, bei welcher sich der untere Schulterblattwinkel von der Rippe abhebt, wird durch einen Bandstreifen gehemmt, der auf der hintern Rumpffl\u00e4che von innen nach aussen, von den Rippen zum Schulterblatt l\u00e4uft.\nAchselgelenk. Der Mittelpunkt, um welchen die kugeligen Gelenkfl\u00e4chen beschrieben sind, liegt im Oberarmbein ungef\u00e4hr in glei-\n\\","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nEllenbogen- und Supiuationsgelenk.\neher H\u00f6he mit dem tuberculum majus. Die beiden Fl\u00e4chen am Schulterblatt und Oberarmbein, welche aufeinander gehen, sind ungleich gross ; die kleine geh\u00f6rt dem Schulterblatt an. Denkt man sich diese letztere auf eine Ebene projizirt, so stellt sie ungef\u00e4hr ein Dreieck dar, dessen H\u00f6he (von oben nach unten laufend) die Breite betr\u00e4chtlich \u00fcberwiegt ; die obere Spitze dieses Dreiecks kommt nach der Schulterh\u00f6he hin zu stehen. Hemmungen der Bewegung geben ab das acromion, der proc. coracoideus, ligam. caraco-acromiale und die an das Gelenk verlaufenden Muskeln. Da auch dieses Gelenk luftleer ist, so wird die Fl\u00e4che durch den Luftdruck zusammengepresst. D\u00e4 aber die Ausdehnung dieser Fl\u00e4chen noch nicht ermittelt ist, und ebensowenig das mittlere Gewicht des Arms, so l\u00e4sst sich nicht angeben, in welchem Yerh\u00e4ltniss das Gewicht der dr\u00fcckenden Lufts\u00e4ule und dasjenige des Arms zueinander stehen. Aus der chirurgischen Erfahrung, dass nach L\u00e4hmungen der Oberarmmuskulatur Yerrenkung des Gelenks erfolgt (B a um), scheint hervorzugehen, dass der Luftdruck den Arm nicht allein tr\u00e4gt.\nELienbogengelenk. Das Ulnargelenk l\u00e4uft auf einem zur Sicherung des einseitigen Ganges von rechts nach links ausgebogenen Cylinder; die Achse des Gelenkes geht durch die beiden Condy-len, und ber\u00fchrt namentlich deren Fl\u00e4chen an dem Ansatzpunkt der\nligamenta lateralia. Die Ber\u00fchrung der beiden Gelenkfl\u00e4chen wird n\u00e4chst dem Luftdruck durch die ligamenta lateralia bewerkstelligt; Hemmungen geben die processus eonoideus und anconaeus.\nDas Radialgelenk ist ein flaches Kugelsegment ; sein Drehpunkt f\u00e4llt in die Achse des Ulnargelenkes ; es ist darum im Stande den Bewegungen desselben zu folgen. Ausser dieser ist ihm nur noch eine andere Drehung um die Supinationsachse m\u00f6glich ; die Bewegung nach der dritten Richtung gegen die Mittellinie des Arms ist ihm wegen der Einspannung des Radius an der Ulna versagt.\nSupinations- und Pronations - Gelenke. Sie werden durch vier zueinandergeh\u00f6rige Gelenkfl\u00e4chen dargestellt : zwischen der superficies capitata humeri und dem radius; dem capitulum radii und fossa sigmoidea minor ulnae ; dem capitulum ulnae und der incisura semilunaris radii; dem capitulum ulnae und der cartilago triquetra. \u2014 Die gemeinsame Achse Fig. 109 1 11, um welche die Drehung erfolgt, ist eine Linie, welche aus dem Mittelpunkt der superficies capitata humeri gegen den Anheftungspunkt der cartilago triquetra am process, sty-\nF ig. 109.","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Vorderarm - Handwurzclgel\u00e8nk.\n379\nloideus ulnae verlaufend gedacht werden muss. Um diese Achse ragen zur Sicherung des Ganges auf entgegengesetzten Seiten zwei Cylin-derfl\u00e4chen am obern Ende des Radius und am untern der Ulna hervor ; von diesen ist die zwischen fossa sigmoidea ulnae und capitulum radii gelegene noch durch das ligam. annulare regulirt. \u2014 Gehemmt wird die Bewegung durch die chorda transversalis und den processus styloideus ulnae. \u2014 Damit die Bewegung geschehen kann, muss begreiflich die Hand vor dem radius eine andere Beweglichkeit besitzen als vor der ulna, oder es muss bei der einmal gegebenen Einrichtung die am Radius befestigte Hand an der Ulna sich drehen k\u00f6nnen. Diese Bedingung ist durch das Gelenk zwischen cart, triquetra und ulna verwirklicht. \u2014\nVorderarm - Handwurzelgelenk*). Erstes Handgelenk. Dieses Gelenk ist nach zwei Richtungen gebogen; von der vola zum dorsum und von dem Ulnarrand zum Radialrand, a) Die Biegung von rechts nach links, Fig. 110.** ***)) Am Vorderarm, wo die Fl\u00e4che durch den\nFig. 110.\nRadius und die cart, triquetra dargestellt wird, geht die Kr\u00fcmmung nach einerKreis-linie ; das vorhandene St\u00fcck derselben umspannt gegen 69\u00b0. Die andere von dem oss. naviculare lunatum und triquetrum dargestellte Fl\u00e4che weicht in ihrer Biegung betr\u00e4chtlich von einem Kreisbogen ab, namentlich gegen das os naviculare hin. Der Bogen, der am ann\u00e4herndsten f\u00fcr sie gilt, Der Halbmesser desselben verh\u00e4lt sich zu demjenigen, welcher den Bogen am Vorderarm bestimmt = 13 : 18,5. Ueber Bogenbestimmun^en f\u00fcr die Kr\u00fcmmung der einzelnen Knochen siehe in der vergleichsweise ausgezeichneten Abhandlung von G\u00fcnther.\nb) Die Biegung vom R\u00fccken zur Hohlhand Fig. 111. V bedeutet vola**). Die Fl\u00e4che am Radius und der Cartilago triquetra ist auch in dieser Richtung nach einer Kreislinie gebogen. Der Halbmesser des Kreises am Radius ist kleiner als der an dem Cartilago tri-\numspannt 110\u00b0.\n*) G\u00fcnther, das Handgelenk. 1841.\n**) G\u00fcnther 1. c. Taf. V. Fig. 4.\n***) G\u00fcnther 1. c.Taf. VI.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nHaiidwurzel-Handwurzelgeleiik.\nFig. 111.\nquetra. Sie verhalten sich zu einander wie 8 : 9,5. Die Bogengrade, welche die Kreise umspannen, sind vom Radialrand gegen den \u00bb Ulnarrand im Wachsen begriffen, sie steigen jl* von 58\u00b0 bis 68\u00b0; der Halbmesser dieser Kr\u00fcm-\u00ae mung verh\u00e4lt sich zu dem in der andern Rich-! tung wie 8 und 9,5 : 18,5. \u2014 Die Kr\u00fcmmung an dem Handwurzelknochen folgt dagegen einem andern Gesetz. Gegen den R\u00fccken schliesst sie sich wohl ziemlich ann\u00e4hernd einem Kreisbogen an, gegen die Hohlhand f\u00e4llt o sie dagegen scharf nach innen. Der Halbmes-\nC/2\t_\n~ ser des Bogens, welcher am meisten der Bie-\np gung sich ann\u00e4hert, ist am os triquetrum\n| kleiner als am naviculare und lunatum; er \u2022 *\nverh\u00e4lt sich zu diesem wie 4V2 : 5y2. Die Gradzahl dieser Bogen w\u00e4chst vom os triquetrum gegen os naviculare, gerade umgekehrt wie an der Armfl\u00e4che, von 108\u00b0 bis o 1300.\n\u00bb\np\nDiesen Biegungen gem\u00e4ss kann das erste & Handgelenk eine Beugung von der Ulnar- zur \u00bb Radialseite, und eine zweite von der R\u00fccken-zur Hohlfl\u00e4che ausf\u00fchren.\nHandwurzel - Handwurzelgelenk. Zweites Handgelenk.\nder\nDieses sehr eigenth\u00fcmliche Gelenk bedarf vorzugsweise\n\u00f6\nnoch\nFig. 112.\ngenaueren Analyse, a) Die Biegung, die dasselbe vom Ulnar- gegen den Radialrand zeigt, ist in Fig. 112*) dargestellt. Der am os mul-\ntangulum majus (M I) und minus (M II) vorhandene Durchschnitt ist ann\u00e4hernd\nnach einer Kreislinie gebogen und ebenso der ihnen zugekehrte Schnitt des os naviculare; \u2014 os capitatum scheint ebenfalls nach einem Kreis gebogen zu\nsein (Ca); dass in einem solchen Gelenk keine einfache Seitw\u00e4rtsbewegung der Hand m\u00f6glich, leuchtet\n*D G\u00fcnther 1. c. Taf. VII.","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Handbewegung.\n881\nvon selbst ein. b) Die Biegung von dem Handr\u00fccken zur Hohlhand gestaltet sich an jedem Knochen verschieden. Im Allgemeinen n\u00e4hern sich die an der ersten Reihe der Handwurzelknochen gelegenen Schnitte einer Kreiskr\u00fcmmung, die aber mit sehr verschiedenen Halbmessern gezogen sind, und eine ungleiche Zahl von Graden umspannen. Das Genauere siehe bei G\u00fcnther. Die Biegungen am os naviculare, welche den multangulis gegen\u00fcberstehen, ragen mit der convexen Fl\u00e4che in das Gelenk, stellen also einen sogenannten Kopf vor, w\u00e4hrend diejenige des os naviculare, welche gegen os capitatum ragt, und diejenige des os lunatum und os triquetrum Gelenkgruben sind. \u2014 Viel unregelm\u00e4ssiger sind die der zweiten Handwurzelreihe angeh\u00f6rigen Gelenkfl\u00e4chen gebogen. Ihr Gesetz ist vorerst unklar.\nDie Bewegungen, welche im Gelenke ausf\u00fchrbar sind, geschehen wahrscheinlich um einen in dem Kopf des os capitatum gelegenen Mittelpunkt ; wegen seiner Verbindung mit den \u00fcbrigen ist aber nur eine Bewegungsrichtung m\u00f6glich, welche durch die auf der R\u00fcckenfl\u00e4che des os naviculare liegende Gelenkfl\u00e4che vorgezeichnet ist, eine Dorsal- und Radialflexion.\nHandbewegung. Die Bewegungen im Handgelenk sind bekanntlich nach zwei Richtungen nach der Fl\u00e4che und den R\u00e4ndern der Hand m\u00f6glich. Die Bewegung nach den R\u00e4ndern vertheilt sich nach Versuchen von G\u00fcnther auf die beiden Handgelenke in der Art, dass eine geringere Beugung nach der Radialseite im ersten, dagegen eine st\u00e4rkere nach dieser Seite im zweiten Gelenk ausgef\u00fchrt werden kann, und umgekehrt eine st\u00e4rkere Beugung nach der Ulna im ersten Gelenk und eine schwache Beugung nach dieser Seite im zweiten Gelenk ausf\u00fchrbar ist.\nAuch die Bewegungen in der Fl\u00e4che vertheilen sich \u00e4hnlich auf beide Gelenke. Aus der mittleren Lage kann die Hand nur durch das erste Gelenk in die Flexion (Volarflexion) gebracht werden ; indie Streckung dagegen kommt sie nur bis zu sehr unbedeutendem Grade durch das erste, vorz\u00fcglich aber durch das zweite Gelenk. \u2014 Ausser diesen wichtigsten Bewegungen k\u00f6nnen auch noch pronirende und supimirende in den beiden Gelenken auftreten. G\u00fcnther.\nDie B\u00e4nder sind noch keiner \u00fcbersichtlichen, die Funktion scharf treffenden Darstellung f\u00e4hig.\nDie Gelenkfl\u00e4chen, welche die einzelnen Handwurzelkno-chen einander zukehren, sind mit R\u00fccksicht auf ihre physiologische Bedeutung noch zu wenig untersucht. Bemerkenswerth ist nur, dass die der Knochen erster Reihe sehr locker zusammenhaften, so dass sie ihre gegen die zweite Reihe gekehrten Bogen betr\u00e4chtlich abzuflachen verm\u00f6gen, wodurch ein ganz besonderes Gelenk zum Vorschein kommt.","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nHandwiirzel-Mittclhandgelenke.\nDas Gelenk zwischen os triquetrum und pisiforme ist ein allseitig sehr freies ; es ist bekanntlich nur zur F\u00fchrung eines Muskelansatzpunktes von Bedeutung.\nHandwurzel- Mittelhandgelenke.\nA.\tDas Mittelhandgelenk des Daumens ist nach zwei Richtungen gebogen; vom R\u00fccken zur Yola ist das os multangulum 0. M. I. Fig. 113. an der Fingerseite convex nach einem noch unbekannten Gesetz gekr\u00fcmmt, der Daumenknochen aber nach einem Kreis. G\u00fcnther. Yon dem Radiatzum Ulnarrand ist die Fingerseite des os multangulum concav nach einemKreise gekr\u00fcmmt, und der Daumenknochen entsprechend convex. Fig. 114. DieRadien der Daumenkr\u00fcmmung\nsind, abgesehen davon, dass die Mittelpunkte der Kreise, zu denen sie geh\u00f6ren, nach entgegengesetzten Richtungen liegen, verschieden; der Halbmesser des Kreises von der Yola zum dorsum verh\u00e4lt sich zu den andern = 7 : 5,5. G\u00fcnther. Das Gelenk erlaubt also Beugung und Streckung, Ab- und Adduktion, aber keine Drehung.\nDie B\u00e4nder, welche die Bewegung beschr\u00e4nken, gehen vorzugsweise von der R\u00fccken- und Hohlfl\u00e4che des os multangulum schief gegen den Rand und namentlich die hervorragenden Punkte des Daumenknochens. Sie spannen sich beim Abrollen der Gelenkfl\u00e4che, da sie in keinem Fall im Mittelpunkt einer Kreisfl\u00e4che liegen.\nB.\tDie Mittelhandgelenke der Finger sind genau nach demselben Prinzip eingerichtet. Einer bemerkenswerthen Beweglichkeit erfreut sich aber nur das Mittelhandgelenk des kleinen und des Ringfingers; Mittel- und Zeigefinger sind in der Mittelhand ziemlich unbeweglich. F\u00fcr diese letztem Mittelhandknochen ist es darum bedeutend, dass gerade ihre Basaltheile (die Handwurzelknochen) \u00fcberall von Spalten, die sich bis zum n\u00e4chsten sehr beweglichen Theil erstrecken, umgeben sind.\nDie Metacarpal-Carpalgelenke bedingen vorzugsweise die W\u00f6lbung der Hand von rechts nach links; doch sind sie nach G\u00fcnther nicht die einzigen Handw\u00f6lber ; auch die erste Reihe der Handwurzelknochen geh\u00f6rt zu ihnen. Ein Blick auf die Yolarseite derselben und namentlich ihrer Ber\u00fchrungsfl\u00e4chen, sowohl untereinander als mit der zweiten Handwurzelreihe, zeigt, dass ihnen eine solche Bewegung m\u00f6glich sein muss.\nMetacarpal-Phalangengelenke. Die ersten Phalangen der Finger sitzen mittelst einer Hohlkugel auf dem kugeligen Kopfe der\n\nFig. 113.\nFig. 114.\nVola.","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"H\u00fcftgelenk.\n383\nMittelhandknochen. Der Drehungsmittelpunkt liegt demnach in den letzteren. Trotzdem sind die Bewegungen sehr beschr\u00e4nkt; Drehung um eine durch die L\u00e4ngenrichtung der Finger gelegte Achse ist unm\u00f6glich, und bei einem betr\u00e4chtlichen Grad der Beugung h\u00f6rt, wie H. Meyer zuerst bemerkte, auch jdas \"Verm\u00f6gen der Ab- und Adduktion auf. Der Grund dieser Hemmungen ist in den Lateralb\u00e4ndern zu suchen, welche, ausserhalb des Drehungsmittelpunktes sitzend, namentlich bei der Beugung sehr gespannt werden.\nAlle \u00fcbrigen Finger- und Daumengelenke enthalten Cylinderfl\u00e4chen mit sanduhrartiger Biegung und sind darum wie die Ulna am Oberarm nur nach einer Richtung beweglich.\nDie Sesambeinchen des Daumens sind Muskelknochen zur Fixirung eines Sehnenansatzes.\nH\u00fcftgelenk*). Dieses Gelenk ist bekanntlich ein Nussgelenk; der Mittelpunkt der Kugel ist ungef\u00e4hr in der Mitte von der H\u00f6he des grossen Trochanter zu suchen. Der dem Becken angeh\u00f6rige Abschnitt der Hohlfl\u00e4che umspannt eine geringere Zahl von Graden, als die Kugel des Oberschenkels. Die Horizontalprojektion der Ber\u00fchrungsstellen beider Gelenkfl\u00e4chen ist nach Ed. Weber ungef\u00e4hr so gross, dass dieselbe, mit einer dem mittleren Barometerstand entsprechenden Queeksilberh\u00f6he multiplizirt, ein Gewicht giebt, welches ann\u00e4hernd der Schwere des ganzen Beins gleichkommt. Aus diesem Grunde ruht der Schenkel aequilibrirt in der Gelenkpfanne, d. h. er wird ungef\u00e4hr mit derselben Gewalt nach oben gedr\u00fcckt, als er zu fallen strebt, und \u00fcbt darum keinen Druck auf seine Aufh\u00e4ngungsfl\u00e4che aus. Desshalb ist die Reibung bei seinen Bewegungen auch so sehr gering. Yor allem Andern ist an dieser Pfanne das supercilium cartilagineum ausgehildet, welches nach Weber den Kopf bei Drehungen in der Pfanne fortw\u00e4hrend gl\u00e4ttet und sich elastisch an ihn anlegt, und somit das Eindringen von Fl\u00fcssigkeit in die Gelenkh\u00f6hle verhindert. \u2014 Die Bewegungen werden gehemmt durch die schwach sehnige Kapsel, welche \u00fcberall an die R\u00e4nder gewachsen hei jeder Bewegung gespannt und gedreht wird; durch das ligamentum supe-rius (ileofemorale), welches die Ueberstreckung, und durch das ligament. teres, welches in der Streckung die Adduktion unm\u00f6glich macht; E d. Weher. Diese beiden letzten B\u00e4nder (lig. superius und teres) sind der Art gelagert, dass die mittleren Theile beider in zwei aufeinander senkrechten Ebenen , wie sich dieses schon aus der Angabe ihrer Wirkungen versteht, liegen.\nKniegelenk**). Beide Condylen des Kniegelenks sind von hinten nach vorn und von rechts nach links gebogen. Die Biegung von\n*3 Ed. \u00fc. W. Weber, Mechanik der Gehwerkzeuge.\nEd. u. W. Weber, Mechanik der Gehwerkzeuge.","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nKniegelenk.\nhinten nach vorn zeichnet sich dadurch aus, dass die Kr\u00fcmmun\u00b0-s-halbmesser derselben nach der bezeichneten Richtung in einem stetigen Wachsthum begriffen sind. . Die Biegung von rechts nach links scheint ann\u00e4hernd einer Kugel(?) und zwar an beiden Gelenkenden derselben Kugel (?) anzugeh\u00f6ren. \u2014 Das Gelenkende der Tibia ist sehr flach gew\u00f6lbt, nach welchem Gesetze ist unbekannt. Als ein wesentlicher Theil des Gelenkbodens m\u00fcssen die cartilaff. semilunares angesehen werden, indem vermittelst derselben die Beriihrunfi*s-fl\u00e4chen der Knochen vergr\u00f6ssert werden. Dem beweglicheren \u00e4usseren Condylus des Oberschenkels entspricht darum auch ein beweglicherer Semilunarknorpel.\nIn dem Knie sind zwei Bewegungen ausf\u00fchrbar. Die eine besteht in einer Beugung und Streckung. Diese Beugung geschiehtnach Ed. Web e r nicht durch ein vollkommenes Ueberrollen des gew\u00f6lbteren Femurendes \u00fcber die ebenere Tibialfl\u00e4che, sondern durch ein gleichzeitiges Schleifen und Rollen; das Schleifen ist, wie der Augenschein ergibt, schon darum noting, w^eil die Tibialfl\u00e4che eine viel geringere Ausdehnung als die Schenkelfl\u00e4che besitzt; es wird bedingt durch die Hemmung, w-elche die Kreuz- und Seitenb\u00e4nder dem Abrollen entoe* gensetzen. Die andere ausf\u00fchrbare Bewegung besteht in einer Drehung des \u00e4ussern Condylus um den innern; diese Pronation und Supination ist nur in der Beugungsstellung des Gelenkes m\u00f6glich, da sie in der Streckung durch die gespannten Lateralb\u00e4nder verhindert wird.\nDie Bandmassen des Gelenkes betheiligen sich an der Regulirung der Bewegungen folgendermassen : die ligamenta lateralia werden bei der Beugung erschlafft, jedoch das innere weniger als das \u00e4ussere ; bei der Streckung spannen sich beide B\u00e4nder gleichm\u00e4ssig. Der Grund dieser Spannung und Abspannung liegt darin, dass in der gestreckten Stellung der Ab-stand des Knochens von der Ber\u00fchrungsfl\u00e4che bis zum Ansatzpunkte des Bandes gr\u00f6sser ist, als in der Beugung des Gelenkes. Fig. 115a u. 115b A A. Das innere Band erschlafft bei der Beugung weniger als das \u00e4ussere, weil es nicht wie das \u00e4ussere nur aus parallelen, sondern auch aus divergirenden Fasern besteht; demgem\u00e4ss bleibt immer ein Theil derselben\nFig. 115\u00ab.\tFig. 115b.","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Tibial-Fibulargelenke.\ngespannt, analog allen Lateralb\u00e4ndern der Cyllndergeienke. Die Seitenb\u00e4nder verhindern also die Ueberstreckung und stellen das Gelenk w\u00e4hrend der aufrechten Stellung steif; Ed. Weber. Die ligam. cruciata sind vorzugsweise in der Beugung des Gelenkes wirksam und bedingen es, dass der Oberschenkelknochen auch in der Beugung auf der Tibia hinrollen muss. Der Mechanismus, durch den sie wirken, liegt darin, dass\nFig. 116.\nFig. 117.\ndie im Oberschenkel befindlichen Ans\u00e4tze aus einer wagrechten in eine senkrechte Lage bei verschiedenen Stellungen \u00fcbergehen und zwar wird (Fig. 116 A) der in der Streckung senkrechte Ansatz -punkt des vordem Bandes wagrecht hei der Beugung (Fig. 1 IT. A), und der bei der Beugung senkrechte Ansatzpunkt des hintern Bandes wagrecht bei der Streckung. Hiedurch erfolgen stetige Ab - und Aufwicklungen einzelner Theile beider B\u00e4nder; Ed. Weber. \u2014 Die B\u00e4nder, an welche die halbmondf\u00f6rmigen Knorpel geheftet sind, stellen den Innern in allen Stellungen des Gelenks fest.\nDie Fettb\u00e4nder endlich werden, da das Gelenk luftleer, in die bei der Beugung vorn entstehenden grossen L\u00fccken gedr\u00e4ngt; ihr Gang wird durch die Anheftung an den Oberschenkeikochen gesichert. Sie sind somit Ventile.\nDas Kniescheiben gelenk ist f\u00fcr das Kniegelenk ohne wesentliche Bedeutung, wie daraus hervorgeht, dass die Kniescheibe ohne St\u00f6rung des Mechanismus der Kniegelenke am todten Bein ausgeschnitten werden kann. Die Kniescheibe ist nichts anderes als ein Sehnenknochen. Die Wirkungen der besonderen Formen ihrer Gelenkfl\u00e4chen sind noch nicht er\u00f6rtert. Siehe hier\u00fcber Stehen.\nTibial-Fibulargelenke. Das o b e r e ist ein Ber\u00fchrungsgelenk mit \u00fcberknorpelten Gelenkfl\u00e4chen, welches eine beschr\u00e4nkte Bewegung nach oben und von hinten nach vorn gestattet. Seine Bewegungen werden gehemmt durch das capitulum fibulae und die ligam. tibiofibu-laria superiora. \u2014 Im unteren Gelenke ber\u00fchren sich die beiden Knochen nicht unmittelbar; zwischen beide ist ein aus Bindewebe und Fett bestehendes Polster gelegt, so dass sich die Fibula ebensowroJil um ein Geringes von der tibia entfernen, als auch um die tibia drehen\nLudwig, Physiolog. I.\t25","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nErstes Fussgelenk.\nFig. 118.\nkann. Einen Querschnitt des Ge-lenkes stellt Fig. 118 dar, in welcher A die tibia und B die fibula bedeutet. Hemmungen gew\u00e4hren die Befestigung der fibula im obern Gelenk und die lig. tibiofibularia inferiora.\nErstes Fussgelenk. Der Kopf des Astragalus ist ein St\u00fcck einer Rolle, deren Achse etwas unterhalb des MaUeolus internus von rechts nach links l\u00e4uft. Die obere Fl\u00e4che der Rolle ist von rechts nach links ausgeh\u00f6hlt, ihre \u00e4ussere Kante ist gegen das hintere Ende hin abgestumpft. Der Querdurchmesser der Rollet (Fig. 119) ist vorn\n(V) schmal, verbreitet sich darauf rasch und nicht unbetr\u00e4chtlich, und nimmt nach hinten (H) wieder ab. Die Seitenwand, weiche sie gegen den malleolus der tibia wendet, ist sehr kurz, von betr\u00e4chtlicher L\u00e4nge aber die gegen den malleolus der fibula gerichtete. Die obere und innere Fl\u00e4che der Gelenkh\u00f6hle bildet die tibia, die \u00e4ussere Seitenwand derselben aber die fibula. Durch diese Bildung der Gelenkh\u00f6hle aus zwei aneinander beweglichen Knochen wird es m\u00f6glich der Gelenkh\u00f6hle einen wechselnden Durchmesser zu geben, wie ihn die verschieden breite Rolle des Talus bei seinem Durchgang durch das Gelenk verlangt. Die F\u00fchrung der Fibula um die Gelenkrolle und ihre fortw\u00e4hrende Anlagerung an derselben wird bedingt durch die lig. tibio-fibuaria antica und postica, talifibularia antica u. postica und calcaneo-fibulare. Diese B\u00e4nder verhalten sich bei den verschiedenen Gelenkstellungen folgendermaassen. In der st\u00e4rksten Beugung ist gespannt der freie \u00fcber die Rolle des astragalus hervorragende Rand der lig. tibiofibulare anticum, das talifibulare anticum und calcaneofibulare, erschlafft dagegen ist talifibulare und tibiofibulare posticum. \u2014 In der mittleren Stellung, wo der breiteste Theil der Astragalusrolle sich einklemmt, wird die Fibula nach aussen geschoben, und es findet sich tibiofibulare posticum in starker, das entsprechende anticum aber in einer mittleren Spannung. In der st\u00e4rksten Streckung, wobei der schm\u00e4lste Theil der Rolle mit \u00e4usserer abgestumpfter Kante in die Gelenkh\u00f6hle tritt, zieht das lig. talifibulare anticum die Knochen aneinander, w\u00e4hrend alle \u00fcbrigen B\u00e4nder namentlich die tibiofibularia erschlafft sind. Auf diesen besondern Mechanismus hat zuerst H. Meyer hingewiesen. Ausser der vorzugsweise vorkommenden Beugung und Streckung soll nach Ed. Weber in der h\u00f6chsten Streckung des Fusses auch noch eine beschr\u00e4nkte Drehung desselben um seine L\u00e4ngsachse m\u00f6glich sein.","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Zweites und drittes Fussgelenk.\n38T\nZweites Fussgelenk. Der Talus kann sich an den ihn begrenzenden ossa calcanei und naviculare verschieben; dieses Gelenk ist auf drei Fl\u00e4chen vertheilt, von denen zwei gegen den calcaneus und eine gegen das os naviculare hinsehen. Die beiden nach dem Fersenbein zugewendeten Fl\u00e4chen des talus sind im allgemeinen Abschnitte von Ringen, die jedoch nach entgegengesetzten Richtungen gebogen sind. Die hintere Fl\u00e4che Bin Fig. 120, die einen diagonal durch den Talus gef\u00fchrten Durchschnitt darstellt, ist nemlich von rechts\nnach links und von hinten nach vorn con-cav d. h. ihr Kr\u00fcmmungsmittelpunkt liegt nach der Fusssohle hin, w\u00e4hrend die vordere V von hinten nach vorn und von rechts hach links convex ist, so dass ihr Kr\u00fcmmungsmittelpunkt gegen den Fuss-r\u00fccken liegt. Die nach dem os naviculare hinschauende Gelenkfl\u00e4che ist wie es scheint ein Kugelst\u00fcck. Die am calcaneus angebrachten dem talus entsprechenden Gelenkfl\u00e4chen sind umf\u00e4nglicher, die am os naviculare befindlichen kleiner als der Taluskopf, so dass zu ihrer Erg\u00e4nzung noch das ligam. calcaneonaviculare und oft ein vorspringendes St\u00fcck des os cuboideum herbeigezogen ist. Die Gelenkachse, wTelche schief von unten nach oben und von aussen nach innen geht, ist bestimmt durch die Mittelpunkte der Kr\u00fcmmungen von /^und H. Das Zusammenheften zwischen talus und Fersenbein, wird durch den apparatus ligamentosus LL bedingt ; als wesentliche Beschr\u00e4nkungsb\u00e4nder dienen lig. calcaneonaviculare und calcaneofibulare. Da dieses letztere, wie wir erfuhren, bei der vollkommenen Beugung des Fusses im ersten Gelenk stark gespannt ist, so hemmt es dann die Bewegung auch im zweiten Fussgelenk vollkommen. \u2014 Die Bewegung im zweiten Fussgelenk hebt den innern oder \u00e4ussern Fussrand von dem Erdboden auf.\nDie Behauptung, dass die Bewegungen in dem Gelenke unterbrochen seien, wenn die Last des K\u00f6rpers durch das Sprungbein allein auf das Fersenbein \u00fcbertragen werde, ist nicht richtig; stellt man sich aber auf die Fersen bei sark gebeug,-tem Fuss, so wird allerdings die beschriebene Bewegung unm\u00f6glich, was aber ebensowohl der Fall ist bei erhobenem und stark gebeugtem Fuss.\nFig. 120.\n--\n^\t> 'c, W ^ m\n*J ^ \u00f4\nDrittes Fussgelenk. Dieses Gelenk, welches H. Meyer zuerst erkl\u00e4rt, geht zwischen talus und calcaneus einerseits und andrerseits zwischen os naviculare und os cuboideum. Die Drehungsachse scheint durch die gegen die Fusssohle dringende Spitze des os cuboideum und das ligam. ealcaneo-cuboideum gegeben zu sein. Die Bewegungen werden sich zu der des vorhergehenden addiren und namentlich an der Erhebung des innern Fussrandes sich bethei-\n25*","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"Sc\nMuskeln des Skelets; Sehnen derselben.\nligen , wenn die Bewegungen zwischen calcaneus und talus beendigt sind. Die \u00fcbrigen Fusswurzelknochenfl\u00e4chen bed\u00fcrfen, um verstanden zu werden, einer genaueren Untersuchung als sie bisher erfahren.\nUnter den Fusswurzel- Mittelfussgelenken erlaubt das erste, vierte und f\u00fcnfte eine wie es scheint schleifende Bewegung.\nM e t a t ar s a 1 - P h a 1 a n g e n g e 1 e nk e. Die Biegung der vier letzten Metatarsalk\u00f6pfe von vorn nach hinten kann, wie H. Meyer angibt, dargestellt werden durch zwei aneinander grenzende Kreisbogen von verschiedenem Halbmesser; der Mittelpunkt des vordem Theiles liegt (Fig. 121) bei M\u2018, der des hintern bei J/\". Die Kr\u00fcmmung von rechts\nnach links geh\u00f6rt wahrscheinlich auch einem Kreise an. Die kleine H\u00f6hlung der Phalange ist entsprechend der vordem Biegung des Metatarsalkopfs gekr\u00fcmmt, so dass sie nur hier Biegung und Adduktion ausf\u00fchren kann; auf dem untern St\u00fccke kann sie nur in der Beugungsebene gef\u00fchrt werden.\nDie Phalangengelenke entsprechen den gleichen an der Hand. Die Sesamgelenke der grossen Zehe sind Rollen, \u00e4hnlich der Knie-\nscheibe.\nMuskeln des Skelets.\n1. Sehnen, Faszien, Sehnenscheiden, Sehnenknochen. Die Muskeln, welche das Skelet bewegen, setzen sich nicht unmittelbar von Knochen zu Knochen, sondern nur durch Vermittelung von Sehnen und Faszien an. Die Sehnen sind im mechanischen Bez\u00fcge nichts anderes als z\u00e4he und nicht sehr dehnbare Str\u00e4nge, welche den breiten Querschnitt des Muskels auf einen kleinen zur\u00fcckf\u00fchren, wodurch es gelingt die Anffriffsorte sehr breiter Muskelmassen auf Stellen sehr geringer Aus-\ndehnung zu conzentriren. Zugleich \u00fcbertragen sie die Muskelz\u00fcge auf entferntere Punkte, darum sind sie bald l\u00e4nger bald k\u00fcrzer angelegt und h\u00e4ufig gehen sie \u00fcber Rollen, wodurch die Richtung des Zuges, welche der Muskel urspr\u00fcnglich aus\u00fcbt, wesentlich ge\u00e4ndert wird. Tn diesen Leistungen werden die Sehnen unterst\u00fctzt durch feste und dichte Scheiden, welche ihnen eine ganz bestimmte Lage und Zugrichtung anweisen; durch Synovial\u00fcberz\u00fcge, weiche durch eine abgesonderte Fl\u00fcssigkeit und ihre eigene Gl\u00e4tte die Reibung der Sehnen, die sie beim Durchtritt durch die Scheiden, Retinacula u. s. w. oder beim Uebergang \u00fcber Knochen vor Spr\u00fcnge erleiden, mindern.\nAn einzelnen besondern Punkten sind auch in die Sehnen Knochen eingelagert, wie z. B. an der Sehne des flexor carpi ulnaris das os pisiforme, an den kleinen Daumen- und Grosszehenmuskeln die ossa","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Fas eien. Richtung des Muskelzuges.\t389\n8?'\nsesamoidea, an den Unterschenkelstrecken die Kniescheibe. Diese Knochen fixiren theils nach der Art von Rollen die Wirkung' der Muskeln nach einer einzigen Richtung, theils verbessern sie den Ansatzwinkel.\nDie Faszien oder Sehnenh\u00e4ute unterscheiden sich bekanntlich nicht durch ihr Baumaterial, sondern durch ihre Form von den Sehnen. Diese breiten Bl\u00e4tter sind als Mittel zu betrachten, durch welche theils die Ansatzpunkte der Muskelsubstanz vervielf\u00e4ltigt werden, wie dieses z. B. an den Faszien, welche den Vorderarm und Unter* Schenkelknochen verbinden, oder an den Bl\u00e4ttern, welche man ligam. intermuscularia etc. nennt, der Fall ist, theils aber auch als Einrichtungen, durch welche (umgekehrt wie bei den Sehnen) die von schmalen Muskelb\u00fcndeln ausgehenden Z\u00fcge auf breiten Fl\u00e4chen vertheilt werden, wie dieses z. B. durch die fascia antibrachia und fascia lata in Beziehung auf die an sie sich ansetzenden mm. biceps, gluteus maximus, tensor fasciae u. s. w. geschieht.\n2. Bestimmung der mechanischen Leistung eines Muskels, a. Richtung*) des Muskelzuges. Die Muskelr\u00f6hre kann, wie wir wissen, einen Zug in der Richtung ihrer L\u00e4nge aus\u00fcben; sind demnach viele R\u00f6hren in einem Muskel so zusammengefasst, dass sie einander s\u00e4mmtlich parallel laufen, so wird der Gesammtzug derselben ebenfalls nach der Richtung der einzelnen gehen. Sind sie dagegen so verbunden, dass s\u00e4mmtliche R\u00f6hren nach einem Punkte hin zusammenlaufen, so wird offenbar nicht ohne weiteres anzugeben sein mit welcher der Fasern die Richtung des Gesammtzuges zusammen f\u00e4llt. Zur Auffindung dieser abgeleiteten Zugrichtung hat Ad. Fick**) ein einfaches Verfahren angegeben, welches unter folgenden Bedingungen anwendbar ist: a) S\u00e4mmtliche zu einem Muskel geh\u00f6rende R\u00f6hren sind um denselben Bruchtheil ihrer L\u00e4nge verk\u00fcrzt. Denn da mit der proportionalen Verk\u00fcrzung die Leistungsf\u00e4higkeit des Muskels abnimmt, so sind nur unter der ausgesprochenen Beschr\u00e4nkung s\u00e4mmtliche in den Muskeln enthaltenen R\u00f6hren als gleichkr\u00e4ftige anzusehen. \u00df) Innerhalb des Muskels werden die zwischen den wirksamen Theilen liegenden unwirksamen in einer vollkommen gleich-m\u00e4ssigen Vertheilung angenommen 7) S\u00e4mmtliche R\u00f6hren m\u00fcssen nach einem in unendlicher oder endlicher Ferne liegenden Punkte geradelinig convergiren. d) S\u00e4mmtliche Muskelr\u00f6hren sind in \u00fcberall einander parallelen Schichten angeordnet, so dass der ganze Muskel\n*) Wie der Kundige aus dem W orte Richtung des Muskelszugs entnimmt macht der Text die Voraussetzung, dass jeder einzelne Muskel des menschlichen K\u00f6rpers so zusammengeordnet sei, dass aus allen in ihm enthaltenen R\u00f6hren eine einzige Resultirende hervorgehe. Diese Voraussetzung ist durchaus noch nicht allgemein erwiessen, aber f\u00fcr die meisten Muskeln allerdings wahrscheinlich.\n**) Ad. Fick, Statische Betrachtung der Muskulatur u. s. w. Henle 11. Pf eufer IX. Bd.","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nKraft des Muskels.\neine von parallelen Ebenen begrenzte Platte darstellt, deren Dicken-dimension unbedeutend gegen ihre \u00fcbrigen Ausdehnungen ist.