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{"created":"2022-01-31T14:09:59.511246+00:00","id":"lit13463","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Nagel, W. A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 41: 239-282, 319-337","fulltext":[{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"(Aus der physikalischen Abteilung des physiologischen Instituts zu Berlin.)\nFortgesetzte\nUntersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik der angeborenen St\u00f6rungen des Farbensinns.\nVon\nProfessor W. A. Nagel in Berlin.\n1. Einleitung.\nDie Untersuchungen zur Diagnostik, Symptomatologie und Statistik der angeborenen Farbenblindheit, \u00fcber die ich im Jahre 1898 im Archiv f\u00fcr Augenheilkunde berichtete, bildeten den Ausgangspunkt f\u00fcr eine Reihe von \u00e4hnlichen Untersuchungen, die in den letzten Jahren teils von mir, teils von meinen Mit* arbeitern ausgef\u00fchrt worden sind. Das Hauptziel, das ich mir hierbei gesteckt hatte, ist schon in den Schlufszeilen meiner Arbeit aus dem Jahre 1898 ausgedr\u00fcckt: die Entscheidung der Frage, was von den sog. \u201eFarbenschwachen\u201c zu halten sei und speziell, ob diese in praktischer Hinsicht den Normalen oder den Farbenblinden gleich bzw. nahe zu stellen seien. Den damaligen Versuchen in dieser Richtung hatte ich ja ausdr\u00fccklich nur den Wert orientierender Vorversuche beigemessen. Das reiche Material an Versuchspersonen hat denn auch meine Auffassung neuerdings nicht unwesentlich modifiziert. Von den im physiologischen Institut zu Berlin in den letzten Jahren gewonnenen Ergebnissen ist einiges schon ver\u00f6ffentlicht.1 Einen\n1 W. Nagel: Zur Differentialdiagnostik der angeborenen Farbensinnsst\u00f6rungen. Berl. ophthalmol. Gesellsch. 19. Nov. 1903; Zentralblatt f. prakt. Augenheilh. 1904.\n\u2014 Einige Bemerkungen \u00fcber den Typenunterschied unter den Farbent\u00fcchtigen. Engelmanns Arch. f. Physiol. 1904. S. 560.\nZeitschr. f. Sinnesptiysiol. 41.\t16","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nW. A. Nagel.\nTeil der Ergebnisse m\u00f6chte ich hier mitteilen, wobei ich gelegentlich auf das zur\u00fcckgreife, was an anderen Stellen schon kurz ver\u00f6ffentlicht ist, in der Hauptsache aber \u00fcber diejenigen Punkte berichte, deren Besprechung bisher zu kurz gekommen ist.\nWie die Untersuchungen einen doppelten Zweck verfolgten, einen praktischen und einen wissenschaftlich-theoretischen, so zerfallen auch die Ergebnisse in zwei entsprechende Gruppen.\nWenn in der nachstehenden Darstellung praktische und theoretische Probleme nicht immer reinlich gesondert erscheinen, so liegt das daran, dafs f\u00fcr die Bestrebungen auf dem Gebiet der Diagnostik der Farbensinnsst\u00f6rungen neue symptomatische Befunde und theoretische Erw\u00e4gungen mafsgebend waren, deren Erw\u00e4hnung bei den Er\u00f6rterungen \u00fcber das Methodische unerl\u00e4fs-lich schien und dafs andererseits die zur Gewinnung diagnostischer Erfahrungen unternommenen Untersuchungen wieder symptomatische Befunde ergaben, die zum Teil \u00fcberraschend und neu waren. Das Hauptgewicht habe ich im folgenden auf die Untersuchungsmethodik gelegt, weil ich in dieser zu einem gewissen, wenn auch nur vorl\u00e4ufigen, Abschlufs gekommen bin, w\u00e4hrend sich in theoretischer Hinsicht zwar manche neue Fragen ergeben haben, auch manches nicht unwichtige an Tatsachen \u00fcbermittelt wurde, von einer Klarstellung des in Frage kommenden Gebiets aber noch entfernt nicht zu reden ist.\nDer Hauptzweck der vorliegenden Abhandlung ist die Darlegung der Gr\u00fcnde, aus denen ich der Eisenbahnverwaltung sowie den Medizinalbeh\u00f6rden der Armee und Marine gegen\u00fcber die Einf\u00fchrung eines neuen Untersuchungsverfahren auf Farbent\u00fcchtigkeit bef\u00fcrwortet habe.\nIn meiner Publikation vom Jahre 1898 war ich von der Tat-\nW. Nagel: Die Diagnose der anomalen trichromatischen Systeme.\nKlin. Monatsbl. f. Augenheilk. 42, I, 366.\nH. Feilchenfeld : Sind die anomalen Triehromaten tauglich zum Eisenbahndienst? Arch. f. Augenheilk. 50, S. 48.\nA. Guttmann: Untersuchungen an sog. Farhenschwachen. Sitzungsbericht internat. Psych.-Kongrefs. Giefsen 1904.\nW. Nagel: Was ergeben die neueren physiologischen Erfahrungen \u00fcber Anomalien des Farbensinns bez\u00fcglich der zur praktischen Pr\u00fcfung geeigneten Untersuchungsmethoden ? \u00c4rztl. Sachverst. Zeitg. 1904. Nr. 9.\n\u2014 Dichromatische Fovea, trichromatische Peripherie. Zeitschr. /*. Psychol, u. Physiol, d. Sinnesorgane 39, S. 93. 1905.","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 241\nsache ausgegangen, dafs die Diagnose der Farbenblindheit nach den damals \u00fcblichen Methoden an Sicherheit zu w\u00fcnschen \u00fcbrig liefs. Ich wurde dadurch zur Ausbildung zweier neuer Methoden -der Farbensinnspr\u00fcfung gef\u00fchrt, die mir von den Fehlern der anderen frei zu sein schienen. Beide Methoden haben eine eigentlich \u00fcber Erwarten schnelle und weite Verbreitung gefunden und sind, soweit aus der Literatur ersichtlich, von den Fachgenossen wohlwollend aufgenommen worden. Ich habe es mir angelegen sein lassen, die beiden Methoden in stetem Vergleich mit den besten anderen Methoden fortw\u00e4hrend weiter zu erproben und dabei festzustellen, wie die verschiedenen Anomalien des Farbensinns auf sie reagieren. Namentlich in den letzten 33/2 Jahren bot sich mir in Berlin dazu ausgiebigste Gelegenheit, sowohl bei verschiedenen Massenuntersuchungen, wie auch in der Untersuchung ungew\u00f6hnlicher F\u00e4lle, die mir von verschiedenen Kollegen in dankenswertester Weise zugef\u00fchrt wurden.\nEin Anlafs zu besonders eingehender Besch\u00e4ftigung mit der Frage der diagnostischen Methodik ergab sich sodann im Winter 1903/1904 dadurch, dafs die Kgl. preufsische Eisenbahnverwaltung beschlofs, das bisher verwendete HoLMGEENsche Verfahren fallen zu lassen und durch ein anderes zu ersetzen. Die Anregung dazu war von anderer Seite gekommen und es war eine Kommission eingesetzt worden, die ein geeigneteres Verfahren ausw\u00e4hlen sollte. Um dieselbe Zeit hielt ich im Berliner bahn\u00e4rztlichen Verein einen Vortrag, in welchem ich die (weiter unten des n\u00e4heren zu besprechende) Frage er\u00f6rterte, ob nicht die anomalen Trichromaten in \u00e4hnlicher Weise wie die Dichromaten f\u00fcr den Signaldienst in Marine und Eisenbahn gef\u00e4hrlich seien. Ich mufste diese Frage auf Grund meiner bisherigen Beobachtungen bejahen.