\nDas Verfahren ist in Fig. 122 erl\u00e4utert: Sei ab c d der f\u00fcr fl\u00e4chenartig geltende Muskel und a' b' c\u2018 d\u2018 seine Projektion auf die YZ ebene; alsdann ist die Halbirungslinie fc des Winkels a' c b' die Projektion der gesuchten Resultirendenauf dieselbe Ebene; denn die Projektionen der s\u00e4mm t\u00fcchen com-ponirenden Kr\u00e4fte (der einzelnen Fasern) liegen um diese Halbirungslinie offenbar symmetrisch vertheilt. Auf dieselbe Weise verf\u00e4hrt man mit den zwei \u00fcbrigen Ebenen A F und ZX, wodurch man nach den drei aufeinander senkrechten Ausdehnungen des Raumes die Projektion der Resultirenden erh\u00e4lt. Diese drei Projektionen liefern dann nach bekannten Regeln die Resultirende des Muskels. Wo in der Anwendung ein Muskel nicht mehr als in einer Ebene angesehen werden konnte, wie z. B. m. glutaeus maximus, wurde er von A. Fick in mehrere Streifen zerlegt, die nahezu in einer Ebene lagen.\nb. Indem wir nun die Frage nach der Kraft erheben, welche dem resultirenden Muskelzuge zukommt, m\u00fcssen wir zuerst voraussetzen, dass alle Ver\u00e4nderlichkeiten, welche von der Erregbarkeit, der Erregung und derZeitdauer der Verk\u00fcrzung abh\u00e4ngen, eliminirt seien, mit andern Worten: dass der Muskelstoff sich immer in einem Maximum seiner ihm m\u00f6glichen Leistungsf\u00e4higkeit befinde. Aber selbst unter diesen Beschr\u00e4nkungen, die wir in der Wirklichkeit nicht schaffen k\u00f6nnen, gebieten wir \u00fcb er kein absolutes Maas s der Muskelkr\u00e4fte, so dass sich unsere Betrachtungen nur immer auf die Angaben von relativen Maas-sen erstrecken k\u00f6nnen, welche sich ergeben aus dem Vergleiche mehrerer Muskeln mit einander. Alsein solches relatives Maass lassen wir nun gelten das Gewicht oder die Dimensionen des \u00fcberall als gleich wirksam gedachten Stoffes; das Gewicht, weil wir ohne Zweifel annehmen d\u00fcrfen, dass eine gr\u00f6ssere Masse, und zwar entsprechend ihrer Gewichts\u00fcberlegenheit, mehr Kr\u00e4fte entwickle als eine kleinere. Die Dimension aber bringen wir in Anschlag, weil der Stoff bei gleichem Gewicht und einer verschiedenen Anordnung d. h. je nachdem er aus wenigen langen oder zahlreichen kurzen R\u00f6hren zusammengef\u00fcgt ist, sich eignet entweder kleine Gewichte auf eine betr\u00e4chtliche H\u00f6he oder betr\u00e4chtliche Gewichte auf eine geringe H\u00f6he zu heben. Aber auch die auf Vergleichung der Gewichte und Dimensionen der Muskelsubstanz gegr\u00fcndete Beurtheilung der Muskelkr\u00e4fte ist nur dann erst wieder sinnvoll, wenn die R\u00f6hren der Muskelsubstanz s\u00e4mmtlich einander parallel laufen, denn nur unter dieser Voraussetzung wird die bewegende Kraft des Muskels gleich sein derjenigen, welche die Summe seiner einzelnen R\u00f6hren auszu\u00fcben vermag. Denn neigen\nFig. 122.\nZ","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Bestimmungsweisen der Muskelkr\u00e4fte.\n391\nsich diese letztere gegeneinander, so wird offenbar je nach der Gr\u00f6sse des Neigungswinkels ein gewisser Antheil der Gesammtkraft des Muskels innerhalb desselben durch die aufeinander erfolgenden Gegenwirkungen verzehrt und somit seinen bewegenden, auf andere Massen \u00fcbertragbaren Kr\u00e4ften entzogen. In der That ist ab\u00e8r auch\ndiese Bedingung gleichl\u00e4ufiger Fasern selten erf\u00fcllt. -\nUnter den bis dahin in Anwendung gebrachten scheint das relative Muskelmaass, welches Ad, Fick vorschl\u00e4gt, noch das vorz\u00fcglichere. Er stellt sich die Aufgabe, die Maxima der Tragf\u00e4higkeit zu vergleichen ; zu diesem Bekufe setzt ei die Kiaft des Muskels proportional dem gr\u00f6ssten (nicht aber etwa einem mittleren) Querschnitt desselben, den jener besitzt, bevor seine R\u00f6hren irgendwelche Verk\u00fcizung ei-fahren haben. Wie wir durch E d. W eb er und S ckw ann wissen (Seite343), kommt zu dieser Zeit dem Muskel die gr\u00f6sste Tragf\u00e4higkeit zu, oder wie wir uns dort ausdr\u00fcckten, er vermag das Maximum der Last auf Null H\u00f6he zu heben. Diese Auffassung ist allerdings mit der Einseitigkeit behaftet, von einer Vergleichung der Hubh\u00f6he ganz abzusehen; sie gew\u00e4hrt dagegen den Vortheil, dass sie die Muskeln vergleicht, w\u00e4hrend die Fasern in dem m\u00f6glichsten Parallelismus sich befinden, und zugleich erlaubt sie die Zusammenstellung von solchen Muskelmassen, deren einzelne Fasern von sehr verschiedener L\u00e4nge sind, daim Beginn der Zusammenziehung allen R\u00f6hren eine gleiche Kraft zukommt. \u2014 Den gr\u00f6ssten Querschnitt findet man nun dadurch auf, dass man aus dem zu untersuchenden Muskel an dem Orte seines gr\u00f6ssten Umfangs ein durch zwei parallele Schnitte begrenztes St\u00fcck ausschneidet, dasselbe wiegt und seine L\u00e4nge misst. Kennt man dann noch das spezifische Gewicht der Muskelsubstanz, so ist der Querschnitt zu finden. Denn das absolute Gewicht des Muskelst\u00fcckes (A) ist = dem Product aus dem spezifischen Gewicht (G) mit dem Volum m des Muskels, d. h. A = SV. Das Volum V ist aber == L\u00e4nge (L) mal Querschnitt\nA\n(Q), also A \u2014 SLQ und somit Q =\nUn\u00fcberwindliche Schwierigkeiten bietet es vorerst noch, wenn man die Muskeln r\u00fccksichtlich ihres Nutzeffektes, oder auch nur mit Ber\u00fccksichtigung ihrer Hubh\u00f6he auf ihre mechanischen Leistungen vergleichen will. Mit Beziehung hierauf l\u00e4sst sich kaum mehr aussagen, als dass der kurze Muskel die angeh\u00e4ngte Last auf eine geringere H\u00f6he bringen wird, als der l\u00e4ngere. Die Schwierigkeiten, die einer weiteren Beurtheilung entgegentreten, sind mannigfach; sie liegen zum Theil darin, dass wir das Gesetz nicht kennen, nach welchem mit der proportionalen Verk\u00fcrzung die F\u00e4higkeit des Muskels, Gewichte zu heben, abnimmt, d. h. in welchem Verh\u00e4ltnis der Tragf\u00e4higkeit gleich grosse Querschnitte verschieden stark zusammengezogener Muskeln stehen. Da wir aber wenigstens im Allgemeinen wissen, dass die Tragf\u00e4higkeit abnimmt, wenn die proportionale Verk\u00fcrzung im Zunehmen begriffen ist, so schliessen wir daraus, dass ein um einen bestimmten absoluten Werth verk\u00fcrzter Muskel, der aus Fasern von ungleicher L\u00e4nge besteht, auf den verschiedenen Orten seines Querschnitts eine gr\u00f6ssere oder geringere Kraft besitzt, je nachdem durch den betreffenden Ort k\u00fcrzere oder l\u00e4ngere Fasern hindurchtreten. Hieraus folgt aber sogleich, dass sich auch in diesem Falle die Richtung des Zuges fortlaufend mit der Verk\u00fcrzung \u00e4ndern muss. Diese Schwierigkeit w\u00e4re nur wegzur\u00e4umen, wenn man s\u00e4mmtliche Faserl\u00e4ngen messen k\u00f6nnte; oder sie darf bei der Betrachtung der im lebenden Menschen verwendeten Kr\u00e4fte vernachl\u00e4ssigt werden, wenn sich das Gesetz von Ed. Weber*) best\u00e4tigt, wonach sich bei den Gliederbewegungen die einzelnen verschieden langen R\u00f6hren verm\u00f6ge ihrer Anheftung an die Gelenk-\n*) Ed. Weber, Ueber die L\u00e4ngenverh\u00e4ltnisse der Fleischfasern s. u. w. Leipziger Berichte/ mathematisch physische Classe 1851. \u2014 Derselbe; \u00fcber die Gewichtsverh\u00e4ltnisse der Muskeln u. s. w ebendaselbst 1849..","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nVerwendung der Muskelkr\u00e4fte.\nenden immer um das gleiche proportionale St\u00fcck ihrer urspr\u00fcnglichen L\u00e4nge verk\u00fcrzten. \u2014 Zum weitern gelingt es aber auch darum nicht, die bewegende Kraft des Muskels w\u00e4hrend seiner Verk\u00fcrzung anzugeben, weil sich in der letztem bei allen Muskeln mit convergirenden Fasern der ConvergenzWinkel \u00e4ndert. \u2014 Aus diesem Grunde gibt eine Bestimmung von mittleren L\u00e4ngen und mittlern Querschnitten der verschiedenen Muskeln, wie sie Ed. Weber als Maass f\u00fcr den Nutzeffekt gebraucht, kaum noch einen weiteren Aufschluss, als das absolute Gewicht der Muskeln.\n3. Verwendung der von den Muskeln auf das Skelet \u00fcbertragenen Kr\u00e4fte. Die von den Muskeln entwickelten Kr\u00e4fte \u00fcbertragen sich auf die einzelnen Hebel des Skelets und erzeugen dort entweder Spannungen [durch Druck und Zug] oder Bewegungen der Theile gegeneinander. Die Aufgabe, welcher Antheil der von den Muskeln \u00fcbertragenen Kr\u00e4fte zur Bewegung und welcher zur Erzeugung von Spannungen verwendet wird, ist zu l\u00f6sen, wenn man die Lage der Muskelresultirenden zu den Knochen und ihren Drehachsen (resp. Drehpunkten) kennt und den Umfang der Bewegung, welche den Knochen in ihren Gelenken zukommt.\nUm diese Bedingungen zu erf\u00fcllen, bringt Ad. Fick das zu untersuchende Glied AB. Fig. 123, dessen Muskeln pr\u00e4parirt sind, frei in das Innere eines aus Holz dargestellten rechtwinkligen Coordinatensystems X, Y} Z, und h\u00e4lt es daselbst unver-r\u00fccklich mittelst der Schrauben S, S, S fest. Bann entwirft er nach bekannter Methode ebensowohl von der Drehachse, als auch von der Resultirenden des Muskels Al Projektion auf die Ebenen AT, ZF, AZ und bestimmt darauf ihre Lage zum Drehpunkt auf jeder der Ebenen.\nFig. 123.","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"893\nDie Muskelkr\u00e4fte erzeugen Druck und Bewegung.\n\\\nGesetzt es seien diese Bedingungen erf\u00fcllt, so dass der Punkt A in Fig. 124 das Ende einer auf die Ebene des Papieres senkrechten\nAchse bezeichnete, um welche sich die beiden Knochen KJ und Ku in der Ebene des Papieres drehen k\u00f6nnten, und BC die Resultirende eines zwischen bei*' den Knochen ausgespannten Muskels > darstellte, so w\u00fcrden die Linien AB und AC die Hebelarme und die Winkel ABC und ACB die Ansatzwinkel sein. Die Bewegung zwischen K* und Ku kann nun entweder geschehen, indem sich beide Knochen gleichzeitig oder der eine bewegliche sich dem andern feststehenden n\u00e4hert. Da das Resultat in dem ersteren Fall sich zusammensetzt aus den Einzelbewegungen des zweiten, so wird es gen\u00fcgen die Prinzipien zu geben, nach denen der zweite zu beurtheilen ist. Wir nehmen an, es sei KJ vollkommen unbeweglich und zudem soll die Linie BC nach irgend einem L\u00e4ngenmaasse in so viel Theile getheilt sein, als die Resultirende Gewichtseinheiten zu heben vermag; nach diesen Voraussetzungen gen\u00fcgt es die Linie BC mittelst des Parallelograms der Kr\u00e4fte in zwei andere zu zerlegen, von denen die eine BD in der Richtung des Hebelarmes AC und die andere BC senkrecht auf AC gelegen ist; theilt man diese beiden Linien BD und CB nach demselben L\u00e4n-\nd\ngenmaass, in welchem auch die L\u00e4nge von BC ausgedr\u00fcckt war, so wird die Zahl der Maasseinheiten jeder Linie zugleich den Kraft-antheil der Resultirenden BC angeben, in welches sie nach den be-zeichneten Richtungen wirkt, mit andern Worten den Druck, mit welcher sie in der Richtung von BC die Knochen A/7und K\u00e9 gegeneinander presst und die bewegende Kraft, welche in der Richtung von B B den Knochen K' zieht. Da nun aber in dem rechtwinkligen Dreieck B B\n- = dem Sinus des Ansatzwinkels B CB ist, so wird B B = B B C\nsin. B CB sein, wenn wir mit R die Kraft der Resultirenden B Cund mit B B diejenige des bewegenden Zuges B B bezeichnen. -\u2014Der oben gefundene Werth von B B gilt aber nur so lange als die Knochen die bezeichnete Stellung beibehalten ; folgt in der That, durch keinen weiteren Widerstand aufgehalten, der Knochen dem bewegenden Zuge, so wird ihn dieser nach der Kreislinie erf\u00fchren; neh-\nFig. 124.","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nHebell\u00e4iigen der Muskelkr\u00e4fte.\nmen wir nun beispielsweise an, es sei der Knochen so gestellt worden , dass sein Hebelarm von C nach E gekommen, so wird jetzt B E dieLage der Resultirenden und AEB der Ansatzwinkel sein, welcher wie der Augenschein lehrt betr\u00e4chtlich gr\u00f6sser geworden, so dass unter Voraussetzung gleicher Werthe von R das Produkt R sin. BCD kleiner als R sin. AEB wird. \u2014 Nun \u00e4ndert sich aber bei der Zusammenziehung des Muskels nicht allein die Yerthei-lung der Gesammtkraft zwischen den dr\u00fcckenden und bewegenden Wirkungen, sondern auch wie wir wiederholt erw\u00e4hnten, die Gesammt-kraft selbst, in einer uns unbekannten Weise und \u00f6fter sogar die Lage der Resultirenden im Muskel selbst, so dass die Anwendung der eben Gegebenen Grunds\u00e4tze auf den einzelnen Fall sogleich unm\u00f6glich wird, so wie man beabsichtigt die Wirkung des Muskels f\u00fcr mehr als\neine Stellung des Gliedes zu bestimmen..\nStatt auf dem vorgezeichneten Wege, der das Problem in seiner ganzen Ausdehnung zu l\u00f6sen verspricht, vorzuschreiten, hat man andere sogenannte empirische Bestimmungsmethoden in Anwendung gebracht: 1. Um zu ermitteln, in welcher Richtung ein Muskel ein Glied bewegen k\u00f6nne, bedient sich Ed. Weber der Messung der Abst\u00e4nde, in welchen sich die Muskelans\u00e4tze befinden bei verschiedenen Stellungen ihrer zugeh\u00f6rigen Knochen; offenbar wird der Muskel, da er durch seine Verk\u00fcrzung den Knochen bewegt, diejenige Stellung der letzten erzeugen k\u00f6nnen, bei welcher die Muskelans\u00e4tze aus einer grossem in eine geringere gegenseitige Entfernung treten. Diese Bestimmungsweise erlaubt allerdings die bewegende Richtung einer jeden einzelnen Faser eines Muskels zu bestimmen, sie sieht dagegen von der dr\u00fcckenden ganz ab. \u2014 2. Man sucht die s\u00e4mmtlichen Fasern der lebenden Muskeln, w\u00e4hrend sie sich noch in ihren normalen Verbindungen befinden, mittelst anhaltender elektrischer Schl\u00e4ge in gleichm\u00e4ssige Zusammenziehung zu versetzen; Duchenne*). Diese Methode wird erst dann als allgemeines Hilfsmittel Beachtung verdienen, wenn man im Stande ist, es mit Sicherheit zu bewerkstelligen, dass die elektrischen Str\u00f6me in gleicher St\u00e4rke auf s\u00e4mmtlicke Fasern eines Muskels isolirt von allen benachbarten Muskeln einwirken.\nDie anatomischen Lehrb\u00fccher geben mit Vernachl\u00e4ssigung der Gr\u00f6sse der Zugkraft unter Muskelwirkung nur Angaben \u00fcber die Richtung der Kraft; aber auch diese sind ganz unvollkommen, wie abgesehen von allem tebrigen daraus hervorgeht, dass man nicht bei allen im Gelenk m\u00f6glichen Verstellungen den Zug des Muskels bestimmt, sondern nur bei einigen willk\u00fcrlich angenommenen. So k\u00f6nnen z. B. offenbar fast alle Beuger und Strecker der Anatomen auch Rotatoren Sein, wenn vor Beginn der Wirkung des Muskels der Knochen um seine L\u00e4ngsachse gedreht war etc.\n4. Hebell\u00e4ngen, an welchen die bewegenden Muskelkr\u00e4fte wirken. Je nach der grossem oder geringeren L\u00e4nge des Hebelarmes, an welche sie angreift, hebt eine bewegende Kraft bestimmten Wer-thes geringe Lasten mit gr\u00f6sserer oder grosse Lasten mit geringerer Geschwindigkeit, so dass das ans Geschwindigkeit (g) und Masse (m) hervorgehende Produkt \u2014 mg f\u00fcr sie in allen F\u00e4llen dasselbe bleibt. Dass diese bekannteste aller pkysikalischen Regeln au chin der Combination der Skelethebel mit den Muskelkr\u00e4ften ihre volle Anwendung hat,\n*) Duchenne in Valentin\u2019s Jahresbericht der Physiologie 1851. p. 150.","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Aufspannung der Muskeln am Skelet.\n395\nscheint kaum bemerkenswert!!. Als wichtig ist nur hervorzuheben, dass die Skelethebel, weil sie mit Gelenken versehen sind, die in jeder beliebigen Stellung durch die Druckkr\u00e4fte umliegender Muskelb\u00e4nder fixirt werden k\u00f6nnen, ihre L\u00e4nge zu ver\u00e4ndern im Stande sind. Daraus folgt, dass das Verh\u00e4itniss zweier zugeh\u00f6rigen Hebelarme, an deren einem eine zu hebende Last, und am andern eine Muskelkraft wirkt, manigfach ver\u00e4nderlich ist, so dass dieselbe Muskelkraft je nach Umst\u00e4nden eine geschwinde oder eine kr\u00e4ftige Bewegung hervorruft. Ais bekanntes Beispiel diene hierf\u00fcr die Last, die man bei gestrecktem oder gebeugtem Arm zu heben vermag. \u2014\n5. Aufspannung der Muskeln am Skelet in der Verl\u00e4ngerung und Verk\u00fcrzung.\n\u00ab. W\u00e4hrend der Ruhe finden sich die Muskeln zwischen ihren Ansatzpunkten immer in einem gewissen Grade elastischer Spannung ; aus dieser Behauptung erl\u00e4utert Ed. Weher mit Recht die Thatsache, dass auch die Enden des in der Ruhe durchschnittenen Muskels, gegen ihre Ansatzpunkte hin zur\u00fcckfahren. Verm\u00f6ge dieser Einrichtung wird nicht allein der Muskel, wenn eine ihn bisher verk\u00fcrzende Erregung nachl\u00e4sst wieder auf seine urspr\u00fcngliche L\u00e4nge ausgedehnt, sondern es beginnt auch mit der eintretenden Verk\u00fcrzung sogleich der Muskelzug seine Wirksamkeit auf den Knochen zu \u00e4ussern. Durch diese beiden Umst\u00e4nde werden die in der Richtung der Muskelr\u00f6hren wirksam en Zugkr\u00e4fte am vollkommensten f\u00fcr den Knochen nutzbar gemacht* \u2014 Da nun aber um alle und namentlich um die Ber\u00fchrungsgelenke Muskeln sitzen, welche nach gradezu entgegengesetzten Richtungen wirken, so muss die gesteigerte elastische Spannung, in welche die Muskeln der einen Seite treten, wenn sich die der anderen zusammenziehen, der Verk\u00fcrzung dieser letztem einen Widerstand bieten. Wegen der Eigenth\u00fcmlichkeit der Elastizit\u00e4tscoeffi-cienten der feuchten thierischen Stoffe, insbesondere der hier in Betracht kommenden Muskel- und Sehnensubstanz bei geringen proportionalen Ausdehnungen derselben sehr niedrig zu sein, wird jedoch dieser Widerstand sich als nicht erheblich heraussteilen, vorausgesetzt, dass selbst bei einem Maximum der spannenden Gelenkdrehung die proportional^ Verl\u00e4ngerung des Muskels keine betr\u00e4chtliche ist. Diese Bedingung ist erf\u00fcllt dadurch, dass fast durchweg ein bedeutender L\u00e4ngenunterschied zwischen den beiden Hebelarmen besteht, an welchen je ein Muskel diesseits und jenseits eines Gelenkes zieht, so dass namentlich immer das eine Ende des Muskels nahe und ein anderes entfernt von dem zugeh\u00f6rigen Gelenke sich anheftet. Dass liierdurchf\u00fcr die Ausdehnung die bezeichnete Folge eintritt ergibt die Anschauung ohne besondern Beweis. Setzen wir z.B.Fig. 125 zwei Anheftungsweisen eines und desselben Muskels voraus, verm\u00f6ge deren das eine Mal der eine seiner Gelenkarme O M betr\u00e4chtlich an L\u00e4nge den an-","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nUnterschied der L\u00e4ngen beider Hebelarme.\nFig. 125.\ndem O AI' \u00fcbertreffe, w\u00e4hrend ein anderes Mal beide Hebelarme 0 N und 0 N* von gleicher L\u00e4nge sind, und denken wir uns nun den Hebelarm 0AI* resp. OiV, um den f\u00fcr beide gleichen Winkel AF O K reps. N* O L gedreht, so\nwird der Muskel M* AI indem er die L\u00e4nge A1K angenommen sich nur sehr unbetr\u00e4chtlich\nausgedehnt haben im Vergleich zu der Verl\u00e4ngerung des Muskels NN* als das eine seiner Enden N* in die Lage L \u00fcberging. Hieraus ergibt sich die Regel, dass alles andere gleichgesetzt ein Muskel bei derselben Winkeldre-hung einen um so geringeren proportionalen\nL\u00e4ngenzuwachs erh\u00e4lt, je gr\u00f6sser die Differenz seiner beiden Hebell\u00e4ngen ist. \u2014 Bedeutungsvoll f\u00fcr'die Verminderung des Widerstandes ausgedehnter Muskeln ist es nun auch, dass die Sehne wenn sie lang ist im Verh\u00e4ltnis\u00bb zu der rothen Substanz eines Muskels meist einen sehr geringen Querschnitt besitzt, so dass sie trotz der geringen Dehnbarkeit ihrer Substanz dennoch leicht zu verl\u00e4ngern ist. \u00f6. Die Muskelfasern sind nun aber auch um die Gelenke so ange-\ngelegt, dass selbst bei dem Maximum ihrer m\u00f6glichen Verk\u00fcrzung ihre urspr\u00fcngliche L\u00e4nge um einen nicht all zu grossen Antheil abnimmt, Joh. M\u00fcller *). Die n\u00e4chste Folge, die sich mit Ber\u00fccksichtigung bekannter Eigent\u00fcmlichkeiten der Muskelkr\u00e4fte hieraus ergibt, besteht darin, dass dann das am Skelet angeheftete Muskelrohr seinen Hebelarmen noch sehr betr\u00e4chtliche Zug- und Druckkr\u00e4fte mittheilen kann. Die besondern Umst\u00e4nde, durch welche diese Anordnung besteht liegen darin, dass: a. wie schon bemerkt ist, immer ein sehr betr\u00e4chtlicher Unterschied in der L\u00e4nge der beiden zu je einem Muskel geh\u00f6rigen Hebelarme besteht ; um zu zeigen wie durch diese Einrichtung selbst bei einem Maximum der Beweglichkeit der proportionale Werth der Verk\u00fcrzung sehr gering werde, verweisen wir auf Fig. 125. Nehmen wir an, es sei in ihr die Beweglichkeit der Hebelarme unbegrenzt, so dass z. B. der Winkel MOL bis zu Null abnehmen d. h. die Punkte Wund N' zur unmittelbaren Ber\u00fchrung kommen k\u00f6nnten; w\u00fcrde sich nun der Muskel NN* um das Gelenk O so angesetzt haben, dass der Hebelarm ON gleiche L\u00e4nge mit 0Z,bes\u00e4sse, so h\u00e4tte die L\u00e4nge des Muskels auf Null reduzirt werden m\u00fcssen ; setzt sich dagegen, wie es in der That geschieht, der gleichlange Muskel M* M an die ungleichen Hebelarme O K und 0 AI an, so wird bei der vorausgesetzten Drehung, wobei der Punkt AP auf P zu liegen kommt, der Muskel noch die betr\u00e4chtliche L\u00e4nge AI P \u2014 dem Unterschiede der\nLehrbuch II. Bd, p. 199. Anmerk.","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Regeln f\u00fcr die Zusammenfassung der Muskeln.\n397\nL\u00e4ngen beider Hebelarme besitzen. \u2014 \u00df. Wenn Muskeln mehr als ein Gelenk \u00fcberspringen, so dass in der Verk\u00fcrzung ihre beiden Ansatzpunkte sich einander betr\u00e4chtlich n\u00e4hern werden, so sind sie sehr lan\u00b0* genommen, w\u00e4hrend ihre Sehne sehr kurz ist, so dass sie in der That eine betr\u00e4chtliche Verk\u00fcrzung zu ertragen im Stande sind. \u2014 Ed. Weber*) der zuerst die L\u00e4ngenverh\u00e4ltnisse der Muskeln mit R\u00fccksicht auf ihre m\u00f6gliche Verk\u00fcrzung in Betracht gezogen hat, gibt an dass im Mittel am menschlichen Skelet der L\u00e4ngenunterschied der rothen Fasern zwischen m\u00f6glichster Verk\u00fcrzung und m\u00f6glichster Verl\u00e4ngerung sich zu der gr\u00f6ssten L\u00e4nge derselben verhalte = 47:100.\n^Dje m\u00f6glichst gr\u00f6sste und geringste L\u00e4nge misst Ed. Weber durch den Abstand der Ansatzpunkte des Muskelfleisches am pr\u00e4parirten Muskel, nachdem er das, zugeh\u00f6rige Glied in die am meisten erschlaffenden und spannenden Grenzstellungen gebracht\u201d welche im Leben ausf\u00fchrbar sind. Da ein Muskel immer aus R\u00f6hren von sehr verschiedener L\u00e4nge besteht, so bestimmte er jedesmal die l\u00e4ngste und k\u00fcrzeste Faser desselben. \u2014 An einem K\u00f6rper, dessen Muskeln er s\u00e4mmtlich in der bezeieh-neten Weise durchmass, schwankten die Maasse vom k\u00fcrzesten zum l\u00e4ngsten Muskel von 5 bis zu 453 MM. Die l\u00e4ngsten Fasern enthalten die Muskeln, welche sich zugleich \u00fcber zwei sehr bewegliche Gelenke spannen; und im Mittel sind die Muskeln der Extremit\u00e4ten l\u00e4nger als die des Rumpfes. Bei einer Vergleichung des L\u00e4ngenunterschiedes der Muskeln in der gr\u00f6ssten Ausdehnung und gr\u00f6ssten Verk\u00fcrzung mit ihrer gr\u00f6ssten L\u00e4nge ergab sich, dass die Verh\u00e4ltnisszahl weitaus in den meisten F\u00e4llen dem angegebenen Mittel sehr nahe kam ; jedoch gab es auch Abweichungen, indem die k\u00fcrzesten Fasern des m. brachialis internus die Verh\u00e4ltnisszahl 100:40 und die des m. biceps femoris, semimembranosus und semitendinosus nur 100:80 gaben; diese letzten Muskeln stehen jedoch mit ihrer grossen proportionalen Verk\u00fcrzung sehr vereinzelt da. E d. W e b e r behauptet auch nach seinen Messungen, dass wenn sich ein Muskel aus verschieden langen R\u00f6hren zusammensetze, dennoch zwischen der Gr\u00f6sse seiner Verk\u00fcrzung und der gr\u00f6ssten L\u00e4nge das bezeichnete Verk\u00e4ltniss von\nICO : 47 bestehe.\n6. lieber die Zusammenfassung der Muskelprimitivtheile zu Mus-\n__Eine Frage von eigenth\u00fcmlichem Interesse ist weiterhin die,\nwelche mechanische Principien bei der Zusammenordnung der Muskelr\u00f6hren zu Muskeln befolgt seien. Auf den ersten Blick scheint mit R\u00fccksicht hierauf ohne bestimmte Regeln verfahren zu sein, indem bald Muskelr\u00f6hren von sehr verschiedener Richtung, wie an denrnm. deltoideus, cucullaris, glutaeus m\u00e9dius u. s. w. in eine Sehne zusammenlaufen, w\u00e4hrend ein anderes Mal Muskelr\u00f6hren gleicher Richtung wie z. B. im mm. biceps brachii, brachialis internus, supinator lon-gus in den verschiedenen Sehnen am Vorderarm ausm\u00fcnden. So weit sich aber schon jetzt ersehen l\u00e4sst, sind dennoch folgende Regeln festzustellen: a. Wenn gleich gerichtete Muskelr\u00f6hren in zwei oder mehr Muskeln gespalten sind, welche ein und dasselbe Gelenk nach derselben Richtung ziehen, soist der eine derselben an einen Kraft-und der andere an einen Geschwindigkeitshebel befestigt. Da aber nach dem Vorher-\nEd. Weber, Heber die L\u00e4ngenverh\u00e4ltnisse ti. s. w. Leipziger Berichte; physisch-mathem. Classe 1852. 63.","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nMuskul\u00f6se Gegner und Helfer.\ngehenden eine Ungleichheit in der L\u00e4nge der Hebelarme stattfinden muss, so wird zwischen den beiden Muskeln mit gleichgerichteten Faserz\u00fcgen eine solche Verschr\u00e4nkung der Ans\u00e4tze stattfinden m\u00fcssen, dass einer der Muskeln am oberen Ende des Knochens A entspringt und an das obere Ende des Knochens B sich befestigt, w\u00e4hrend der zweite am unteren Ende des Knochens A seinen Ursprung und am untern Theil des Knochens B sein Ende findet. Dieses Gesetz der Verschr\u00e4nkung der nach gleicher Richtung ziehenden Muskeln findet eine sehr verbreitete Anwendung, so dass es nicht noth-wendig erscheint Beispiele derselben vorzuf\u00fchren. \u2014 b. Wenn gleichgerichtete Muskelr\u00f6hren in zwei oder mehr Muskeln gespalten sind, die in gleicher Richtung auf dasselbe Gelenk wirken, ohne dass einer derselben an einen Last- und der andere an einen Geschwindigkeitshebel sich ansetzt, so ist dem einen von beiden noch eine Nebenwirkung auf ein anderes Gelenk zugetheilt; in diesem Fall springt mit andern Worten der eine der Muskeln nur \u00fcber ein und der andre \u00fcber zwei Gelenke fort, oder beiden ist f\u00fcr dasselbe Gelenk, neben einer gemeinsamen Wirkung auch noch jedesmal eine besondere anvertraut. Beispiele hierf\u00fcr liefern die mm. biceps brachiiund brachialis internus, von denen der erste Beuger und Supinator des Vorderarms, der letzte nur Beuger ist ; ferner der m. triceps brachii, dessen langer Kopf neben der mit den k\u00fcrzern gemeinsamen Vorderarmstreckung auch noch den Oberarm im Schult er gelenk bewegt; ferner die mm. biceps femoris (caput long.), semitendinosus und semimembranosus, welche s\u00e4mmtlich den Oberschenkel strecken und den Unterschenkel beugen, w\u00e4hrend diesen der erstere Muskel zugleich nach ausw\u00e4rts und die letzteren ihn nach einw\u00e4rts rollen u. s. w. u. s. w. \u2014 Diese beiden so eben vorgef\u00fchrten Grunds\u00e4tze lassen die beiderseitige oder nur einseitige Isolation gleichgerichteter Muskelr\u00f6hren vollkommen sinnvoll erscheinen. Unm\u00f6glich ist es dagegen aus \u00e4hnlichen allgem\u00e9inen Regeln das h\u00e4ufige Vorkommen zu rechtfertigen, wonach ganz verschieden laufende in ihrer Wirkung fast durchweg antagonistische Fasern in eine Sehne zusammengefasst sind wie z. B. am m. cucullaris, m. glutaeus m\u00e9dius u. s. w. \u2014\n7. Vertheilung der Muskeln um die Gelenkachsen; Gegner und Helfer. Ein- und zweigelenkige Muskeln. Um alle Gelenke sind die Muskeln so angelegt, dass f\u00fcr jede der Bewegungsrichtungen, welche dem Gelenk verm\u00f6ge seiner Fl\u00e4chen und Bandapparate zukommt, auch Muskeln angelegt sind; daraus folgt, dass auch an den entgegengesetzten Enden derselben Gelenkmasse Muskeln ziehen, welche das Hin und Her der Bewegung in ein und derselben Ebene bedingen, so dass also, wenn wie am H\u00fcft- und Schultergelenk, Bewegungen nach allen Richtungen m\u00f6glich sind, ein vollkommener Muskeltrichter vorhanden ist, dessen Faserung ann\u00e4hernd parallel mit der L\u00e4ngenachse","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Ein- und zweigelenkige Muskeln.\n399\ndes Knochens geht, welche dann noch von Muskelb\u00e4ndern gekreuzt wird, deren L\u00e4nge senkrecht gegen die des Knochens geht. Bei einer solchen Anordnung versteht es sich aber von selbst, dass jedesmal nur wenige der um ein Gelenk gelegten Fasern absolute Gegner sind, so dass unter allen Umst\u00e4nden die Verk\u00fcrzung der einen Faser eine Verl\u00e4ngerung der andern bedingen m\u00fcsste. Im Gegentheil, es entspringt aus einer solchen Anordnung die Folge, dass dieselben zweiMuskeln\u2019in dem einen Fall Gegner und im andern Fall Helfer sind. So werden z. B. die vordem mm. adductores femoris [pectineus, gracilis, adductor Ion-gus und brevis] weil sie den Oberschenkel beugen, dem m. glutaeus maxi-mus entgegen wirken, sie werden dagegen in Verbindung mit dem letztem Muskel den Oberschenkel adduziren u. s. w. \u2014 Zu antagonistischen Wirkungen f\u00fchren aber nicht allein die Muskelz\u00fcge unter sich, sondern es verm\u00f6gen begreiflich diesen letzten auch Knochenvorspr\u00fcnge, B\u00e4nder, schwere Massen und dergleichen entgegen zu wirken. Diese Bemerkung gilt namentlich f\u00fcr das H\u00fcft-, Knie*, Schl\u00fcsselbein-, Kiefergelenk und andre. So tritt z. B. der streckenden und adduziren-den Wirkung der mm. glutaeus maximus und adductor magnus der gemeinsame Bandapparat, welcher aus dem ligament, superius, teres und dem St\u00fccke der fascia lata besteht, das sich von der spina ossis ilei anterior superior \u00fcber den trochanter major zum Unterschenkel erstreckt, entgegen; dem Zuge des vierk\u00f6pfigen Unterschenkelstrecker setzen sich die ligamenta genu later alia entgegen u. s. w. \u2014 In gleichem Sinne ist der Antagonist der kr\u00e4ftigen Kopf- und R\u00fcckgrathstrecker die Schwere der nach vorn liegenden Kopf-, BrusJ^ und Bauchknochen und Eingeweide u. s. w. Hieraus folgert sich aber nun weiter noch die Assymetrie der Muskelmasse um die Gelenke, so dass z. B. den kr\u00e4ftigen Adduktoren und Streckern des Oberschenkels, den Streckern des Unterschenkels, den Hebern des Schulterblattes u* s. w. keine entsprechend starke Beuger u. s. w. gegen\u00fcber stehen.\nBei einer Vergleichung derjenigen Muskeln, welche nur ein Gelenk bewegen mit denen die zugleich auf zwei wirken ergibt sich f\u00fcr die grossen Gelenke als Regel, dass jedesmal die erstere Gruppe vollkommen vorhanden ist, so dass ein jedes dieser Gelenke nach allen Richtungen hin unabh\u00e4ngig von den ihm benachbarten bewegt werden kann. Die Regel, welche dagegen die Anordnung von zwei- und mehrgelenkigen beherrscht, ist vorerst noch unbekannt.\n8. Besondere Muskelgruppen. Eine Besprechung der Leistungen aller einzelnen an das menschliche Skelet gehefteten Muskeln wird man nach dem Vorhergehenden nicht mehr erwarten. Wir beschr\u00e4nken uns demgem\u00e4ss auf einige Andeutungen \u00fcber die Anordnung der Muskeln in den grossen Abtheilungen des Skelets.\na. Kiefer muskeln. Die Oeffner des Kiefers sind d\u00fcnne und m\u00f6glichst lange Muskeln, ihr Ansatz geschieht in m\u00f6glichster Entfer-","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nMuskeln des Kiefers und Kopfes.\nimng vom Drehpunkte des Gelenkes. Einer von ihnen (digastricus \u00f6ffnet den Kiefer allein, ein anderer (latissimus colli) Kiefer und Lippen gleichzeitig.\nIm direkten Gegensatz zu ihnen stehen die Kieferschliesser. Ihr Querschnitt ist m\u00f6glichst gross ; darum ist f\u00fcr die oberen Ursprungspunkte noch der proc. zygomaticus \u00fcber die Schl\u00e4fenfl\u00e4che gespannt und die fossa pterygoidea interna gebildet und f\u00fcr die untern der Kieferast emporgeschoben; die Schliessmuskeln sind ferner m\u00f6glichst kurz und setzen sich darum an einen kurzen Hebelarm aber unter einem f\u00fcr die Wirkung auf die Z\u00e4hne sehr g\u00fcnstigen Winkel an.*\nDie Vorw\u00e4rtszieher endlich sind zum Theil Schliessmuskeln (pte-rygoideus internus und masseter) zum Theil stellen sie eine eigne kr\u00e4ftige Masse den m. pterygoideus externus dar, welche durch seinen Ansatz an den Kopf und den meniscus beide gleichzeitig nach vom auf das tuberculum zieht.\nR\u00fcckw\u00e4rtszieher beim Er\u00f6ffnen des Kiefers sind mm. geniohyoi\u00ab deus und digastricus, und beim Schliessen m. temporalis.\n\u00f6. Kopfmuskeln. Bei der Stellung des Kopfes \u00fcber dem Rumpf war es, unter Voraussetzung einer allseitigen Beweglichkeit, nothwen-dig, dass er auf ein schmales Statif, den Hals aufgestellt wurde. Die L\u00e4nge dieses letzten wird ungef\u00e4hr bestimmt durch die Gr\u00f6sse des Neigungswinkels, welchen die kleine Kopfgelenke zulassen, den Umfang, welcher der Oeffnungsbewegung des Kiefers zukommt und den Abstand der Kiefer und Hinterhauptspitze von der queren Gelenkachse des ersten Kopfgelenks. \u2014 Ed. Weber weist darauf hin, dass die Leichtigkeit der Kopfbewegung sehr beg\u00fcnstigt werde durch die Aufstellung der schweren Masse auf Condylen von geringer Ausdehnung. \u2014 Der Kopf ist beweglich entweder f\u00fcr sich oder zugleich mit der Wirbels\u00e4ule, so dass er auch Stellungsver\u00e4nderungen in seinenWerbindungs-gelenken mit der Wirbels\u00e4ule gleichzeitig mit denen der Halswirbel unter sich erfahren kann. \u2014 Die reine Kopfbewegung zwischen Atlas und Hinterhaupt bewirken nach vorn und hinten mm. recti capitis antici und postici; die nach den Seiten mm. rectus capitis lateralis und obliquus superior ; beide Muskelmassen sind klein und wirken an kurzen Hebelarmen. Die Drehung in der Horizontalebene besorgen mm. obliquus inferior und rectus posticus major.\nDie Combination der Hals- und Kopf bewegung wird ausgef\u00fchrt 1) durch ein System von schieflaufenden sich kreuzenden Fasern. Zu diesen geh\u00f6ren in der einen Richtung m. sternocleidomastoideus, die obere Partie des m. cucullaris, mm. complexus und biventer, welche von den vordem und seitlichen Theilen des Rumpfsrespektive der Wirbels\u00e4ule nach hinten und innen zum Kopf laufen ; in entgegengesetzter Richtung durch m. splenius, welcher von der hintern Mittellinie des Halses kreuzend mit den vorigen gegen den Seiten theil des Kopfes dringt.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Muskeln der Wirbels\u00e4ule.\n401\n2) Durch drei grade Muskeln, von denen einer (rect. capitis long, an-ticus) beugt, ein anderer den Kopf gegen die Schulter neigt (trache-lomastoideus) und ein dritter (das innere St\u00fcck des biventer) streckt.\nDie Ansatzpunte der Muskel an dem Kopf liegen demnach vorzugsweise am Ende zweier unter einem rechten Winkel sich kreuzender Hebelarme, die den beiden oben erw\u00e4hnten Achsen des Hinterhauptgelenkes parallel gehen; ihre Endpunkte werden dargestellt durch den processus mastoideus einerseits und durch protuberantia occipitalis und pars basilaris anderseits. Insofern sie auf das Kopfgelenk allein wirken sind demnach mm. splenii und sternocleidomastoidei, Rotatoren und Seitw\u00e4rtsbeuger, mm. cucullaris, complexus und biventer Rotatoren und Strecker ; der Mangel der entsprechend kr\u00e4ftiger Beuger erl\u00e4utert sich daraus, dass der Schwerpunkt des Kopfes nach vorn von dem Unterst\u00fctzungspunkte gelegen ist.\u2014\nc. Muskeln der Wirbels\u00e4ule. Sie sind, wie Ed. Weber zuerst bemerkte, nach demselben Plan angelegt, der bei der Construk-tion der Hals- und Kopfmuskeln angewendet ist. Zun\u00e4chst ist durch die r\u00fcckw\u00e4rts beugenden mm. interspinosi ; die seitw\u00e4rts beugenden mm. intertransversarii und die drehenden mm. multifidis ein Apparat gegeben, vermittelst dessen, unabh\u00e4ngig von allen andern, ein einziger Intervertebralknorpel in seiner Lage ver\u00e4ndert werden kann. Dann kann durch ein System gekreuzter und durch zwei Systeme gerade verlaufender Fasern immer eine gr\u00f6ssere Abtheilung der Wirbels\u00e4ule gleichzeitig bewegt werden. Zu diesen letztem Wirbels\u00e4ulemuskeln und zwar zu den am Rumpf gekreuzten Spiralen z\u00e4hlen die mm. semispinales, obliqui abdominis, quadratus lumborum, intercostales, sterno-costales ; man sieht ein Theil derselben (mm. obliquus externus, quadratus lumborum, intercostales externi) laufen im Sinne des m. sternoc-leidomastoideus, ein anderer (m. obliquus intern, intercostales intern.) in der Richtung des m. splenius. Die Richtung der obern Lage der einen Seite ist die Fortsetzung der tiefem der andern K\u00f6rperh\u00e4lfte. Die \u00e4usser-sten Punkte dieser Muskelfl\u00e4chen wirken, indem sie sich an das Becken und die Rippen ansetzen, an langen Hebelarmen. In ihrer Wirkung auf die Wirbels\u00e4ule unterst\u00fctzen sich jedesmal je zwei Lagen, die je nach der Art der Wirkung bald die gleichseitigen und bald die ungleichseitigen sind. Diese Muskeln greifen aber auch auf die Athmungs- und Darmentleerungsbewegungen ein ; sie werden in dieser Beziehung an den betreffenden Orten noch erw\u00e4hnt werden. \u2014 Die geraden Muskelz\u00fcge werden hinten aus dem m. sacrolumbaris mit seinen Ausl\u00e4ufern den mm. sacrocostalis, colli ascendens,longissimus dorsi, colli transversalis, sacrospinalis, vorn durch die mm. rectus abdominis und longissimus colli dargestellt. Aus demselben Grunde wie am Kopf, ist die Muskelmasse an der hintern Seite st\u00e4rker als an der vordem; zudem wirkt\nLudwig, Physiologie I.\t26","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nMuskeln des Brustgliedes.\nm. rectus abdominis auch noch an einem langem Hebelarm als der sacrolumbaris. \u2014\n\u20ac& Muskeln des Brustgliedes. Die Stellung des Armes auf den Seitenfl\u00e4chen des h\u00f6chsten Theiles der Brust, die ihm durch die clavicula gesichert ist, gibt ihm den freiesten Spielraum der Bewegung und \u00fcbertr\u00e4gt zugleich den Endeffekt der Bewegung der untern Gliedmaasen und die des gr\u00f6ssten Theils der Wirbels\u00e4ule auf ihn. Die doppelte Gegenwart des Arms vermehrt die Vielfachheit der gleichzeitigen Bewegungsrichtung und den Umfang des von dem Brustglied umspannbaren Raumes ; ihre symmetrische Stellung zur Wirbels\u00e4ule bedingt eine der Ortsbewegung dienliche Yertheilung der R\u00f6rperlast und f\u00fchrt zugleich zur Bildung der sogenannten Schultern, d. h. zu Fl\u00e4chen, die, weil sie senkrecht gegen die L\u00e4ngsrichtung der Wirbels\u00e4ule stehen, besonders geeignet sind, die von der letztem ausge\u00fcbten Stosskr\u00e4fte auf fremde K\u00f6rper zu \u00fcbertragen.\nDer Arm selbst, ein mehrfach gebrochener Stab, kann je nachdem er sich streckt oder beugt, oder je nachdem sein freies Ende unter oder neben seinen Aufh\u00e4ngspunkt f\u00e4llt, Last- oder Geschwindigkeitshebel werden, unter der Voraussetzung, dass die Last an der Hand und die Kraft am Schultergelenke wirkt Die Hand endlich, eine Platte, welche in einzelnen St\u00e4ben endigt, stellt eine nach allen Richtungen verbiegbare Fl\u00e4che dar, die namentlich mittelst der Finger zum Haken, Stift, Ring \u00fc. s. w. sich umgestalten kann. Die ausserordentliche Beweglichkeit des ganzen Gliedes ist neben einer verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig grossen Festigkeit dadurch erzielt, dass eine vielfache Zahl von St\u00fccken auf einander eingelenkt sind, von denen jedes folgende auf dem vorhergehenden nur wenig beweglich und namentlich tim so weniger beweglich ist, je kleiner die Ber\u00fchrungsfl\u00e4chen beider St\u00fccke sind. Es multi-pliziren sich demgem\u00e4ss die einzelnen Bewegungen ; so kann z. B. das Oberarmbein durch seine Einlenkung auf dem beweglichen Schulterblatt alle Bewegungen, die es im Schultergelenk zu erfahren im Stande ist, an allen Stellungen bewerkstelligen, die das Schulterblatt selbst einzunehmen vermag; ein Gleiches gilt von dem Vorderarm gegen\u00fcber dem Oberarm u. s. w. Aus diesem Grund war es auch, ohne der Beweglichkeit Eintrag zu thun, erlaubt, die jenseits des Oberarmkopfs liegenden Gelenke nur nach einer oder nach zwei Richtungen hin ztt-sammenknickbar zu machen, nach der andern dagegen so zu steifen, dass z. B. die Handfl\u00e4che mit den Fingern ein steifes Brett, Oberarm und Vorderarm eine feste Stange in der Streckung darstellen.\nUeber die Muskelordnung an der obern Extremit\u00e4t l\u00e4sst sich folgendes Allgemeine mittheilen. 1. Das Muskelfleisch, welches auf der Streckseite der Gelenke liegt, die nur bis zur graden Linie gestreckt werden k\u00f6nnen, verschmilzt zu einer Sehne, die entweder nur ein Gelenk \u00fcbergreift (humerus-ulna) oder sogleich \u00fcber mehrere geht","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"403\nMuskeln des Brustgliedes.\n(Phalangen). 2. Jedes Gelenk, mit Ausnahme der sehr nahe zusammengelegenen Carpal- und der beiden letzten Phalangengelenke ist durch Muskelfleisch beweglich, welches sich nur \u00fcber dasselbe ausspannt; zugleich aber ist es mit Muskeln \u00fcberzogen, welche bei ihrer Zusammenziehung jedesmal gleichzeitig das N\u00e4chstvorhergehende oder Folgende in Bewegung setzen. Demgem\u00e4ss ist mit Beziehung auf die Ansatzpunkte die Muskulatur der obern Extremit\u00e4t zu Zerf\u00e4llen: In Muskeln vom Rumpf zum Schulterg\u00fcrtel und vom Rumpf zum Oberarm; in Muskeln vom Schulterg\u00fcrtel zum Oberarm und vom Schulterg\u00fcrtel zum Unterarm ; in Muskeln vom Oberarm zum Radius und vom Oberarm zur Ulna und vom Oberarm zur Hand ; in Muskeln von der Ulna zum Radius und von beiden Knochen zur Hand und endlich von der Hand zu den Fingern und von dem Unterarm zu den Fingern. Yon diesen beiden Muskelgruppen ist in vollkommener Ausbildung nur die kurze, eingelenkige vorhanden, indem sie jedesmal Muskelfasern nach soviel Richtungen enth\u00e4lt, als das Gelenk Bewegungen zul\u00e4sst. Diese vollst\u00e4ndige Anwesenheit der eingelenkigen Muskeln bedingt \u00f6fter noch eine besondere Bildung der um das Gelenk liegenden Knochensubstanz; so musste z. B.um f\u00fcr die Bewegung nach drei rechtwinklig einanderschneidenden Achsen Muskeln zu gewinnen, das Schulterblatt als eine Platte auf-treten, auf der eine zweite unter einem Winkel aufgesetzt ist. (Acromion)* Ihre vollkommene Ausbildung bringt das schon bei der Knochenzusammensetzung der oberen Gliedmassen erw\u00e4hnte Prinzip zur Yollendung dadurch, dass n\u00e4mlich die Beweglichkeit des St\u00fctzpunktes die Beweglichkeit des aufsitzenden Knochens multiplizire, denn da die Ansatzpunkte der Muskulatur eines auf einem beweglichen St\u00fccke siz-zenden Gelenkes mit der Bewegung desselben selbst ihre Lage ver\u00e4ndern, so wird die Bewegung des Gelenkes vollkommen unabh\u00e4ngig von irgend welcher besondern Stellung des beweglichen Grundst\u00fcckes. \u2014 Diese eingelenkige Muskelgruppe ist nun aber nicht allein vollkommen ' vorhanden, sondern oft sind einzelne Glieder derselben doppelt gegenw\u00e4rtig ; so z. B. stellt der mittlere Theil des m. deltoideus dieselbe Richtung dar, welche m. supraspinatus zukommt ; diese Muskeln unterscheiden sich aber in Bezug auf die Hebell\u00e4nge an der sie bei feststehendem Schulterblatt am Oberarm wirken. \u2014 Die \u00fcber zwei Gelenke hinausgehende Gruppe ist im Gegensatz zu der eben behandelten meist nur in wenigen Richtungen dargestellt. So gibt es, um ein Beispiel zu erw\u00e4hnen, unter den Schulterblatt-Yorderarmmuskeln nur Heber (biceps) und R\u00fcckw\u00e4rtszieher (langer Kopf des triceps) des Oberarms, dagegen sind die Rumpfarmmuskeln Abw\u00e4rtszieher und Rotatoren, so dass erst die zwei Abtheilungen der zweigelenkigen Muskeln f\u00fcr das Oberarmgelenk alle Bewegungen geben. Der Grundsatz aus dem die Anordnung dieser Muskeln fliesst, liegt noch im Dunkeln. Besondere Yortheile, welche die Anwesenheit zweigelenkiger Muskeln ge-\n26*","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nMuskeln des Bauchgliedes.\nw\u00e4hrt, liegen jedoch auf der Hand. Denn einmal sind darum all-m\u00e4lige Ueberg\u00e4nge zweier Bewegungen in einander m\u00f6glich (Ed. Weber) und zugleich wirken die Muskeln in Bezug auf das erste Gelenk, das sie \u00fcberspringen, an Krafthebeln, indem sie sich m\u00f6glichst entfernt vom Drehpunkt desselben ansetzen, und auf das zweite Gelenk an Geschwindigkeitshebeln, indem sie sich m\u00f6glichst nahe an den Drehpunkt desselben anheften.\ne. Bauchglied. Das ganze Glied zeigt in verschiedenen Stellungen eine sehr verschiedene Beweglichkeit. In der Streckung des Ober- und Unterschenkels und der mittleren Beugung des Fusses wie sie bei dem Stehen auf horizontalem Boden vorkommt ist es am unbeweglichsten; denn es verhindern in diesem Fall im H\u00fcftgelenk das lig. superius eine weitere Streckung, das lig. teres und der durch den m. glu-taeus maximus gespannte \u00e4ussere Streifen der fascia lata Adduction. Das Kniegelenk wird steifer, weil die ligamenta lateralia in Spannung kommen und zugleich die mit einem grossen Kr\u00fcmmungshalbmesser begabten vordem Abschnitte der Kniegelenksforts\u00e4tze am Oberschenkel auf der ebenen Pfanne der tibia in ausgedehnterer Weise aufruhen. Im ersten Fussgelenk klemmt sich aber der astragalus ein.\nMit dieser Einrichtung und zugleich mit dem Tragen und Fortschieben der Rumpflast steht im Zusammenhang die Eigenth\u00fcmlieh-keit der Muskelvertheilung am Bauchglied, dass die Strecker der H\u00fcfte, des Knies und des Fusses und ebenso die auf der Plantarseite des Fusses befindlichen Muskeln das Uebergewicht \u00fcber die entgegengesetzt liegenden behaupten, und dass nur die Beuger des Kniegelenks zugleich Rotatoren desselben sind.\nDie Einrichtung der ein- und zweigelenkigen Muskeln kehrt wie am Arm wieder und in dieser Einrichtung ist abermals die Bestimmung, dass die eingelenkigen alle einem Gelenke m\u00f6glichen Bewegungsrichtungen enthalten. Am H\u00fcftgelenk \u00fcberwiegen die eingelenkigen an Querschnitt die zweigelenkigen weit aus, am Knie umgekehrt die zweigelenkigen die eingelenkigen.\nAufrechtes Stehen; Gehen.\nObwohl \u00dfs streng genommen ausserhalb der Grenzen eines Lehrbuchs der reinen Physiologie f\u00e4llt, auch noch die komplizirten Bewegungen des Skelets und seiner Muskeln zu besprechen, so werden wir doch noch ganz \u00fcbersichtlich die in der Ueberschrift bezeichneten m\u00fchsam erworbenen Kunstfertigkeiten behandeln, und zwar darum, weil dabei einige wesentlichen Eigenschaften der Bauchglieder besonders hervortreten. Das Sitzen, Laufen, Schwimmen, Reiten, Tanzen _ u. s. w. schliessen wir dagegen vollkommen aus.\nA. Aufrechtes Stehen. Die allgemeinsten Bedingungen desselben sind erf\u00fcllt, wenn der Schwerpunkt unseres K\u00f6rpers in den Raum","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Aufrechtes Stehen.\n405\nf\u00e4llt, welchen die auf dem Boden aufstehenden F\u00fcsse umschliessen, und die zwischen dem Rumpf und dem Boden liegenden H\u00fcft-, Knie- und Fussgelenke hinreichend gesteift sind, um ein Abgleiten der Gelenkfl\u00e4chen von einander zu verh\u00fcten. Diese letztere Bedingung kann in Erf\u00fcllung gebracht werden entweder allein durch eine Wirkung der Muskeln, oder vorzugsweise durch eine Gegenwirkung zwischen Bandmassen und der Schwere des Rumpfes; je nachdem das eine oder das andere dieser H\u00fclfsmittel in Anwendung gebracht ist, kann das Stehen k\u00fcrzere oder l\u00e4ngere Zeit ertragen werden, mit andern Worten erscheint uns dasselbe erm\u00fcdend oder bequem. Da das erstere auf eine ganz willk\u00fcrliche und mannigfach ver\u00e4nderliche Weise hervorgebracht werden kann, so verzichten wir auf seine Darstellung und fassen nur das bequeme Stehen in das Auge. Die Mittheilungen, die hier dar\u00fcber gegeben sind, folgen den Untersuchungen von H. Meyer.\n1. Lage der Schwerpunkte des Rumpfes und des Gesammtk\u00f6r-pers. Schwerlinie. Aon einer konstanten Lage des Schwerpunktes am Rumpf kann nat\u00fcrlich keine Rede sein, da das Gewicht seiner einzelnen Abtheilungen, wie namentlich das der Unterleibseingeweide einem fortlaufenden Schwanken unterworfen ist, da ferner seine einzelnen Theile sich gegeneinander bewegen k\u00f6nnen, und insbesondere die an seinen Enden angebrachten Forts\u00e4tze, die Arme und der Hals, sehr verschiedene Stellungen einzunehmen verm\u00f6gen. Die allgemeine Angabe \u00fcber die Lage des Schwerpunktes m\u00fcsste sich also auf die Grenzen beziehen, innerhalb deren sie wechseln kann. Diese sind uns aber nicht bekannt; wir wissen nur aus einem von Ed. Weber untersuchten Fall, dass der Schwerpunkt des Rumpfes, d. h. des menschlichen K\u00f6rpers mit Ausschluss der Beine, in der H\u00f6he des Schwertfortsatzes zu suchen ist, vorausgesetzt, dass die Arme am Leib herab-r h\u00e4ngen und die Wirbels\u00e4ule gestreckt ist. Die Lage des Schwerpunktes unseres Gesammtk\u00f6rpers (des Rumpfes und der Beine) ist aber begreiflich eine andere als die des Rumpfschwerpunktes. Nach einer Beobachtung von Ed. Weber f\u00e4llt die letztere in das Promontorium. Diese Lagen der Schwerpunkte des Rumpfes sowohl als des Gesammtk\u00f6rpers setzen wir in dem Folgenden als g\u00fcltig voraus.\nDie Beobachtung eines ruhig stehenden Menschen l\u00e4sst nun erkennen, dass eine senkrechte Linie, welche vom Schweipunkt gegen den Boden gezogen wird, in den Raum zwischen beide F\u00fcsse f\u00e4llt. Von dieser Senkrechten, der sog. Schwerlinie weichen nun aber die Verbindungslinien der Drehpunkte und Achsen aller oben genannten Gelenke merklich ab und namentlich verhalten sie sich nach Mey er in der Weise wie sie Fig. 126 angibt. Dieselbe stellt die Profilprojektion des menschlichen K\u00f6rpers mit eingezeichneten Knochen dar ; in ihr bezeichnet R den Schwerpunkt des Rumpfes ; seine Lage in dieser Ansicht ist bestimmt durch die nicht unwahrscheinliche Annahme,","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nAufrechtes Stehen.\nFig. 126.\ndass er ann\u00e4hernd in den geometrischen Mittelpunkt des horizontalen Rumpfdurchschnittes falle, wonach er in der Profilprojektion ungef\u00e4hr in der Mitte einer Linie liegen w\u00fcrde, welche man von dem processus xyphoideus zur Wirbels\u00e4ule ziehen kann. K gibt den Schwerpunkt des Ge-sammtk\u00f6rpers an, H den Drehpunkt des H\u00fcftgelenkes, A das Ende der Achse des ersten Fussgelenks und endlich RKB die Schwerlinie. Diese letztre verl\u00e4uft nun in der gegebenen Projektion zuerst hinter den Drehpunkt des H\u00fcftgelenks. H. Meyer glaubt sich zu diesen Annahmen berechtigt, weil, wenn man bei einem bequem stehenden Menschen den Faden eines Senkels in die Mitte der Seitenfl\u00e4che des Brustkastens anlegt, dieser hinter dem vorderen Rand des grossen Trochanters, der bekanntlich im aufrechten Stehen die Lage des Drehpunktes f\u00fcr das H\u00fcftgelenk angibt, herf\u00fcllt. Darauf trifft sie ann\u00e4hernd auf die Achse des Kniegelenks und zwar bald vor und bald hinter dieselbe und endlich konstant vor die Achse des ersten Fuss-gelenkes, jedoch noch immer in den Fuss.\n2. Steifung der Gelenke, a. Die Steifung des H\u00fcftgelenkes geschieht gemein scfiaft-lich durch die Zusammenziehung mehrerer Muskeln, namentlich der nach ausw\u00e4rts roti-renden und des m. glutaeus maximus, dann durch die Spannung des ligamentum iliofe-morale (lig. superius von Ed. Weber) ligam. teres, ligam. iliotibiale (das \u00e4ussere Blatt der fascia lata) und die Schwere. Da den gegebenen Thatsachen zufolge die Schwerlinie des Rumpfes RD nicht auf sondern hinter den Drehpunkt f\u00e4llt, so kann dieselbe mit Beziehung auf den letzten zerlegt werden in eine auf H senkrechte RH und in eine wagrechteZZ#. Der nach der Linie RH\nwirkende Antheil der Schwere wird durch den Drehpunkt unter-\nst\u00fctzt, die nach HD wirkende sucht dagegen den Rumpf auf den Schenkelkopf nach hinten zu drehen. Diesem letzteren Antheil von","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Aufrechtes Stehen,\n407\nder Gesammtkraft der Rumpflast wirkt nun die Spannung des lig. su-\nperius entgegen, so dass an diesem Band derTheil der Last, welcher\nvon dem Oberschenkelkopf nicht getragen wird, geradezu h\u00e4ngt. Die\nFixation in der Ebene, die auf die eben bezeichnete senkrecht steht\n\u00fcberimmt die gemeinschaftliche Wirkung der lig. teres, lig. iliotibiale\nund m. glut\u00e4us maximus. Dieser letztere streckt und adduzirt bekanntlich \u00a9\nzugleich; seiner Streckwirkung stellt sich das lig. superius entgegen, w\u00e4hrend die Adduktion in bekannter Weise theils das lig. teres hemmt, theils aber das vom \u00e4usseren Beckenrand \u00fcber den trochanter major zur tibia als eine starke Sehnenmasse hervortretende \u00e4ussere Blatt der fascia lata. Die vollkommene Befestigung in dieser Stellung, bei welcher weder der Rumpf in einer von vorn nach hinten, noch in einer von rechts nach links gehenden Ebene fallen kann, geben endlich die Ausw\u00e4rtsroller, welche^ gleichzeitig die lig. superius und teres spannen. \u2014 b. Die Steifung des Kniegelenks ist gegeben : durch die in der Streckung grosse Ber\u00fchrungsfl\u00e4che der entsprechenden Gelenkenden beider Knochen, durch die Zusammenziehung des vierk\u00f6pfigen Strek-kers, durch die Spannung der ligamta. iliotibiale, lateralia, cruciata und poplitaeum ; das Zusammenwirken dieser Massen ist aus dem bekannten Mechanismus des Kniegelenkes f\u00fcr sich klar ; hervorzuheben ist nur, dass das \u00e4ussere Blatt der fascia lata (lig. iliotibiale) schon durch die Zusammenziehung des m. glutaeus maximus, der bekanntlich vorzugsweise in dieses Band sich einsetzt, in starke Spannung gebracht ist. Danach ist es nicht unwahrscheinlich dass an diesem Band, welches den Streckmuskeln entgegen wirkt, der Rumpf auf \u00e4hnliche Weise im Kniegelenk, wie am lig. iliofemorale im H\u00fcftgelenk, h\u00e4ngt. \u2014 c. Die Steifung im Sprunggelenk wird besorgt durch die Schwere, durch die eigenth\u00fcmliche Stellung der Sprungrolle in der Tibio-fibular-pfanne, durch das Anpressen der Tibia gegen die Sprungrolle vermittelst des condyl. internus femoris, des ligam. laterale genu internum, poplitaeum und patellare und endlich durch die Ausw\u00e4rtsstellung beider F\u00fcsse. Da die Schwerlinie KB des Gesammtk\u00f6rpers nicht senkrecht auf den Achsen der Sprungrolle steht, sondern vor dieselbe f\u00e4llt, so kann die Wirkung der K\u00f6rperschwere ihrer Richtung nach zerf\u00e4llt werden ifi die auf die Sprungrolle senkrechte KE und die wagrechte AE. Diesem letzten Antheil der Schwere, der den Rumpf nach vorn zu drehen strebt, kann nun keine Folge geleistet werden, und zwar zun\u00e4chst wegen der gegenseitigen Lage, die den Fl\u00e4chen der beiden Sprungbeine zukommt. Denn wenn die beiden Unterschenkel gestreckt und damit einander parallel gestellt sind, so schneiden sich die Achsen der beiden Sprunggelenke in einem nach hinten offenen und darum ihre Fl\u00e4chen in einem nach vorn offenen Winkel, so dass eine gleichzeitige Beugung des Unterschenkels auf beiden Rollen unm\u00f6glich ist. Zudem kommt aber auch der Fuss beim Stehen in eine solche","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nAufrechtes Stehen-\nStellung gegen den Unterschenkel, dass der hintere schmale Theil der Sprungrolle in der Gelenkfl\u00e4che ruht; ist also ein Mechanismus vorhanden der die beiden Unterschenkelknochen in dieser Lage scharf gegen die Rollen anpresst, so wird ebenfalls die Beugung, bei welcher der breitere Theil des Astragalus in die Gelenkh\u00f6hle treten m\u00fcsste, unm\u00f6glich. Dieses Zusammenpressen der Knochen wird aber gegeben durch eine Drehung der Tibia um die Fibula, welche jedesmal eingeleitet wird, wenn das Knie sich streckt, und zwar durch das Hervortreten des langen condylus internus femoris, das ligam. laterale internum und poplitaeum und den schiefen Ansatz der Kniestrecker gegen die tuberositas tibiae. Unwahrscheinlich ist es dagegen dass die mm. gas-trocnemii noch betheiligt sind bei dem Mechanismus, welcher das Vorw\u00e4rtswerfen des Unterschenkels verh\u00fctet; ihre Verwendung w\u00fcrde wenigstens, da sie zugleich das Knie beugen, sehr unvorteilhaft sein. Kommt \u00fcberhaupt eine Muskelkraft bei der Steifung des ersten Fuss-gelenkes in Frage, so d\u00fcrften nur die vom Unterschenkel zum Fuss laufenden Muskeln, mm. tibialis posticus, peronaei postici und soleus von Bedeutung sein.\n3. Stellung des Sprungbeins auf dem Fussbogen. Das Sprungbein (127) st\u00fczt sich am ergiebigsten auf das Fersenbein mit zwei\nFig. 127.\tFl\u00e4chen /, II zwischen\nwelchen der bekannte Hohlraum bleibt, ferner liegt es noch vorn auf der Hohlfl\u00e4che des Kahnbeins und dem ligam. calcaneo-naviculare. Dieser Lage und Stellung gem\u00e4ss \u00fcbertr\u00e4gt es den gr\u00f6ssten Theil des auf ihm lastenden Gewichtes gegen das Fersenbein und dr\u00e4ngt zugleich, wegen der entgegengesetztenRichtung der gegen ossa calcanei und naviculare zugewendeten Fl\u00e4chen beide Knochen auseinander und zwar das Fersenbein nach hinten und aussen, das Kahnbein aber nach vorn und innen. Hiebei hemmen das lig. calcaneo naviculare (III) und der Apparatus ligamentosus (IF), welche senkrecht anfeinander stehen, das Auseinanderweichen der drei Knochen.\nDer auf das Fersenbein fallende Antheil der K\u00f6rperlast \u00fcbertr\u00e4gt sich auf die Erde durch den Fersenh\u00f6cker, welcher beim Aufruhen des Fusses auf ebenem Boden nach aussen und hinten von der Mittelebene der Astragalusrolle liegt. Um diesen hinten gelegenen festen Punkt des Fersenbeins w\u00fcrde die vorn wirkende Last den vordem Fersenbeinfortsatz drehen, wenn er nicht vorn und innen durch das lig. calcaneonaviculare und aussen durch einen spitzen unter das Fersenbein dringenden Fortsatz des os cuboideum und das lig. calca-","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Aufrechtes Stehen.\n409\nneocuboideum getragen w\u00fcrde. Der dem os naviculare zukommende Lastantheil theilt sich durch das os cun\u00e9iforme prim, und metatarsi prim, und die zugeh\u00f6rigen B\u00e4nder den den Boden ber\u00fchrenden Sesambeinen mit, und ebenso geht der auf dem os cuboideum lastende durch os metatarsi quintum auf den Boden \u00fcber.\nWegen der nach allen Seiten sich verbreitenden Spannung der B\u00e4nder kann der Fuss im Ganzen auch als ein Bogen angesehen werden der auf drei Punkten aufruht, deren gegenseitige Lage zu einander Fig. 128 angibt; Ca ist der aufruhende Punkt der Ferse, Se der des-Fis:. 128. jenigen des Sesambeins und MV der des f\u00fcnften Mittel-\nfussknochens. Der Lastantheil, welchen jeder der drei Punkte zu tragen hat, kann im einzelnen Fall nach bekannten Regeln ermittelt werden, wenn die Neigung der Linie gegen den Horizont gegeben ist, die man ziehen kann von dem Ort, wo die Last den Fuss trifft gegen die genannten Ber\u00fchrungsstellen zwischen Boden und Fuss. Beispielsweise sind an dem Fussdurchschnitt Fig. 127 zwei dieser Linien AB und AC ausgef\u00fchrt. \u2014 In Ermangelung genauer auf diese Frage bez\u00fcglicher Messungen ergibt der Augenschein, dass beim Stehen auf ebenem Boden die Ferse den gr\u00f6ssten und der letzte Me-\nMV\ntatarsalknochen den geringsten Lastantheil unterst\u00fctzt. Auf die Vortheile, welche f\u00fcr die Sicherheit des Stehens aus der Gegenwart dreier St\u00fctzpunkte jederzeit erw\u00e4chst, braucht kaum aufmerksam gemacht zu werden. Ebensowenig ist hervorzuheben, dass durch die Rotation, welche entweder der ganze Fuss am os naviculare und cuboideum ausf\u00fchrt und durch die Bewegung des letzten Metatarsalknochens auf dem os cuboideum, die M\u00f6glichkeit gegeben ist, die drei Punkte gegeneinander und gegen verschiedene Bodenunebenheiten zu verschieben.\nEin besonderes Problem bietet die Frage \u00fcber das Stehen auf den Ballen, auf dessen L\u00f6sung aber hier nicht eingegangen werden kann. Es soll hier nur erw\u00e4hnt werden, dass wir bei gebeugtem und gestrecktem Fussgelenk auf einem oder mehreren Metatarsalk\u00f6pfchen stehen k\u00f6nnen und dass, wenn das Stehen auf dem Ballen nur eines Fusses sicher sein soll, wir die Zehen gleichzeitig auf den Boden legen m\u00fcssen, die sich dann dem Ballen gegen\u00fcber \u00e4hnlich verhalten als die Ballen der Ferse gegen\u00fcber, wenn wir auf dem ganzen Fusse ruhen.\nB. Nat\u00fcrliches Gehen*). Unter ihm begreift man den Gang, durch den mit m\u00f6glichst geringer Muskelanstrengung der Rumpf in einem gleichgrossen scheitelrechten Abstand vom Boden mit gleich-\n*\n*) Ed. u. W. Weber, Mechanik der Gehwerkzeuge. G\u00f6ttingen 1836.","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nNat\u00fcrliches Gehen.\nf\u00f6rmiger Geschwindigkeit nach horizontaler Richtung mittelst der Beine fortgeschoben wird. Bei den folgenden Darstellungen ist ein wagrecht liegender Boden vorausgesetzt.\nDiese Bewegung erfordert, wie aus ihrer Definition hervorgeht, 1. eine Kraft, welche in senkrechter Richtung wirkend den Schwerpunkt des K\u00f6rpers st\u00fctzt; diese senkrechte Kraft muss genau so gross sein wie die Schwere des Rumpfs, weil ohne diese Bedingung der Rumpf steigen oder fallen w\u00fcrde; 2. eine Kraft, welche in horizontaler Richtung wirkend den Rumpf vorw\u00e4rts schiebt, diese letztere Kraft muss in jedem Augenblick der Geschwindigkeit nach vorn einen gerade so grossen Zuwachs ertheilen, als in diesem durch den Luftwiderstand verzehrt wird, weil ohne diese Gleichheit der beschleunigenden und verlangsamenden Kr\u00e4fte der Gang nicht gleichf\u00f6rmig ge-\nschwind ausfallen k\u00f6nnte.\nDiese Bedingungen sind folgendermassen erf\u00fcllt. Der Rumpf wird zuerst von einem senkrecht unter seinem Schwerpunkt stehenden Beine unterst\u00fctzt, im n\u00e4chsten Moment verl\u00e4ngert sich dasselbe und schiebt, indem es sich gegen den unnachgiebigen Boden stemmt, den beweglichen Rumpf vorw\u00e4rts; diese schief gegen den Boden wirkende Kraft (Stemmkraft) l\u00e4sst sich in eine horizontale und eine senkrecht wirkende zerlegen und gen\u00fcgt also zun\u00e4chst den aufgestellten Forderungen, aber nur f\u00fcr eine kurze Wegstrecke, so lange n\u00e4mlich als das stemmende Bein aus der Verk\u00fcrzung in die Verl\u00e4ngerung \u00fcbergehen kann. Ist nun aber die Streckkraft dieses ersten Beins ersch\u00f6pft, so tritt die des andern Beins in Wirksamkeit, welches n\u00e4mlich bisher in\nder Luft schwebend an dem nach vorn geschobenen Rumpf gerade so weit nach vorn schwingt, um in der neuen Lage desselben wieder als St\u00fctze des Schwerpunkts dienen zu k\u00f6nnen. Dieses zweite Bein \u00fcber-\nnimmt dann die Rolle des ersten.\nWir werden nun noch eine genauere Zergliederung der hier auftretenden Bewegungen geben. Wir gehen dabei von dem Augenblick aus, in welchem die Beine mit dem Boden in der Profilprojektion ein rechtwinkliches Dreieck darstellen, dessen Catheten durch die auf den\nBoden fallenden Verbindungslinien beider Beine und das den Schwerpunkt senkrecht unterst\u00fctzende Bein dargestellt werden ; ein Augenblick, der also gerade dann besteht, wenn die Streckkraft des einen Beins ersch\u00f6pft und die des andern im Maximum m\u00f6glich ist.\nDas st\u00fctzende, senkrecht stehende Bein muss in diesem Augen-blick den Schwerpunkt des K\u00f6rpers allein tragen; zu diesem Behufe muss derselbe nach der Seite dieses Beines geworfen sein. Nach II. Mey er geschieht dieses einfach dadurch, dass der Fuss im Sprunggelenk gebeugt wird. Denn da die Beugungsebene des Sprungbeins schief von innen und hinten nach aussen und vorn von der Mittel-ebeyie des K\u00f6rpers geht, so muss durch diese Beugung das obere Ti-","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Nat\u00fcrliches Gehen.\n411\nbialende und damit der ganze Rumpf nach aussen, resp. auf die unterst\u00fctzte Seite gef\u00fchrt werden. Ausserdem gilt f\u00fcr die Steifung der Gelenke alles das was beim Stehen mitgetheilt worden ist. Geht nun das Bein aus der unterst\u00fctzenden in die stemmende Periode \u00fcber, so muss es sich verl\u00e4ngern, weil ohne dieses der Rumpf nicht in horizontaler Richtung nach vorn geschoben und getragen werden k\u00f6nnte. Diese Verl\u00e4ngerung geschieht zuerst durch Streckung des Knies und dann des Fusses im Sprunggelenk, wodurch zugleich der Rumpf um die L\u00e4nge des Fusses, indem sich derselbe vom Boden ab-wickelt, nach vorn geschoben wird. Hierauf wird eine noch weiterschreitende Verl\u00e4ngerung durch m\u00f6glichste Streckung im H\u00fcftgelenke bewerkstelligt. Hat damit das Bein das Maximum seiner Verl\u00e4ngerung erfahren,so hebt es sich um in dem nun folgenden Schwingungsakt keine Reibung zu erleiden, durch Beugung im Kniegelenk von Boden ab. Die Muskeln, die sich bei dem ganzen Akte betheiligen, sind mm. gastrocnemii und soleus zur Streckung des Fusses, die vierk\u00f6pfigen Kniestrecker und die H\u00fcftstrecker; am Schluss der Streckwirkung aber wiederum die mm. gastrocnemii zur Beugung des Knies. Nach Messungen der Gebr\u00fcder Weber bel\u00e4uft sich der ganze Werth der Verl\u00e4ngerung des Beines um ungef\u00e4hr % derjenigen L\u00e4nge, die es w\u00e4hrend des St\u00fctzens besitzt.