\nImmerhin wollte ich nicht soweit gehen, diese Anschauung dem Ministerium des Verkehrswesens gegen\u00fcber mit Bestimmtheit zu vertreten, da folgenschwere Entschliefsungen durch ein solches Gutachten herbeigef\u00fchrt werden konnten. Ich verwendete ein halbes Jahr vorzugsweise zur Pr\u00fcfung der Frage, wie sich die anomalen Trichromaten unter solchen Bedingungen verhalten, wie sie beim Eisenbahn- und Marinesignaldienst in Betracht kommen, ^ wurde aber nur in meiner Anschauung best\u00e4rkt. Ich trat nun mit Bestimmtheit daf\u00fcr ein, dafs die Anomalen, zum mindesten der allergr\u00f6fste Teil derselben, den\n16*","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nW. A. Nagel.\nFarbenblinden praktisch gleichzusetzen seien, und das Ministerium, durch meine Darlegungen und die von der Kgl. Eisenbahndirektion Berlin aufs wirksamste unterst\u00fctzten Demonstrationen \u00fcberzeugt, beschlofs, Farbenblinde und Anomale in eine einzige Gruppe der \u201eFarbenunt\u00fcchtigen\u201c zusammenzufassen und samt und sonders vom Fahrdienst und \u00e4hnlichen verantwortungsvollen Stellungen im Eisenbahn dienst auszusehliefsen.\nDamit erhob sich aber die grofse Schwierigkeit der sicheren Diagnose. Bisher hatte man wohl f\u00fcr die Diagnose der Farbenblindheit brauchbare Methoden geschaffen, auf die Anomalen aber das Augenmerk nicht gerichtet. Diese wurden vielmehr nur im Laboratorium mit komplizierten Spektralfarben-Mischapparaten diagnostiziert. Es ist ja allerdings, wie ich unl\u00e4ngst mitgeteilt habe1, auch m\u00f6glich, mit meinem zur Diagnose der Farbenblindheit bestimmten Apparat die anomalen Trichromaten zu erkennen. Ich habe jedoch die Verwendung dieses Apparates in der Hand aller Bahn\u00e4rzte nie f\u00fcr empfehlenswert gehalten, sondern glaube, dafs er nur in der Hand des erfahrenen Spezialisten gute Dienste leistet.\nMeine Farbentafeln in der 1898 (bei J. F. Bergmann, Wiesbaden) erschienenen Ausgabe sind nur zur Diagnose der typischen Dichromaten bestimmt, Diagnostizierung der Anomalen mit ihrer Hilfe war nicht in Aussicht genommen.\nUnter diesen Umst\u00e4nden handelte es sich also darum, eine neue Methode zu finden, die in einfacherWeise gestattet, sowohl die Dichromaten wie die anomalen Trichromaten zu diagnostizieren. Ich habe meine Farbentafeln durch Ab\u00e4nderung einzelner und Hinzuf\u00fcgung neuer so erg\u00e4nzt, dafs sie diesen Zweck erf\u00fcllen. Nachdem sie an einem hinreichend grofsen Material durch mich und sp\u00e4terhin durch 60 dazu seitens der Eisenbahnverwaltung bestimmte Bahn\u00e4rzte erprobt worden waren, entschlofs sich das Ministerium, sie im Bereiche der preufsischen Staatseisenbahnen an Stelle des HoLMGRENschen Verfahrens einzuf\u00fchren. Zur selben Zeit waren bei der preufsischen Eisenbahnbrigade Versuche mit den Tafeln gemacht worden, die zur Einf\u00fchrung bei dieser Truppe und zur Ausstattung s\u00e4mtlicher Lazarette mit diesen Tafeln f\u00fchrten. Bei der Kaiserlichen Marine folgten entsprechende Versuche und f\u00fchrten im April ebenfalls zu ihrer Einf\u00fchrung.\n1 Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 368. 1904.","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 243\n2. Welche Anomalien des Farbensinnes bedingen Fntauglichkeit\nzum Eisenbahn- und Marinedienst?\nDie deutschen Staatseisenbahnverwaltungen und die Beh\u00f6rden der Kaiserlichen Marine, wie auch die entsprechenden Beh\u00f6rden in anderen Kulturstaaten stehen seit geraumer Zeit auf dem Standpunkt, dafs \u201eFarbenblindheit\u201c die Anstellung in gewissen Berufszweigen im Bereich der genannten Verwaltungen ausschliefst. Es ist wohl nicht ganz \u00fcberfl\u00fcssig, auf die Frage der Berechtigung dieser Mafsregel hier mit wenigen Worten einzugehen. Jeder, der mit dem Sehen der Farbenblinden vertraut ist, wird keinen Augenblick im Zweifel sein, dafs, solange farbige Signale bei Eisenbahn und Marine verwendet werden m\u00fcssen, der absolute Ausschlufs aller Farbenblinden von denjenigen Dienstzweigen gefordert werden mufs, bei denen die Erkennung farbiger Lichtsignale, wenn auch nur gelegentlich, in Frage kommt. Dafs typische Dichromaten, denen in m\u00e4fsigen Entfernungen abwechselnd rote, gr\u00fcne und sog. weifse Laternenlichter gezeigt werden, meistens \u201edie Farbe richtig erkennen\u201c, wie man zuweilen versichern h\u00f6rt, soll keinen Augenblick bezweifelt werden. Andererseits ist es aber auch unumst\u00f6fsliche Tatsache, dafs bei gen\u00fcgend weit entfernten oder lichtschwachen Latemenlichtern kein Dichromat imstande ist, die Farbenunterscheidungen zu machen, die der Trichromat ceteris paribus ohne weiteres macht. Das wesentlichste Moment ist der kleine Gesichtswinkel. Eine der \u00fcblichen Eisenbahnsignallaternen erscheint auf 100 m Entfernung nur noch unter dem Winkel von 1/10 \u00b0, wenn man die ganze farbige Scheibe als erleuchtet denkt, unter dem Winkel von h\u00f6chstens Vioo \u00b0? wenn man nur die leuchtende Flamme als Objekt rechnet. Die Signale m\u00fcssen aber auf etwa die 10 fache Entfernung, also bei 10 mal kleinerem Gesichtswinkel noch unterschieden werden. Das leistet (klares Wetter vorausgesetzt) ein farbent\u00fcchtiges Auge bei der \u00fcblichen Lampenhelligkeit ohne weiteres, nicht aber das farbenblinde, das die rote, gr\u00fcne und \u201eweifse\u201c Laterne nur an sekund\u00e4ren Merkmalen (Helligkeits- und S\u00e4ttigungsverschiedenen, ungleich scharfe Begrenzung des Bildes etc.) unterscheidet. Auf ein weiteres wichtiges Moment wird weiter unten einzugehen sein.1\n1 Die Angabe, die man gelegentlich h\u00f6rt und liest, die farbenblindem Eisenbahnbeamten seien imstande, mit voller Sicherheit rote, gr\u00fcne und gelbe (\u201efarblose\u201c oder \u201eweifse\u201c Laternen zu unterscheiden, beruhen, soweit,.","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nW. A. Nagel.\nMan h\u00f6rt nun allerdings nicht selten in den beteiligten Kreisen die Behauptung aufstellen, die Untersuchung auf Farbenblindheit habe deshalb keine grofse Bedeutung, weil tats\u00e4chlich niemals Ungl\u00fccksf\u00e4lle infolge mangelhaften Farbensinns von Eisenbahnangestellten oder Seeleuten vork\u00e4men. Man denkt heutzutage nicht mehr daran, dafs ein Eisenbahnungl\u00fcck in Schweden es war, das seinerzeit Holmgren veranlafste, so energisch und erfolgreich f\u00fcr die obligatorische Farbensinnspr\u00fcfung einzutreten. Auch ein durch Farbenblindheit herbeigef\u00fchrtes Schiffsungl\u00fcck wurde damals bekannt. Wie viele Eisenbahn- und Schiffsunf\u00e4lle in neuerer Zeit auf gleicher Ursache beruhen, entzieht sich unserer Beurteilung. Wer die betreffenden Zeitungsnachrichten l\u00e4ngere Zeit hindurch verfolgt, wie ich es getan habe, findet doch nicht ganz selten \u201eunaufgekl\u00e4rte\u201c F\u00e4lle, bei denen man sehr geneigt sein mufs, an Farbensinnsst\u00f6rung als Ursache zu denken. Erst vor wenigen Tagen las ich einen Bericht \u00fcber ein solches Ungl\u00fcck, das (wie die meisten in Betracht kommenden) im Dunkel, abends 8 Uhr, passierte und nicht v\u00f6llig aufgekl\u00e4rt wurde. \u201eLokomotivf\u00fchrer und Heizer des Zuges wurden get\u00f6tet\u201c heifst es hier, wie in vielen \u00e4hnlichen F\u00e4llen, es ist m. a. W. die M\u00f6glichkeit genommen, nachtr\u00e4glich festzustellen, ob eine Farbensinnsst\u00f6rung vorlag.\nBei der Mehrzahl der Zusammenst\u00f6fse und Entgleisungen ist das Lokomotivpersonal besonders gef\u00e4hrdet, Lokomotivf\u00fchrer oder Heizer oder alle beide verlieren dabei das Leben.\nWarum hat man in solchen unaufgekl\u00e4rten F\u00e4llen nicht an Farbenblindheit der Beamten gedacht? Die Antwort ist naheliegend, sie befreit die Eisenbahnverwaltung von jeglicher Schuld: Bei den Akten der betreffenden Beamten liegen die Zeugnisse\nmir bekannt ist, nicht auf systematischen einwandsfreien Versuchen. Ich, der ich selbst Dichromat bin (ein Deuteranop oder sog. Gr\u00fcnblinder) unterscheide auf grolsen Bahnh\u00f6fen nebeneinanderstehende rote und farblose Lichter mit voller Sicherheit, wenn die Lampen nicht zu weit entfernt sind (etwa 100 m). Bei Lampen am Ende eines langgestreckten Bahnhofs, etwa in 72 km Entfernung, irre ich mich aber aufserordentlich h\u00e4ufig. Es ist dann ein reines Raten. Bei zw'ei nebeneinanderstehenden farblosen Lichtern, von denen das eine merklich schw\u00e4cher ist als das andere, glaube ich oft mit Bestimmtheit das erstere als rot oder gr\u00fcn zu erkennen; aber es ist ein blofser Zufall, wenn ich richtig rate. Die Unterscheidung gr\u00fcner und weifser Laternen ist sogar auf wesentlich geringere Distanz sehr unsicher.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 245\n\u2022 \u2022\nvon so und so vielen \u00c4rzten (Bahn\u00e4rzten und Bahnaugen\u00e4rzten), die alle best\u00e4tigen, dafs die Angestellten auf der Lokomotive nicht farbenblind waren. Bei einem Angestellten, der es zum Lokomotivf\u00fchrer gebracht hat, liegen solche Zeugnisse in der Regel 4 bis 5 vor, weil er bei den regelm\u00e4fsigen Revisionen immer wieder gepr\u00fcft wurde, auch bei jeder Bef\u00f6rderung.\nF\u00fcr die Eisenbahnverwaltung m\u00fcssen diese Zeugnisse mafs-gebend sein, sie m\u00fcfste sich auf die ihr vorgelegten Gutachten verlassen k\u00f6nnen. Aber dies war nun eben bisher vielfach leider nicht der Fall; im Bewufstsein dieser Tatsache hat ja auch die Eisenbahnverwaltung die Neuordnung der Farbensinnspr\u00fcfung eingeleitet.\nIm Laufe der letzten l1/^ Jahre sind mir mindestens 12 Personen zur Untersuchung zugef\u00fchrt worden, die bei der Eisenbahn in wichtigen Stellungen (als Lokomotivf\u00fchrer, Heizer, Stationsassistenten, Weichenw\u00e4rter) t\u00e4tig waren, alle 4 bis 5mal amtlich auf Farbenunterscheidungsverm\u00f6gen gepr\u00fcft und nicht beanstandet worden waren, und nichtsdestoweniger typische Dichromaten (Rot-Gr\u00fcnblinde) waren.\nUnter etwa 300 Eisenbahnbediensteten aller Dienstzweige, die alle mindestens einmal untersucht worden waren (fast alle mehrmals von verschiedenen \u00c4rzten), fand sich der zuf\u00e4llig ganz ungew\u00f6hnlich hohe Satz von 5\u00b0/0 typisch Farbenblinden.\nEs ist also \u2014 darauf kommt es mir hier wesentlich an \u2014 daraus, dafs in den Personalakten eines Lokomotivf\u00fchrers mehrere g\u00fcnstige Zeugnisse \u00fcber seinen Farbensinn stehen, bei dem jetzigen Stande der Untersuchung nicht mit der w\u00fcnschenswerten Sicherheit zu schliefsen, dafs der Mann nun auch wirklich nicht farbenblind ist. Dazu kommt noch ein weiterer Umstand. Wie ich schon bei anderer Gelegenheit betont habe und weiter unten n\u00e4her motiviere, mufs ich die \u201eanomalen Trichromaten\u201c f\u00fcr ebensowenig geeignet zum Erkennen farbiger Signale halten, wie die Dichromaten. Sie aber werden mittels der Wollprobe nur ganz unsicher erkannt, und jedenfalls war bisher jeder Bahnarzt in seinem vollen Rechte, der diese Personen f\u00fcr \u201enicht farbenblind\u201c erkl\u00e4rte. Dar\u00fcber, welche Verst\u00f6fse beim Ausf\u00fchren der Wollprobe der Untersuchten als untauglich zum Bahn- und Marinedienst erscheinen lassen sollten, lagen amtliche Bestimmungen nicht vor. Es d\u00fcrfte also ein Arzt, der mit Sicher-","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nW. A. Nagel.\nheit feststellen konnte, dafs \u201eFarbenblindheit\u201c nicht Vorlage, mit Fug und Recht den Mann f\u00fcr tauglich erkl\u00e4ren.\nDerartige Erw\u00e4gungen wurden vor einigen Jahren besonders nahegelegt, als die \u201ePrimuskatastrophe\u201c bei Hamburg so grofses Aufsehen erregte. Der Zusammenstofs der beiden Dampfer \u201ePrimus\u201c und \u201eHansa\u201c w^ar um ein betr\u00e4chtliches verst\u00e4ndlicher, wenn einer der beiden Kapit\u00e4ne farbenblind war oder zufolge einer anderen Anomalie seines Farbensinns die rote und die gr\u00fcne Positionslaterne verwechseln konnte. Tats\u00e4chlich hatte der eine Kapit\u00e4n angegeben, eine andere Farbe gesehen zu haben, als sie nach Lage der Dinge sichtbar sein mufste. Bei der nachtr\u00e4glichen Pr\u00fcfung wurde aber der Farbensinn beider Kapit\u00e4ne als \u201enormal\u201c befunden, wie die Zeitungen berichteten.\nEs wird nach dem oben Gesagten begreiflich erscheinen, wenn man an der Sicherheit dieser Diagnose zweifelt. Der betreffende Kapit\u00e4n konnte ein anomaler Trichromat sein, ja es w\u00e4re nicht einmal so sehr \u00fcberraschend, wenn jetzt noch nachgewiesen w\u00fcrde, dafs er farbenblind war.