\nAls das erste eben betrachtete Bein sich in seiner gr\u00f6ssten Verk\u00fcrzung befand, hatte das andere seine gr\u00f6sste L\u00e4nge erreicht und war in dem Augenblick als das erstere zum stemmenden wurde vom Boden abgehoben. Einmal abgehoben schwingt es nach vorn, aber nicht in Folge eines Muskelzuges, sondern einfach durch seine Schwere; es schwingt wie ein aufgehangenes Pendel, und zwar in der Richtung von innen und hinten nach aussen und vorn. Die M\u00f6glichkeit einer solchen Schwingung ist durch die aequilibriite Aufh\u00e4ngung des Beins in der Pfanne gegeben, und der Beweiss f\u00fcr diese Art von Bewegung liegt darin, dass nach Messungen von W. Weber die Schwingungszeit am lebenden und todten Bein genau \u00fcbereinstimmt und zwar gerade so viel betr\u00e4gt, als die eines Pendels von der L\u00e4nge des Beins,und der ihm zukommenden Massenvertheilunff.\nAus diesen Thatsachen ergeben sich nun alle auf die Schrittdauer und die Schrittl\u00e4nge bez\u00fcglichen Folgerungen, die durch W. Webers genaue Messungen am gehenden Menschen best\u00e4tigt sind.\nDie Schrittdauer ist einerseits abh\u00e4ngig von dem Zeitraum, in welchem beide Beine den Boden gleichzeitig ber\u00fchren und anderseits von der Schwingungszeit des schwebenden Beins. Den ersten Punkt anlangend so unterscheidet sich bekanntlich da\u00ab Gehen vom Laufen dadurch, dass im ersteren ein Zeitraum erscheint, in dem beide Beine auf dem Boden steifen, und im letztem ein solcher, in dem beide","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nNat\u00fcrliches Gehen.\nschweben ; die Grenze beider Ortsbewegungen oder das sogenannte schnellste Gehen ist also mit R\u00fccksicht auf den vorliegenden Umstand gerade dann erreicht, wenn der Zeitraum des gleichzeitigen Auftretens Null wird, d. h. wenn das eine Bein den Boden im Augenblick verl\u00e4sst, in welchem das andere auftritt. \u2014 Die Schwingungszeit des schwebenden Beins ist aber abh\u00e4ngig von dem Abstand der Schenkelk\u00f6pfe vom Boden und der Zahl der Grade, welche die Schwingung des Beins umspannt. Je k\u00fcrzer die Beine durch das nat\u00fcrliche Wachsthum oder je mehr sie angezogen sind, um so rascher werden sie dem Pendelgesetz gem\u00e4ss ihre Schwingungen vollenden. Die Zahl der Grade, welche der Schwingungsbogen umfasst, findet ihren kleinsten Werth in dem Bogenabschnitt, der vollendet werden muss von dem Punkt an, wo das Bein vom Boden gehoben wird, bis zu dem, wo der Fuss senkrecht unter dem Schwerpunkt liegt, also von irgendwelcher Erhebung bis zur senkrechten Stellung des Beins. Beschr\u00e4nkt sich dasselbe auf diesen Schwingungsumfang, mit andern Worten auf eine halbe Pendelschwingung, und schwingt nicht noch unn\u00fctzer Weise jenseits des angegebenen vorderen Grenzpunktes, so wird es damit f\u00fcr einen gegebenen Stand der Schenkelk\u00f6pfe die kleinstm\u00f6gliche Schwingungsdauer erreichen.\nDie Schrittl\u00e4nge ist abh\u00e4ngig von der L\u00e4nge des abgewickelten Fusses und ferner f\u00fcr alle durch Wachsthum gleichlange Beine, von dem senkrechten Abstand zwischen dem Schenkelkopf und dem Boden, in dem Augenblicke wo die Streckung des Beins beginnt. \u2014 Der erste Punkt ist von selbst klar, und der zweite wird es sogleich, wenn man bedenkt, dass die Verl\u00e4ngerung des Beins um so mehr der horizontalen Bewegungsrichtung zu gute kommt, je niedriger die Schenkelk\u00f6pfe stehen.\nEine Combination der \u00fcber Schrittdauer und Schrittl\u00e4nge gegebenen Mittheilungen ergibt, dass das schnellste Gehen, d. h. die gr\u00f6sste Schrittl\u00e4nge und kleinste Schrittdauer m\u00f6glich wird, wenn die Schenkelk\u00f6pfe m\u00f6glichst niedrig getragen werden, was mit der t\u00e4glichen Erfahrung \u00fcbereinstimmt.\nIn den Kreis unserer Betrachtung m\u00fcssen nun noch die Bewegungen und Stellungen gezogen werden, in welche der Rumpf und die Brustglieder beim nat\u00fcrlichen Gehen gerathen. Zuerst ist hier zu bemerken, dass der Rumpf, den der Luftwiderstand stetig in seiner Bewegung von hinten nach vorn verz\u00f6gert, unwillk\u00fcrlich beim Gehen nach vorn geneigt wird, und zwar um so betr\u00e4chtlicher, je rascher die Gangbewegung ist. Zweitens bewegt sich der Rumpf nicht vollkommen in einer horizontalen Ebene, sondern sinkt am Ende der stemmenden\n\u25a0V .Jj\nWirkung eines Beins um ein Weniges, wird aber dann durch das als St\u00fctze eintretende Bein wieder gehoben. Drittens endlich wird auch dem Rumpf eine kleine Drehung mitgetheilf durch das schwingende","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Musikalische Eigent\u00fcmlichkeit der Stimme.\n413\nBein, welches den Rumpf in einer horizontalen Ebene um den feststehenden Schenkelkopf des andern Beins zu rollen sucht. Diese Wirkung wird aber aufgehoben durch gleichgehende Bewegung des Armes der entgegengesetzten Seite und entgegengesetzt gehende Bewegung des gleichseitigen Armes. Aus diesem Grunde bewegt sich der Arm auf der Seite des schwingenden Beins in einer diesem entgegenge-setztenRichtung, w\u00e4hrend der anderseitige Arm gleiche Schwingungsrichtung darbietet.\nDie geringe Erm\u00fcdung unserer Muskeln, die beim nat\u00fcrlichen Gang eintritt, und die es uns m\u00f6glich macht, das Gehen weit l\u00e4ngere Zeit hindurch zu ertragen, als das Stehen, erl\u00e4utert sich vorzugsweise durch die Ruhe, welcher die Beine wechselnd hingegeben werden; in-. dem das jedesmal schwingende Glied, von der Luft getragen, ohne Muskelanstrengung nach vorn bewegt wird.\nInwiefern die seitliche Symmetrie des K\u00f6rpers von wesentlichem Einfluss auf die Regelm\u00e4ssigkeit des Ganges ist, und wie die Assy-metrie des Skelets zwischen hinten und vorn die Bewegung nur nach einer Richtung hin vorzugsweise bedingt, ist bei E. H. Weber*) nachzusehen.\nStimm- und Spr achte er kzeuge.\nMittelst willk\u00fcrlich beweglicher Organe sind wir im Stande, auf die mannigfaltigste Weise T\u00f6ne zu erzeugen; unter diesen m\u00f6glichen Tonwerkzeugen sind aber nur die von hervorragendem Interesse, welche in den Schling- und Athemapparat eingef\u00fcgt sind.\nStimm e**),\n1. Musikalische Eigent\u00fcmlichkeiten der Stimme. Die Stimme, welche im Kehlkopf erzeugt wird, gestaltet sich r\u00fccksichtlich ihres Umfangs, ihrer Reinheit und ihres Klanges, vorausgesetzt, dass sie durch die aus den Athemwerkzeugen str\u00f6mende Luft erzeugt wird, folgendermassen :\na. Der Umfang der Menschenstimme, d. h. der Abschnitt der Tonleiter, welchen der menschliche Kehlkopf erzeugt, umfasst drei und eine halbe Oktave ; im \u2019Mittel hat ihr niedrigster Ton 80 ganze Schwingungen in der Sekunde = E, und ihr h\u00f6chster 992 ganze Schwingungen. In diesen Gesammtumfang theilen sich nun die einzelnen Individuen in der Art, dass eine gute Einzelstimme zwei bis zwei und eine halbe Oktaven beherrscht. Indem man R\u00fccksicht auf die Tonh\u00f6he der Ein-\n*) Hildebrandts Anatomie 4. Aufl. 1. Bd. 125.\n**) J. M\u00fcller, Handbuch der Physiologie II. Bd, 133. \u2014 Liscovius, Physiologie der menschlichen Stimme. Leipzig 1846. \u2014 Rinne, das Stimmorgan etc. M\u00fcllers Archiv 1850. \u2014 Longet traite de Physiologie I. Bd. 3. Heft 1852. \u2014 Ueber die hier nicht besprochene Stimme beim Einathmen siehe L i s c o v i u s 1. c. p. 50 u. S e g o n d, Compt. rend. XXVI. Bd.","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nUmfang, Klang.\nzelstimmen nimmt, unterscheidet man Bass, Tenor, Alt, Sopran* Nach ganz bekannten Angaben theilen sich diese Einzelstimmen in die menschliche Tonleiter der folgenden Tafel gem\u00e4ss.\nSopran\nAlt\nBass und Tenor sind das Eigenthum der m\u00e4nnlichen, Alt- und Sopran das der weiblichen Stimme, so dass die tiefe weibliche Stimme ungef\u00e4hr um eine Oktave h\u00f6her beginnt als die tiefe m\u00e4nnliche, und die hohe weibliche um eine Oktave h\u00f6her endigt als die hohe m\u00e4nnliche.\nEinzelne B\u00e4sse gehen noch viel tiefer herunter als hier angegeben; so erw\u00e4hnt man S\u00e4nger, welche noch das F mit 43 (ganzen) Schwingungen erzeugen\nkonnten. Knaben- und Castratenstimmen sollen \u00f6fter bis zum f emporsteigen. Ganz ausgezeichnete individuelle Stimmen gebieten \u00fcber 3, ja in ganz seltenen F\u00e4llen \u00fcber 3\u00a3 Oktaven.\n_ b. Klang. Die menschliche Stimme ist zahlloser Klangarten f\u00e4hig; man kann geradezu behaupten, dass jedes Individuum sich durch einen besondern Klang der Stimme auszeichnet. Aber in dieser unbeschreiblichen Mannigfaltigkeit des Klanges der menschlichen Stimme \u00fcberhaupt charakterisirt sich im Allgemeinen doch wieder die m\u00e4nnliche von der weiblichen Stimme durch eine besondere Tonf\u00e4rbung, und innerhalb der m\u00e4nnlichen und weiblichen ist wiederum der Tenor vom Bass und der Sopran vom Alt durch einen eigenth\u00fcmlichen Klang unterschieden. Nicht minder ist die Stimme eines Individuums sehr zahlreicher Modifikationen ihres Klanges f\u00e4hig. Yon den verschiedenen Stimmarten des Individuums sind aber nur wenige dem musikalischen Ohr so wohlgef\u00e4llig, um in der aus\u00fcbenden Tonkunst verwendet zu werden. Die verwendeten Klangarten (Register) haben die gemeinsame physiologische Eigenth\u00fcmlichkeit, dass sie schon von den wesentlichen Theilen des\u2019menschlichen Stimminstruments hervorgebracht werden. Man belegt diese einzelnen Register (welche also den verschiedenen weiblichen Stimmen ebenso gut zukommen als den m\u00e4nnlichen) mit dem Namen der Brust- und Kopf- oder Fistelstimme. \u2014 Die Brust stimme charakterisirt sich durch einen vollen, starken Klang ; ihren Namen hat sie daher erhalten, dass bei ihrer Erzeugung die Brustwandungen in ein der aufgelegten Hand f\u00fchlbares Erzittern gerathen. Die Fistelstimme zeichnet sich durch eine fl\u00f6tenartige weiche Tonf\u00e4rbung aus. Alle T\u00f6ne, welche ein Individuum hervorbringen kann, vermag dasselbe \u00fcbrigens nicht mit Brust- und Fistelstimme nach Belieben zu erzeugen. In das Gebiet der Bruststimme","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"St\u00e4rke, Reinheit.\n415\nfallen jedesmal die tiefem, in das der Fistel die hohem Noten, und nur wenige T\u00f6ne, welche auf der Grenze zwischen Brust- und Fistel-stimme gelegen sind, k\u00f6nnen nach Belieben in beiden Registern angegeben werden. Der Unterschied zwischen Fistel- und Brustklang ist beim Weibe weniger ausgepr\u00e4gt als beim Manne. \u2014\nc.\tSt\u00e4rke der Stimme. Sie ist sehr verschieden, im Allgemeinen aber bei Individuen mit kleinem Brustkasten und wenig ger\u00e4umiger Mundh\u00f6hle schwach. Ausserdem k\u00f6nnen jedesmal die tiefsten T\u00f6ne, die ein Individuum hervorzubringen vermag, nur schwach angegeben werden, w\u00e4hrend die h\u00f6chsten nur sehr laut ansprechen. Das all-m\u00e4lige Anschwellen eines Tones, sein Gang vom piano zum forte oder umgekehrt, ist der menschlichen Stimme m\u00f6glich, aber nur mit Schwierigkeiten und nach einer besonderen Erziehung derselben.\nd.\tReinheit der Stimme. Man versteht hierunter bald die Reinheit des Klangs, ihre Befreiung von schwirrenden Ger\u00e4uschen und dann auch wieder das Verm\u00f6gen, den Ton von gew\u00fcnschter H\u00f6he zu treffen. Ira erstem Sinn wechselt sie bei demselben Individuum nach der Lebensweise und dem Lebensalter betr\u00e4chtlich; gewissen Lebensperioden ist sie vollkommen versagt; z. B. dem Greisen- und S\u00e4uglingsalter, der Zeit, in welcher vorzugsweise die Geschlechtsentwicklung stattfindet ; nach starken Erhitzungen, w\u00e4hrend bestehender Katarrhe in der Rachenh\u00f6hle und in dem Kehlkopf, nach starken Anstrengungen der Stimme ist die Reinheit getr\u00fcbt. Im zweiten Sinne ist die Reinheit der Simme keine angeb orne, sondern eine anerzogene Eigenschaft, wie sogleich daraus erhellt, dass ein Individuum mit mangelhaft ausgebildetem Geh\u00f6r niemals eine reine, die Noten tref-\n* fende Stimme gewinnt, selbst wenn seine Stimmwerkzeuge sich auch der h\u00f6chsten Vollendung erfreuen.\n2. Methoden, um die einzelnen Theije des Stimmapparates auf\nihre musikalischen Leistungen zu pr\u00fcfen. *\na. Nach dem bahnbrechenden Vorg\u00e4nge von Joh. M\u00fcller benutzt man zur Ermittlung des Antheils, den die einzelnen Gebilde an der Erzeugung der Stimme nehmen, den todten ausgeschnittenen Kehlkopf. Zu diesem Zweck richtet man sich ihn auf verschiedene Weise vor, je nachdem man nur den Kehlkopf f\u00fcr sich oder zugleich auch die Mundwerkzeuge mit in den Kreis der Untersuchung ziehen will. \u2014 Im ersten Fall trennt man den Kehlkopf vom Zungenbein, dem Kehldeckel und der Speiser\u00f6hre und schneidet ihn darauf auch von der Luftr\u00f6hre ab, jedoch so, dass noch ein l\u00e4ngeres St\u00fcck derselben mit ihm in Verbindung bleibt. Dann entfernt man auch vorsichtig die oberen Stimmb\u00e4nder, so dass man bequem die oberen freien Fl\u00e4chen der unteren Stimmb\u00e4nder sehen und mit Bequemlichkeit einen belastenden K\u00f6rper z. B. einen Messerstiel auf sie f\u00fchren kann. Bei dieser Operation muss aber die Schleimhaut, welche die mm. arytenoidei transversi \u00fcberzieht, vollkommen erhalten bleiben. Nachdem man den Kehlkopf sorgf\u00e4ltig gereinigt hat, bindet man das ihm anh\u00e4ngende Luftr\u00f6hrenrudiment auf ein weites rechtwinklich gebogenes Glasrohr und befestigt den ganzen Kehlkopf und zwar am besten dadurch, dass man die cornua superiora der cartilag. thyreoidea in einen Halter klemmt, wie sie in physikalischen und chemischen Laboratorien gebr\u00e4uchlich sind. Dann schlingt manjederseits","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\tUntersuchungsmethoden der Stimmwerkzeuge.\num den Processus muscularis der cartil. arytenoidea einen dreifachen Faden; einer derselben liegt in der Richtung des m. thyreoarytenoideus; zur bequemen Handhabung desselben f\u00fchrt man ihn auf die vordere Fl\u00e4che der cartil. thyreoidea durch eine Oeffnung, die man jederseits \u00fcber die Mitte des Ansatzpunktes von m. thyreoarytenoideus gebohrt hat. Von denbeiden andern F\u00e4denlegtman den einen nach der mitt-lern Faserrichtung des in. cricoarytenoideus lateralis und die andere nach der Rich-tungdesm. arytenoideusproprius. Diese F\u00e4den sucht man, indem man sie \u00fcber eine feststehende Rolle f\u00fchrt, in den bezeichneten Richtungen festzuhalten, so dass man dann durch ein angeh\u00e4ngtes Gewicht die Stimmritze in jede den Muskelwirkungen entsprechende Form bringen kann. \u2014 Andere Arten des Aufli\u00e4ngens und der Vorbereitung des Kehlkopfes siehe bei Joh. M\u00fcller*) und Lis c o vius**). \u2014 Verwickelter wird die Vorbereitung des Kehlkopfs, wenn man ihn untersuchen will, w\u00e4hrend der Schlundkopf, die Mund-und Nasenh\u00f6hle noch mit ihm in Verbindung sind. Da zudem die aus dem Versuch mit einem solchen Kehlkopf gewonnenen Thatsachen h\u00f6chst zweifelhafter Natur sind, so mag die Beschreibung desselben hier unterbleiben. \u2014 Hat man nun mittelst der F\u00e4den die Stimmritze in die zum Tonangeben n\u00f6thige Form gebracht, so bl\u00e4st man eine mit Wassergas ges\u00e4ttigte Luft, am besten geradezu die Ausathmungsluft eines lebenden Menschen, durch das Rohr. Wenn es dem Beobachter von Bedeutung ist, die Spannung zu kennen, welche die tonerzeugeude Luft besitzt, so wird es noch noth-wendig, seitlich in das anblasende Rohr eine heberf\u00f6rmig gebogene Glasr\u00f6hre, wie sie zum Druckmessen gebr\u00e4uchlich ist, einzuf\u00fcgen, und einen Tlieil ihres auf- und absteigenden Schenkels mit Wasser oder Quecksilber zu f\u00fcllen. Man sollte auf den ersten Blick denken, dass diese Vorrichtung vollkommen gen\u00fcge, um nicht allein \u00fcber die Leistungen des Kehlkopfs, sondern \u00fcber die Stimmbildung \u00fcberhaupt ins Klare zu kommen; denn es scheint, als ob man sich, untergeordnete Abweichungen bei Seite gesetzt, den Stimmapparat vor Augen gelegt und so zug\u00e4nglich gemacht habe, dass man durch successive Ver\u00e4nderung der einzelnen Abtheilungen desselben die Funktion einer jeden bestimmen k\u00f6nne. \u2014 Bei genauer Betrachtung ergeben sich aber doch wesentliche, und was noch mehr, gar nicht zu berechnende Abweichungen von den nat\u00fcrlichen Verh\u00e4ltnissen. Denn einmal ist \u00fcberhaupt die Elastizit\u00e4t der Weichtheile wesentlich ver\u00e4ndert, wie sich sogleich daraus ergibt, dass in den B\u00e4ndern die Elastizit\u00e4t in einem Zusammenhang steht mit ihrer Temperatur und der Menge, von eingesogener Fl\u00fcssigkeit, in den Muskeln aber zudem noch abh\u00e4ngig ist von den Lebenseigenschaften und namentlich davon ob der Muskel noch erregbar, todtenstarr oder schon gefault ist. Diese Abweichung der Elastizit\u00e4t wird die Folge mit sich f\u00fchren, dass der Klang sich vollkommen \u00e4ndert, dass die Z\u00fcge, welche die B\u00e4nder auf gleichen Spannungsgrad bringen sollten, im Leben und im Tod verschieden stark sein m\u00fcssen und endlich, dass dieselben Luftst\u00f6sse nicht dieselben Intensit\u00e4ten und Zahlen der Schwingungen erzeugen werden. \u2014 Eine noch bedeutendere Abweichung des pr\u00e4parirten vom lebenden Kehlkopf liegt aber darin, dass in dem ersten nicht allein accessorische Werkzeuge entweder ganz ausfallen , oder wenigstens die durch Muskelwerkzeuge erzeugbare Ver\u00e4nderung in der Spannung noch vorhandener Hilfswerkzeuge zum Verschwinden kommt. Nun wirken aber bekanntlich in vielen Instrumenten die resonnirenden Theile wesentlich mit zur Bildung der Tonh\u00f6he. Ob der Stimmapparat zu dieser letzteren Art von Instrumenten geh\u00f6re, kann darum am todten Kehlkopf nicht entschieden werden und begreiflich n\u00fctzt die Erhaltung der Luftr\u00f6hre, des oberen Stimmbandes, des Kehldeckers u. s. w. am todteu Kehlkopf nichts, wenn man nicht gleichzeitig auf eine dem Leben entsprechende Weise die Volumina der in diesen R\u00e4umen enthaltenen Luft und die Spannungen ihrer W\u00e4nde zu \u00e4ndern im Stande ist. \u2014 Diese Abweichungen so gross sie\n*) 1. c. p. 185.\nM) 1. c. p. 14.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Orle der Slimmerzeitgting.\n417\nsind, gen\u00fcgen aber nicht um wie Longet und Masson wollen die.Untersuchung der Leistlingen des todten Kehlkopfs vollkommen zu verwerfen; im Gegentheil scheint es unter allen Umst\u00e4nden n\u00f6thig, die Untersuchungen \u00fcber die Stimme mit der isolirten Betrachtung aller einzelnen stimmerzeugenden Werkzeuge und somit auch des wichtigsten derselben zu beginnen. Es ist eines der zahlreichen grossen Verdienste von Joh. M\u00fcller um die Experimentalphysiologie diese Wahrheit erkannt und in vortrefflicher Weise ins Leben gef\u00fchrt zu haben.\nb.\tMan macht den Kehlkopf am lebenden Thiere zug\u00e4nglich und zwar entweder nach Longet *) dadurch, dass man die Kiefer von Hunden und Katzen sehr weit sperrt und die Zunge weit genug hervorzieht um die Stimmritze zu sehen, oder indem man durch Einschnitte im Kehlraum den Kehlkopf zu Tage legt und ihn mannigfach verst\u00fcmmelt, w\u00e4hrend man die Thiere durch Schmerzerzeugung zum Schreien bringt. Die letzte dieser beiden Beobachtungsmethoden istnoch sehr zu vervollkommnen, namentlich dadurch dass man die Luftr\u00f6hre durchsch\u00fceidet und in ihr Kehlkopfende ein Rohr zum Anblasen anbringt, w\u00e4hrend man auf Mittel denkt einzelne Muskeln beliebig in Erregung oder Ruhe versetzen zu k\u00f6nnen.\nc.\tMan beobachtet die \u00e4usserlich sichtbaren Theile der Stimmwerkzeuge des Menschen w\u00e4hrend sie verschiedene Tonh\u00f6hen geben, und endlich\nd.\tBildet man auch auf k\u00fcnstliche Weise Instrumente nach, mit dem allgemeinen Charakter der menschlichen Stimmwerkzeuge. Auch dieser vielversprechende Weg ist noch weiter zu betreten als bisher geschehen.\n3.\tOrte der Stimmerzeugung. Die urspr\u00fcnglich t\u00f6nenden\nStellen des menschlichen Stimminstrumentes sind die unteren Stimmritzenb\u00e4nder und die durch ihre Spalte dringende Luft. Den Beweiss f\u00fcr diese Annahme liefern mannigfaltige Thatsachen am lebenden und todten Kehlkopf. Denn: jede Durchschneidung oder Texturver\u00e4nderung (Anschwellung u. s. w.) ver\u00e4ndert am Lebenden die Stimme oder hebt sie auch ganz auf, w\u00e4hrend durch,keine andere Verletzung der Rachenh\u00f6hle oder Luftr\u00f6hre die M\u00f6glichkeit der Stimmbildung vernichtet wird. Ebenso gelingt es am todten Kehlkopfe mittelst eines durch die Stimmritze geblasenen Luftstroms noch einen dem menschlichen sich ann\u00e4hernden Ton zu erzeugen, so lange die unteren Stimmritzenb\u00e4nder unverletzt in ihrer normalen Lage sich befinden, mag man den Kehlkopf auch sonst noch so sehr verst\u00fcmmelt haben. Diese F\u00e4higkeit des Kehlkopfes ist erloschen, wenn man an dem sonst unverletzten Kehlkopf die Stimmb\u00e4nder ausgeschnitten hat. Ebenso wenig k\u00f6nnen aber auch die B\u00e4nder durch Anschl\u00e4gen u. dergl., sondern nur durch Anblasen zu einem lauten, der menschlichen Stimmst\u00e4rke entsprechenden Tone gebracht werden.\t*\nNach dieser Erkenntniss ist es nun Aufgabe, die Bedingungen zu untersuchen, von denen im Kehlkopf die Tonbild\u00fcng \u00fcberhaupt, insbesondere die H\u00f6he und der Klang der T\u00f6ne abh\u00e4ngt.\n4.\tBedingungen zur Tonbildung \u00fcberhaupt, a. Das Andringen eines einigermassen kraftvollen Luftstosses gegen die Stimmh\u00e4ute ; wir erschlossen dies, weil es uns nur beim Ein- und Ausathmen gelingt, einen Ton im Kehlkopf zu erzeugen, und auch diesen nur\n27\n1. c. p. 175.\nLudwig, Physiologie I,","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nBedingungen zur Tonbildung.\ndann, wenn der hierdurch erzeugte Luftstrom gegen die B\u00e4nder andringt. Denn es ist die M\u00f6glichkeit, mittelst der Ausathmung eine Stimme zu erzeugen, verschwunden, wenn zwischen Lunge und Kehlkopf eine Oeffnung in der Luftr\u00f6hre sich befindet, durch welche die aus der Lunge tretende Luft, ohne mit den Stimmb\u00e4ndern in Ber\u00fchrung zu kommen, entweichen kann. In Uebereinstimmung hiemit ist es, dass man durch Anblasen des todten Kehlkopfs von der Trachea her einen stimm\u00e4hnlichen Ton erzeugen kann , keinen aber durch Anschl\u00e4gen der B\u00e4nder. Der Apparat, welcher im Leben den Luftstoss erzeugt, ist der Brustkorb, dessen Bewegungen beim Athmen beschrieben werden sollen.\nCagniard-Latour*), dem die seltene Gelegenheit wurde, einen Menschen mit einer Luftr\u00f6hrenfistel so weit zur Verf\u00fcgung zu haben, dass er mit der Luftr\u00f6hre einen Druckmesser verbinden konnte, gibt an, dass die Spannung der Luft in der Trachea das Gleichgewicht hielt einer Wassers\u00e4ule von 945 MM. H\u00f6he, wenn der Kranke seinen Namen laut ausrief; von 160 MM. wenn er einen mittleren Ton sang; von 200 MM., wenn der Ton, ohne lauter zu werden, hoch stieg. Ein todter Kehlkopf verlangte nach J. M\u00fcller zum Anspruch tiefer T\u00f6ne im Piano 13 bis 26, zu demjenigen hoher T\u00f6ne im Fortissimo 80 bis 135 MM. Wasserdruck.\nb.\tDie Bandmasse muss eine m\u00f6glichst vollkommene Elastizit\u00e4t besitzen. Die B\u00e4nder bestehen bekanntlich aus elastischem Ge-webe, auf welchem eine d\u00fcnne Schleimhaut mit einem Pflasterepi-thelium (H. Rh ein er) aufsitzt. Verlieren dieselben entweder, wie diess h\u00e4ufig w\u00e4hrend des Lebens geschieht, durch Infiltration ihrer Schleimhaut mit w\u00e4sserigen Fl\u00fcssigkeiten, oder, wie oft am todten Kehlkopf vorkommt, durch Austrocknen, ihre Elastizit\u00e4t, so geht die Stimme verloren.\nc.\tDie Fl\u00e4chen und Kanten der B\u00e4nder, welche die Stimmritze umgrenzen, m\u00fcssen frei sein. Eine geringe Belastung, namentlich der obern Fl\u00e4chen, mit Schleim st\u00f6rt die Stimmbildung auffallend. \u2014\nFig. 129.\td. Die Stimmb\u00e4nder m\u00fcssen in die beson-\ndere Stellungen gebracht sein, bei welchen sich die sogenannte Stimmritze bildet. Um diese letztere herzustellen ist in die Stimmb\u00e4nder ein eigenth\u00fcmlicher Mechanismus eingef\u00fcgt. \u2014 Jedes der beiden Stimmb\u00e4nder, welche man besser Stimmh\u00e4ute nennen w\u00fcrde, (siehe Fig. 129) entspringt bekanntlich von der con-caven Kante der cart, thyreoidea A und heftet sich dann an den innern obern Rand der\n*) L'institut, janvier 1838.","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Stellung der Stimmritze.\n419\ncartilago cricoidea B B fest und zwar von dem \u00e4ussern Rand des ligament, cricothyreoideum medium bis zur innern Seite der Gelenkfl\u00e4che f\u00fcr die cart, arytenoideae C C. In den hintern innern Winkel dieser Stimmb\u00e4nder ragt ein gebogenes Knorpelst\u00fcck, der proc. vocalis der cart, arytenoidea hinein, welches bei seinen Bewegungen die Hautfalte auf mannigfaltige Weise biegen kann und namentlich so, dass ihre Fl\u00e4che bald den Kanal des larynx mehr oder weniger normal schneidet, bald dass sie sich ann\u00e4hernd den Kanalwandungen parallel stellt. \u2014 Die Biegungen, welche hier Vorkommen k\u00f6nnen, werden bestimmt durch die besondere Art der Gelenkverbindung zwischen cart, arytenoidea und cricoidea und durch drei Muskelpaare von denen sich zwei an den proc. muscu-laris und das eine an den proc. vocalis ansetzen. \u2014 Die Basis der cart, arytenoidea reitet immer auf dem obern Ende der absch\u00fcssigen Kante, durch weiche die Platte in das schmale St\u00fcck der cart, cricoidea \u00fcbergeht in der Art, dass der Giesskannenknorpel leicht nach vorn und hinten sich \u00fcberbiegen und nach rechts und links drehen kann, wobei bald die beiden process, musculares bald die process, vocales schief in die H\u00f6he gerichtet sind oder bald die einen oder die andern mit ihren freien Enden gegen die Mittellinie des Kehlkopfs sehen. In keinem Fall aber k\u00f6nnen sich die mittleren Theile des Knorpels selbst n\u00e4hern, eine Bewegung, welche sowohl durch die Form der Gelenkfl\u00e4chen, und die zwischen beiden liegenden Knorpelst\u00fccke als auch durch die Bandverbindungen gehindert wird. \u2014 Die Muskeln bewirken immer bei ihrer Verk\u00fcrzung folgende Stellungen der Stimmh\u00e4ute. Die mm. cricoarytenoidei postici. ziehen die proc. musculares mit ihren freien Enden nach innen und unten, in Folge dessen steigt der proc. vocalis nach aussen und oben; im Maximum der Wirkung wird hierbei die Stimmmembran fast vollkommen verstrichen, so dass keine spaltf\u00f6rmige Verengerung, keine sogenannte Stimmritze sondern eine breite rautenf\u00f6rmige Oeffnung zwischen den freien R\u00e4ndern der Stimmmembranen bleibt. Bei dieser Stellung kann niemals eine Stimme erzeugt werden. \u2014 Die mm. cricoarytenoidei laterales ziehen bei ihrer Verk\u00fcrzung die proc. musculares nach aussen und unten, in Folge dessen treten die SpitzeM der process, vocales nach oben und nach innen bis zur gegenseitigen Ber\u00fchrung; hierbei wird der Theil der Stimmhaut, welcher eingeschlossen ist vom vordem Rand des proc. vocalis, der cartil. cricoidea und thyreoidea nach innen und oben gebogen, so dass sich nun die freien R\u00e4nder der Stimmh\u00e4ute von dem process, vocalis bis zur concaven Kante der cart, thyreoidea an einander lagern ; der zwischen ihnen bleibende Spalt ist die Stimmritze. Die R\u00e4nder der Stimmh\u00e4ute aber, welche eingeschlossen sind zwischen der hintern Grenze der proc. vocales und der h\u00f6chsten Stelle der Ringplatte, weichen zur Bildung einer dreieckigen Oeffnung', der Athemritze, auseinander. Auf\n27*","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nStellung der Stimmritze.\neinem senkrechten Schnitt erscheinen die freien R\u00e4nder der Stimmritze abgerundet. \u2014 Die mm. thyreoarytenoidei endlich ziehen die proc. vocales nach vorn, innen und unten; hierdurch werden die Stimmh\u00e4ute in \u00e4hnlicher Weise wie vorher bis zur Ber\u00fchrung ihrer freien R\u00e4nder gegen einander gef\u00fchrt, jedoch mit der Modification, dass diese Letzteren nicht abgerundet, sondern mit stark ausgepr\u00e4gten vorspringenden Lappen versehen sind.\nDiese beiden letzten Stellungen sind es, welche sich zur Bildung der Stimme nothwendig erweisen. Die Stimme spricht nun aber, wie aus Versuchen am todten Kehlkopf hervorgeht, beim Durchblasen von Luft um so besser an, je mehr zugleich die mit dem Namen der Athem-ritze bezeichnete dreiseitige Oeffnung zwischen den hintern R\u00e4ndern der proc. vocales geschlossen ist. Dieser Verschluss scheint auf zwei Arten m\u00f6glich, durch die mm. thyreoarytenoidei und arytenoidei pro\u00bb prii. Bei der Wirkung der mm. thyreoarytenoidei legen sich die vorderen abgestumpften Spitzen der proc. vocales sehr innig zusammen, viel inniger als bei der Wirkung der mm. cricoarytenoid, laterales und dr\u00e4ngen zugleich einen Theil des die Athemritze umkleidenden Bandstreifens in dieselbe, so dass deren Oeffnung schon sehr geschm\u00e4leit wird; vollkommen geschlossen kann sie werden, wie es scheint, durch die aufrecht stehenden St\u00fccke der cart, arytenoideae, wenn sie nach einw\u00e4rts und vorn gezogen sind, eine Bewegung, die ihnen durch die mm. thyreoarytenoidei gleichzeitig mit der Steilung der Stimmritze mitgetheilt wird. \u2014 Wird dagegen die Stimmritze gebildet durch die Wirkung der mm. cricoarytenoidei laterales, so bleibt der dreieckige Raum unverschlossen, und zu seiner Verschliessung k\u00f6nnten dann m\u00f6glicherweise mm. arytenoideus tr ans versus und obliquus helfen, durch welche die aufrecht stehenden Aeste (nicht aber die Basen) cier cartil. arytenoideae einander gen\u00e4hert werden ; bei dieser Ann\u00e4herung wird wahrscheinlich eine Schleimhautfalte vorgeschoben, welche wie ein Pfropf in die Oeffnung dringt. \u2014\nlieber die Form, welche die Stimmritze im lebenden Zustand beim Tonangeben besitzt, besteht nach Beobachtungen an Menschen, deren Stimmritze durch zuf\u00e4llige Verletzungen bloss gelegt war, die \u00fcbereinstimmende Angabe, dass dieselbe einen linienf\u00f6rmigen Spalt darstelle; Mayo, Rudolphi. Nach Beboachtungen an Thieren soll die vordere Stimmritze, d. h. die Oeffnung zwischen der cart, arytenoidea und der cart, thyreoidea bei Hunden eine elliptisch und bei Katzen eine geradlinig begrenzte Spalte darstellen. Dabei soll der dreieckige Raum zwischen den cartilag. arytenoideis bald geschlossen sein und bald offen stehen, je nachdem die Thieremehr oder weniger laut schreien ; Magendie, Longet. \u2014 Der todte Kehlkopf des Menschen verlangt zur Ansprache eine Stellung der eigentlichen Stimmb\u00e4nder, bei welcher die","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Spannung der Stimmh\u00e4ute.\n421\nzwischen ihnen bleibende Ritze eng ist, w\u00e4hrend der hintere dreieckige Raum so gut wie vollkommen geschlossen sein muss ; J. M\u00fcller.\nRudolphi, Mende, Mayo, Bell etc.* **)) zeigten an leibenden Menschen deren Stimmh\u00e4ute durch eine Verwundung des Kehlkopfs hlosgelegt waren, und Magen-die durch Versuche au Thieren, dass heim Stimmangeben die Stimmb\u00e4nder zur Bildung einer Stimmritze sich n\u00e4hern m\u00fcssen; Kemp eie ns (ibid) Behauptung, dass die Stimmritze nicht breiter als eine Linie sein d\u00fcrfe, wenn ein Ton entstehen solle, best\u00e4tigte J. M\u00fcller durch Untersuchungen am todten Kehlkopf in so fern er zeigte, dass ein Luftstoss, der durch eine betr\u00e4ehlich erweiterte Stimmritze f\u00e4hrt, ein blasendes Ger\u00e4usch aber keinen Ton erzielt. Ferner lehrte J. M\u00fcller, dass das Stimmorgan ungew\u00f6hnlich schwer anspricht, wenn die Athemritze offen geblieben, seien auch sonst die Stimmh\u00e4ute noch so g\u00fcnstig gelagert. \u2014R. Willis\u00ab) machte darauf aufmerksam, wie es wohl nicht gen\u00fcgen m\u00f6chte, wenn \u00fcberhaupt die B\u00e4nder sich zur Bildung einer Spalte Zusammenlegen, sondern dass die Band ran der, die die Spalte einschliessen, eine besondere Form besitzen m\u00fcssen. \u2014 Die Mechanismen zur Bildung der Stimmritze sind \u00fcbrigens ausserordentlich mangelhaft untersucht. \u2014\ne. Zu den Bedingungen, unter denen ein Kehlkopf T\u00f6ne erzeugen kann, geh\u00f6ren ferner bestimmte Grenzen von Spannung in den Stimmh\u00e4uten. Cebersteigt ihr Spannungsgrad dieselben, so spricht, selbst wenn alle andern Umst\u00e4nde noch so g\u00fcnstig, der Ton nur sehr unvollkommen und schreiend an; befindet sich der Spannungswerth dagegen unterhalb derselben, so wird nur ein undeutliches Brummen m\u00f6glich. \u2014 Die Einrichtungen aber und Umst\u00e4nde, durch welche die Stimmh\u00e4ute in ihrer Spannung ver\u00e4ndert werden k\u00f6nnen, sind verschiedener Natur. \u2014 a) Es k\u00f6nnen die Stimmh\u00e4ute durch Yergr\u00f6sserung oder Verringerung der Entfernung zwischen cartil. thyreoidea und der cart, arytenoidea in ihrer L\u00e4nge ver\u00e4ndert und damit verschiedentlich gespannt werden. Zur Ver\u00e4nderung der genannten Entfernung tragen zwei Muskelpaare bei, in dem sie (Fig. 130) die cartilago thyreoidea um\nFig. 130.