\nIch m\u00f6chte mit diesen Ausf\u00fchrungen zun\u00e4chst nicht mehr beweisen, als dafs man nicht berechtigt ist, an der Verschuldung von Eisenbahn- und Schiffsungl\u00fccken durch Farbensinnsst\u00f6rungen zu zweifeln, solange die Sicherheit der Diagnose eine so geringe ist, wie es tats\u00e4chlich leider der Fall ist.\nMan mufs erwarten, dafs die mit dem Beobachten von Flaggensignalen betrauten Seeleute \u00f6fters falsche Ablesungen machen, wenn sie farbenunt\u00fcchtig sind. Aber auch hier gilt \u00e4hnliches wie in den oben angef\u00fchrten F\u00e4llen: Vereinzelte Fehler wird man dem Manne hingehen lassen; kommen sie h\u00e4ufiger vor, so wird man wohl an mangelhaften Farbensinn denken, der Mann wird dem Arzt zugef\u00fchrt und nach Holmgren (oder wohl meistens nach einem \u201evereinfachten\u201c Verfahren, das der Arzt f\u00fcr das HoLMGRENsche ausgibt) untersucht: er f\u00fchrt die Probe, vielleicht z\u00f6gernd und ungeschickt, aber schliefslich ohne schwere Fehler, m\u00f6glicherweise sogar ohne jeden Fehler aus. Nun erkl\u00e4rt man den Farbensinn f\u00fcr normal, den Mann f\u00fcr dumm, tr\u00e4ge oder schwerf\u00e4llig, bestraft ihn dann auch vielleicht f\u00fcr falsche Signalablesungen. Dabei kann er sehr wohl ein anomaler Trichromat sein, ja sogar ein Farbenblinder.\nMeines Erachtens hegt die Sache jetzt also folgendermafsen : Nach den Erfahrungen im Laboratorium kann mit Bestimmtheit","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 247\ngesagt werden, dafs die Farbenblinden (und die Anomalen) zur Verwechslung von Signalliehtern und Signalflaggen viel mehr disponiert sind, als jeder F\u00e4rb en t\u00fcchtige ceteris paribus; auch ist es sehr wahrscheinlich, dafs h\u00e4ufig solche Verwechslungen tats\u00e4chlich Vorkommen, die nat\u00fcrlich erstens nicht leicht von anderen bemerkt werden und zweitens lange nicht immer schlimme Folgen zu haben brauchen. Wo sie aber solche haben, eine Schiffskollision oder ein Eisenbahnungl\u00fcck bewirken, da sind, wie oben auseinandergesetzt, wiederum Bedingungen vorhanden, die es unwahrscheinlich oder zum mindesten unsicher erscheinen lassen, dafs die wahre Ursache in der Farbenblind-heit eines Angestellten wirklich auch festgestellt wird.\nNach wie vor bleibt es also eine wohl begr\u00fcndete Mafsregel, wenn die Eisenbahn- und Marineverwaltungen an der Untersuchung des Farbenunterscheidungsverm\u00f6gens festhalten und die Farbenunt\u00fcchtigen ausschliefsen.\nIch habe oben schon erw\u00e4hnt, dafs die preufsisch - hessische Eisenbahn Verwaltung neuerdings im Prinzip als farbenunt\u00fcchtig alle Dichromaten und alle anomalen Trichromaten rechnet. In Praxi wird danach entschieden, ob der Untersuchte, nach einem von mir angegebenen Verfahren (s. u.) gepr\u00fcft, ein bestimmtes Mindestmafs von Leistungen des Farbenunterscheidungsverm\u00f6gens erreicht oder nicht.\nMit der Bestimmung, dafs die anomalen Trichromaten zu den Farbenunt\u00fcchtigen zu rechnen seien, ist etwas wesentlich neues nicht eingef\u00fchrt, da bisher keineswegs nur die im strengen Sinne \u201efarbenblinden\u201c d. h. die Dichromaten allein eliminiert wurden, sondern diejenigen, die die vom Bahnarzt angewandte Pr\u00fcfung nicht bestanden.\nDiese Pr\u00fcfung sollte in Preufsen bis jetzt bestimmungsgem\u00e4fs nach der Wollprobe erfolgen1, in anderen Bundesstaaten war\n1 Bas von dem bisherigen Reglement vorgeschriebene Verfahren ist nicht das HoLMGRENsche, da angegeben wird, es solle zuerst die Rosaprobe und danach erst die Gr\u00fcnprobe angewandt werden. Die Reihenfolge ist von nicht sehr grofsem Belang, wenn man streng daran festh\u00e4lt, unter allen Umst\u00e4nden immer beide Proben zu machen. Wenn man es dagegen nach etwaigem Bestehen der Rosaprobe hierbei bewenden l\u00e4fst und den Mann daraufhin f\u00fcr farbent\u00fcchtig erkl\u00e4rt, so verliert die Probe fast jeden Wert, denn unter Personen, die sich M\u00fche geben (wie es bei den Eisen-","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nW. A. Nagel.\nbzw. ist es dem Belieben des Bahnarztes \u00fcberlassen, welches Untersuehungsverfahren er anwenden will. So ist es z. B. noch in Baden. Da nun ein nicht unbetr\u00e4chtlicher Bruchteil der anomalen Trichromaten bei der Wollprobe Fehler macht oder zum mindesten unsicher und langsam w\u00e4hlt, sind diese sicherlich von vielen Bahn\u00e4rzten als untauglich f\u00fcr den Bahndienst erkl\u00e4rt worden. Das bisherige Reglement gab den Bahn\u00e4rzten gar keine n\u00e4heren Bestimmungen dar\u00fcber, welcher Grad von Farbensinnsst\u00f6rung zur Entscheidung \u201euntauglich\u201c vorliegen m\u00fcsse. Insbesondere war nicht gesagt, dafs der Begriff der wegen Farbensinnsst\u00f6rung Untauglichen sich mit dem Begriff der \u201eFarbenblinden\u201c (Dichromaten) decke. Das war in gewisser Hinsicht zweckm\u00e4fsig, denn es ist in manchen F\u00e4llen nicht ganz leicht, mittels der Wollprobe sicher festzustellen, ob dichro-matisches oder anomales trichromatisches System vorliegt. Zweifelsohne haben die verschiedenen Bahn\u00e4rzte sehr verschieden geurteilt: die einen m\u00f6gen die typischen Verwechslungen eines Dichromaten, wie sie Holmgeen beschrieb, als Voraussetzung f\u00fcr den Entscheid \u201euntauglich\u201c betrachtet habe, andere w\u00fcrden schon jeden abgewiesen haben, der nur bei der Gr\u00fcnprobe Fehler machte (also nach Holmgeen \u201eunvollst\u00e4ndig farbenblind\u201c war), manche endlich m\u00f6gen ein z\u00f6gerndes, unsicheres Verhalten bei der Wollprobe als hinreichend verd\u00e4chtig betrachtet haben. Sind solche Differenzen in der Beurteilung auch nicht tragisch zu nehmen und jedenfalls lange nicht so schlimm wie die nicht seltenen F\u00e4lle, in denen Farbenblinde als farbent\u00fcchtig bezeichnet wurden, so war es doch immerhin w\u00fcnschenswert, dafs einem solchen unsicheren Zustande ein Ende gemacht wurde.\nUng\u00fcnstig war bei der bisherigen Sachlage auch folgender Umstand. Das Reglement der Eisenbahnen spricht von der Ausschaltung der Personen mit \u201emangelhaftem Farbenunterscheidungsverm\u00f6gen\u201c, ohne wie gesagt diesen Begriff n\u00e4her zu bestimmen. An anderen Stellen verwendet die Eisenbahn in-\nbahnangestellten meistens der Fall sein wird), wird man bei diesem Vorgehen gut 90% der Farbenblinden, namentlich der Gr\u00fcnblinden, durchschl\u00fcpfen lassen.\nDie Modifikation des HoLMORENSchen Verfahrens, die man in Deutschland, in der Hauptsache wohl dem Vorschl\u00e4ge von Daae und Cohn folgend, eingef\u00fchrt hat, war also keine gl\u00fcckliche.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und. Diagnostik etc. 249\ndessen den Ausdruck \u201efarbenblind\u201c als Bezeichnung f\u00fcr die Personen mit mangelhaftem Farbensinn. So wurden bisher diese in einem auf die Personalakten aufgeklebten Zettel oder in einer auff\u00e4llig angebrachten Aufschrift als \u201efarbenblind\u201c gekennzeichnet (wenigstens bei einem Teil der Direktionen). Auch konnte der Bahnarzt den Untersuchten f\u00fcr \u201efarbenblind\u201c erkl\u00e4ren. Geriet nun ein zu Untersuchender zu einem Arzt, der den Begriff' \u201eFarbenblindheit\u201c sehr weit fafste, oder aus Unkenntnis der Merkmale des typischen Dichromaten einen Farbenschwachen f\u00fcr \u201efarbenblind\u201c erkl\u00e4rte, so war die M\u00f6glichkeit zu einem Konflikt der Diagnosen gegeben, sobald der f\u00fcr farbenblind Erkl\u00e4rte sich bei diesem Urteil nicht beruhigte, sondern zu einem anderen Bahnarzt ging oder schliefslich zu einem Ophthalmologen. Letzterer, in der Wahl der Untersuchungsmethode nicht beschr\u00e4nkt, konnte eventuell leicht feststellen, dafs es sich nicht um wahre Farbenblindheit handelte. Nun hatte die Eisenbahnverwaltung sich widersprechende Gutachten, von denen das eine sagte : farbenblind, das andere : nicht farbenblind. Jeder der beiden Sachverst\u00e4ndigen hatte von seinem Standpunkte aus recht. Dafs derartige F\u00e4lle oft genug vorgekommen sind, weifs ich aus eigener Erfahrung.\nAllen diesen Schwierigkeiten wurde ein Ende bereitet, sobald die Eisenbahnverwaltung sich entschlofs, statt \u201efarbenblind\u201c den Ausdruck \u201efarbenunt\u00fcchtig\u201c zu setzen, und diesen Begriff in dem oben erw\u00e4hnten Sinn zu definieren. Dafs der ophthalmo-logische Spezialist, der den Begriff der Farbenblindheit kennt und die exakte Diagnose zu stellen vermag, sich die im Kreise der Bahn\u00e4rzte \u00fcblich gewordene Verallgemeinerung des Begriffs zu eigen machen und jeden irgendwie fehlerhaften Farbensinn als Farbenblindheit bezeichnen soll, ist nicht zu verlangen und nicht zu w\u00fcnschen. Wohl aber kann er die Unterscheidung zwischen \u201eFarbent\u00fcchtigen\u201c und \u201eFarbenunt\u00fcchtigen\u201c acceptieren, wenn der Begriff des \u201eFarbenunt\u00fcchtigen\u201c definiert wird als \u201eDichromaten -f- anomale Trichromaten\u201c.\nEs versteht sich von selbst, dafs unter dem Begriff \u201efarbenunt\u00fcchtig\u201c auch die F\u00e4lle von totaler Farbenblindheit und von erworbener aber station\u00e4r gewordener Farbensinnsst\u00f6rnng fallen. Von letzterem Fall wird weiter unten noch zu sprechen sein. Angeborene totale Farbenblindheit ist ja bekanntlich sehr selten und stets von solcher Amblyopie begleitet, dafs sie bei diesen Betrachtungen f\u00fcglich unber\u00fccksichtigt bleiben kann.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nW. A. Nagel.\n3. N\u00e4heres \u00fcber die Farhenuntiiehtigkeit der anomalen\nTriehromaten.\nSeit langem kennt man aufser den typischen Formen der Farbenblindheit noch andere Farbensinnsst\u00f6rungen, die sich nicht unter einen Typus der dichromatischen Systeme unterordnen lassen. Die von diesen Personen gemachten Farbenverwechslungen und Benennungsfehler stellen sich f\u00fcr den Normalen als geringergradig dar, als die Verwechslungen und Fehler der Dichromaten.\nMan hat in solchen F\u00e4llen meistens von \u201eschwachem Farbensinn\u201c oder \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c gesprochen. Holmgren stellte den typischen dichromatischen Systemen, die er als \u201evollst\u00e4ndige partielle Farbenblindheit\u201c bezeichnete, die unvollst\u00e4ndige Farbenblindheit gegen\u00fcber. Sie charakterisiert sich dadurch, dafs nur bei der Gr\u00fcnprobe, nicht aber bei der Rosaprobe Fehler gemacht werden.\nMan kann heute mit Bestimmtheit sagen, dafs diese Gruppe der \u201eunvollst\u00e4ndig Farbenblinden\u201c nichts in sich einheitliches darstellt, wenigstens dann nicht, wenn die Diagnose nur nach derWollprobe gestellt wird. Wie ich fr\u00fcher mitgeteilt habe und seitdem noch \u00f6fters zu best\u00e4tigen Gelegenheit hatte, bestehen viele Deuteranopen (Gr\u00fcnblinde) die Rosaprobe ohne Fehler, nur bei der Gr\u00fcnprobe machen sie (gutes Wollsortiment und richtiges Pr\u00fcfungsverfahren vorausgesetzt) stets Fehler. Ebenso aber verhalten sich sehr viele anomale Triehromaten. Die Gruppe der unvollst\u00e4ndig Farbenblinden setzt sich also aus einem Teil der Dichromaten und einem Teil der anomalen Triehromaten zusammen. Diese HoLMGRENsche Bezeichnung hat sich \u00fcbrigens bekanntlich nicht eingeb\u00fcrgert, w\u00e4hrend die Bezeichnung \u201eschwacher Farbensinn\u201c vielfach angewandt wird.\nIch bin nun, um es kurz zu sagen, \u00fcberzeugt, dafs nahezu alle die F\u00e4lle von angeborenen Farbensinnsst\u00f6rungen, die man neben der typischen Farbenblindheit beobachtet und als Farbenschw\u00e4che bezeichnet hat, nichts anderes als anomale Tri-chromaten waren. Es hat zwar meines Wissens niemand versucht, den Begriff des schwachen Farbensinns scharf zu umgrenzen, aber die Eigenschaften, die man ihm wohl im allgemeinen zuschreiben d\u00fcrfte, sind alle bei den anomalen Tri-chromaten zu finden, bald mehr bald weniger stark ausgebildet.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 251\nIch habe unter den vielen tausend Personen, deren Farbensinn ich untersucht habe, keinen einzigen Fall von ausgepr\u00e4gt schwachem Farbensinn gefunden, der nicht bei genauerer Untersuchung sich als anomaler trichromatischerFarbensinn erwiesen h\u00e4tte. Ich will nat\u00fcrlich nicht behaupten, dafs Farbenschw\u00e4che stets auf anomalem trichromatischem System beruhe, wohl aber gilt dies ganz bestimmt f\u00fcr die weit \u00fcberwiegende Mehrzahl aller F\u00e4lle. Umgekehrt kenne ich aber auch keinen anomalen Trichromaten, dessen Farbensinn nicht als schwach zu bezeichnen w\u00e4re.1\nAllerdings bestehen in dieser Hinsicht sehr bedeutende Unterschiede zwischen den einzelnen F\u00e4llen. Neben solchen Anomalen, bei denen eine Abnormit\u00e4t des Farbensinns im gew\u00f6hnlichen Leben und bei der Pr\u00fcfung mittels der bisher verbreitetsten Untersuchungsmethoden kaum auff\u00e4llt, findet man solche, die sich fast wie Dichromaten verhalten und oft nur sehr schwer von diesen zu unterscheiden sind.