\tihr Gelenk bei C drehen, und zwar\nverk\u00fcrzen die mm. thyreoarytenoidei den genannten Abstand, w\u00e4hrend die mm. cricothyreoidei ihn vergr\u00f6ssern. \u2014 Eine mittlere Stellung der cart, thyreoidea wird endlich durch das lig. crico-thyreoideum L gegeben. EinTheil dieses Spannungsapparats die mm. cricothyreoidei nemlich kann begreiflich in Wirksamkeit treten, mag die Stimmritze durch die mm. cricoarytenoidei laterales oder durch die mm. thyreoarytenoidei gestellt sein; im letztem Fall, wo den mm. cricothyreoidei Antagonisten entgegentreten, wird dann nur die Differenz der gerade verwendeten Kr\u00e4fte beider Muskelpaare der L\u00e4ngenausdehnung der Stimmh\u00e4ute zu Gute kommen, so dass also wenn mm. cricothyreoidei \u00fcberwiegen die mm. thyreoarytenoidei die Stellung aber nicht die Span-\n*) Magendie's Physiologie ed. Heusinger I. 243.\n**) Magendie 1. c p. 283.","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nSpannung der Stimmh\u00e4ute.\nnung der Stimmh\u00e4ute ihrer L\u00e4ngenach bestimmen. Ob sich hierbei die nach aussen gelegenen Theile der Stimmh\u00e4ute weniger spannen als die nach innen gelegenen (Rinne), bedarf noch weiterer Untersuchung.\n\u00df. Die Stimmh\u00e4ute k\u00f6nnen durch seitlichen Druck mittelst der Platten des Schildknorpels eine Spannungsver\u00e4nderung erfahren. Der tiefe Einschnitt (von oben nach unten) an der Kante des Schildknorpels und die geringere Dicke (in der Richtung von vorn nach hinten) desselben an der Kante machen es m\u00f6glich, dass die freien hintern Enden von einer verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig geringen Kraft gegenseitig gen\u00e4hert werden k\u00f6nnen. Diese M\u00f6glichkeit wird realisirt durch ein Fascikel des m. thyreocricoideus, welcher von der cart, cricoidea entspringt, nachdem diese schon in den von den Platten der c. thy-reoidea umschlossenen Raum getreten ist, welches also von innen nach aussen und zudem ein weniges von unten nach oben und von vorn nach hinten l\u00e4uft. Diese Bewegung verschm\u00e4lert um ein geringes die Breite des Stimmbandes (?).\n7. Auf die Stimmmembranen ist der m. thyreoarytenoideus so aufgelagert, dass er als ein integrirender Theil derselben angesehen werden muss, namentlich erstreckt er sich der Art \u00fcber die ganze Breite der Membranen, dass er nur einen sehr schmalen Theil des freien Randes unbedeckt l\u00e4sst. Dieser schmale Theil, das Stimmritzenband der Anatomen, scheint sich als Sehne gegen die mm. thyreoarytenoi-dei zu verhalten, indem es den Anschein hat, als ob die Muskelfasci-kel, welche schief gegen den freien Rand treten, hier an der elastischen Masse endeten. Demgem\u00e4ss d\u00fcrfte der m. thyreoarytenoideus abgesehen von anderen Wirkungen dadurch von Bedeutung werden, dass er durch seine Zusammenziehung die Dimensionen (das Y erh\u00e4lt ni ss der L\u00e4nge zur Dicke) und den Elastizit\u00e4tscoeffizienten der schwingenden Massen \u00e4ndert. Ob aber der Muskel auch noch durch Spannungen einzelner Abtheilungen des freien Randes einen Einfluss auf den Steifigkeitsgrad der ganzen Membran gewinnen kann, bleibt dahingestellt. \u2014\nd. Schliesslich k\u00f6nnen die Stimmh\u00e4ute noch durch einen Luftstrom, der sie von der Luftr\u00f6hre her trifft, in Spannung versetzt werden; durch denselben werden die in der Ruhe ebenen Stimmh\u00e4ute nach oben in den ventriculus Morgagni hineingew\u00f6lbt. Der Umfang dieser W\u00f6lbung wird wachsen mit dem Druck, unter welchem die Luft str\u00f6mt und mit der Entfaltung der Stimmhaut vor dem Querschnitte der Luftr\u00f6hre ; diesem letztem Umstand gem\u00e4ss wird alles Andere gleichgesetzt, der Luftstrom von gr\u00f6sserer Wirksamkeit werden, wenn die Stimmritze durch die mm. thyreoarytenoidei, als wenn sie durch die mm. cridoarytenoidei laterales gestellt ist, weil dann die Stimmh\u00e4ute dem spannenden Luftstrom mehr Fl\u00e4che darbieten. In der That sieht man auch am todten Kehlkopf die Stimmh\u00e4ute durch einen gleichstar-","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Bedingungen f\u00fcr die Ver\u00e4nderung der Tonh\u00f6he.\t423\nken Luftstoss sich viel betr\u00e4chtlicher w\u00f6lben, wenn man ihnen die Stellung gegeben, wie sie ihnen durch eine Contraktion des m. thyreo-arytenoideus zukommt, als dann, wenn man sie nach der diu ch die\nmm. cricoarytenoidei laterales bewirkten Art gestellt hat.\nAls Bezeichnungen, welche den Funktionen gem\u00e4ss den Kehlkopfsknoipeln zu gehen w\u00e4ren schlage ich vor, die cart, cricoidea Grundknorpel, die cart, thyreoidea Spannknorpel und die cart, arytenoideae Stellknorpel zu nennen.\nf. Endlich soll die Anwesenheit des ventriculus Morgagni noth-wendig sein, wenn ein Ton analog demjenigen, den ein unverletztes, lebendes Stimmorgan hervorbringt, erzeugbar sein soll. Ueber diesen Punkt bestehen jedoch entschiedene Controversen, nach Longet kann ein Thier, nachdem man seinen Kehlkopf gerade \u00fcber dem untern Stimmbande durchschnitten hat, nur noch mit ausserordentlich staiken Bewegungen des. Brustkastens, wie sie.der heftigste Schmerz erzeugt, einen schwirrenden Ton hervorbringen, selbst bei noch so g\u00fcnstiger Stellung der Stimmritze. Brachte er dagegen ein passendes Kaut-schouckrohr \u00fcber die Stimmb\u00e4nder, als Ersatz des ventric. Moigagni, so wurde auch bei geringen Pressungen der im thorax enthaltenen Luft wieder ein Ton m\u00f6glich, \u00e4hnlich dem normalen des Thieres. \u2014 Im vollkommenen Widerspruch hiemit ist die Beobachtung von Joh. M\u00fcller am todten Kehlkopf, der bei geringen Pressungen noch T\u00f6ne nach Abtragen des ventric. Morgagni erzeugt, lieber einstimmend mit diesen letzten Erfahrungen beobachtete auch Mayo noch an einem Menschen Stimmbildung, der sich gerade \u00fcber den Stimmb\u00e4ndern mit Verletzung des einen der beiden, den Kehlkopf durchschnitten hatte.\n5. Bedingungen f\u00fcr die Ver\u00e4nderung der Tonh\u00f6he. \u2014 Zur Ermittelung der Ver\u00e4nderungen, welche das lebende Stimmorgan erfahrt, wenn es von den tiefsten zu den h\u00f6chsten seiner T\u00f6ne aufsteigt, sind wir vorzugsweise angewiesen auf die Beobachtung des unverletzten Menschen, da sich nur selten Gelegenheit bietet einen Menschen mit freigelegter Stimmritze oder offener Luftr\u00f6hre zu beobachten, und da es vorerst nicht zul\u00e4ssig erscheint die Ergebnisse der Versuche am todten Kehlkopf unmittelbar als bindend f\u00fcr den lebenden gelten zu lassen. \u2014 Entsprechend diesen unvollkommnen Beobachtungsmitteln k\u00f6rlnen wir behaupten : a. Alles andere gleichgesetzt, steigt der Ton im Allgemeinen mit der Luftspannung in der Trachea, wie dieses nicht allein aus den mitgetheilten Beobachtungen von Cagniard-Latour, sondern auch daraus folgt, dass wir die h\u00f6chsten der m\u00f6glichen T\u00f6ne nur im forte und die tiefsten nur im piano angeben k\u00f6nnen. \u2014 b. Die Stimmlage steht in Beziehung zur Gr\u00f6sse des Kehlkopfs und insbesondere zu seiner Ausdehnung von hinten nach vorn. Denn die Kinder und Frauen, deren Stimme h\u00f6her als die der M\u00e4nner ist, haben kleinere Kehlk\u00f6pfe als die letztem; und unter den M\u00e4nnern geh\u00f6ren die kleinsten Kehlk\u00f6pfe den Tenoristen. Leider sind bisher noch","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nBedingungen f\u00fcr die Ver\u00e4nderung der Tonh\u00f6he.\nnicht alle Dimensionen des Kehlkopfs gemessen; durch Joh. M\u00fcller ist bekannt, dass die Entfernung zwischen cart, thyreoidea und arytenoideae bei M\u00e4nnern zu derjenigen bei Frauen sich verhalte = 3 : 2. \u2014 c. Bei dem Steigen der T\u00f6ne n\u00e4hern sich die vordem Kanten der cartilagines thyreoidea und cricoidea;Mieses f\u00fchlen wir wenn wir einen Finger sanft an den Ort des ligam. cricothyreoideum medium anlegen. Bei der eigenth\u00fcmlichen Verbindung der beiden Knorpel bedeutet dieses aber nichts anderes, als dass hiedurch die untern Stimmritzenb\u00e4nder und die Seitenwandungen der ventricul. Morgagni in der Richtung von hinten nach vorn gedehnt und in einen h\u00f6hern Grad von Spannung versetzt werden. Nach Longet*) wird auch die Stimme der Hunde tief und rauh, wenn man ohne anderweite Verletzung den Nerven der mm. cricothvreoidei durchschneidet. Diese Rauhigkeit wird aufgehoben, wenn man die genannten Knorpel mit der Pinzette n\u00e4hert. \u2014 d. Bei dem Emporgehen des Tones tritt der ganze Kehlkopf unwillk\u00fcrlich in die H\u00f6he, beim Sinken des erstem steigt dagegen der letztere herunter, so dass also der Halstheil der Luftr\u00f6hre in dem einen Falle gespannt im andern erschlafft wird, und sich zugleich der Luftraum \u00fcber den Stimmb\u00e4ndern bald verkleinert und bald vergr\u00f6ssert. \u2014 Begreiflich l\u00e4sst sich nun aber weder aussagen, ob diese Ver\u00e4nderungen die einzigen sind, welche beim Tonwechsel an den Stimmorganen Vorgehen, noch ob jede derselben von gleicher Wichtigkeit ist, da es uns nicht gelingt die einzelnen Vorg\u00e4nge zu sondern.\nDiese l\u00fcckenhaften Thatsachen hat man durch Beobachtungen am todten Kehlkopf zu erg\u00e4nzen gesucht; aus den mit ihm angesteliten Beobachtungen geht hervor, dass an ihm die Tonh\u00f6he abh\u00e4ngig sei a. von der Spannung der Stimmh\u00e4ute, in der Art, dass mit dem Wachsthum der letztem die erstere steigt ; b. von der Ausbreitung der Stimmh\u00e4ute von rechts nach links und von hinten nach vom und zwar so, dass die T\u00f6ne sich erh\u00f6hen, wenn die Stimmh\u00e4ute nach diesen Richtungen abnehmen (sich verschm\u00e4lern und verk\u00fcrzen). \u2014 Unabh\u00e4ngig ist aber die Tonh\u00f6he von dem queren Durchmesser der Stimmritz\u00f6ffnung, der L\u00e4nge der R\u00f6hren, die an sein oberes und unteres Ende gesetzt w\u00fcrden und dem Spannungsgrad, welchen man den Wandungen dieser angesetzten R\u00f6hren mittheilte.\nDie Versuche am todten Kehlkopf haben folgende Ergebnisse geliefert. \u2014- a. Longitudinale Spannung der Stimmh\u00e4ute; Joh M\u00fcller. Man erzeugt dieselben analog der Wirkung der lebendigen mm. cricothyreoidei durch einen Zug, der von der vordem Fl\u00e4che der cartil. thyreoidea gegen die cartil. cricoidea gerichtet ist. Der Ton erh\u00f6ht sich bei steigender Spannung der B\u00e4nder, gleichgiltig ob die Stimmritze nach Art der mm. cricoarytenoidei laterales oder der mm. thyreoarytenoidei gestellt ist. Hiebei werden jedoch die tiefsten der m\u00f6glichen T\u00f6ne nur erzeugt bei der letztem Stellung, wobei die B\u00e4nder am meisten erschlafft werden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend die h\u00f6chsten der m\u00f6glichen T\u00f6ne nur in der ersteren Stellung zum Vorschein kommen. Der Unter-\n*) \u00eftecherch. experim. sur les fonctions des nerfs etc. Gazette medic. 1841.","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Ver\u00e4nderung der Tonh\u00f6he am todten Kehlkopf.\n425\nschied den beide Stellungen r\u00fcck sichtlich der Tonh\u00f6he herbeif\u00fchren liegt also darin, dass in dem einen Falle die Scala tiefer beginnt und fr\u00fcher endet, im andern aber h\u00f6her anf\u00e4ngt und auch sp\u00e4ter schliesst. Eine Anzahl von T\u00f6nen k\u00f6nnen jedoch in beiden Stellungen hervorgebracht werden, so dass beide Scalen ineinander greifen. \u2014 Der Gesammtumfang der T\u00f6ne eines erwachsenen Kehlkopfs betr\u00e4gt \u00fcber zwei Oktaven. Die T\u00f6ne finden ihre Grenze nach der Tiefe hin fr\u00fcher als die m\u00f6gliche Ann\u00e4herung der cartil. thyreoidea und arytenoidea erreicht ist, und ebenso nach der H\u00f6he hin ehe die m\u00f6glichste Entfernung gegeben, indem \u00fcber einen gewissen Grad von Ab- und Anspannung hinaus der Ton unrein, brummend oder schreiend, wird.\u2014 Der Entwicklung des Gesetzes der Abh\u00e4ngigkeit zwischen Tonh\u00f6he und spannenden Gewichten setzen sich theils darum Schwierigkeiten entgegen, weil der durch das spannende Gewicht herbeigef\u00fchrte Zug nicht einzig den Stimmb\u00e4ndern zu Gute kommt in Folge des Widerstandes anderer Theile, insbesondere der Gelenkb\u00e4nder und Fl\u00e4chen und theils weil es nicht gelingt anzugeben, um wieviel der Luftstrom, welcher zum Anblasen gebraucht wird, die Spannung mehrt. Joh. M\u00fcller hat nun durch Versuche gefunden, dass immer nur ein Ton entsteht, wenn auch die beiden B\u00e4nder gleichzeitig besondere Stimmung haben; ferner, dass die Tonh\u00f6he ann\u00e4hernd steige, wie die Wurzeln der spannenden Gewichte, so dass wenn man das Gewicht von 4 zu 16 erh\u00f6ht die Schwingungszahl der T\u00f6ne um das Doppelte zunimmt; keiner der von ihm untersuchten F\u00e4lle erreicht jedoch den verlangten Werth, indem niemals bei der beispielsweise angegebenen Gewichtsvermehrung die Oktave, sondern immer ein etwas tieferer Ton erscheint. \u2014 Die Stimmlage des todten Kehlkopfs ist im Allgemeinen etwas h\u00f6her als die eines lebenden Stimmorgans von entsprechenden Dimensionen.\nb.\tDurch Verk\u00fcrzung der Stimmb\u00e4nder kann, wenn auch ihre Spannung und die St\u00e4rke des anblasenden Luftstroms dieselbe bleibt, der Ton erh\u00f6ht werden; diese Erh\u00f6hung ereignet sich also sogleich, wenn man bei sonst unver\u00e4nderten Umst\u00e4nden den freien Rand des Stimmbandes mit einem festen K\u00f6rper ber\u00fchrt, welcher Veranlassung zu Schwingungsknoten gibt. Auf diese Weise erkl\u00e4rt sich die dem fr\u00fcheren scheinbar widersprechende Beobachtung, dass bei m\u00f6glichster Abspannung der Stimmh\u00e4ute der Ton statt sich zu vertiefen h\u00f6her wird; es hat n\u00e4mlich in diesem Fall durch eine gegenseitige Ber\u00fchrung der Stimmh\u00e4ute die Bildung von Schwingungsknoten stattgefunden; Joh. M\u00fcller.\nc.\tEbenso wird der Ton bei sonst gleichbleibenden Verh\u00e4ltnissen erh\u00f6ht, wenn man den angewachsenen Theil der Stimmh\u00e4ute mit Gewichten beschwert, oder die Platte der cartilago thyreoidea zusammendr\u00fcckt, so dass nicht mehr die Stimmhaufc in ihrer ganzen Ausdehnung nach der Breite, sondern nur noch mit ihrem freien Rand schwingen kann; Liscovius. Durch das letztere der beiden Mittel gelingt es leicht den Ton um mehr als eine Octave zu erh\u00f6hen.\nd.\tVer\u00e4ndert man weder die Stellung der Stimmb\u00e4nder noch ihre spannenden Gewichte, steigert aber die St\u00e4rke des anblasenden Luftstroms, so erh\u00f6ht sich der Ton;Ferrein. Da$ genauere dieses Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnisses ist nicht bekannt. Nach J. M\u00fcller kann man durch allm\u00e4lige Steigerung des Anblasens in den Grenzen, wie sie dem Lebenden verg\u00f6nnt sind, den Ton um eine Quinte erh\u00f6hen. Diese Tonsteigerung soll nach dem letzteren Autor davon abh\u00e4ngig sein, dass sich die Stimmb\u00e4nder durch eine W\u00f6lbung in dem ventriculus Morgagni anspannen.\nDer Beweiss, dass die Tonh\u00f6he unabh\u00e4ngig steige und sinke von de-r Stimmritzenweite, ist auf einfache, selbstverst\u00e4ndliche Weise zu erbringen, \u2014 Die Einflusslosigkeit der L\u00e4nge und der Wandspannung der angesetzten R\u00f6hren stellt man nach J o h. M \u00fc 11 e r am einfachsten dar, wenn man an das Rohr zum Anblasen noch ein St\u00fcck menschlicher Luftr\u00f6hre und ausserdem zwei ineinander schiebbare R\u00f6hren einsetzt; so kann man ein St\u00fcck Wandung an- und abspannen und das Ansatzrohr verk\u00fcrzen oder verl\u00e4ngern. Diese Unabh\u00e4ngigkeit des Kehlkopfs und insbesondere diejenige von den L\u00e4n-","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nTheorie der Stimme.\ngender Ansatzr\u00f6hren, versetzte denselben in eine Aiisnahmsstellung zu den ihm verwandten Instrumenten. Denn an allen Zungeninstrumenten, die in ihrem schematischen Bau eine grosse Aehnlichkeit mit dem Kehlkopf darbieten, kann der urspr\u00fcngliche von der Zunge abh\u00e4ngige Ton durch allm\u00e4lige Verl\u00e4ngerung der Ansatz r\u00f6hren um eine ganze Oktave vertieft werden. Rinne, der nach der Ursache dieses eigen-thumlichen Verhaltens forschte, fand, dass dann jedesmal eine Accomodation zwischen dem urspr\u00fcnglichen Ton im Zungeninstrument und der mit ihm in Verbindung gebrachten umgrenzten Lufts\u00e4ule fehlt, wenn die Zunge in der Weise in das angesetzte Rohr eingef\u00fcgt wird, dass dieselbe dem Ausstr\u00f6men der in der R\u00f6hre bewegten Luft keinen besonderen Widerstand entgegensetzt. Diese Accomodation fehlt also z. B. wenn der Spalt in welchem die Zunge schwingt iin Verh\u00e4ltnis zu den Dimensionen der R\u00f6hre weit ge\u00f6ffnet ist, oder dje Zunge auf sehr nachgiebigen Fl\u00e4chen schwingt. Diese Bedingungen scheinen nun an der Stimmritze, deren begrenzende B\u00e4nder als Zungen aufgefasst werden k\u00f6nnen, verwirklicht zu sein *)\nVon hervorragendem Interesse f\u00fcr die Feststellung der Bedingungen, von welchen die Tonh\u00f6he abh\u00e4ngig ist, w\u00fcrde, seine tadelfreie Ausf\u00fchrung vorausgesetzt, der Versuch von Liscovius sein, die Stimmb\u00e4nder des lebenden Menschen mit einem anderen Gase, als der gew\u00f6hnlichen Ausathmungsluft anzublasen. Liscovius**) der den Versuch mit Wasserstoffgas, das er einathmete, unternahm, fand eine Ver\u00e4nderung der Tonh\u00f6he seiner Stimme; leider ist aber der Versuch so ange-stelR zu unvollkommen, da man wegen der Nichtathembarkeit des Wasserstoffga-ses, dieses ohne zu ersticken nur in kleinen Quantit\u00e4ten in der Lunge beherbergen kann. \u2014\n6. Zur Theorie der Tonbildung in dem Kehlkopf und insbesondere zur Bildung der Tonh\u00f6he. Wenn die durch den Druck des Brustkastens in Str\u00f6mung versetzte Luft der Lunge und der Luftr\u00f6hre die Bef\u00e4higung zum T\u00f6nen erhalten soll, so muss ihre urspr\u00fcnglich gleichf\u00f6rmige Geschwindigkeit, wie sie dem constanten Druck der Brustmuskeln entspricht, in eine rasch ver\u00e4nderliche, periodisch steigende und fallende versetzt werden. Diese Umsetzung des gleichm\u00e4ssigen in einen unterbrochenen oder wellenf\u00f6rmigen Strom geschieht an der Stimmritze, vorausgesetzt, dass die Stimmh\u00e4ute eine Stellung einnehmen, bei welcher sich ein betr\u00e4chtlicher Theil ihrer Ausdehnuug senkrecht auf die Richtung des Luftstroms stellt; mit andern Worten eine Stellung, bei welcher ihre freien R\u00e4nder weit in das Lumen der Luftr\u00f6hre ragen. In diesem Fall werden sie durch den an-stossenden Luftstrom gegen den ventric. Morgagni hin bewegt werden und zwar so lange, bis die durch die Ausdehnung ihrer Masse erzeugte Spannung das Gleichgewicht h\u00e4lt der zuerst mitgetheilten Stoss-kralt. In dieser Stellung, welche resultirt aus dem Gleichgewicht des urspr\u00fcnglichen Stosses und der elastischen Spannung, sind aber die Lippen der Stimmritze nicht mehr unter einem rechten Winkel gegen den Luftstrom geneigt, so dass die Summe der Dr\u00fccke, welche ihre Fl\u00e4che von Seiten der Luft erf\u00e4hrt, geringer geworden, und zugleich hat sich auch mit der Lagenver\u00e4nderung der Stimmh\u00e4ute die Gr\u00f6sse\n*) Eine popul\u00e4re Darstellung der auf Zuugeninstrumente bez\u00fcglichen Fundamente siehe bei Bindseil, Akustik. Potsd. 1839.; das hier Einschlagende p. 453 u. f.\n**) 1. c. p. 35,","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"427\nTheorie der Stimme.\nder Stosskraft vermindert, da in der bezeichneten Stellung sich die Oeffnung der Stimmritze vergr\u00f6sserte, womit sich auch die Spannung der Luft, in Folge des erleichterten Ausstr\u00f6mens verringert. Die gespannte Stimmhaut wird demnach keinen entsprechenden Widerhalt mehr von Seiten des Luftstroms finden und in Folge dessen sich wieder zur\u00fcck gegen ihre urspr\u00fcngliche Lage hin bewegen; je mehr sie sich aber derselben n\u00e4hert, um so g\u00fcnstiger wird sie sich wieder f\u00fcr den Empfang des Stosses stellen und um so mehr wird sie auch wieder die str\u00f6mende Luft hemmen und spannen, so dass endlich wieder die sich entgegenwirkenden St\u00f6sse der Elastizit\u00e4t und des Luftdruckes das Gleichgewicht halten; da nun aber in dieser neuen Lage die Stimmhaut keine elastische Spannung mehr besitzt, so wird sie von Neuem durch den Luftstrom gegen den ventric. Morgagni gef\u00fchrt werden u. s. w. \u2014 Diese schwingende Bewegung der Stimmb\u00e4nder f\u00fchrt nun eine abwechselnde Hemmung und Beschleunigung in den Luftstrom, der aus der Trachea in den ventriculus Morgagni dringt. Da aber dieser Luftstrom innerhalb des Kehlkopfs und ebenso \u00fcber und unter ihm von mannigfach vorspringenden Wandungen umschlossen ist, so theilt er seine St\u00f6sse letztem mit, und da die Wandungen aus elastischen Stoffen gebildet sind, so werden sie durch diese St\u00f6sse in Schwingungen gerathen, welche die Periode der schwingenden Stimmritzenb\u00e4nder einhalten. Die Bewegung, die im ersten Moment die Stimmritzenb\u00e4nder allein ausf\u00fchrten, verbreitet sich somit alsbald auf den gesammten Kehlkopf, Luftr\u00f6hre und Lungenwandung und dann wird auf gleichm\u00e4ssige Weise der ganze Luftinhalt dieser Gebilde ersch\u00fcttert. Somit wird also im Allgemeinen nicht allein ersichtlich, dass der aus der Trachea dringende Luftstrom, eine bestimmte Stellung der Stimmritzenb\u00e4nder vorausgesetzt, t\u00f6nen muss, sondern dass er wegen vielfacher Resonnanz auch kr\u00e4ftig t\u00f6nen muss.\nAber nur bis zu diesen Ableitungen, und nicht weiter f\u00fchren uns die Thatsachen mit Sicherheit, und darum beginnt auch jenseits derselben sogleich die Controverse. \u2014 Diese erstreckt sich zun\u00e4chst darauf, von welchen besondern Bedingungen die Tonh\u00f6he oder die Zahl der Schwingungen in der Zeiteinheit abh\u00e4ngig sei. Eine Annahme, welche J'oh. M\u00fcller vertritt, behauptet, dass sich der Luftstrom den Stimmb\u00e4ndern gegen\u00fcber verhalte, wie der Bogen gegen\u00fcber den Saiten eines Streichinstruments. Nach ihm ist n\u00e4mlich die Zahl der Schwingungen einzig abh\u00e4ngig von dem Spannungsgrade der B\u00e4nder, so dass wenn dieser letztere unver\u00e4ndert bliebe, sich auch der Ton gleichbleiben w\u00fcrde, m\u00f6chte die St\u00e4rke des Luftstroms auch noch so grossen Schwankungen unterworfen sein. \u2014 Dieser Behauptung traten fr\u00fcher Liscovius, bevor er sich zu der M\u00fcller\u2019schen Ansicht bekehrte und neuerlichst Longet und Masson mit einer andern entgegen; den wesentlichen Bestimmungsgrund der Tonh\u00f6he","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nTheorie der Stimme.\nfinden sie in der Pressung, welche die Luft in der Stimmritze erf\u00e4hrt und in der Spannung, welche die mitklingenden Gebilde insbesondere die Wandungen des ventric. Morgagni besitzen. Nach ihnen steigert sich die Tonh\u00f6he, wenn bei unver\u00e4nderlicher Stimmb\u00e4nderspannung und gleichbleibender Stimmritzen\u00f6ffnung die St\u00e4rke des Luftstroms w\u00e4chst, oder wenn bei gleichbleibender Stimmb\u00e4nderspannung und unver\u00e4ndertem Luftstrom der Durchmesser der Stimmritzen\u00f6ffnung abnimmt. Beide Annahmen, die M\u00fcller\u2019sche und Masson\u2019sche, sind weder zu beweisen noch zu widerlegen.\nVon physikalischer Seite her sind beide Annahmen insofern unangreifbar, als durch beide sich die M\u00f6glichkeit der Bildung einer Stimme mit den Eigenschaften der menschlichen einsehen l\u00e4sst. \u2014 Der Einwand, der sich der Hypothese von J. M \u00fclier entgegnen liesse, ob H\u00e4ute von so kleiner Ausdehnung, wie die Stimmb\u00e4nder bef\u00e4higt seien eine so vollklingende und so ausgedehnte Toureihe zu bilden, ist in\nder That widerlegt Denn es geben schon kleine Kautschoukplatten, wiesle J.M\u00fcller zur Construktion des schematischen Kehlkopfs anwendete, mehrere Oktaven, obwohl ihre Elastizit\u00e4t diejenige der Stimmb\u00e4nder in keiner Weise erreicht. Denn\ndiese letzteren haben nicht allein eine vollkommenere Elastizit\u00e4t, als ein durchfeuchteter thierischer Stoff, sondern es steigert sich ihr Elastizit\u00e4tscoeffizient zugleich mit der Spannung, so dass diese bei einer sehr geringen L\u00e4ngenausdehnung des Bandes schon einen sehr betr\u00e4chtlichen Werth besitzt. \u2014 Zur Begr\u00fcndung der andern Vorstellunghat Masson*) Versuche von Savart verfolgend, die akustischen Erscheinungen untersucht, welche ein Luftstrom bietet, der sich durch eine Oeffnung in einer Metallplatte dr\u00e4ngt. Er fand a. dass wenn die Lnft durch eine Oeffnung von beliebiger Form und Gr\u00f6sse tritt, der Strom hinter derselben jedesmal ein wellenf\u00f6rmiger wird, weil die R\u00e4nder der Oeffnung in eine schwingende Bewegung gerathen. b. Die durch diese Schwingungen erzeugten T\u00f6ne, welche an und f\u00fcr sich sehr schwach sind, werden aber sehr voll, wenn man auf die Oeffnung ein Rohr von passender L\u00e4nge aufsetzt, dessen Luft in Mitschwingungen ger\u00e4th c. Der Ton, welchen eine bestimmte Oeffnung und ein bestimmtes Rohr geben, bleibt unver\u00e4ndert, wenn sich die St\u00e4rke des Luftstroms innerhalb enger Grenzen \u00e4ndert, mit einer weitern Steigerung der Stromst\u00e4rke erh\u00f6ht sich der Ton. d. Jede noch so kleine Verbiegung der R\u00e4nder der Oeffnung oder der Platte, durch welche der Luftstrom tritt, ver\u00e4ndert sogleich die Tonh\u00f6he, welche derselbe Luftstrom vorher gab. e. R\u00f6hren mit h\u00e4utigen Wandungen verst\u00e4rken den Ton viel betr\u00e4chtlicher, als solche von Holz und Metall; ist man im Staude den Wandungen wechselnde Spannungen zu ertheilen, so kann dasselbe Rohr, durch dieselbe Oeffnung angeblasen, die mannigfaltigsten T\u00f6ne geben, und zwar steigt mit der Spannung der R\u00f6hrenw and die Tonh\u00f6he, f. Ebenso ist ein betr\u00e4chtlicher Tonw7echsel m\u00f6glich, wenn man innerhalb des Rohres die Gr\u00f6sse der mitschw'ingenden Lufts\u00e4ule durch theilweiseAerstopfung des Rohrs ver\u00e4nderlich machen kann. g. Die Dr\u00fccke, w elche der Luft mitgetheilt werden m\u00fcssen, um au einem solchen Apparat T\u00f6ne zu erzeugen, sind immer sehr niedrig. So erhielt Masson aus Oeffnungen von 2 bis 7 M. M. Durchmesser, die in Platten von 3 bis \u2022 5 M. M. Dicke gebohrt waren, eine Tonreihe, die neun Oktaven umspannte, w \u00e4hrend der Druck von 2 bis 100 M. M. Wasser wechselte.\nH\u00e4lt man nun die am todten und lebenden Kehlkopf anfgefundenen Thatsachen mit den Bedingungen und Anforderungen dieser beiden Vorstellungen zusammen, so passen sie mehr oder weniger f\u00fcr beide. So spannen sich z. B. in der That mit einem Steigern der Tonh\u00f6he die Stimmb\u00e4nder, wie es M\u00fcller verlangt, zugleich aber mehrt sich der Masson\u2019schen Hypothese entsprechend die Spannung der resonnirenden\n*) Recherches experim. sur le mouvement etc. Compt. rend. XXVI. 257.","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Brust- mid Fistelstimme.\n429\nGebilde. \u2014 Fenier steigt mit der St\u00e4rke des Luftstroms, vorausgesetzt, dass der Contraktionsgrad der Muskeln derselbe blieb, die Stimme, wie es Masson verlangt, zugleich aber spannt auch der st\u00e4rkere Luftstrom die Stimmb\u00e4nder mehr an. Nach Longet soll die Stimme der Thiere nach Abtragung des Morgagnischen Ventrikels im wahren Wortsinn verschwinden, indem sie dann nur noch unter heftigen Anstrengungen einen einzigen explosiven Ton zu erzeugen verm\u00f6ge; mit dieser Thatsache steht es aber in direktem Widerspruch, dass ein ausgeschnittener Kehlkopf des Menschen an dem man die oberen Stimmb\u00e4nder abgetragen, noch zur Stimmbildung bef\u00e4higt ist u. s. w.\nZur vollendeten Best\u00e4tigung der Ansicht von Joh. M\u00fcller, w\u00fcrde es n\u00f6thig sein, das empirisch gefundene Abh\u00e4igigkeitsverh\u00e4ltnis zwischen Tonh\u00f6he und spannenden Gewichten, als eine nothwendige Folge der eigent\u00fcmlichen Elastizit\u00e4t der Stimmb\u00e4nder und ihrer besonderen Art der Aufh\u00e4ngung zu erweisen, und zugleich m\u00fcsste allgemein gezeigt werden, dass sich die \u00fcber und unter dem Stimmband liegende Luft und Bandmasse am lebenden Kehlkopf nicht wesentlich an der Erzeugung und Bestimmung der Tonh\u00f6he betheiligen. \u2014 Die Annahme von Mass \u00f6d d\u00fcrfte dagegen erst als feststehend anzusehen sein, wenn beim Gleichbleiben der Oeffnung der Stimmritze, der Spannung der B\u00e4nder und der St\u00e4rke des Luftstroms der Ton sich erh\u00f6hte mit steigender Spannung der Wandungen des ventriculus Morgagni; oder wenn bei Unver\u00e4nderlickeit in der Spannung der Stimmb\u00e4nder und der Ventrikelw\u00e4nde die Tonh\u00f6he w\u00fcchse mit dem abnehmenden Durchmesser der Stimmritzen-\u00f6ffnung. Masson m\u00fcsste auch darthun wie es zu erl\u00e4utern sei, dass dieser Einfluss der Weite der Stimmritze am todten Kehlkopf, wie dieses Miille r gezeigt, fehlen und am lebenden vorhanden sein k\u00f6nne u. s. w. Keinenfalls aber darf der Ausspruch unterlassen werden, dass bei der gegenw\u00e4rtigen Sachlage die Annahme von M\u00fcller das Uebergewicht \u00fcber die andere hat, indem es gelingt aus derselben die Erscheinungen am lebenden und todten Kehlkopf vollkommen zu erkl\u00e4ren.\n7. Bedingungen f\u00fcr die Bildung der Brust- und Fistelstimme; Theorie derselben. Die Beobachtungen \u00fcber die Vorg\u00e4nge in den Stimmwerkzeugen beim Uebergang der T\u00f6ne aus dem einen in das andere Register bestehen darin: dass bei der kr\u00e4ftigen Bruststimme, niemals aber bei der Fistelstimme, die Wandungen des ganzen Brustkorbes in ein f\u00fchlbares Mitschwingen gerathen ; ein Umstand, der daraufhindeutet, dass sich bei ihrer Bildung dem Luftstrom eine betr\u00e4chtliche Hemmung an der Stimmritze entgegensetzt. In Uebereinstimmung hiermit gibt Garcia*) an, dass bei gleicher Anf\u00fcllung des Brustkastens mit Luft dieselbe Note gleichlaut gesungen im Brustton l\u00e4nger gehalten werden k\u00f6nne, als im Fistelton, mit andern Worten bei Anwendung des ersten Registers entweicht die Luft nicht so leicht als bei Benutzung des zweiten. Ausserdem ist noch bekannt, dass dem Gef\u00fchl des S\u00e4ngers nach die Kehlkopfsmuskeln bei der Bruststimme angestrengter sind als bei der Fistelstimme.\nBei der Unm\u00f6glichkeit weitere direkte Aufschl\u00fcsse zu erlangen, hat man sich auch hier zu den Versuchen an dem todten Kehlkopf gewendet und dabei erfahren: a. Am todten Kehlkopf sind die beiden Stimmarten zu erzeugen und zwar mit einem Klang, der selbst nach dem Urtheil von gebildeten S\u00e4ngern demjenigen der lebenden mensch-\n*) Valentin Lehrbuch der Physiolog. IL a. \u00a7. 313&","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nBrust- und Fistelstimme.\nliehen Stimme sich sehr ann\u00e4hert. \u2014 b. Fistelt\u00f6ne entstehen auf dem todten Kehlkopf, wenn sichtlich nur die freien R\u00e4nder der Stimmmembranen schwingen, w\u00e4hrend wenn die letztem in ihrer ganzen Ausdehnung vibriren der Brustton erscheint; Lehfeldt. \u2014 c. Der Mechanismus, der die M\u00f6glichkeit herbeif\u00fchrt, dass die Stimmh\u00e4ute in ihrer ganzen Ausdehnung schwingen, scheint gegeben zu sein, wenn der m. thyreoarytenoideus die Stimmritze stellt, wodurch die Stimmh\u00e4ute m\u00f6glichst in das Lumen der Luftr\u00f6hre hineingezogen werden; wenigstens erscheint nach M\u00fcller und Liscovius die Bruststimme\n\u00ae\ti\nam angeblasenen todten Kehlkopf, wenn man die Stimmritze so stellt, wie'sie voraussichtlich am lebenden durch den erw\u00e4hnten Muskel geformt wird. Die freien R\u00e4nder der Stimmb\u00e4nder schwingen dagegen f\u00fcr sich, wenn man die Stimmritze auf die Weise, wie sie im Leben wohl durch die Zusammenziehung der mm. cricoarytenoidei dargestellt wurde, formt.