\nWas die anomalen Trichromaten am sch\u00e4rfsten charakterisiert, ist bekanntlich ihr Verhalten gegen\u00fcber der \u201eRayleigh-Gleichung\u201c (wie wir sie kurz nennen k\u00f6nnen), d. h. einer Gleichung zwischen einem homogenen Gelb (589 [ifi) und einer Mischung aus Rot und Gr\u00fcn (etwa 670 und 545 tlp)- Wenn ein normaler Trichromat die Mischung so herstellt, dafs sie dem reinen Gelb gleich aussieht, so ist diese Gleichung f\u00fcr die Anomalen nicht zutreffend; ein Teil von ihnen findet die Mischung gr\u00fcn (Rotanomale), der andere rot (Gr\u00fcnanomale); um eine Gleichung zu erhalten, mufs also der Rotanomale mehr Rot, der Gr\u00fcnanomale mehr Gr\u00fcn in die Mischung hineinnehmen als der Normale.\nMehr als diese Eigent\u00fcmlichkeit interessieren in diesem Zusammenh\u00e4nge gewisse andere Eigenschaften des Farbensinns der Anomalen, durch die sich dieser im t\u00e4glichen Leben und bei Anwendung eines der \u00fcblichen Pr\u00fcfungsverfahren als abnorm erweist.\nEine Zusammenstellung dieser Eigenschaften hat Dr. Gutt-mann im Jahre 1904 auf dem Giefsener Psychologenkongrefs mit-\n1 Den ersten Hinweis auf \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c der Anomalen gab Dondehs (Arch. f. Ophthalm. 27 u. BO, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1884), auf dessen Untersuchungen im zweiten Teil dieser Arbeit zur\u00fcckzukommen sein wird.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nW. A. Nagel.\ngeteilt. Herr G. ist selbst anomaler Trichromat und hat sich um die Kenntnis dieser Anomalie sehr verdient gemacht, indem er zun\u00e4chst als Versuchsperson mir wertvolle Dienste leistete, und dann auch mehrere Jahre hindurch selbst\u00e4ndige Untersuchungen ausf\u00fchrte, die zum Teil abgeschlossen sind, zum Teil noch weiter gef\u00fchrt werden sollen.\nIn dem erw\u00e4hnten Kongrefsbericht charakterisiert Guttmann die Anomalen folgendermafsen :\n\u201eDiese Personen zeigen bei systematischen Untersuchungen eine Reihe von eigent\u00fcmlichen, ihnen allen gemeinsamen Abweichungen vom Normalen :\n1.\tsie haben eine geringere Unterschiedsempfindlichkeit als die Normalen f\u00fcr Farbent\u00f6ne, die im Spektrum der Gegend des Na-Gelb entsprechen, eine etwas h\u00f6here Unterschiedsempfindlichkeit als die Normalen im Gr\u00fcn;\n2.\tsie sind abh\u00e4ngiger von der Intensit\u00e4t des farbigen Reizes, insofern als sie nur bei einem Optimum des Reizes sicher urteilen k\u00f6nnen;\n3.\tsie sind abh\u00e4ngiger von Helligkeitsdifferenzen, insofern als diese ihnen oft auff\u00e4lliger als Farbentondifferenzen sind;\n4.\tsie brauchen zum Erkennen von Farben erheblich gr\u00f6fsere Gesichtswinkel ;\n5.\tsie brauchen zum Erkennen von Farben erheblich l\u00e4ngere Zeit;\n6.\tsie erm\u00fcden farbigen Reizen gegen\u00fcber schneller;\n7.\tsie haben einen erheblich st\u00e4rkeren Simultankontrast als die Normalen.\u201c\nDie zahlenm\u00e4fsigen Belege gibt Herr Dr. Guttmann in einer demn\u00e4chst erscheinenden Abhandlung, auf die ich mich hier wohl beziehen kann, ohne die Zahlen selbst anzuf\u00fchren. Dagegen mufs ich noch etwas n\u00e4her auf einige der Punkte der obigen Aufz\u00e4hlung von Besonderheiten der Anomalen eingehen.\nMit Bezug auf die Herabsetzung der Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farbent\u00f6ne m\u00f6chte ich folgendes bemerken.\nWo \u201eschwacher Farbensinn\u201c vorliegt, hat man bisher wohl zumeist an herabgesetzte Unterschiedsempfindlichkeit gedacht. Lotze gibt in seiner Dissertation1 an, dafs die mittleren\n1 Freiburg i. Br. 1898.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 253\nSchwankungen seiner Einstellungen am Farbenmischapparat nicht gr\u00f6fser waren, als die der normaltrichromatischen Vergleichsperson. Ich habe bei Versuchen mit einigen Anomalen zun\u00e4chst den gleichen Eindruck gewonnen, doch zeigte sich bald, dafs ein Unterschied zu ungunsten des Anomalen doch da war, und nur darum nicht deutlich herauskam, weil in der Spektralregion, in der wir untersuchten (Gegend der Natriumlinie) die Ablesungsgenauigkeit unseres Farbenmischapparates nicht ausreichte. Herr Dr. Guttmann vermochte bei sich selbst eine Herabsetzung der Unterschiedsempfindlichkeit in der Region das Gelb bestimmt festzustellen. Die nicht sehr bedeutende Erh\u00f6hung der Unterschiedsempfindlichkeit in der Gegend des Blaugr\u00fcn (um 500), von der G. spricht, d\u00fcrfte keine allgemein bei Anomalen anzutreffende Erscheinung sein.\nBei einer grofsen Zahl von anderen Anomalen findet man \u00fcbrigens die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farbent\u00f6ne in weit h\u00f6herem Mafse herabgesetzt als bei Herrn Guttmann, namentlich in der Region des Gr\u00fcngelb. Das Licht der Natriumflamme (X == 589) erscheint den Anomalen noch deutlich orange1, das Gelb ohne Ann\u00e4herung an Orange oder Gr\u00fcn liegt erst bei etwa 570. In der Spektralregion von 570 bis 540 UF findet man nun zuweilen die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farbent\u00f6ne ganz bedeutend reduziert, ja bei manchen Beobachtern erscheint sie mitunter fast auf Null reduziert, d. h. diese Personen k\u00f6nnen Gleichungen zwischen Lichtern von 570 und 540 erhalten. Sie nennen dann beide Farben gelb oder weifs, gelegentlich aber auch gr\u00fcn. Auf derartige F\u00e4lle komme ich unten noch zur\u00fcck. In anderen F\u00e4llen kann man im Gegensatz zu den eben erw\u00e4hnten den Punkt des reinen Gelb und die Umschlagsstellen gegen r\u00f6tlich und gr\u00fcnlich recht scharf feststellen. Bei diesen Personen l\u00e4fst sich nat\u00fcrlich auch die \u201eRAYLEioH-Gleichung\u201c (s. o. S. 251) recht genau einstellen, w\u00e4hrend sie bei der vorher erw\u00e4hnten Gruppe von Anomalen (speziell sind es Gr\u00fcnanomale) nicht so leicht einzustellen ist. Diese Personen sehen es sofort, wenn in der Mischung zu viel Rot ist. Sie erkl\u00e4ren z. B. die\n1 Bekanntlich trifft das auch f\u00fcr viele normale Trichromaten zu, w\u00e4hrend andere das reine, weder gr\u00fcnliche noch r\u00f6tliche Gelb gerade in die Gegend der Natriumlinie verlegen. Die Anomalen nennen aber ein k\u00fcrzerwelliges Licht rein gelb, das alle Normalen schon deutlich gr\u00fcnlich nennen.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nW. A. Nagel.\nf\u00fcr den Normalen g\u00fcltige Gleichung f\u00fcr ganz ung\u00fcltig, das Gemisch ist f\u00fcr sie viel zu rot. Wenn man dann ganz allm\u00e4hlich in kleinen Schritten den Rotanteil vermindert, den Griinanteii entsprechend erh\u00f6ht, so findet man eine Grenze, wo das Gemisch nicht mehr zu rot, sondern dem homogenen Vergleichslicht farbengleich ist. Nun kann man aber (im Gegensatz zu der h\u00e4ufigeren Form der Gr\u00fcnanomalen) bei dieser Gruppe von Gr\u00fcnanomalen noch sehr viel mehr Gr\u00fcn zumischen, ja bei gewissen extremen Formen geradezu das Gr\u00fcn (540) rein neben das gelbe Vergleichslicht stellen, ohne dafs damit f\u00fcr diese Personen Ungleichung auftritt. Man mufs nur meistens die Helligkeitsverh\u00e4ltnisse etwas regulieren.\nPersonen dieser Art, die ich mangels einer pr\u00e4ziseren Bezeichnung zun\u00e4chst die \u201eextremen Gr\u00fcnanomalen\u201c nennen will, kann man bei fl\u00fcchtiger Untersuchung am Spektralapparat leicht f\u00fcr Dichromaten halten, speziell f\u00fcr Deuteranopen. Bei der Pr\u00fcfung mit den \u00fcblichen praktischen Proben (Holmgren, Stilling, Florkontrastproben) erscheinen sie sogar als typisch gr\u00fcnblind. Bei der Pr\u00fcfung mit meinem Farbengleichungsapparate oder meinen Tafeln zeigen sie zwar auch die schwere Anomalie, aber auch die wesentliche Abweichung von den Dichromaten, indem sie nur die Gr\u00fcn-Grau- und Gr\u00fcn-Braun Verwechslungen machen, aber niemals Rosa-Grau- oder Rosa-Gr\u00fcnverwechslungen. Auch am Spektralfarbenmischapparat erkennt man die grofse Abweichung von den Dichromaten sogleich an der Unm\u00f6glichkeit, Gleichungen zwischen Rot und Gelb, oder Purpur und Blaugr\u00fcn zu erhalten.\nGanz analoge F\u00e4lle gibt es \u00fcbrigens auch unter den Rotanomalen. Sie imponieren bei Pr\u00fcfung nach Holmgren, Stilling etc. als Protanopen, und es kann sehr schwer werden, sie von diesen zu unterscheiden, da sie auch am Spektralapparat zwischen Rot und Gelb nahezu eine Gleichung erhalten, wenn das richtige Helligkeitsverh\u00e4ltnis gew\u00e4hlt wird. Sie legen bei Einstellung einer Gleichung gerade so wie die Dichromaten viel mehr Gewicht auf Helligkeitsdifferenzen, als auf Wellenl\u00e4ngenunterschiede. Namentlich wenn man solche \u201eextreme Rot anomale\u201c etwas lange (einige Sekunden) in das Okular des Farbenmischapparates blicken l\u00e4fst, verschwinden ihnen die Differenzen des Farbentons und sie erkl\u00e4ren nun, eine befriedigende Gleichung vor sich zu haben. Nach einigem Ausruhen \u00e4ufsern sie dann,","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 255\ndas eine der beiden Felder scheine \u201edoch etwas r\u00f6ter\u201c zu sein {das wirklich rote).\nIch kenne bis jetzt nur f\u00fcnf solche \u201eextreme Rotanomale\u201c und habe \u00fcber ihr Verhalten noch nicht die w\u00fcnschenswerte Erfahrung. Nicht recht erkl\u00e4rlich ist, dafs sie, die nach allen \u00fcblichen Pr\u00fcfungsverfahren und auch am Spektralapparat leicht f\u00fcr Dichromaten gehalten werden k\u00f6nnen, bei Untersuchung mit meinen Farbentafeln sich mit Leichtigkeit von diesen unterscheiden lassen und sich als Anomale dokumentieren.\nDie einzigen Fehldiagnosen, die mir meines Wissens bei Untersuchungen mit meinem Farben apparat passiert sind, betrafen solche Rotanom aie; ich hatte sie (in zwTei F\u00e4llen) als Protanopen diagnostiziert, ein Irrtum, der nat\u00fcrlich praktisch ganz bedeutungslos ist, da niemand daran zweifeln kann, dafs die Rotanomalen \u201efarbenunt\u00fcchtig\u201c sind. Ich halte es f\u00fcr sicher, dafs in fr\u00fcheren Statistiken viele Personen als Rotblinde (Protanopen) registriert worden sind, die in Wirklichkeit Rotanomale waren. Ebenso werden manche \u201eextreme Gr\u00fcnanomale\u201c selbst von sorgf\u00e4ltigen Untersuchern f\u00fcr Gr\u00fcnblinde gehalten worden sein. Die Entscheidung kann immer erst der Spektralfarben-Mischapparat geben.\nDie hier besprochene herabgesetzte Unterschiedsempfindlichkeit in der Gr\u00fcn-Graureihe und in der Gr\u00fcn-Braunreihe ist eine der beiden charakteristischen Eigenschaften der Anomalen, die ich bei der Konstruktion meiner Farbentafeln zur Diagnose der Anomalen verwende (s. u.).\nWeitere charakteristische Eigenschaften der anomalen Trichro-maten liegen in der betr\u00e4chtlichen Abh\u00e4ngigkeit von der Intensit\u00e4t der fertigen Reizlichter und dem Gesichtswinkel, unter den diese erscheinen. Schwach beleuchteten farbigen Objekten gegen\u00fcber versagt ihr Farbenunterscheidungsverm\u00f6gen in auffallenderer Weise als dies bei Normalen geschieht. Dabei ist zu bedenken, dafs die F\u00e4higkeit der Dunkeladaptation bei den Anomalen keineswegs weniger entwickelt ist*, als beim Normalen. Selbstverst\u00e4ndlich ist es, dafs Rotanomale mit ihrer Unterempfindlichkeit f\u00fcr langwellige Strahlen rote Lichter bei einer Intensit\u00e4t schon nicht mehr sehen, bei der sie f\u00fcr den Normalen und den Gr\u00fcnanomalen noch deutlich sichtbar sind. Sie verhalten sich hier ganz wie die Protanopen. L\u00e4fst man sie ein objektiv dargestelltes\n1 Vergl. H. Piper, \u00dcber Dunkeladaptation. Diese Zeitschrift 31, 196 ff.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 41.\t17","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nW. A. Nagel\nSpektrum betrachten und das Ende des Spektrums markieren,, so zeigt sich, dafs sie ein betr\u00e4chtliches St\u00fcck vom \u00e4ufsersten Rot schon nicht mehr sehen.\nPraktisch wesentlich wichtiger ist die Tatsache, dafs unter sonst gleichen Umst\u00e4nden die Anomalen ein farbiges Objekt unter gr\u00f6fserem Gesichtswinkel betrachten m\u00fcssen, wenn sie die Farben erkennen sollen (Dondebs).\nSie haben daher alle die Gewohnheit, Gegenst\u00e4nde, deren* Farben sie. erkennen wollen, wom\u00f6glich aus geringer Entfernung zu betrachten, so dafs man sie f\u00fcr Kurzsichtige halten k\u00f6nnte,, auch wenn sie es nicht sind. Insbesondere bei der Pr\u00fcfung mittels meiner Farbentafeln ist dies Verhalten stets zu bemerken und geradezu diagnostisch wichtig, wenn man schon vorher weifs, dafs der Untersuchte nicht kurzsichtig oder amblyopisch ist, bzw.. wenn eine etwaige Refraktionsanomalie korrigiert ist. Statt, wie es verlangt wird, aufrecht vor dem Tisch zu stehen, auf dem die Farbentafeln liegen, beugt sich der Anomale gern tief herab oder w\u00fcnscht die T\u00e4felchen in die Hand zu nehmen. Auch bei der Wollprobe ist es sehr verd\u00e4chtig, wenn der Untersuchte die einzelnen Wollb\u00fcndel nahe ans Gesicht bringt (auf ca. 25 bis 30 cm) und sich dann erst entscheidet ob das betreffende B\u00fcndel mit dem vorgelegten Probeb\u00fcndel gleichfarbig ist. Solche-Leute sind fast stets Dichromaten oder Anomale.