\nDiese Beobachtungen am todten und lebenden Stimmorgan finden sich, so weit unsere Einsicht reicht, in voller liebereinstimmung miteinander: 1) die Brustt\u00f6ne sind die tieferen des menschlichen Stimmumfangs entsprechend der Behauptung, dass sie gebildet werden bei der durch die Zusammenziehung der mm. thyreoarytenoidei erzeugten Stellung der Stimmb\u00e4nder ; denn dieser Muskel wirkt erschlaffend auf das Stimmhand. \u2014 2) Bei der Bruststimme geht alles \u00fcbrige gleichgesetzt, weniger Luft verloren und in der That ist auch bei der angegebenen Stellung der Stimmb\u00e4nder, wobei die Stimmritze enger ist, der\nLuft ein gr\u00f6sseres Hinderniss gesetzt.\nNeben diesen von Lehfeldt, Liscovius*) und Joh. M\u00fcller**) ausgesprochenen Annahmen, haben noch Andere wie Petrequin und Diday***); Segondf); Savart; Longet und Massonff) Angaben \u00fcber den bei der Fistel-und Brust-stimme bestehenden Vorgang gemacht; dieselben sind jedoch, insofern sie nicht ganz widerlegt sind, nur mehr oder weniger annehmbare physikalische Probalit\u00e4ten.\nPetrequin und Diday erl\u00e4utern die Bruststimme \u00fcbereinstimmend mit Joh. M\u00fcll er, die Fistelstimme soll dagegen in nichts anderm als in einer Schwingung der Luft in der Luftr\u00f6hre und dem Kehlkopf, ohne Beih\u00fclfe irgend einer Bandschwingung bestehen. Ihr ganzer Beweis ruht darauf, dass die Fistelstimme einen fl\u00f6tenartigen Klanghat. \u2014 Longet und Masson behaupten, dass in der Bruststimme die Luft der Luftr\u00f6hre und des Kehlkopfs im Zusammenhang schwinge, dass aber in der Fistelstimme sich in der Stimmritze ein Schwingungsknoten bilde, so dass die Luft in zwei gesonderte schwingende Abtheilungen zerfalle. \u2014 Segond, welcher, auf Vivisektion an Katzen gest\u00fctzt, angab, dass die Fistelstimme erzeugt w erde durch Schwingungen der oberen Stimmritzenb\u00e4nder, ist von Longet widerlegt worden.\n8. Mitt\u00f6nende Stimmwerkzeuge. Die Luft der Lunge, Luftr\u00f6hre, Rachen-, Mund- und Nasenh\u00f6hle und die elastischen W\u00e4nde die-\n*) 1. c. p. 42.\n1. c. p. 194 u. f.\n***) Gazette medic. 1844. Nro. 8 u. 9.\n\u2022JO Archiv general. XVII. u. XX. Bd. 1848 u. 1849. ff) 1. c. 186.","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Compensation am Stimmorgan.\n431\nser H\u00f6hlen \u00fcben einen Einfluss auf Klang und St\u00e4rke, keinen aber auf die H\u00f6h^ des Tons, Der Beweis daf\u00fcr, dass sie nur mitklingen, l\u00e4sst sich auf zahlreiche Weise geben; so \u00e4ndert sich die H\u00f6he eines angegebenen Tons nicht beim Oeffnen und Schliessen des Mundes. Der Ton nimmt an H\u00f6he nicht zu mit der steigenden Verminderung der Luft in der Brusth\u00f6hle beim Ausathmen u. s. w. Dagegen verliert er an Klang und St\u00e4rke wenn die Lunge, Rachen-, Nasen- und Mundh\u00f6hle pathologische Ver\u00e4nderungen erleiden, ebenso wenn der Kehlkopf verkn\u00f6chert u. s. w. \u2014\nDie erw\u00e4hnten Luftbeh\u00e4lter sind bekanntlich mit Muskeln versehen, durch welche theils das Yolum ihres Inhalts und theils die Wandspannung ver\u00e4nderlich wird. An einigen dieser Apparate sind die Nerven dieser Muskeln in eine \u00e4hnliche Beziehung zu den wesentlichen Stimmwerkzeugen gesetzt, wie wir sie auch anderswo z. B. an den Augenmuskeln und der Iris finden ; unwillk\u00fcrlich tritt n\u00e4mlich mit der Erregung der einen Muskelabtheilung auch die einer andern auf. In einer solchen Verkettung mit den eigentlichen Stimmmuskeln, [die sich nur zwischen den Kehlkopfknorpein her erstrecken] scheinen zu stehen mm. thyreohyoidei, sternohyoidei (?) sternothyreoidei, leva-tores palati mollis, azygos uvulae. \u2014 Namentlich \"n\u00e4hert sich beim Erh\u00f6hen des Tons der Kehlkopf dem in seiner Lage verharrenden Zungenbein und es zieht sich zugleich das Z\u00e4pfchen bis zum Verschwinden in den Vorhang; Valentin*). Umgekehrt aber steigt der Kehlkopf herab, wenn sich der Ton vertieft; der ganze Umfang dieser Kehlkopfsbewegung betr\u00e4gt von einem halben bis zu einem ganzen Zoll.\nZudem sind wir aber noch willk\u00fcrlich die Resonnanz zu modifici-ren im Stande je nach der Stellung, die wir den Lippen, den Z\u00e4hnen, der Zunge, dem Gaumenbogen u. s. w. geben.\n9. Vergleichung des Kehlkopfs mit nahe stehenden musikalischen Instrumenten; Compensation am Stimmorgan. Offenbar steht unser Kehlkopf unter allen Instrumenten keinem so nahe, als der Zungenpfeife (Hoboe, Clarinette, Zungenpfeifen der Orgel etc.) In diesen dringt, wie im Kehlkopf, ein Luftstrom gegen eine elastische Platte, welche hierdurch\u2019 in Schwingungen versetzt wird; in beiden F\u00e4llen ist die Platte so gegen den Luftstrom gestellt, dass sie den Stoss desselben je nach der Richtung ihrer Schwingung bald mehr und bald weniger zu hemmen im Stande ist; in beiden Instrumenten wird die H\u00f6he des Tons wesentlich bestimmt durch die Zahl von [mehr oder weniger vollkommenen] Unterbrechungen, welche der Luftstrom bei seinem Hergang an der elastischen Platte durch die Schwingungen derselben erleidet. \u2014 Das Stimminstrument zeichnet sich aber durch\n*) Lehrbuch II. a. p. 388.","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nMotorische Nerven der Stimmwerkzeuge.\nfolgende bemerkenswerthe Eigenschaften vor den gew\u00f6hnlichen Zungenpfeifen aus. \u2014 a. Die schwingende Platte ist keine metallene, sondern eine elastische Membran ; weil diese im normalen (ungespannten) Zustand einen niedrigen Elastizit\u00e4tscoeffizienten besitzt, bei Ausdehnungen aber die Spannungen zwischen den Molekeln der Membran sehr rasch wachsen, sc ,3t es m\u00f6glich Schwingungen von sehr verschiedener Dauer in ihr zu erregen, ohne dass die L\u00e4nge der Membran betr\u00e4chtlichen Wechsel bed\u00fcrfte.\u2014 b. Das Stimmorgan besitzt verschiedene Mittel zur Ver\u00e4nderung der Tonh\u00f6he, wodurch ihm ein akustisches Ausgleichungsverm\u00f6gen in einem Grade und einer Ausdehnung zukommt, wie es keinem andern Zungeninstrumente eigen ist. Viele Instrumente zeigen bekanntlich die Eigent\u00fcmlichkeit beim starken Anspruch (heftigem Blasen oder Streichen) einen Ton von gr\u00f6sserer H\u00f6he zu geben, als bei schwachem Anspr\u00fcche. Dieser llebelstand der das Anschwellen eines und desselben Tones vom piano zum forte unm\u00f6glich macht, kann durch verschiedene Mittel ausgeglichen (compen-sirt) werden. \u2014 In der That gelingt nach W. We b e r s Vorschriften auch die Compensation an Zungenpfeifen aber nur dann, wenn man die Zungenpfeife f\u00fcr einen einzigen Ton einrichtet; hieraus folgt aber die weitere St\u00f6rung, dass ein Instrument aus gerade so viel R\u00f6hren zusammengesetzt sein muss, als es T\u00f6ne erzeugen soll*). \u2014 Einer viel gr\u00f6sseren Vollkommenheit der Compensation erfreut sich nun das Stimmorgan, indem es innerhalb weiter Grenzen durch stetige Correktur zweier spannender Einfl\u00fcsse jede Tonh\u00f6he bei jeder Luftst\u00e4rke erzeugt. Die Einfl\u00fcsse, welche hier compensirend auftreten sind die St\u00e4rke des Luftstosses und die Gr\u00f6sse der Muskeleontraktion, in der Art, dass wenn ein Ton allm\u00e4lig st\u00e4rker oder allmalig schw\u00e4cher angegeben werden soll, die Muskeln in ihrer Contraktion allm\u00e4lig steigen oder nachlas-sen, so dass in diesem Fall durch die Muskeln und durch Anblasen gleichzeitig eine Spannungs\u00e4nderung erwirkt wird, die von gleichem Werth ist, aber im umgekehrten Sinn liegt. \u2014 Alle T\u00f6ne mit Ausnahme der tiefsten und h\u00f6chsten k\u00f6nnen unter den Einfl\u00fcssen dieser compen-sirenden Mittel ab- und anschwellen.\n10. Motorische Nerven der Stimmwerkzeuge, Reflexe auf dieselben**).\nDie Muskeln des Stimmapparats sind, wie aus dem Vorhergehenden erhellt, sehr zahlreich und auf mannigfache Weise an unserem K\u00f6rper vertheilt. Ein grosser Theil derselben, wenn nicht alle, sind\n*) Binds e il. 1 c. p. 222 u. 481.\nTh. Bischoff; commeiitatio de nervi accessor. Willisii etc. Darmstadt 1832. \u2014 Volkmann, Artikel Nervenphysiologie. Wagn ers Handw\u00f6rterbuch II. Bd. p. 585 u. 589,\u2014 Donders h. Mole sch ott in Henles Zeitschrift f. rat. Med. IV. Bd. 219. \u2014 Bernard, Archiv general. 1844 und im ausf\u00fchrlichen Auszug in Valentins Jahresbericht Jahrg. 1845. 21T. \u2014 Longet, Recherches experim. sur les fonct. etc. Gazette med, 1841 und in dessen Traite de physiol, l.c. 14T.\nA","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Nerven der Stimmliaiitsteller und Spanner\n433\ndaf\u00fcr berechnet, neben der Stimmbildung noch andere Funktionen zu erf\u00fcllen, und namentlich sind sie theils Schling- und theils Atliemmus-keln. Diese H\u00e4ufung der Funktionen, welche in ganz verschiedener Stellung zum Hirn und R\u00fcckenmarke stehen, macht es wahrscheinlich, dass die Muskeln behufs der Stimmbildung durch Nerven erregt werden, die aus andern Hirntheilen entspringen als die, welche Athem-und Schlingbewegung 'einleiten. \u2014 Diese Yermuthung erh\u00e4lt daran eine St\u00fctze, dass die Muskeln der Stimmritze in der That Nerven, die in urspr\u00fcnglich verschiedenen Bahnen verlaufen, empfangen, und sie wird fast zur Gewissheit durch die pathologische Beobachtung. Diese letzte lehrt n\u00e4mlich, dass in Folge von Hirnkrankheiten und zwar ohne irgend eine weitere St\u00f6rung der Lebenserscheinungen, die bisher vorhandene und wohlausgebildete F\u00e4higkeit der Tonbildung erl\u00f6schen kann. Die hier in Frage kommenden Kranken k\u00f6nnen dann noch willk\u00fcrlich und unwillk\u00fcrlich die Athem- und Schlingbewegungen verrichten, sie k\u00f6nnen dagegen weder willk\u00fcrlich noch unwillk\u00fcrlich eine Stimme bilden.\na.\tNerven der Stimmhautsteller und Stimmhautspanner.\nDie Stimmhautsteller und namentlich mm. thyreoarvtenoidei, crico-arytenoidei postici und laterales, arytenoidei proprii erhalten ihre Nerven zun\u00e4chst aus dem ram. recurrens n. vagi, w\u00e4hrend der m. crico-thyreoideus denselben aus dem ram. laryngeus sup. empf\u00e4ngt. Nach Bi sch off treten durch den n. accessorius die Nervenf\u00e4dcn aus dem Hirn, welche f\u00fcr die Muskeln zur Stellung und Spannung der Stimmritze bestimmt sind; denn er beobachtete nach Durchschneidung aller Wurzeif\u00e4den dieses Nerven in der Sch\u00e4delh\u00f6hle vollkommenen Yerlust der Stimme. Seine Angaben best\u00e4tigt Longet. Yolkmann spricht dagegen den Yaguswurzeln einzig und allein die Beherrschung der kleinen Kehlkopfsmuskeln zu. Diesen Widerstreit vereinigt Bernard dahin, dass er behauptet es verbreiteten sich im ram. laryng. inferior Nervenr\u00f6hren, welche urspr\u00fcnglich in den Wurzeln des n. vagus und n. accessorius W. lagen; w\u00e4hrend zu dem m. cricothyreoideus nur\nNerven aus den Wurzeln des n. accessorius treten sollen.\nBernard behauptet in Uebereinstimmung mit Bischoff, dass dem n. accessorius die Stimmbildung obliege; nach Ausrottung dieses Nerven beobachtete er nicht allein vollkommene Stimmlosigkeit, sondern auch Unf\u00e4higkeit die Stimmritze in einem solchen Grad zu schliessen und ihre Umgrenzungen so zu spannen, wie es die Stimmbildung erfordert. \u2014 Ob hierdurch, wie Bernard glaubt, der Beweis daf\u00fcr, geliefert ist, dass der n. accessorius nur Stimmnerv sei, ist um so unwahrscheinlicher als auch beim Schlingen die Stimmritze nicht mehr in normaler Weise geschlossen werden konnte. \u2014 M\u00f6glicher Weise waren in den von ihm beobachteten F\u00e4llen Stimmritzenverengerer und Spanner vollkommen gel\u00e4hmt, indem die geringen Verengerungen der Stimmritze, die er als vorhanden angibt, von elastischen Wirkungen, Luftst\u00f6ssen etc. abh\u00e4ngig waren.\nb.\tDie Nerven f\u00fcr die Muskeln der ton verst\u00e4rkenden Apparate. \u2014 In das Gaumensegel geht nach fr\u00fcherem n. accessorius und n. va-\nLudwig, Physiologie \u00cf,\t28","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nNerven der Resonnanzapparate.\ngus gleichzeitig; wie sie sich in die Funktionen die dieser Falte zukommen theilen, ist unbekannt. \u2014 Mm. thyreohyoideus und sternothy-reoidcus empfangen ihre Zweige aus dem ram. descend, hypoglossi; wahrscheinlich also aus Halsnerven und Hypoglossuswurzeln gleich-\nzeitig.\nc. Die Nerven f\u00fcr die Stimmmuskeln des Brustkorbs. \u2014 Die Exspirationsbewegungen, deren wir uns bei der Stimmbildung bedienen, zeichnen sich durch ihre grosse Dauer aus, w\u00e4hrend die gew\u00f6hnliche Exspiration sehr rasch beendet ist. \u2014 Dieser Modus kann begreiflich entweder durch einen sehr allm\u00e4ligen Nachlass der Einathmungsmus-\nkeln bedingt sein, so lange sich der Brustkorb bis zu dem Raum verengert, den er gem\u00e4ss seiner nat\u00fcrlichen Elastizit\u00e4t einnimmt, oder durch eine sehr allm\u00e4lige Contraktion der Exspirationsmuskeln, wenn er sich \u00fcber diese Grenze noch verengern soll. Ob f\u00fcr diese Modifikation der Exspirationsbewegung besondere Nerven vorhanden ?\nBernard bezeichnet die mm, cucullaris und sternocleidomastoideus als Brust-slimmmuskeln und demgem\u00e4ss als Bruststimmnerven den n. accessorius Willisii, welcher in diese beiden Muskeln eingeht. Dieser d\u00fcrfte aber keinenfalls der gew\u00f6hnliche Bruststimmnerv sein, da sich nur ausnahmsweise diese beiden Muskeln an einer Exspirationsbewegung betheiligen. \u2014\nDie reflektorischen Beziehungen unseres Apparates sind wegen\nder innigen und ganz eigenth\u00fcmlichen Seelenwirkungen auf denselben schwer zu ermitteln, jedenfalls aber d\u00fcrfte das Aussprechen des Zweifels am Platz sein, ob jede in Folge der Erregung sensibler Nerven auftretende Stimme ein Beweiss daf\u00fcr sei, dass die Seele einen Empfindungseindruck empfangen habe.\nSprache.*)\nDie akustischen Eigenth\u00fcmlichkeiten der Sprache unterscheiden sich weit ab von denen der Stimme. W\u00e4hrend das Gebiet der letzteren durch eine musikalische Tonreihe dargestellt wird, besteht die Sprache aus einer Zahl von besonderen Klangarte'n oder besser Ger\u00e4uschen ; das Stimminstrument k\u00f6nnte darum mit vollkommenem Recht ein musikalisches genannt werden, das Sprachinstrument ist dagegen ein ganz eigenth\u00fcmlicher akustischer Apparat, der von den Wirkungen, welche die Schwingungszahlen der T\u00f6ne erzeugen, ganz absieht, und zu seinen Leistungen nur das Beschleunigungsgesetz (die Form) der Schallwellen benutzt. Die Sprachlehre hat nun diese einzelnen Ger\u00e4usche, aus denen die Sprache zusammengesetzt ist, zu ermitteln gesucht und mit besondern Schriftzeichen bezeichnet; die Buchstaben sind also gleichsam die Noten der Sprache, welche aber hier keine Tonh\u00f6hen, sondern Tonf\u00e4rbungen andeuten.\n*) J. M\u00f6 11 er, Handbuch der Physiologie IF. 229. \u2014 dung und das nat\u00fcrliche System der.Sprachlaute. der Wissenschaften. Wien 1849, M\u00e4rzheft.\nE. Br\u00fccke, Untersuchungen \u00fcber Lautbil-Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Sprache.\n435\n1. Allgemeine Bedingungen zur Spracherzeugung.\nDie Sprache oder besser die einzelnen zur Sprache geh\u00f6rigen Laute werden erzeugt, indem die vom Brustkasten eingesogene oder ausgestossene Luft durch die Mund- oder Nasenh\u00f6hle hindurchstreicht, w\u00e4hrend die einzelnen beweglichen Theile derselben, Lippe, Unterkiefer mit der Zahnreihe, Zunge, Gaumen eine gewisse Stellung eingenommen haben oder einzunehmen im Begriff sind. In diesem Sinne bezeichnen die Buchstaben auch gewisse Stellungen der Mundtheile w\u00e4hrend eines durch dieselben dringenden Luftstroms.\nDie allgemeine physiologische Aufgabe, welche sich nach dieser Mittheilung stellt, best\u00fcnde darin, anzugeben, welche Ger\u00e4usche mittelst der erw\u00e4hnten Hilfsmittel erzeugt werden k\u00f6nnen, und welche Beziehungen zwischen den erzeugten Ger\u00e4uschen und den erzeugenden Hilfsmitteln bestehen, d. h. warum mit Nothwendigkeit den Stellungen der Mundtheile die hervorgebrachten Laute entsprechen. In dieser allgemeinen Form ist aber unsere Aufgabe bei dem niedrigen Stand der akustischen Fundamente noch nicht angreifbar. Man begn\u00fcgt sich damit, empirisch zu ermitteln, welche Ver\u00e4nderungen der Sprachwerkzeuge zur Erzeugung der beschr\u00e4nkten Zahl von Lauten nothwendig sind, welche die Sprachen zur Bildung ihrer Worte benutzen. \u2014 In diesem beschr\u00e4nkten Sinne werden wir nun ebenfalls unsere Mittheilungen halten m\u00fcssen, die unter allen Umst\u00e4nden schon darum etwas sehr scwankendes haben, weil f\u00fcr den einzelnen Laut der betreffenden Sprache die akustische Bestimmtheit fehlt, indem er von verschiedenen Menschen verschieden ausgesprochen wird.\nDie Sprachbildung ist unabh\u00e4ngig von der Stimmbildung im Kehlkopf, kann aber mit ihr in Combination treten ; Fl\u00fcstern und Lautiren.\nBekanntlich k\u00f6nnen wir beim Ausstossen der Luft, wenn die Stimmritzenb\u00e4nder so gestellt sind, dass sie keinen Ton angeben, sprechen ^ die einzelnen hier gebildeten Ger\u00e4usche sind vollkommen distinkt, die aus ihnen zusammengesetzten Worte vollkommen verst\u00e4ndlich, aber die Sprache ist klanglos, fl\u00fcsternd. Der besondere Beweis, dass in diesem Fall der Kehlkopf keinen Theil an der Sprache nimmt, liegt darin, dass dieselbe mit gleichen oder wenigstens sehr \u00e4hnlichen akustischen Eigenschaften auch beim schwachen Einziehen der Luft, wobei der Kehlkopf gar keinen Ton zu geben im Stande ist, gebildet werden kann. Diese Art zu sprechen, ben\u00fctzen wir nur ausnahmsweise, gew\u00f6hnlich aber erzeugen wir die Sprache gleichzeitig mit Sprech- und Stimmwerkzeugen, so dass der geh\u00f6rte Laut eine re-sultirende Schallbewegung aus den Wirkungen beider wird. Dass hier aber wiederum die Sprachwerkzeuge den bestimmenden, den Laut charakterisirenden Einfluss \u00fcben, ergibt sich daraus, dass wenn wir alle Laute bei derselben, oder umgekehrt einen Laut bei sehr verschiedenen Tonh\u00f6hen sprechen, die Sprache nichts von ihrer Verstand\u00ab\n28*","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"336\tBildung der Buchstaben.\nlichkeit verliert, wie uns eint\u00f6nige Gespr\u00e4che und tonreiche Lieder beweisen.\n2. Bedingungen zur Bildung der einzelnen Laute ; Buchstaben.\nBei der Bildung eines m\u00f6glich reinen a n\u00e4hern sich Kehlkopf und Zungenbein durch Erhebung des erstem, die Zunge legt sich auf den Boden der Mundh\u00f6hle, die Mund\u00f6ffnung kann eine beliebige Form annehmen , doch darf sie nicht zu weit und nicht zu einer runden Oeff-nung verengert sein. \u2014 Bei e erhebt sich das Zungenbein, die Zunge wird dem harten Gaumen mehr gen\u00e4hert; alles Andere wie bei a. \u2014 Bei i tritt das Zungenbein noch h\u00f6her und nach vorn, der Kanal zwischen Zunge und hartem Gaumen wird noch mehr verengert. Alles Andere wie bei e und a. \u2014 Bei o ist der Kehlkopf dem Zungenbein weniger gen\u00e4hert als bei \u00ab, e und i. Die Zunge hinten gehoben, vorn flach, die Mund\u00f6ffnung bei vorgeschobenen Lippen in Form eines runden Loches verengt. \u2014 Bei u steht das Zungenbein so hoch als bei a und nach vorn wie bei /, der Raum zwischen Zungenbein und Kehlkopfist aber wegen der Senkung des letzteren vergr\u00f6ssert, die Zunge ist dem Gaumen hinten st\u00e4rker gen\u00e4hert als bei o, vorn liegt sie flach und die Mund\u00f6ffnung bildet ein rundes Loch, welches noch enger als bei o ist.\nDiese f\u00fcnf Buchstaben stellen die von den Grammatikern so genannten reinen Vokale der germanischen und romanischen Sprachen dar. \u2014 Diese Sprachen bedienen sich ausserdem noch Modifikationen derselben, welche hervorgehen a) aus den Stellungen der Mundtheile, die in der Mitte liegen zwischen einem der reinen Vokale. Hierher geh\u00f6ren Laute, die von dem durchziehenden Luftstrome gebildet werden, nachdem die Sprachwerkzeuge eine Stellung zwischen e und \u00ab, a und o, i und u, e und o und endlich zwischen \u00ab, o und e angenommen haben, b) Bei der den Vokalen entsprechenden Ver\u00e4nderung in der Stellung des Kehlkopfs, des Zungenbeins und der Zunge w\u00e4hrend unver\u00e4nderter, in allen F\u00e4llen m\u00e4ssig ge\u00f6ffneter Mundh\u00f6hle entstehen die sogenannten unvollkommenen Vokale (\\okale der Engl\u00e4nder) . c) Aus der den Vokalen entsprechenden Ver\u00e4nderung der Rachen-und Mundtheile mit einer solchen Stellung des Gaumensegels, dass die Luft zugleich durch Mund- und Nasenh\u00f6hle streichen kann, bilden sich die Vokale mit Nasenton. F\u00fcr diese Modifikation ist also die Resonnanz der Luft in der Nasenh\u00f6hle charakteristisch, d) Geh\u00f6ren zu der Modifikation der Vokale die sogenannten Diphthonge, welche durch den vorbeiziehenden Luftstrom gebildet werden, w\u00e4hrend die Sprachwerkzeuge aus der Stellung f\u00fcr einen Vokal in den andern \u00fcbergehen.\nIm Vorhergehenden ist der Verabredung gem\u00e4ss nur die Bildung der Vokale erw\u00e4hnt, wie sie der Sprache gel\u00e4ufig ist. Sie lassen sich aber noch auf mannigfache Weise bilden; namentlich beim Einziehen sowohl, als beim Ausstossen der Luft, und dann auch w\u00e4hrend die Zunge aus dem Mund gestreckt und in dieser Stellung auf die","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Bildung der Buchstaben.\n43 t\nmannigfachste Weise verbogen wird. \u2014 Diese Bildungsweisen sind f\u00fcr die Theoiie sehr bemerkenswert!^ weil daraus hervorgeht, dass sie ebenso gut, wie alle andern Buchstaben in dem Mund, resp. in der Rachenh\u00f6hle nicht aber in dem Kehlkopf entstehen. Die verschiedenen Versuche die Sprache des Menschen mittelst mechanischer Apparate nachzuahmen , haben namentlich auch auf verschiedene Methoden der Vokalbildung gef\u00fchrt. Die altern bahnbrechenden Beobachtungen von Kempelen und Kratzenstein sind von Willis sehr vervollkommnet, welcher darthut, dass man ebensow ohl, wenn man auf ein Zungeninstrument mit frei durchschlagender Zunge einen flachen Trichter setzt und dessen Oeffnung immer w eiter verschliesst, der Reihe nach die \\okale i, e, a, o, u erh\u00e4lt, als w enn man an dieses Zungeninstrument ein Ansatzrohr setzt. Bei allm\u00e4ligem Verl\u00e4ngern dieses Ansatzrohres treten die Vokale wieder in der Reihe i, e, a, o, u auf; erreicht das Ansatz-\nrohr ein !/4 oder ein vielfaches vom % der Wellenl\u00e4nge des Tons, welchen dies Zungeniustrument gibt, so tritt ein Wendepunkt ein, indem nun die Vocale bei steigender Verl\u00e4ngerung in umgekehrter Ordnung u, o, a, e, i erscheinen. Diese Erfahrung hat die Phonetiker bestimmt, die erw \u00e4hnte Reihenfolge der Vokale die nat\u00fcrliche zu nennen. \u2014 Br\u00fc cke h\u00e4lt diese k\u00fcnstlichen Bedingungen der Entstehung mit den nat\u00fcrlichen insofern \u00fcbereinstimmend, als hier, wie dort die Reihe von i zu a aufsteigend erhalten wird durch allm\u00e4lige Verl\u00e4ngerung des Ansatzioliis, und a und o zu u durch allm\u00e4lige Verengung der Ausfluss\u00f6ffnung f\u00fcr die Luft sich bildet. Er findet dagegen noch die Art wie beim Sprechen die Zungenstellung auf die Vokalbildung wirkt, r\u00e4thselhaft. \u2014\nDen bisher beschriebenen Lauten steht das h insofern nahe als\nhier wie dort bei der Bildung der Mundkanal ziemlich weit offen bleibt. Lei* Laut h (die aspirata) kann in der That auch mit allen Vokalen gleichzeitig gebildet werden; der Unterschied der Vokale und des h in Bezug auf ihre Entstehung scheint einzig in dem Modus der Luftstr\u00f6mung zu bestehen, so dass bei h der Luftstoss pl\u00f6tzlicher und rascher durch die zum Vokal gestellten Mundtheile hindurchf\u00e4hrt als bei \u00ab, e, i, 0, u.\nDie Bildung der noch \u00fcbrigen Laute unseres Alphabets zeigt die\nUebereinstimmung, dass die Luft auf dem Wege von der Stimmritze bis zur Mund\u00f6ffnung einen Verschluss oder eine betr\u00e4chtliche Verengerung findet, wesshalb sie im Vorbeistr\u00f6men ein auffallendes Ger\u00e4usch bildet, w\u00e4hrend die Stellung des Zungenbeins zum Kehlkopf keine oder nur unwesentliche Ver\u00e4nderungen erf\u00e4hrt. Man hat sie darum immer auch vorzugsweise als Mundlaute betrachtet. \u2014 Nach Br\u00fccke kann map sie je nach dem Ort, an welchem sich der Verschluss oder die Verengerung bildet, in drei Gruppen Zerf\u00e4llen, an deren Spitzen die von der Grammatik her bekannten mutae /?, /, k stehen.\nDie erste Gruppe besteht aus /?, &,\tt\u2019,\tden Verschluss oder\ndie enge M\u00fcndung bilden Lippe mit Lippe oder eine der beiden Zahnreihen mit den Lippen. \u2014 p wird durch ein pl\u00f6tzliches Oeffnen oder Schliessen der vorher festgeschlossenen oder ge\u00f6ffneten Lippen erzeugt (z. B. in pa und ap), w\u00e4hrend ein Luftstrom aus dem Kehlkopf gegen die Mund\u00f6ffnung dringt; es kann auch mittelst raschen Oeffnens der durch Z\u00e4hne und Lippen geschlossenen Mundh\u00f6hle bei Vorhandensein des erw\u00e4hnten Luftstroms erzeugt werden. Der Buchstabe kann","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nBildung der Buchstaben.\nnicht mit einem Ton verbunden werden. \u2014 Bei b ist alles dem gleich, nur sind die verschliessenden Lippen weniger energisch gespannt und der Verschluss oder das Oeffnen geschieht allm\u00e4liger. Aus diesem Grund kann mit ihm ein T\u00f6nen verbunden sein. Kern pel en und Br\u00fccke stellen darum die Charakteristik von p und b folgender-massen: p bedeutet Absperrung des Nasenkanals und geschlossene Lippen bei erweiterter Stimmritze ; b dagegen Absperrung des Nasenkanals und geschlossene Lippen bei zum T\u00f6nen verengerter Stimmritze. \u2014 f Wird gebildet indem wir eine Lippe an die entgegengesetzten Schneidez\u00e4hne lose auflegen und einen Lufstrom hindurchsenden ;\ni\nv (gleich einem milden/) indem wir die Lippen lose aufeinander legen, so dass eine kleine Oeffnung bleibt, durch die wir hindurchblasen ; iv aber dadurch, dass wir, w\u00e4hrend wir die Stellung der Lippen zum f oder v beibebalten, die Stimme mitt\u00f6nen lassen. Das m entsteht schliesslich, wenn man die Lippen wie zum b stellt und die Luft mit t\u00f6nender Stimme zur Nase hinausstr\u00f6men l\u00e4sst.\nDie zweite Gruppe umfasst /, d, ein hartes und ein weiches s, /,\nu\nn. F\u00fcr diese bildet die Zunge den Verschluss oder die enge Oeffnung mit den Schneidez\u00e4hnen oder dem vorderen Theil des harten Gau-mens. \u2014 t ist also ein stummer Laut, der gebildet wird w\u00e4hrend dem Luftstrom ein Ausweg ge\u00f6ffnet oder verschlossen wird durch Anstemmen der Zunge gegen Schneidez\u00e4hne und Gaumen (ta oder \u00ab/). \u2014 d entsteht aus t wie p aus b, nur mit dem Unterschied, dass hier die Zunge statt der Lippen allm\u00e4lig bei t\u00f6nender Stimmritze den Verschluss \u00f6ffnet. Das harte s bildet sich, wenn bei der dem t zugeh\u00f6rigen Zungenstellung eine kleine Spalte ge\u00f6ffnet und durch diese die Luft gestossen wird; das harte s aber geht in ein weiches s \u00fcber, wenn man gleichzeitig die Stimme mitt\u00f6nen l\u00e4sst. \u2014 Das / entsteht, wenn man den Verschluss mit der Zunge vorn wie bei t festh\u00e4lt, dagegen hinten neben den Backz\u00e4hnen beiderseitig eine kleine Oeffnung l\u00e4sst, durch welche die Luft hindurchstreicht. Wird endlich die Zunge wie zum d gestellt und bei t\u00f6nender Stimmritze die Luft zugleich durch die Nase getrieben, so entsteht n.\nIn die dritte Gruppe geh\u00f6ren \u00c6, g, ch, j und das sogenannte Gaumen n oder n nasale. \u2014 k entsteht wie p und t nur mit dem Unterschied, dass der Verschluss durch den hintern Theil der Zunge und des Gaumens gebildet ist. g entspricht d und b ; ch ist dem harten s und / entsprechend, indem es ein Reibeger\u00e4usch an einer kleinen Oeffnung zwischen dem hinteren Theil des Gaumens und der Zunge darstellt; j (dem weichen s und w entsprechend) bildet sich bei der Zungen Stellung zum ch und t\u00f6nender Stimmritze und endlich entsteht ein eigenth\u00fcmlicher n Laut wenn man bei Stellung der Zunge zum/ und t\u00f6nender Stimmritze den Luftstrom durch die Nase richtet.\nVon den einfachen Consonanten der Grammatiker bleibt uns noch","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"439\nBildung der Buchstaben.\ndas r \u00fcbrig ; wir erw\u00e4hnen es hier, weil es als ein Glied aller drei Gruppen aufgef\u00fchrt werden kann, indem wir ein r labiale, linguale und gutturale bilden k\u00f6nnen. Charakteristisch f\u00fcr seine Bildung ist es, dass wir einen der leichtschwingenden Mundtheile mittelst des Luftstroms in Wellenbewegungen versetzen, deren einzelne St\u00f6sse so langsam auf einander folgen, dass wir sie gesondert unterscheid den. \u2014 Das r labiale entsteht demgem\u00e4ss, wenn wir unsere Lippen lose wie zum b aneinanderlegen und durch den Luftstrom in Bewegung versetzen. \u2014 Das r linguale ist der h\u00f6rbare Ausdruck der Yi-brationen, in welche die Zunge ger\u00e4th, wenn dieselbe wie zum t gestellt und durch den Luftstrom vom Gaumen abgedr\u00e4ngt wird; das r gutturale oder uvulare endlich entsteht durch Schwingungen des Z\u00e4pfchens, wenn man die Zunge wie zur Bildung des ch stellt, aber in der Mitte entsprechend der Lage des Z\u00e4pfchens eine Rinne bildet.\nAusser diesen einfachen Consonanten bildet das menschliche Sprachwerkzeug noch zusammengesetzte, welche entstehen wenn die Mundwerkzeuge gleichzeitig zwei Stellungen einnehmen, von denen jede f\u00fcr sich der Bildung eines Consonanten entspricht; hierher geh\u00f6rt sch, sf u. s. w. Mit diesen d\u00fcrfen begreiflich nicht zwei gesondert gesprochene, aber rasch aufeinanderfolgende Consonanten verwechselt werden, was um so leichter geschieht, wenn diese aus Bequemlichkeit von der Schrift in einen Buchstaben zusammengefasst sind, wie das deutsche % und das griechische ? und ip.\nVorstehende fragmentarische Betrachtung der Laute, bei der wir vorzugsweise den ausgezeichneten Beobachtungen von E.B r \u00fc cke gefolgt sind, kann nur als ein Anregungsmittel zu weiteren Literaturstudien betrachtet werden. Die Beschr\u00e4nkung auf das Gegebene erschien um so mehr geboten, als sonst auch andere erlernte F\u00e4higkeiten unserer Bewegungsorgane \u2014 denn eine solche ist die Sprache \u2014 eine Berechtigung zur Besprechung erhielten. Es versteht sich von selbst, dass die rationelle Grammatik den hier abgebrochenen Faden aufnimmt und auf das Gr\u00fcndlichste verfolgt.\n3, Nerven der Sprach Werkzeuge.\nZu ihnen z\u00e4hlen wir den n. facialis, welcher sich in den m. orbicularis oris, die mm. incisivi, m. stylohyoideus und m. digastricus posterior begibt, und den n. hypoglossus, welcher in die Zungenmuskeln , m. geniohyoideus und den m. hyothyreoideus eindringt. \u2014 Welcher der Gaumennerven, ob n. vagus, accessorius oder facialis als Sprechnerv des Gaumens aufzufassen sei, bleibt ungewiss.\nUeber die Stellung dieser Nerven zu den Seelenorganen gelten die bei den Stimmnerven erw\u00e4hnten Bemerkungen um so eher, als das schon vorhandene Verm\u00f6gen zu sprechen in Folge von Hirnverletzungen zu Grunde gehen kann, ohne dass die Schlingfunktionen der Zunge etc. gel\u00e4hmt sind.","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nF\u00fcnfter Abschnitt.\nPhysiologie der Seelen organe.\nEntsprechend den unbedeutenden Hilfsmitteln, die uns zu Gebote stehen f\u00fcr die Untersuchung der vom Hirn ausgehenden Wirkungen und dem Mangel einer genauen chemischen und anatomischen Zergliederung dieses Oigans, neben dem meist nicht auf Beobachtung gerich-teten Bestreben der Psychologen, l\u00e4sst sich nur wenig Thats\u00e4chliches \u00fcber die Seelenerscheinungen mittheilen ; besonders wenn man sich \\01 setzt, nicht zu einer Aufz\u00e4hlung der mannigfachen Erscheinungen zu schreiten, sondern die denselben zu Grunde liegenden fundamentalen Herg\u00e4nge zu ermitteln. \u2014 In diesem letztem Sinne sind, wenn auch noch sehr mangelhaft, nur die Empfindung, die willk\u00fcrliche Er-regung und der Schlaf angreifbar.\nOrgane der Empfindung.\n1. Die Umst\u00e4nde, durch deren Zusammenwirken die Empfindung entsteht, sind so gut wie unbekannt. Da dem gesunden wachenden Menschen nur dann Empfindungen zu Theil werden, wenn seine Nerven in den erregten Zustand gerathen, so liegt es nahe, die Erregung der Nerven und die Empfindung f\u00fcr gleichbedeutend zu erkl\u00e4ren. Eine solche Annahme w\u00e4re aber vollkommen fehlerhaft, einmal weil nicht ein jeder erregte Nerv innerhalb des normalen Lebens Empfindung erzeugt, sondern nur eine ganz beschr\u00e4nkte Zahl derselben und insbesondere die drei h\u00f6hern Sin-\nnesnerven, die grosse Wurzel des f\u00fcnften und Abtheilungen des neunten, zehnten und elften Hirnnerven und die hintern Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven. Aber auch diese Nerven erwecken nur Empfindungen wenn ihre reellen oder virtuellen Fortsetzungen ununterbrochen durch das Hirn bis in die Sehh\u00fcgel und die mittleren Lappen der grossen Hemisph\u00e4ren verlaufen. Alle diejenigen der efw\u00e4hnten Nervenr\u00f6hren, die abw\u00e4rts von den genannten Orten eine Unterbrechung ihres Zusammenhangs erlitten haben, verlieren nach den Erfahrungen am Krankenbette damit sogleich ihre empfindungserzeugenden F\u00e4higkeiten, selbst dann, wenn sie zum Zeichen","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Empfindling.\nvollkommener Unversehrtheit in der medulla spinalis und oblongata, durch ihre Erregung noch Reflexbewegungen einleiten k\u00f6nnen. Diese letztere Thatsache, dass Reflex, also eine Verkn\u00fcpfung der Erregung von sensiblen und motorischen Nervenr\u00f6hren, bestehen kann, ohne dass eine Empfindung daraus wird, widerlegt auch zur Gen\u00fcge den Verdacht, als ob das physiologische Zusammenwirken der Nervenr\u00f6hren im Hirn und R\u00fcckenmark die Bedingung der Empfindung sei. Die Widerlegung dieser letzteren Probabilit\u00e4t musste aber noch ausdr\u00fccklich hervorgehoben werden, weil, wie wir bei den Sinneswerkzeugen gesehen haben, mannigfache Akte der Empfindung, z.B. beim Tasten, dem Sehen in bestimmter Richtung, Entfernung und Ausdehnung u. s. w. in der That nur unter dem Zusammengreifen der Erregungszust\u00e4nde eines motorischen und eines sensiblen Nerven geschehen. Somit muss jenseits der erw\u00e4hnten Hirnstellen, sei es in den Lappen oder Commissuren, noch etwas zu dem erregten Nerven hinzutreten, damit sich die Empfindung bilde. F\u00fcr die Richtigkeit dieser Annahme b\u00fcrgt uns nun auch die Jedermann bekannte Thatsaclie, dass wir den Erregungszustand eines sensiblen Nerven nur so lange und in dem Grade empfinden, als wir ihm die Aufmerksamkeit zuwenden; tausende von Lichtstrahlen die sich zu Bildern auf der Retina ordnen, und tausende von Schallwellen die in das Labyrinth unseres Ohres dringen, werden von uns nicht gesehen oder geh\u00f6rt, wenn unsre Aufmerksamkeit mit aller Macht einem ernsten Gedanken, einer schwierigen Muskelbewegung, einer Geschmack- oder Hautempfindung und dgl. zugewendet ist. \u2014\nDie nur um ein Weniges weitergehende Zergliederung der Empfindungsakte gibt nun auch zu erkennen, dass sich jede Empfindung noch mit etwas ganz besonderem verkn\u00fcpft, n\u00e4mlich mit der Vorstellung. Denn niemals empfinden wir den erregten Nerven im Hirn, sondern ausserhalb desselben und zwar wie bei allen Sinnen erw\u00e4hnt wurde nach gewissen Richtungen und Ausdehnungen hin. Diese unter allen Umst\u00e4nden der Empfindung beigef\u00fcgten Zus\u00e4tze k\u00f6nnen aber wie es scheint ganz unm\u00f6glich begriffen werden aus der Nervenerregung.\nH\u00e4lt man mif dieser zuletzt hervorgehobenen Thatsache zusammen, dass dieselben Erregungszust\u00e4nde der Nerven bei Menschen von verschiedener Ausbildung Empfindungen von verschiedenen Eigent\u00fcmlichkeiten erwecken, und gar dass der Mensch im Traum, in der Trunkenheit, in sogenannten Geisteskrankheiten und dgl. ohne die entsprechenden Nervenerregungen zu den lebhaftesten Empfindung^ gelangt, die man gemeinhin mit dem Namen der Traumbilder, der Visionen, Halluzinationen und dgl. belegt, so k\u00f6nnte es fast scheinen als sei die Empfindung etwas von dem Nerven insofern unabh\u00e4ngiges, als zu ihrer Entstehung die Nervenerregung gar nicht nothwen-","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\tEmpfindung.\ndig sei, sondern die Nerven selbst nur eine der m\u00f6glichen Veranlassungen zur Empfindung abgeben, mit einem Worte dieselbe nur erregen.\nWill man also die Bedingungen der Empfindung aufz\u00e4hlen, so muss man offenbar auch anzugeben im Stande sein, worin dieses im Hirn neu hinzutretende oder angeregte, bestehe ; gerade das ist aber unm\u00f6glich.\nDie gewagten Annahmen, mit denen man sich gew\u00f6hnlich behilft, sind nicht iin Stande Jemanden zu befriedigen, der in strenger Weise der Physiologie obliegt. Zu ihnen geh\u00f6rt z. B. die eines Seeienatoms; diese scheinbar einfache Annahme, mehr entsprungen aus der mathematischen Anschauung des Differentials als der des physikalischen Atoms, macht aber bei genauer Durchf\u00fchrung unz\u00e4hlige ganz ungerechtfertigte Hilfshypothesen nothwendig wie z. B. die Annahme mannigfacher Zwischenorgane zwischen Nerven und Seele, damit man die Bef\u00e4higung des Nervenrohrs zu spezifisch verschiedenen Empfindungen begreife, je nachdem dasselbe aus dem Auge oder dem Ohr u. s. w. kommt, oder um den Einfluss des Schlafs, der Gifte, der Hebung und dergleichen auf die Empfindung erkl\u00e4rlich zu machen. Man w\u00fcrde den kaum errungenen Boden des Thats\u00e4chlichen wieder preisgeben, wenn man auf die Vorstellung von dem Seelenatom, das seine Existenz auf geradem Wege auch nicht einmal wahrscheinlich machen kann, und dessen Annahme, wie erw\u00e4hnt, zahllose complicirte Hilfshypothesen verlangt, noch genauer eingehen wollte. \u2014 Ebenso ungerechtfertigt ist aber auch die Annahme, dass die Nervenr\u00f6hren und Ganglienkugeln oberhalb der Sehhiigel empfinden sollen; denn unterhalb derselben verm\u00f6gen sie es doch nicht.\n2. Der eben gegebenen Darstellung gem\u00e4ss wird die n\u00e4chste Aufgabe der Wissenschaft einzig darin bestehen k\u00f6nnen, Wege ausfindig zu machen, auf denen man unserm Problem durch den Versuch n\u00e4her tritt. Da wir nun den Empfindungsakt des wachenden gesunden Menschen vorl\u00e4ufig zerlegt hatten in einen dem Hirn eigenth\u00fcm-lichen und einen den Nerven angeh\u00f6rigen Hergang, so wird der allgemeinsten Untersuchungsmethode gem\u00e4ss, zun\u00e4chst darauf zu denken sein, den einen der Faktoren nach allen Richtungen hin ver\u00e4nderlich zu machen, w\u00e4hrend der andere unver\u00e4nderlich erhalten wird. \u2014 Die Variation der von den Nerven ausgehenden Wirkungen ist nun aber in mehr oder weniger vollkommener Art zu erm\u00f6glichen indem man nach Belieben ver\u00e4ndern kann: die Zahl und die Art der gleichzeitig erregten Nervenr\u00f6hren ; die St\u00e4rke, die Zeitdauer und die Geschwindigkeit des zeitlichen Wechsels der Erregung innerhalb derselben oder ihrer inneren Natur nach verschiedenartiger Nerven. \u2014 Viel schwieriger, ja meist unm\u00f6glich d\u00fcrfte es dagegen erscheinen auf \u00e4hnliche Weise auf die bei der Empfindung betheiligten Vorrichtungen des Hirns zu wirken, sei es, dass man sie ver\u00e4nderlich machen oder unver\u00e4nderlich erhalten wollte ; da wir seine Leistungen nur am bewussten urtheilsf\u00e4higen Menschen zu pr\u00fcfen im Stande sind, so finden sie sich nicht allein den unberechenbaren Einfl\u00fcssen ausgesetzt, die aus dem Verlaufe des leiblichen Lebens (Blutzusammensetzung, Blutdruck, W\u00e4rme u. s. w.) fliessen, und die Nachrichten die wir \u00fcber ihre Funktionirung erhalten, sind nicht allein abh\u00e4ngig von den Gewohnheiten, Hebungen und Erm\u00fcdung der Urteilsf\u00e4higkeit, sondern wir","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"Empfinduug.\n443\nverm\u00f6gen auch nicht nach Willk\u00fcr und namentlich nicht innerhalb kurzer Zeit nach Belieben Um\u00e4nderungen an ihnen hervorzubringen.\u2014 Trotz alle dem ist jedoch die Hoffnung auf eine Besiegung dieser Schwierigkeiten nicht aufzugeben. Denn wir wissen einerseits, dass bei dem gesunden wachenden Menschen die Gewohnheit, Uebung u. s. w. die empfindenden Hirntheile niemals jenseits gewisser Grenzen zu \u00e4ndern vermag, so dass dieselben je nachdem sie ge\u00fcbt oder unge\u00fcbt w\u00e4ren einen bestimmten Zustand des Nerven ganz abweichend empf\u00e4nden, z. B. das Blaue f\u00fcr gelb oder umgekehrt ans\u00e4hen ; anderseits aber sind wir auch verm\u00f6gend durch Einf\u00fchrung von Giften in das Blut, wie z. B. von Aether, Alkohol, Opium, Lustgas u. dgl. Ver\u00e4nderungen in den empfindenden Hirniheilen zu erzeugen, die bei allen Menschen etwas Gemeinsames darbieten und zudem nicht immer die Nerven in merkbarer Weise aus ihren normalen Zust\u00e4nden zu bringen verm\u00f6gen. \u2014\nDiese thats\u00e4chlichen Andeutungen f\u00fcr den Gewinn einer Untersuchungsmethode sind aber um so fester zu halten, und ihre Weiterbildung um so mehr zu versuchen, weil in dieser Richtung die einzige M\u00f6glichkeit zu liegen scheint Aufschl\u00fcsse zu erhalten nicht allein \u00fcber die Erscheinungslehre der Empfindung, sondern auch \u00fcber die den empfindenden Hirntheilen zu Grunde liegenden elementaren Bedingungen; und dieses letztre um so mehr, wenn die Aufhellung des anatomischen und chemischen Hirnbaues gelingen sollte, indem wir dann m\u00f6glicher Weise durch vielleicht complizirte aber sichere Schl\u00fcsse den wahren Vorgang der Hirnvergiftung, die Folgen der Blutdr\u00fccke u. s. w. auszumittlen verm\u00f6chten. Gel\u00e4nge es aber nicht den angedeuteten Weg zu betreten, so d\u00fcrfte man \u00fcberhaupt die Hoffnung aufzugeben haben, in dieses dunkle Gebiet einzudringen.\nDieses Ziel hat nun auch in der That den bessern Physiologen und unter diesen vor Allen dem unsterblichen E. H. Weber vorgeschwebt; das was sie in dieser Richtung geleistet haben, ist schon zum gr\u00f6ssten Theil bei den Sinnes Werkzeugen und dem Muskelsinn mitgetheilt worden. Erg\u00e4nzend ist nur noch folgendes beizuf\u00fcgen.\n3. Wenn eine gr\u00f6ssere Zahl von Nervenr\u00f6hren gleichzeitig und zwar bis zu einer solchen St\u00e4rke erregt wird, dass die Empfindung die Bildung von deutlichen Vorstellungen \u00fcber den Ort und die Art der Erregung erlaubt, so k\u00f6nnen gleichzeitig nicht alle, sondern nur einzelne der erregten Nerven empfunden werden., \u2014 Wir haben schon erw\u00e4hnt, dass sich F\u00e4lle ereignen, in welchen keiner der erregten Nerven zur Empfindung kommt, und erw\u00e4hnt, dass dieselben eintre-ten, wenn die Erregung zu einer Zeit geschieht, in welcher der Mensch in leidenschaftlichen Zust\u00e4nden sich befindet, oder mit der Bildung von ergreifenden Gedanken oder der Ausf\u00fchrung von schwierigen Muskelbewegungen besch\u00e4ftigt ist. Diese allbekannte Thatsache dr\u00fcckt man","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\nEmpfindung.\ngew\u00f6hnlich popul\u00e4r so aus, dass die Aufmerksamkeit verm\u00f6gend sei, sich von den empfindungserzeugenden Einfl\u00fcssen wegzuwenden. Dieser Ausdruck bedarf jedoch insofern der Vervollkommnung, als sich die Aufmerksamkeit nur dann wegzuwenden vermag, wenn sie sich andern Dingen zuwendet. Denn es gelingt, wie man an sich selbst leicht best\u00e4tigen kann, einzig und allein unter den obigen Bedingungen empfindungslos zu werden. Befindet sich aber der Mensch in der That in dem empfindlichen Z.ustand, so wird aus der grossem Summe der erregten Nerven nur der eine oder andre wirkliches Objekt der Empfindung. Welcher unter den Nerven das l ebergewicht erh\u00e4lt, scheint aber bedingt zu sein, entweder durch die gr\u00f6ssere Erregung eines derselben, so dass der th\u00e4tigere den weniger th\u00e4tigen aus der Empfindung verdr\u00e4ngt, oder von den jeweiligen geistigen Zust\u00e4nden, indem je nach Gewohnheit, oder nach den gerade gegenw\u00e4rtigen Gedankenbildungen einer der Nerven die Oberhand beh\u00e4lt, selbst wenn er unter allen der am wenigsten stark erregte ist. \u2014 Die Zahl der gleicli-zeitig, innerhalb sehr beschr\u00e4nkter Grenzen, zur Empfindung kommenden Primitivr\u00f6hren h\u00e4ngt von dem gerade vorhandenen Hirnzustande ab. Namentlich kann bis zu einem gewissen Grade die Summe der zur Empfindung kommenden beschr\u00e4nkt werden, indem man in der That z. B. aus vielen gleichzeitig das Ohr treffenden T\u00f6nen, oder aus vielen in die Retina gelangenden Lichtstrahlen nur einen oder einige zur Empfindung bringen kann. Wieweit diese Vernachl\u00e4ssigung der erregten Nervenr\u00f6hren im Allgemeinen zu gehen im Stande ist, ist unbekannt ; denn wenn es in der Retina auch scheint als ob man verm\u00f6gend sei, nur ein Rohr, mit Hintenansetzung aller \u00fcbrigen, zu empfinden, so ist es mindestens zweifelhaft ob f\u00fcr das Ohr etwas \u00e4hnliches gelingt. Offenbar beschr\u00e4nkt ist aber das Hirn in der gleichzeitigen Aufnahme Von Empfindungen, indem jedesmal wenn wir unsre Aufmerksamkeit zugleich auf zwei Sinne lenken nur die Eindr\u00fccke des einen der bei-\nden wirklich empfunden werden; diese Behauptung ist durch scharfe Zeitbestimmungen des sogdnannten subjektiven Fehlers derjenigen astronomischen Beobachtung erwiesen, bei welcher man mittelst Z\u00e4hlen der Pendelschl\u00e4ge eines Uhrwerks den Zeitpunkt, in welchem ein Stern vor dem Fadenkreuz des Fernrohrs erscheint, festzustellen\nsucht. In diesem Falle notirt kein Beobachter, und sei er in dieser einfachen Operation auch noch so ge\u00fcbt, genau die Zeit, in welcher der Stern in der That in das Fadenkreuz tritt, sondern immer eine sp\u00e4tere. Andre Versuche \u00fcber diese wichtige Erscheinung fehlen , namentlich ist zu erledigen, mit welchen Umst\u00e4nden die Geschwindigkeit\ndes Uebergangs der Empfindung von einem zum andern Nervenrohr wechselt.\n4. Wird eine grosse Zahl von Nerven dagegen bis zu dem Grade der Schmerzerzeugung erregt, so gelangt die Gesammtsumme dersel-","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Empfindung*\n445\nben zur Empfindung und zwar in der Gestalt, dass mit Vermehrung der erregten Nervenr\u00f6hren die Intensit\u00e4t der Empfindung steigt. Dieser Satz leitet sich nicht allein aus der bekannten Erfahrung ab , dass eine Lichtquelle deren Strahlen das halbverdeckte Auge gerade noch ertragen kann, sogleich auf das heftigste blendet, wenn man sie mit dem ganz ge\u00f6ffneten Auge ansieht, sondern auf eine noch viel sch\u00e4rfere Art aus den Beobachtungen an den Hautnerven von E. H. Web er. Ileisses Wasser erzeugt n\u00e4mlich um so heftigere Schmerzen in je gr\u00f6sserer Ausdehnung dasselbe die Haut trifft. Diese Summining der Erregungen der einzelnen Nervenr\u00f6hren in dem Hirn geschieht aber nicht unter allen Umst\u00e4nden gleich leicht, indem die Ausbreitung der Erregung \u00fcber benachbarte Hautstellen die Empfindung betr\u00e4chtlicher steigert, als wenn gleichzeitig weiter von einander entfernte gleichgrosse und gleichnervenreiche Stellen der Einwirkung der heissen Fl\u00fcssigkeit ausgesetzt sind.\nHier ist nun noch einmal auf viele bei den Sinnen schon abgehandelte Punkte, mit der ausgesprochenen Absicht, sie den experi-mentirenden Psychologen zu empfehlen, hinzuweisen ; wie z. B. auf die Thatsache, dass die Empfindung der Gr\u00f6sse von gesehenen Gegenst\u00e4nden auf einem Quotienten oder einer Differenz beruht, welche gebildet wird aus der Summe gleichzeitig erregter Sehnervenfasern und der Erregungsintensit\u00e4t der Nerven f\u00fcr den Einrichtungsapparat des Auges und den m. rectus internus bulbi; denn es nahm ja die Gr\u00f6sse des gesehenen Gegenstandes zu mit der Summe gleichzeitig erregter Opticusr\u00f6hren und ab mit der St\u00e4rke der Erregung der erw\u00e4hnten Muskeln. \u2014 Ferner, dass der Ort und die Richtung des Gesehenen, Geh\u00f6rten und Gef\u00fchlten bedingt war von dem Orte des gleichzeitig erregten Empfindung s- und Muskelnerven. \u2014 Ferner, dass die Vorstellung von der Intensit\u00e4t einer beliebigen Empfindung in der Errine-rung rasch absinkt nach dem Aufh\u00f6ren der Nervenerregung, welche sie erweckte, wie aus dem bemerkenswerthen Versuche von E. H. W e-her \u00fcber relative Gr\u00f6ssensch\u00e4tzung hervorgeht u. s. w. \u2014 Bevor nicht diese und \u00e4hnliche tiefgreifende Erscheinungen genauer zergliedert und durch weitere Versuche ins Klare gesetzt sind, l\u00e4sst sich an einen theoretischen Fortschritt der Empfindungslehre nicht denken. \u2014\n5. Von der Stellung des blinden Flecks, bez\u00fcglich der ihn umgebenden Nervenr\u00f6hren zu der Empfindung. Aus den physiologisch bemerkenswerthen Thatsachen, welche Ad. Fick und der j\u00fcngere du Bois-Reymond beobachtet haben, ergibt sich, dass uns eine Erstellung gegeben ist von dem Abstand der den blinden Fleck umgebenden Grenzen, und ferner, dass wir in der Empfindung den vom blinden Fleck erf\u00fcllten Raum der Retina erg\u00e4nzen, wenn die Umgebungen erregt sind.\nWenn man nach den erw\u00e4hnten Beobachtern a. das Auge auf einen schwarzen","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\nWillk\u00fcrliche motorische Erregung.\ni\t^\nStreifen in hellem Grunde so einstellt, dass das eine Ende desselben auf den blinden Fleck f\u00e4llt, so erscheint jener um den Th eil seiner L\u00e4nge, mit welchem er den blinden Fleck trifft, verk\u00fcrzt; verschiebt man nun aber den Streif, so dass sein Bild beiderseits den blinden Fleck \u00fcberragt, so verl\u00e4ngert er sich pl\u00f6tzlich, und zwar nicht bloss um den Werth, mit welchem er in die empfindlichen Theile gelangt, sondern auch um den Durchmesser des blinden Flecks. \u2014 b. Stellt man das Auge auf einen gradlinig begrenzten dunklen (oder hellen) Streifen auf hellem (oder dunklem) Grund so ein, dass der blinde Fleck noch innerhalb seines Verlaufs in der Retina f\u00e4llt, mit andern Worten, so dass das Bild des Streifens den blinden Fleck beiderseits \u00fcberragt, so erscheint er ununterbrochen, unverk\u00fcrzt, in Form und Farbe unver\u00e4ndert. \u2014 c. Stellt man das Auge auf eine dunkle Scheibe . auf hellem Grund oder einen wellenf\u00f6rmig begrenzten Streifen so ein, dass derblinde Fleck in die Grenzlinie der Curve f\u00e4llt, so ersetzt die Vorstellung das ausfallende Curvenst\u00fcck durch eine gerade Linie, mit andern Worten das vorspringende Curvenst\u00fcck erscheint abgeschnitten durch die Farbe des Grundes, das eingebogene aber ausgef\u00fcllt mit der Farbe welche die Fl\u00e4che der Curve begr\u00e4nzt. \u2014 d. F\u00e4rbt man ein Kreuz, das aus f\u00fcnf Quadraten besteht derartig, dass die vier \u00e4usseren Quadrate gleichfarbig, das innere f\u00fcnfte aber andersfarbig wird, und stellt den blinden Fleck auf das mittlere Quadrat ein, so erscheint ein volles Kreuz in der Farbe der \u00e4usseren Quadrate.\nWillk\u00fcrliche motorische Erregung.*)\n1. Unserem Hirn wohnt das Verm\u00f6gen bei, eine bestimmte Zahl von Muskel- (und Dr\u00fcsen?)nerven so zu beherrschen, dass es dieselben aus dem physiologischen Ruhestand in den der Erregung versetzen kann und umgekehrt, dass es die aus andern Gr\u00fcnden (durch Reflexe) erregten Nerven zu beruhigen vermag. Dieses Verm\u00f6gen zu erregen und bestehende Erregung zu d\u00e4mpfen, geht der Thatsache des Bewusstseins gem\u00e4ss, scheinbar von ein und derselben Substanz aus, und was noch merkw\u00fcrdiger, es scheint die Unterbrechung einer bestehenden Bewegung oder ihre Einleitung von derselben Art der Kr\u00e4fte abzuh\u00e4ngen ; denn der Thatsache des Bewusstseins nach sind wir es, welche ein bis dahin ruhiges Glied bewegen und die in ihm vorhandene Bewegung hemmen, und wir machen hierzu eine und dieselbe Kraftanstrengung. Noch auffallender aber, es kann der Grad der Bewegungsanregung oder Bewegungshemmung nach Belieben bestimmt werden, so dass auf dieselbe \u00e4ussere Anregung hin, jeder Grad von Muskelcontraktion, oder jede m\u00f6gliche Geschwindigkeit in der Reihenfolge der Zusammenziehung der einzelnen Muskeln eintre-ten kann. \u2014 So hingestellt scheint das Verm\u00f6gen ausser den Grenzen aller Analogie mit anderen Naturvorg\u00e4ngen zu liegen; aber gerade diese Entfernung von aller Analogie wird den Physiologen vorerst nur zu der Annahme bestimmen, dass die zur Erl\u00e4uterung der Erscheinung gegebene Theorie vollkommener Freiheit ebenso mangelhaft ist, als die Darstellung der Erscheinungen selbst ; und aus eben diesem\n*) J. M\u00fcller\u2019s Physiologie II. B<1. 63 u. f. \u2014 Debrou in Longet Trait\u00e9 de physiologie I. Bd.\nIII. fascic. p. 5T.","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Willk\u00fcrliche motorische Erregung.\n447\n\u00bb\nGrunde wird er es auch verschm\u00e4hen durch andere, leicht zu findende, zum Theil plausible Unterstellungen, die Annahme zu bek\u00e4mpfen, welche die Hirnfunktionen ganz unn\u00f6thigerweise als ausserhalb der Naturgrenzen stehend ansieht. Die Wissenschaft verschm\u00e4ht die Scheingefechte.\n2.\tDer Willk\u00fcrbewegung sind nur eine beschr\u00e4nkte Zahl von Muskeln und Dr\u00fcsennerven unterworfen und zwar in ganz verschiedener Weise.\na.\tUnbeschr\u00e4nkt der Willk\u00fcr unterworfen sind, wie es scheint, die inneren Augenmuskeln, die mimischen Gesichtsmuskeln, die der Zunge, die Strecker und Beuger der Wirbels\u00e4ule und des Kopfes, das Zwerchfell (?) und die Muskeln der Arme und Beine. Diese Muskeln k\u00f6nnen in jeder beliebigen Reihenfolge, in jeglicher gleichzeitiger Verbindung miteinander und zu jeder beliebigen Zeit gehemmt oder bewegt werden.\nb.\tEine andere Zahl von Muskeln ist nur unter gewisser Combination mit andern der Willk\u00fcr unterthan, z. B. die Iris nur mit den Accommodationsmuskeln und den inneren und oberen Augenmuskeln; ferner die beiden mm. recti bulbi externi nicht gleichzeitig, wenn die Erregungsst\u00e4rke einen gewissen Grad \u00fcbersteigt ; ferner der m. hyo-thyreoideus nur beim Schlingen oder Tonangeben, der tensor tympani beim Kauen, die constrictores pharyngis nur beim Schlingakt; gemeinsam auf beiden Seiten nur die Muskeln des larynx, pharynx, des Gaumensegels und Perin\u00e4ums.\nc.\tEine dritte Zahl endlich ist nur in gewissen (sogenannten leidenschaftlichen) Zust\u00e4nden der Willk\u00fcr unterworfen. Hierher z\u00e4hlt die Herzhemmung oder Beschleunigung bei Angst oder Spannung, die Durchf\u00e4lle nach Angst, die Erektion des Penis in dem Geschlechtstrieb, die Thr\u00e4nenabsonderung beim Kummer, die Speichelabsonderung bei Essbegier u. dgl.\nDie unter den beiden letzten Buchstaben erw\u00e4hnten Muskeln und Akte bed\u00fcrften einer genauen Aussonderung. Hier w\u00e4re auch R\u00fccksicht auf die Hirnzust\u00e4nde zu nehmen, in welchen nur einzelne von den unbeschr\u00e4nkt der Willk\u00fcr unterworfene Bewegungsapparaten dem Willen vollkommen gehorchen, w \u00e4hrend andre vor\u00fcbergehend ganz ausgeschlossen sind, wie beim Nachtwandlen, Alpdr\u00fccken u. s. w.\n3.\tNiemals k\u00f6nnen alle der Willk\u00fcr unterworfenen Muskelnerven gleichzeitig durch dieselbe in Erregung versetzt werden; die Zahl der m\u00f6glicher Weise gleichzeitig erregbaren Nerven ist jedoch unbekannt; Joh. M\u00fcller.\nZuerst scheint die Erfahrung daf\u00fcr zu sprechen, dass man niemals weniger Nervenr\u00f6hren gleichzeitig zu erregen im Stande ist, als soviel sich zu einem geschlossenen Muskel begeben, da Niemand, so weit bekannt, nur einzelne B\u00fcndel eines solchen isolirt bewegen kann. \u2014 Ferner scheint es, dass sich bei den bedingt willk\u00fcrlichen Bewegungen jedesmal die Anregung \u00fcber eine gr\u00f6ssere Zahl von Nerven","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\nWillk\u00fcrliche motorische Erregung4.\nerstrecken m\u00fcsse, da man niemals das Auge nach innen stellen kann, ohne die Pupillenverengerer in Wirksamkeit zu bringen, niemals, ohne zu speicheln, kaut u. s. w., und niemals in der Freude oder Angst den Ver\u00e4nderungen der Herzbewegungen Einhalt zu thun vermag. \u2014 Complizirtere Muskelakte dagegen k\u00f6nnen nie gleichzeitig von der Willk\u00fcr in Anregung gebracht werden; wenn man sie in der Timt gleichzeitig ausf\u00fchrt, indem man z. B. gleichzeitig schreibt und spricht u. dgl., so werden die einzelnen n\u00f6thigen Bewegungen dennoch nicht gleichzeitig veranlasst, wie ein\u00e7 genauere Selbstbeobachtung lehrt; diese gibt namentlich Aufschluss, wenn beide oder eine von beiden Bewegungen noch nicht gel\u00e4ufig sind; man erkennt dann deutlich, dass die Anst\u00f6sse zu den Bewegungen aufeinander folgen, indem die gleichzeitige Ausf\u00fchrung dieser letzten unm\u00f6glich ist; man vergisst, um in einem gebr\u00e4uchlichen Ausdruck zu sprechen, die eine der Bewegungen \u00fcber die andere. Aus dieser That-sache darf man schliessen, dass die bei sp\u00e4terer Gel\u00e4ufigkeit der Bewegungen eintretende Gleichzeitigkeit derselben dadurch bedingt ist, dass die erregende Ursache fortlaufend den Erregungsort wechselt und zwar so rasch, dass noch ehe die durch den Anstoss derselben veranlasste Bewegung zur Ruhe gekommen ist, schon wieder ein Anstoss zu einer neuen Bewegung erfolgt. Inwiefern zu dieser Hypothese die Einrichtungen in den Muskeln berechtigen, ist schon fr\u00fcher erw\u00e4hnt \u2014 Jedenfalls scheint man aber zu weit zu gehen, oder besser gesagt Unbewiesenes auszusprechen, wenn man auf diese Thalsache fussend, die Behauptung aufstellt, es k\u00f6nne niemals die Willk\u00fcr mehr als eine oder wenige Primitivr\u00f6hren in Erregung setzen; um auch die ebenerw\u00e4hnten widersprechenden Beobachtungen hiemit in Einklang zu bringen, legt man die Hypothese unter, dass entweder die gleichzeitig erregbaren R\u00f6hren in eine einzige verschmelzen, so dass je ein Muskel nur mittelst einer Primitivr\u00f6hre an der Hirnstelle vertreten sei, an der er die Erregung empf\u00e4ngt; oder man nimmt an, dass in Folge von Querleitungen die Bewegung des einen Muskels eine Mitbewegung von der urspr\u00fcnglich durch die Willk\u00fcr erregte eines andern sei. Beide Annahmen sind vollkommen willk\u00fcrlich. \u2014 Sehr bemerkenswert!! ist noch die bekannte Erfahrung, dass man durch stetige Uebung es dahin bringt, Nervenr\u00f6hren isolirt in Anregung zu setzen, die man urspr\u00fcnglich nur in Verbindung mit andern erregen konnte, und dass man in Zust\u00e4nden geistiger Tr\u00fcbung (wie in der Trunkenheit) dieses erworbene Isolationsverm\u00f6gen wieder verliert. So versetzen ungeschickte Menschen und ganz allgemein Kinder, wenn sie eine bestimmte Bewegung beabsichtigen noch viele Muskeln, die zum Vorgesetzten Zwecke gar keine Beziehung haben, in den zusammengezogenen Zustand, namentlich verzerren Viele beim Greifen mit dem Arm nach gewissen Richtungen die Gesichtsmuskeln u. s. w.","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"/\nW\u00fcllk\u00fcrliche motorische Erregung.\t449\n4.\tWie rasch kann der Uebergang der willk\u00fcrlichen Erregung von einem Nerven zum andern wechseln ? Kann man mit gr\u00f6sserer Geschwindigkeit zwei weniger intensive Bewegungen aufeinander folgen lassen, als zwei kr\u00e4ftigere ? Sind gewisse Muskelgruppen in rascherer Zeitfolge in Anregung zu setzen als andere ? Diese und andere \u00e4hnliche Fragen sind oft aufgeworfen, aber noch keinmal durch\ngr\u00fcndliche Versuche beantwortet.\n5.\tBesondere Schwierigkeiten bietet die Erl\u00e4uterung der Erscheinung, dass es dem willk\u00fcrlich erregenden Verm\u00f6gen, ohne eine Vorstellung von der anatomischen Lagerung der Nervenr\u00f6hren im Hirn und ihrer zugeh\u00f6rigen Muskeln zu besitzen, gelingt, nach in ihm wohnenden Bestimmungen bald diesen oder jenen im Voraus gewussten Bewegungseffekt einzuleiten. Soweit unsere in diesem Punkt noch unvollkommene Kenntniss zu schliessen erlaubt, geschieht dieses dadurch, dass,dem erregenden Prinzip durch Erfahrung allm\u00e4lig die Zust\u00e4nde oder auch die Richtungen, die die Erregung nehmen muss, bekannt werden, welche zu einer bestimmten Bewegung nothwendig sind. Diese Erfahrungen sammelt aber das Bewusstsein durch die Sinnesnerven; denn jede Bewegung eines Gliedes wird durch die im Gliede selbst oder in einem andern Sinne (Auge oder Ohr) erweckten Empfindungen wahrgenommen, indem nun das besondere Bewegungsbestreben und die jenes Bestreben begleitende Bewegung im Ged\u00e4cht-niss bleiben, gelingt es allm\u00e4lig die Bewegungen nach Belieben hei-\nvorzurufen.\nDer Beweis fiir diese Auffassung liegt darin, dass a. der S\u00e4ugling nur sehr allm\u00e4lig den Gebrauch seiner Glieder kennen lernt; 6. dass wenn ein Sinn, der den Menschen einzig und allein \u00fcber gewisse Bewegungseffekte unterrichtet, ausf\u00e4llt, diese Bewegungen selbst der Willk\u00fcr nur sehr mangelhaft unterthan werden, wie z. B. flach Geh\u00f6rmangel keine reine Stimme im musikalischen Wortsinn sich bildet; c. endlich aber weist auf die stetige Mitwirkung der sinnlichen Erfahrung zur willk\u00fcrlichen Muskelerregung die Thatsache hin, dass wir den Grad der Zusammenziehung irgend welcher Muskeln stetig nach den besondern sinnlichen Eindr\u00fccken (oder auch nach Erinnerungen an dieselben) bemessen. So gehen wir im Dunklen auf uns unbekanntem Boden unsicher; wir richten die Muskelkontraktion f\u00fcr einen Steinwuif auf einen gesehenen Gegenstand nach dem Grade der Sch\u00e4rfe unseres Augenmas\nses ein u. s. w.\n6.\tDie Kraftsumme, welche der muskul\u00f6se Apparat des menschlichen K\u00f6rpers unter dem Einfluss des willk\u00fcrlich erregenden Prinzips entwickelt, oder zu entwicklen vermag, kann unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden einen sehr betr\u00e4chtlichen Werth erreichen. Diese Thatsache gab in fr\u00fcherer Zeit zu der Meinung Veranlassung, dass die erregenden Hirntheile selbst grosse Kr\u00e4fte entwicklen, indem man glaubte, dass alle die Kr\u00e4fte, welche von unsern Muskeln zur Bewegung des Skelets oder der an dasselbe angeh\u00e4ngten Gewichte, undzur\u00fcebei-windung von allen den Widerst\u00e4nden, die in den Muskeln und in den Skelettheilen der Bewegung entgegentreten, verwendet werden, von Ludwig, Physiologie I.\t29","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nMechanischer Werth der Willk\u00fcrerregung.\nden willk\u00fcrlich erregenden Hirntheilen geradezu auf die Bewegungswerkzeuge \u00fcbertragen w\u00fcrden. Es ist diese Annahme so weit die Erfahrungen reichen mit vollkommnem Recht in ihr Gegentheil umgeschlagen. Wir glauben jetzt, auch ohne die von den erregenden Hirntheilen direkt entwickelbaren mechanischen Kr\u00e4fte gemessen zu haben, be-haupten zu d\u00fcrfen, dass die in jedem kleinsten Zeittheil entwickelten erregenden Kr\u00e4fte des Willens sehr klein sind. Diese Behauptung ergibt sich augenblicklich, wenn man sich die Art des Aufbaues und Zusammenhangs der Muskeln und Nerven in das Ged\u00e4chtniss ruft. Muskeln und Nerven waren Gebilde, die auf eine sehr verwickelte Weise zusammengesetzt waren, und zwar aus Stoffen, welche bei ihrer Umsetzung betr\u00e4chtliche mechanische Kr\u00e4fte frei machten. Zugleich waren diese Stoffe innerhalb der genannten Gebilde unter solchen Bedingungen enthalten, dass es nur unbedeutender Veranlassungen bedurfte, um die Zersetzungen einzuleiten. Denn wir erf\u00fchren ja, dass Einfl\u00fcsse von kaum mehr messbaren mechanischen Effekten, die sogenannten Erreger, die Muskel - und Nervenkr\u00e4fte aus-l\u00f6sen konnten. Die Zusammenordnung der Muskeln und Nerven hatte aber in der Art statt, dass sich die Erregbarkeit der Gebilde vom Muskel durch den Nervenstamm bis in das R\u00fcckenmark fortw\u00e4hrend steigerte. Denn es wurde durch dasselbe Erregungsmittel ein geringer Effekt erzeugt, wenn es geradezu auf den Muskel, ein gr\u00f6sserer, wenn es durch den Nervenstamm, und ein noch betr\u00e4chtlicherer, wenn es durch das R\u00fcckenmark auf den Muskel wirkte. Auch war noch da-\nzu festgestellt worden, dass nur innerhalb sehr beschr\u00e4nkter Grenzen mit der steigenden St\u00e4rke des Erregers die entwickelten Muskelkr\u00e4fte wuchsen, so dass wenn einmal ein gewisser, meist sehr niederer Grad der Erregerst\u00e4rke erreicht war, eine weitere Erh\u00f6hung derselben keine* Steigerung der Muskelkr\u00e4fte bedingte. Da nun das willk\u00fcrlich erregende Prinzip die Muskelzusammenziehung von einem sehr geringen bis zu einem betr\u00e4chtlichen Werth steigern kann, so muss dasselbe wenn es nicht vollkommen sinnlos angelegt ist, sehr geringe motorische Effekte irgend welcher Art (St\u00f6sse oder Anziehungen) entwicklen. So gering sie aber auch sein m\u00f6gen in jedem Augenblick, so betr\u00e4chtlich muss die Summe der im Verlauf der Zeiten entwickelten Anregungen werden. Zu einer weiteren Definition der Kr\u00e4fte des willk\u00fcrlich erregenden Prinzips scheint nur noch hinzugef\u00fcgt werden zu k\u00f6nnen, dass ihr Maximalwerth mit gewissen k\u00f6rperlichen Zust\u00e4nden schwankt.\nDie Kraft, die irgend eine willk\u00fcrliche Muskelbewegnng entwickelt, resultirt, wie sich nach dem Vorigen von selbst versteht, aus den urspr\u00fcnglich in den Nerven und Muskeln gespannten Kr\u00e4ften und ver\u00e4ndert sich ausserdem mit der Energie deren die Willenserregung f\u00e4hig ist. Zum Studium der offenbar in der letzteren eintretenden Schwankungen der Erregungsf\u00e4higkeit w\u00fcrde es nat\u00fcrlich n\u00f6thig sein, den Antheil der beiden ersteren Apparate an der resultirenden Bewegungskraft bestimmen zu k\u00f6nnen, was aber noch zur Zeit ganz unm\u00f6glich ist. \u2014 Jedenfalls sind aber die","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Uebung.\n451\nF\u00e4lle unsere Aufmerksamkeit zu fesseln geeignet, in welchen die F\u00e4lligkeit zu Bewegungen sehr abnimmt, obwohl kein Grund zu der Annahme vorliegt, das\u00ab die Nerven oder Muskeln eine Schw\u00e4chung ihrer Kr\u00e4fte erlitten haben; wir z\u00e4hlen hierher die Erm\u00fcdung nach geistigen Anstrengungen, nach einer pl\u00f6tzlichen Gem\u00f6thsbewegung, nach dem Genuss von Opium u. s. w. Da in einzelnen dieser Beispiele das erregende Prinzip durch seine Th\u00e4tigkeit seine Kr\u00e4fte verzehrt, \u2014 wie nach l\u00e4ngerem Nachdenken \u2014 oder in der Aus\u00fcbung derselben durch Gegenwart eines chemisch wirksamen Stoffes gehindert wird; da ferner durch eine angemessene Ruhe die F\u00e4higkeit zur Kraftentwicklung wiederkehrt, so liesse sich der Zusammenhang der Erscheinungen so deuten, dass das willk\u00fcrlich erregende Prinzip von Ern\u00e4hrungs-, resp. chemischen Ver\u00e4nderungen in seinen Kraftentwicklungen, abh\u00e4ngig w\u00e4re. Liesse sich diese Vermuthung zur Gewissheit erheben, so w\u00fcrde ein betr\u00e4chtlicher Schritt zur Erkenntniss des r\u00e4thselhaften Verm\u00f6gens geschehen sein.\n7. Mit dem Worte Uebung bezeichnet man Beziehungen zwischen dem willk\u00fcrlich erregenden Prinzip und den Nerven, die denen analog sein m\u00f6gen, welche man zwischen Empfindung und Nerven mit dem Namen der Gewohnheit belegt. \u2014 Durch h\u00e4ufige Einwirkungen der willk\u00fcrlichen Erregung auf einzelne Bewegungsnerven geschieht es, dass die den letztem zugeh\u00f6rigen Muskelbewegungen eine gr\u00f6ssere Kraft gewinnen; da die Erregbarkeit durch \u00f6ftere Th\u00e4tigkeit der Muskeln und Nerven derselben w\u00e4chst, so kann die Erscheinung ungezwungen hiervon abgeleitet werden. \u2014 Durch Uebung werden aber auch die Muskeln bef\u00e4higt mit gr\u00f6sserer Geschwindigkeit in zeitlicher Reihenfolge in Contraktion zu gerathen, und ausserdem wird die M\u00f6glichkeit der gleichzeitigen Bewegung verschiedener Muskeln durch Uebung ver\u00e4ndert* \u2014 In ersterer Beziehung ist es eine t\u00e4gliche Erfahrung, dass Bewegungen, welche \u00e4usserst langsam aufeinander folgten, als sie zuerst unternommen wurden, sp\u00e4ter, nach h\u00e4ufiger Yfiederholung, mit der gr\u00f6ssten Geschwindigkeit hintereinander geschehen. Das gleichzeitige Nebeneinander der Bewegungen betreffend, so k\u00f6nnen durch Uebung sowohl eine Anzahl scheinbar angeborner Com-binationen gel\u00f6st, als auch neue fr\u00fcher unm\u00f6gliche eingef\u00fchrt werden. Beide Verm\u00f6gen, das der Vereinzelung und das des gleichzeitigen Eintretens haben aber eine wohlgezogene Grenze, \u00fcber welche hinaus die Uebunor nicht mehr wirkt. \u2014\nF\u00fcr das Verm\u00f6gen der Isolirung und neuen Combination dienen als Beispiele die Erfahrungen, dass,man durch Uebung die einzelnen Finger gesondert beugen, ferner dass man gleichzeitig nach zwei verschiedenen Richtungen Arme und Beine rotiren lernt u. s. w. \u2014 Ob es gelingt die Sonderung in der Bewegung auch auf einzelne Muskelb\u00fcndel auszudehnen, oder gar die Accommodations- oder Irisbewegung von der des Bulbus zu sondern, oder aus dem Schlingakt einzelne Muskeln auszuscheiden etc. ist sehr problematisch. Ganz \u00fcberraschend und unheimlich ist die Erscheinung, dass gewisse Combinationen der Bewegung, wenn sie \u00f6fter wiederholt wurden, endlich gegen den Willen geschehen. Die Richtigkeit der Beobachtung steht bei der Schwierigkeit derselben noch in Frage. Denn wer kann wissen, ob nicht ein Zucken der Gesichtsmuskeln, oder gar Kr\u00e4mpfe u. dgl., welche man als Folgen der Angew\u00f6hnung ansieht, doch Folgen eines besonderen Hiriileidens sind?\n29*","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452\nIst die Seele eine einfache Substanz.\nSitz, der Seele.\nDie Apparate, welche die Bedingungen der seelischen Leistungen enthalten sollen, werden verschieden gedeutet. Nach der einen Gruppe der Hypothesen, liegt den geistigen Funktionen eine besondere Substanz, die Seele, zu Grunde, welche dem Licht\u00e4ther \u00e4hnlich, zwischen den w\u00e4gbaren Massen der Hirnsubstanz schwebt, und mit dieser so verkettet ist, dass ihre Ver\u00e4nderungen mit derjenigen der Hirnsubstanz Hand in Hand gehen, wie das auch der Physiker vom Licht\u00e4ther und den ihn umgebenden Stoffen annehmen muss. Damit aber diese Hypothese alle Erscheinungen erl\u00e4utere, verlangt sie den nicht mehr naturwissenschaftlich zu rechtfertigenden Zusatz, dass der Seelen\u00e4ther aus innern Gr\u00fcnden (willk\u00fcrlich) ver\u00e4nderlich sei. \u2014 Die Anh\u00e4nger der zahllosen Abstufungen realistischer Weltanschauung haben sich, insofern sie sich \u00fcberhaupt zur Bildung einer Vorstellung entschliessen konnten, dar\u00fcber geeinigt, dass die Seelenerscheinungen resultiren aus einer gewissen Summe im Hirn und Blut enthaltener Bedingungen, weil mit dem Entstehen, der Entwicklung und dem Vergehen des Hirns und mit dem Wechsel in der Blutzusammensetzung Verstand, Empfindung und Wille kommen, schwinden oder sich \u00e4ndern. Wer den Schluss aus Analogien gelten l\u00e4sst und durch seine Kenntnisse bef\u00e4higt ist zu gr\u00fcndlichen Vergleichungen der Seelenerscheinungen mit den \u00fcbrigen Naturereignissen, wird, wenn er w\u00e4hlen muss, nicht zweifelhaft sein, welcher von beiden Meinungen er beistimmen soll; wer aber einen unumst\u00f6sslichen Beweis f\u00fcr eine der beiden Anschauungen verlangt, wird eingestehen, dass er noch nicht geliefert sei.\nDie Wege, die man versucht, um den Sitz der Seele zu finden, haben bis dahin noch nicht so weit gef\u00fchrt, um die Gr\u00fcnde f\u00fcr die eine oder die andere Alternative zu erbringen. Ueberhaupt scheint man sich aber nur zwei Fragen, insofern dieselben \u00fcberhaupt hierher geh\u00f6rig sind, vorgelegt zu haben; namentlich ob die s\u00e4mmtlichen Seelenerscheinungen von einer und derselben Substanz ausgehen, und welcher Ort des Hirnes es sei, an dessen wohlerhalfenes Bestehen die Seele sich kn\u00fcpft.\n1. Empfindung, willk\u00fcrliche Erregung der Bewegungsnerven und Gedankenbildung sollen nach gew\u00f6hnlicher Annahme von einer und derselben Substanz ausgehen. Zu ihr glaubt man sich berechtigt: a) Weil das Bewusstsein sagt, dass dasselbe einfach die drei besonderen Funktionen erf\u00fclle. Diese Thatsache erscheint aber solange nichtssagend, als man nicht ermittelt hat, welche Stellung das Bewusstsein zu den drei Funktionen einnimmt, indem sich denken liesse, dass sie in dasselbe fallen, ohne mit ihm identisch zu sein. Diese letztere","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"Beziehungen des grossen Gehirns zur Seele.\n453\nUnterstellung erh\u00e4lt sogar aus den Traumerscheinungen einige Wahrscheinlichkeit, indem hier unsere eigenen Empfindungen und Vorstellungen uns als absolut \u00e4ussere erscheinen, die wir z. B. fragen, b) Die Identit\u00e4t soll ferner daraus hervorgehen, dass innerhalb gewisser Grenzen die drei Funktionen sich ausschliessen, wie man bekanntlich \u00fcber eifriges Denken das Bewegen oder Empfinden, oder \u00fcber eifriges Empfinden das Denken oder Bewegen u. s. w. vergisst. Wie w\u00e4re es aber dann zu erl\u00e4utern, dass beim Sehen von k\u00f6rperlichen Dingen, beim Tasten u. s. w., wobei sich Bewegung und Empfindung combiniren, diese beiden Akte in eine Vorstellung zusam-menfliessen? c. Endlich soll der Beweis der Identit\u00e4t durch die Erm\u00fcdung geliefert werden, welche im Empfinden oder im Bewegen nach dem emsigen Denken, oder im Denken und Bewegen nach emsigem Empfinden u. s. w. eintritt. Dieser Satz beweisst aber wenig, so lange man nicht den Einwurf beseitigt, dass m\u00f6glicher Weise die drei Organe aus derselben Quelle ihre Nahrung ziehen u. s. w.\nZudem steht der Hypothese eine ganz unl\u00f6sbare Schwierigkeit entgegen. Wie wir schon wiederholt bemerkten, liegen nirgends Gr\u00fcnde vor, die uns bestimmen konnten, eine wesentliche Yerschie-denheit in den empfindenden und bewegenden Nervenr\u00f6hren anzunehmen. Und wenn diese nicht besteht, woher soll denn die Verschiedenheit in der Resultirenden der Gegenwirkungen der gleichartigen Nerven und der gleichartigen Seele erl\u00e4utert werden? \u2014 Diese Schwierigkeit mahnt uns daran, wenigstens daran zu denken, dass das, was man Seele nennt, ein sehr complizirtes Gebilde sei, dessen einzelne Theile in einer innigen Wechselbeziehung stehen, verA m\u00f6ge deren die Zust\u00e4nde eines Theils sich dem Ganzen leicht mittheilen.\n2. Zu den Bedingungen an deren Vorhandensein sich die Seelenerscheinungen kn\u00fcpfen, geh\u00f6rt unzweifelhaft das normale Bestehen des grossen Gehirns; denn dorthin laufen alle der Empfindung und Willk\u00fcrbewegung untergebenen Nervenr\u00f6hren zusammen; dazu kommt, dass ausgebreitete Verletzungen des grossen Gehirns sogleich die Seelenth\u00e4tigkeiten in ausgesprochenerer Weise vernichten, als die eines j\u00e9den andern nerv\u00f6sen oder irgendwie sonst gebauten Organs. Der besondere Ort des grossen Organs aber, in dem die\nSeelenerscheinungen vor sich gehen, ist unbekannt. \u2014\nAlle Methoden *) zur Ermittelung des Sitzes der Seele, leiden an zwei Grundfehlern. Wenn man, wie es jedesmal geschieht, aus dem Wegfall des einen oder andern Hirntheils und einem entsprechenden Mangel geistiger Leistungen einen Schluss auf den urs\u00e4chlichen Zusammenhang beider macht, so bleibt zu w\u00fcnschen \u00fcbrig: a. Ein sicheres Reagens f\u00fcr die Gegenwart oder Abwesenheit der geistigen Erscheinungen. Schon in der Beurtheilung \u00fcber die Gegenwart der\nLonget, Traite de physiologie IL Bd. 2. fase. p. 35 u. f. \u2014 Lebert in Virchow's Archiv\nIII. 524.","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nBeziehungen des Gehirns zur Seele.\nEmpfindung macht sich das geltend, indem man dar\u00fcber streitet, ob die Empfindung ihren Sitz in den Grosshirnlappen oder der Br\u00fccke habe. Nach Exstirpation der erstem leiten selbst S\u00e4ugethiere (noch mehr aber V\u00f6gel), auf heftige Erregung der Sinnes- und namentlich der Hautnerven, sehr complizirte Muskelbewegungen ein, die viel Aehnlichkeit mit Schmerzensbewegungen zeigen, w\u00e4hrend nach Exstirpation der Br\u00fccke (unter Zur\u00fccklassung der Pyramiden, Oliven u. s. w.) diese complizir-ten Bewegungen (Schreien, Zusammenfahren u. s. w.) wegfallen. Warum ist aber zur Erzielung dieser Bewegungen Empfindung n\u00f6thig? warum sind das nicht complizirte Reflexbewegungen ? Ebenso unm\u00f6glich als sie eben war, wird eine Antwort auf die Frage, ob ein h\u00f6heres geistiges Verm\u00f6gen weggefallen sei oder noch bestehe. Wer sieht dem Chloroformirten an, dass er noch auf die sanfteste Art tr\u00e4umt, w\u00e4hrend seine sonst so empfindlichen Nerven \u2018zerschnitten werden. Wer steht uns also daf\u00fcr, dass sich nicht eine Taube, der man die Grosshirnlap- ' pen wegnahm oder der.Cretin, dem sie in der Entwickelung verk\u00fcmmert sind in ganz gleichem Zustande befinde. \u2014 b. Sollte aber in der That der Ausfall einiger oder aller geistiger Erscheinungen auch erwiesen sein, so m\u00fcsste nun erst noch darge-Ihan werden, in welcher besondern mehr oder weniger direkten Beziehung das fehlende und zerst\u00f6rte Organ und das mangelnde Seelenverm\u00f6gen zu einander stehen. Sucht man sich hiervon nicht genau Rechenschaft zu geben, so wird man nothwendiger Weise in den Fehler der alten Psychiatrikern zur\u00fcckfallen, den Sitz der bestimmten Seelenverm\u00f6gen in Organen zu suchen, die doch nur entfernter Weise und nur unter einzelnen g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden die Seele zur Entwickelung derselben stimmen konnten. Der Unterschied zwischen dem Fehler der Aeiteren und dem der Neueren wird nur darin liegen, dass die \u00e4lteren den Sitz ihrer sogenannten Seelenkr\u00e4fte ausser dem Hirn (z. B. in das Herz, die Leber etc.) versetzten, w\u00e4hrend sie die Neueren in das Hirn an Orte setzen, wohin sie nicht geh\u00f6ren. \u2014 Zu diesen allgemeinen Fehlern zeigt nun jede einzelne Verfahrungsart noch besondere.\na. Die vergleichend anatomische Methode geht von dem Prinzip aus, die verschiedenen Thiere, sowohl in R\u00fccksicht auf ihre geistigen Leistungen zu vergleichen, als auch in R\u00fccksicht auf die absolute und relative Gr\u00f6sse ihres Hirns und auf das Vorkommen, die Ausbildung und die besondere Gestaltung einzelner Formen. \u2014\u25a0 H\u00e4tte sie in der That auf diesem etwas schwierigen Wege ermitteln wollen, welchen Einfluss die Massen und Formen des Hirns auf die Entwickelung der geistigen F\u00e4higkeit aus\u00fcben, so h\u00e4tte sie begreiflich auch noch angeben m\u00fcssen, von welchem Einfluss alle anderweitigen Umst\u00e4nde sind, die bei verschiedenen Thieren verschieden sich vorfinden. \u2014 Den Versuch hat sie nicht gewagt und wird ihn nicht wagen. Zudem sind nun aber auch die Vergleiche zwischen den geistigen F\u00e4higkeiten ganz werthlos, ohne einen Maasstab f\u00fcr dieselben. Wie mangelhaft hat sie aber erst das einzige was sie ohne zu grosse Schwierigkeit ausf\u00fchren konnte, die Vergleichung der Hirngewichte, unternommen? Gibt uns eine der vielen W\u00e4gungen und Beschreibungen eine Vorstellung von der relativen Gr\u00f6sse einzelner' Hirntheile?\n\u00c6.DieExcisionsmethode gibt vor aus dem Unterschied der geistigen F\u00e4higkeit vor und nach dem Ausschneiden eines Hirntheils auf den Werth dieses Hirntheils f\u00fcr die Entwicklung der geistigen F\u00e4higkeiten schliessen zu k\u00f6nnen. \u2014 Dieses Versprechen w\u00fcrde sie halten, wenn sie ein lebendes Hirn so zerst\u00fcckeln k\u00f6nnte, dass sie nur die beabsichtigte Verletzung anbr\u00e4chte. \u2014 Da sie aber neben der Entfernung dieses oder jenes St\u00fcckes, noch in allen andern den Blutlauf st\u00f6rt, sie abk\u00fchlt, ersch\u00fcttert, unter andere mechanische Spannungen bringt u. s. w., so fehlt jede Entscheidung dar\u00fcber, ob der Ausfall dieser oder jener Funktion von der Entfernung des Hirnst\u00fccks oder von einer der vielen Nebenverletzungen herr\u00fchrt. \u2014\ny. Die pathologische Beobachtung. Die Beobachtung solcher Menscheig die an mehr oder weniger ausgedehnten, angebornen oder erworbenen Verst\u00fcmmlungen des Hirns, ohne Beeintr\u00e4chtigung des Lebens, leiden, liefert endlich ebenfalls ein","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"455\nBeziehungen des Gehirns zur Seele.\nMerkmal, aus dem man auf die Beteiligung einzelner Hirntheile an den geistigen F\u00e4higkeiten Schl\u00fcsse zieht. Diese Beobachtungen gew\u00e4hren, wie es scheint, h\u00e4ufig den Vortheil ganz isolirte Hirnzerst\u00f6rungen in ihren Wirkungen bemessen zu k\u00f6nnen; die Wirkungen aber selbst sind theils augenf\u00e4lliger, theils sch\u00e4rfer festzustellen, weil sie sich an geistig hochstehenden, deutlich selbstbewussten Organismen \u00e4ussern, die noch dazu meist l\u00e4ngere Zeit hindurch der Beobachtung unterworfen sind. Und dennoch sind die auf diesem Wege gewonnenen Resultate einander so widersprechend. R\u00fchrt das von mangelhafter Beobachtung oder davon, dass die bisherigen Schlussfolgerungen vollkommen fehlerhaft waren?\nSo m\u00fchelos hier eine treffende Kritik ist, so schwer wird es sein durch Anbahnung treffender Mittel und Wege den Zustand dieses Theils der Wissenschaft zu verbessern.\nDie Resultate , welche die erw\u00e4hnten Methoden geschaffen haben, sollen noch erw\u00e4hnt wrerden, weil dieses dazu beitragen wird, ihre M\u00e4ngel noch eindringlicher zu machen.\nGrosshirnlappen. Alle drei Methoden h\u00e4ufen scheinbar Wahrscheinlichkeiten daf\u00fcr, dass Seelenth\u00e4tigkeiten und namentlich die h\u00f6heren in Beziehung stehen\n/\nzur Ausbildung der Grosshirnlappen. Denn mangelhafte Entwicklungen, Verk\u00fcmmerung in seiner Ern\u00e4hrung, Ausschneiden derselben bei Tauben, sind h\u00e4ufig mit einem Stumpfsinn begleitet. \u2014 Aber diesen zahlreichen Thatsachen stehen andere entgegen, indem grosse Massen der Grosshirnlappen bei Menschen durch angeborne Eigen-th\u00fcmlichkeit fehlten, oder auch durch Verwundungen, Blutaustritte, fremde Geschw\u00fclste u. s. w., zerst\u00f6rt wurden, ohne dass auch nur die geringste Abweichung von den normalen geistigen Funktionen eingetreten w\u00e4re; wenn eine nothwendige Verkn\u00fcpfung zwischen Seele und den Grosshirnlappen best\u00fcnde, so w\u00e4re das letzte Resultat unm\u00f6glich, denn es ist begreiflich eine ganz vage Redensart, wenn man behauptet, dass die nach Verletzungen zur\u00fcckgebliebenen St\u00fccke die Funktionen der entfernten \u00fcbernommen h\u00e4tten. \u2014 Der Widerspruch k\u00f6nnte sich nur dann l\u00f6sen, wenn etwa nur einzelne Regionen des Grosshirnlappen mit dem Seelenverm\u00f6gen in Verbindung st\u00fcnden; man hat dieses in der That behauptet, indem eine Zahl von Autoren vorzugsweise die vordem, eine andere aber vorzugsweise die hintern Lappen als die Tr\u00e4ger der Seele ansahen. Der Widerspruch in den Meinungen r\u00fchrt daher, dass die einen nur Geistesst\u00f6rung mit Vernichtung der vordem, nicht aber mit Vernichtung der hintern Lappen sahen, w\u00e4hrend andere gerade die umgekehrten F\u00e4lle beobachteten; dieser Widerspruch in den Beobachtungen gen\u00fcgt zur Widerlegung der einen oder andern Hypothese.\nGrosshirncommissuren, insbesondere der Balken. Nach Zerst\u00f6rungen und Verletzungen derselben und namentlich der unteren Commissuren tritt gew\u00f6hnlich rasch der Tod ein; \u00f6fter aber \u00fcberleben die Kranken lange die Folgen namentlich von Balkenverletzungen; es sind auch F\u00e4lle beobachtet wordenen welchen ein angebor-ner Mangel des Balgens vorhanden war. Viele der sogenannten Seelenth\u00e4tigkeiten, namentlich das Selbstbewusstsein, die Empfindung und willk\u00fcrliche Bewegung, waren nicht gest\u00f6rt, h\u00e4ufig aber die Denkf\u00e4higkeit; und auch diese nicht immer. Dazu kommt, dass dieses Verm\u00f6gen oft beeintr\u00e4chtigt ist ohne jegliche Kr\u00e4nkung der Commissuren.\nKleines Gehirn. Wregeii der Seltenheit des gleichzeitigen Vorkommens von Geistesst\u00f6rung und Kleinhirnleiden, hat man nur sehr vereinzelt die Hypothese gewagt, das kleine Hirn als ausschliesslichen Sitz der geistigen und namentlich der h\u00f6hern geistigen Verm\u00f6gen anzusehen; man hat dagegen nach dem Ergebniss von Vivisektionen, und pathologischen Beobachtungen sich f\u00fcr berechtigt gehalten anzunehmen, dass hier der Sitz der Empfindung, des willk\u00fchrlichen Verbindungsverm\u00f6gen der Muskelnerven zu geordneten Bewegungen (des Gehens u. s. w.) und der niederen","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456\nSchlaf, Traum.\ngeschlechtlichen Leidenschaften zu suchen sei. Alle diese Hypothesen sind widerlegt durch sehr zahlreiche F\u00e4lle von Verletzungen und durch einen sehr bemerkenswer-then Mangel des kleinen Gehirns, in' welchem alle die dem kleinen Gehirn zuge-schriebenen Funktionen ungehindert von Statten gingen\nBr\u00fccke. V\u00f6gel, namentlich Tauben \u00fcberleben die Ausschneidung der Gross-hirnhemisph\u00e4re l\u00e4ngere Zeit; sie erweisen sich dann noch wie es scheint empfindlich, indem sie nach heftigem Ger\u00e4usche zusammenfahren, nach Lichteindr\u00fccken noch das Auge schliessen u. s. w. Nicht minder beobachtet man bei Kaninchen nach Exstirpation des ganzen Gehirns bis auf die Br\u00fccke und verl\u00e4ngertes Mark noch heftige Angstschreie, wrenn man ihnen den n. trigeminus kneift. Diese Thatsachen benutzt Longet, um zu behaupten, dass die Br\u00fccke das Empfindungsverm\u00f6gen bewirke. Diese Behauptung w\u00fcrde, wenn sie erweisbar w\u00e4re* von ausserordentlichem Interesse sein, indem man daraus, und wohl mit Recht, einen Schluss auf die zusammengesetzte Natur der Seele machen k\u00f6nnte. \u2014 Aber die Erfahrungen am Menschen widerlegen Longet vollkommen ; denn wie oft wird durch Blutextravasate (Schlagfl\u00fcsse), die in das Dach der Seitenventrikel geschehen, die Empfindlichkeit einzelner Glieder gel\u00e4hmt, obwohl die gel\u00e4hmten Nerven von den Gliedern aufw\u00e4rts noch in vollkommener Verbindung mit der unverletzten Br\u00fccke stehen.\nSo wenig Sicheres diese Thatsachen geben, das steht fest, dass keins der Organe, die wir erw\u00e4hnt, so ohne Weiteres die Seelenfunktion entwickelt, wie etwa ein Muskel zwei Knochen gegeneinander bewegt u. s. w. \u2014\nSchlaf. Traum*).\nJ. Die wesentlichsten der vielfachen und ihrem inneren Zusammenhang nach wahrscheinlich sehr verschiedenen Erscheinungen, welche man mit dem Namen des Schlafs belegt, d\u00fcrften sich folgen-dermassen zusammenfassen lassen :\na.\tDie gegenseitigen Beziehungen zwischen den Sinnesnerven und der Seele sind vor\u00fcbergehend gel\u00fcst, w\u00e4hrend die Seele ihre F\u00e4higkeit zur Gedankenbildung und die M\u00f6glichkeit ihrer Einwirkung auf alle oder einzelne Muskel bewahrt hat. Zu dieser Art des Schlafs geh\u00f6rt das sogenannte Nachtwandlen, das Sprechen im Schlaf u. s. w. In vielen dieser F\u00e4llen scheint jedoch auch die Funktion der Gedankenbildung bis zu einem gewissen Grade beeintr\u00e4chtigt; ob in allen F\u00e4llen, ist sehr zweifelhaft.\nb.\tDie gegenseitigen Beziehungen zwischen der Seele und den Muskelnerven sind gel\u00f6st, es besteht dagegen noch die F\u00e4higkeit zur Gedankenbildung und die Einwirkung der Sinnesnerven auf die Seele. Diese sehr h\u00e4ufige Form des Traums erreicht im sogenannten Alp ihren ausgebildetsten Typus, in welchem man sehr lebhaft von unangenehmen Empfindungen bedr\u00fcckt wird, ohne die F\u00e4higkeit zu besitzen, Bewegungen, die man selbst f\u00fcr hilfreich h\u00e4lt, ausf\u00fchren zu k\u00f6nnen. Die bestehenden Erregungen, wie der Druck eines Kleidungsst\u00fcckes. oder ein Ton u. dgl., werden auf den richtigen Ort der Erregung (die gedr\u00fcckte Stelle) , in einer dem Erregungszustand des Nerven (als ein bestimmter Ton, eine angenehme oder unangenehme\n*) Purkinje; Wagners Handw\u00f6rterbuch III. Bd. 2. Abthl,","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"Schlaf, Traum.\n45T\nHautempfindung etc.) entsprechenden Weise empfinden, sie geben aber gew\u00f6hnlich zu andern Gedankencombinationen Veranlassung und werden namentlich von dem Verst\u00e4nde andern Ursachen als w\u00e4hrend des Wachens zugeschrieben.\nc.\tDie gegenseitigen Beziehungen zwischen der Seele einerseits und den Muskel- und Sinnesnerven andrerseits sind gel\u00f6st, es bleibt dagegen noch das Verm\u00f6gen der Gedankenbildung erhalten. Der Grund, aus weichem die Nerven den seelischen Einfl\u00fcssen entzogen sind, darf nicht in einer Abschw\u00e4chung oder gar einer Vernichtung der Erregbarkeit der Nerven gesucht werden, weil es sehr leicht gelingt, durch Einwirkungen der bekannten Erregungsmittel auf die Sinnesnerven die entsprechenden Reflexe zu erzielen ; Lichteindr\u00fccke auf die Retina bedingen Iriscontraktionen, sanftes Bestreichen der Handfl\u00e4che oder Achselh\u00f6hle u. s. w.,\" l\u00f6sen Muskelbewegung der Hand oder des Oberarms aus u. s. f. \u2014 Nach fast allgemein \u00fcbereinstimmenden Angaben sind in diesem Zustande aber auch die h\u00f6heren Seelenerscheinungen, (die Bildung der Gedanken und Vorstellungen) wesentlich abweichend in ihrer Erscheinung von dem des Wachens. Denn I. die Vorstellungen sinnlicher Gegenst\u00e4nde erhalten den Charakter der Empfindung (Phantasmata), d. h. man glaubt die Gegenst\u00e4nde und Personen, welche man sich im Traume vorstellt, zu sehen, zu h\u00f6ren, zu f\u00fchlen und zu schmecken. Sehr bemerkenswert!! ist es, dass Blinde, vorausgesetzt, dass sie sich w\u00e4hrend der ersten Jahre ihrer Lebzeit des Augenlichtes erfreuten, nur im Traume die T\u00e4uschung sehen zu k\u00f6nnen gemessen. 2. Das Bewusstsein, dass die Gedanken und Vorstellungen von uns ausgehen, ist zum Theil verschwunden; wir legen bekanntlich unsere eignen Gedanken den gesehenen Phantasmen unter, und sind oft \u00fcberrascht sehr geistreiche und scheinbar v\u00f6llig fremde oder wenigstens fernliegende Bemerkungen aus dem Munde der Phantasmen zu h\u00f6ren. 3. Den Schl\u00fcssen, welche wir bilden, fehlt die Logik, obwohl wir das Bed\u00fcrfniss zur Bildung von Urtheilen besitzen. 4. Die Gedanken treten meist in sehr raschem Wechsel auf, k\u00f6nnen nicht willk\u00fcrlich festgehalten, noch weniger auf einen bestimmten Punkt gerichtet werden, und entschwinden sehr leicht dem Ged\u00e4chtniss.\nd.\tEndlich soll es Zust\u00e4nde vollkommener Losl\u00f6sung der Seele von Bewegungs- und Empfindungsnerven und gleichzeitigen vollkommenen Stillstandes in der Gedankenbildung geben. Diese Behauptung wird von allen Psychologen sehr eifrig bestritten, welche die Seele als ein absolut einfaches Wesen ansehen, welches die Bedingungen seiner Th\u00e4tigkeit in sich selbst tr\u00e4gt. Die Controverse l\u00e4sst sich leider nicht erledigen, da wenn wir uns auch h\u00e4ufig keiner Tr\u00e4ume aus einem tiefen Schlafe erinnern, damit die Gegenwart von Tr\u00e4umen nicht widerlegt ist, die keine Erinnerung zur\u00fcckliessen,","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458\nSchlaf; Traum.\n2.\tYon den n\u00e4chsten Bedingungen zum Eintritte des Schlafes, d; h. von den Hirnzust\u00e4nden, die unmittelbar den Schlaf darstellen, ist uns nichts bekannt; kaum dass wir einige Veranlassungen zum Schlaf kennen. Zu diesen z\u00e4hlen wir \u00e0. Anstrengungen der willk\u00fcrlichen Erregung, der Empfindung und des Denkens, b. Monotone Erregungen oder Abwesenheit der Erregungen des Nerven und des Denkverm\u00f6gens, z. B. ruhige ausgestreckte Lage im Halbdunkel, Lesen in gleichg\u00fcltigen B\u00fcchern etc. c. Gewisse chemische Ver\u00e4nderung des Bluts, z. B. Anh\u00e4ufung von C02, oder Gegenwart von Aether, Opium u. s. w. im Blute. \u2014 Noch weniger sind uns die Bedingungen bekannt, die den Uebergang der vorhin aufgez\u00e4hlten Formen des Schlafes ineinander, der leicht und h\u00e4ufig vorkommt, bewirken.\n3.\tDie Einfl\u00fcsse, welche den Schlaf in das Wachen zur\u00fcckf\u00fchren, sind zuerst die entgegengesetzten der eben angef\u00fchrten, wie z. B. lebhafte Vorstellung, kr\u00e4ftige Sinneseinwirkungen. Ausser diesen wirkt aber auch erweckend, die Dauer des Schlafes selbst, indem wahrscheinlich die vom Blute aus eingeleiteten chemischen Ver\u00e4nderungen die Bedingungen zum Schlaf aufheben; ferner verhindern den Eintritt des Schlafes eine Anzahl chemischer K\u00f6rper, wenn sie in das Blut eingetreten sind, wie z. B. Catfee.\n4.\tDie schon aufgez\u00e4hlten wesentlichen Erscheinungen des Schlafes werden meist, oder k\u00f6nnen wenigstens begleitet werden von besondern Symptomen in Abtheilungen des Nervensystems, die in entfernten Beziehungen zur Seele stehen. Dahin geh\u00f6rt eine Verlangsamung der Alhemzuge, des Herzschlags, der Darmbewegung, der Speichel- und Thr\u00e4nenabsonderung. Ob nun dies Zur\u00fccktreten der physiologischen Funktion dieser nerv\u00f6sen Gebilde von \u00e4hnlichen Bedingungen abh\u00e4ngt, als die Ruhe der seelischen Gebilde, oder ob diese Erscheinungsreihen nur eine Folge des Schlafes der n\u00e4chsten Um-\ngebungen der Seele sind, bleibt dahingestellt. Das Letztere ist nicht unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass die Nerven im Schlaf ihre F\u00e4higkeit zu reflektorischen Bewegungen, also auch ihre Erregbarkeit, nicht einb\u00fcssen.\nAus diesenNervenwirkungen, den wesentlichen sowohl als acces-sorischen, fliessen nun weiterhin viele Folgen f\u00fcr den schlafenden Organismus, die in einem vollkommenen Bild des Schlafes noch aufgenommen werden m\u00fcssten, wie Ver\u00e4nderung in dem Respirationspro-cess, der thierischen W\u00e4rmebildung, der Ern\u00e4hrung einzelner Gewebe u. s. w. Die Ver\u00e4nderungen dieser Prozesse sind um so wichtiger, * als mit Wahrscheinlichkeit gerade hierdurch die wohlih\u00e4tigen kr\u00e4ftigenden Wirkungen des Schlafes herbeigef\u00fchrt werden. Sie k\u00f6nnen aber erst unter den Abschnitten: Kreislauf des Blutes, Respiration, Muskelern\u00e4hrung, thierische W\u00e4rme u. s. w. behandelt werden.","page":458},{"file":"z0001contents.txt","language":"de","ocr_de":"INHALT.\n#\nSeite\nEinleitung........................................................1\nErster Abschnitt\u00bb\nPhysiologie der Atome............................................15\nZweiter Abschnitt\u00bb\nPhysiologie der Aggregatzust\u00e4nde.................................51\ni\nDritter Abschnitts\nPhysiologie des Nervensystems....................................7t\nI. Allgemeine Nervenphysioiogie........................\u2666\tTI\nA.\tPhysiologie der Nervenr\u00f6hren...........................TI\nB.\tGanglienk\u00f6rper........................................124\nII. Besondere Nervenphysioiogie...........................  126\nA.\tR\u00fcckenmark und Riickenmarksnerven.....................126\nB.\tHirn und Hirnnerven...................................154\nC.\tSympathischer Nerv....................................1T5\nD.\tGesichtssinn  ...............\t185\nE.\tGeh\u00f6r *.............................................  263\nF.\tGeruchssinn.........................................28T\nG.\tGeschmackssinn........................................292\nH.\tGef\u00fchissinn ........................................  29T\nVierter Abschnitt\u00bb\nPhysiologie des Muskelsystems...................................312\nI.\tAllgemeine Muskelphysiologie.............................312\nA.\tPli3rsiologie der quergestreiften Muskelr\u00f6hre.........312\nB.\tPhysiologie der muskul\u00f6sen Faserzelle.................349\n\\","page":0},{"file":"z0002.txt","language":"de","ocr_de":"\u00ab\nII. Besondere Muskelphysiologie ....\nA.\tVerkn\u00fcpfung der Muskeln mit den Nerven\nB.\tDas Skelet mit seinen Muskeln .\n*\nC.\tStimm- und Sprachwerkzeuge .\nStimme.............................\nSprache ...........................\nSeite\n353\n353\n362\n413\n413\n434\nF\u00fcnfter Abschnitt.\nPhysiologie der Seelenorgane .\t.\t........\t440\nOrgane der Empfindung......................' .\t.\t440\nWillk\u00fcrliche motorische Erregung .... -................................446\nSitz der Seele..............................................................\nSchlaf. Traum .\t................................................45g","page":0}],"identifier":"lit1297","issued":"1852","language":"de","pages":"458","startpages":"458","title":"Lehrbuch der Physiologie des Menschen","type":"Book","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:16:27.368902+00:00"}

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