\nAn sehr kleinen Objekten k\u00f6nnen selbst sehr ges\u00e4ttigte Farben f\u00fcr den Anomalen unerkennbar bleiben, unter Bedingungen, wo sie der Normale leicht erkennt. Wenn man beispielsweise mit farbiger Tinte oder Tusche Punkte von 1/2 mm Durchmesser auf Papier zeichnet und aus 30\u201440 cm Abstand betrachten l\u00e4fst,. erkennt man an dieser Probe die bedeutende \u00dcberlegenheit des Normalen recht deutlich.\nEin treffendes Beispiel f\u00fchrt Guttmann an (1. c.) : die Schwierigkeit gef\u00e4rbte Bazillen zu erkennen. Dar\u00fcber habe ich von manchen Anomalen klagen geh\u00f6rt.\nIn speziell zu diesem Zwecke unternommenen Versuchsreihen; hat auf meine Veranlassung Feilchenfeld (1. c.) die \u00dcberlegenheit der normalen Trichromaten \u00fcber die anomalen im Erkennern der Farben von Laternenlichtern nachgewiesen. Absichtlich wurden dabei nur ges\u00e4ttigt farbige Lichter verwendet, entsprechend den im Signaldienst der Eisenbahn ben\u00fctzten Lichtsignalen. Die Versuche w\u00e4ren noch bedeutender Vervollkommnung f\u00e4hig und","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 257\nich zweifle nicht, dafs sich dann der Unterschied zwischen normalen und anomalen Triehromaten sogar noch gr\u00f6fser heraussteilen w\u00fcrde.\nIch habe mit einigen Anomalen und Dichromaten \u00e4hnliche Versuche wie Feilchenfeld angestellt, und dabei gefunden, dafs selbst solche Anomale, die keineswegs zu den \u201eextremen\u201c geh\u00f6ren, in der Unterscheidung gr\u00fcner und \u201efarbloser\u201c Laternenlichter unter einem Gesichtswinkel von 3/io\u00b0\tweniger fast\ngenau so unsicher sind, wie typische Dichromaten. Namentlich wenn man isoliert entweder nur gr\u00fcn, oder nur weifs (bzw. gelb) zeigt, sind sie fast ganz aufs Raten angewiesen.\nEine h\u00e4ufige Klage der Anomalen ist die, dafs sie die farbigen Erkennungszeichen der einzelnen Strafsenbahn- und Omnibuslinien nur schwer, und nicht auf so grofse Entfernungen unterscheiden k\u00f6nnen, wie Normale mit \u00e4hnlicher Sehsch\u00e4rfe.\nEs liegt auf der Hand, dafs dieser Punkt, die Abh\u00e4ngigkeit von der Winkelgr\u00f6fse des Objektes, von besonders grofser praktischer Wichtigkeit ist. Die Eisenbahnbediensteten sowohl wie die Seeleute sehen die farbigen Objekte, die zu Signalen dienen, eigentlich ausnahmslos unter sehr kleinen Gesichtswinkeln. Dazu kommt, dafs die Lichtst\u00e4rke und S\u00e4ttigung der Signale in nicht wenigen F\u00e4llen gering ist, die Lichtst\u00e4rke meistens weit unter der f\u00fcr die Farbenerkennung optimalen Gr\u00f6fse, zumal wenn ber\u00e4ucherte, bestaubte oder mit Wassertr\u00f6pfchen beschlagene Gl\u00e4ser die Laternen verdunkeln. Es ist dies einer der beiden wesentlichsten Gr\u00fcnde, aus denen meines Erachtens die Anomalen als farbenunt\u00fcchtig bezeichnet werden m\u00fcssen. Man m\u00f6ge sich nicht dadurch t\u00e4uschen lassen, dafs die Anomalen an einigermafsen grofsen Objekten, wie es schon die HoLMGKExschen Wollb\u00fcndel, aus */2 m Abstand betrachtet, sind, oft fehlerlos w\u00e4hlen. Unter einem 4\u20145 mal kleineren Gesichtswinkel betrachtet, bleiben die Objekte f\u00fcr den Normalen noch immer fast ebenso sicher unterscheidbar, f\u00fcr den Anomalen nimmt unter gleichen Umst\u00e4nden die Unterscheidungsm\u00f6glichkeit ganz bedeutend ab.\nDer zweite wesentlichste Punkt, in dem die Ungeeignetheit der Anomalen f\u00fcr den Eisenbahn- und Marinedienst deutlich zutage tritt, liegt in den zeitlichen Verh\u00e4ltnissen der Farbenunterscheidung. Die Feststellung der Tatsache, dafs die Anomalen\neine wesentlich l\u00e4ngere Zeit ben\u00f6tigen, um Farbenunterscheidungen\n17*","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nW. A. Nagel\n(und speziell die f\u00fcr den Signaldienst wichtigen) zu machen, verdanken wir Herrn Dr. Guttmann.\nDa diese Eigent\u00fcmlichkeit der Anomalen, wie ich glaube, in engem Zusammenhang mit der Tatsache steht, dafs die Anomalen die STiLLiNGschen Farbentafeln nicht entziffern k\u00f6nnen und sie diese an und f\u00fcr sich auffallende Tatsache wenigstens bis zu einem gewissen Grade erkl\u00e4rlich macht, m\u00f6chte ich schon hier kurz auf diese Tafeln eingeh en.\nEs war mir seit geraumer Zeit ein anziehendes Problem, welche Bedingungen in der Beschaffenheit des Licht- und Farbensinnes erf\u00fcllt sein m\u00fcssen, damit die F\u00e4higkeit resultiert, die STiLLiNGschen pseudoisochromatischen Tafeln zu entziffern. Dieses fein ersonnene und mit unerm\u00fcdlichem Bem\u00fchen in immer wdeder modifizierter Form hergestellte Untersuchungsmittel gibt mehr R\u00e4tsel auf, als sein Autor sich wohl gedacht hat, und, irre ich nicht, auch jetzt noch zugeben m\u00f6chte. Es kann ja keinem Zweifel mehr unterliegen, dafs Unf\u00e4higkeit, die STiLLiNGschen Tafeln (d. h. eine gr\u00f6fsere Zahl von Tafeln einer Ausgabe) zu entziffern, keineswegs das Vorhandensein von Farbenblindheit bedeutet.\nEs ist recht schade, dafs Stilling dies offenbar noch nicht anerkennt, sondern denjenigen, der seine Tafeln nicht lesen kann, farbenblind nennt, ohne R\u00fccksicht auf dessen Verhalten in anderer Hinsicht.\nSo grofs sonst die Meinungsverschiedenheiten \u00fcber das Wesen der Farbenblindheit und ihre zweckm\u00e4fsige Klassifizierung sind, so besteht doch dar\u00fcber eine fast allgemeine \u00dcbereinstimmung, dafs der Begriff \u201epartielle Farbenblindheit\u201c mit dem bezeichnenderen \u201edichromatisehen Farbensinn\u201c inhaltlich \u00fcbereinstimmt. Das erkennen sowohl die Vertreter der Dreikomponentenlehre wie die der Gegenfarbenlehre in ihren verschiedenen Abarten an, und Stilling steht also isoliert, wenn er dem Begriff \u201eFarbenblindheit\u201c ausdr\u00fccklich eine allgemeinere Deutung unterlegt.\nAufser den wirklichen Dichromaten findet man noch etwa die gleiche (eher etwas gr\u00f6fsere) Zahl von Personen, die von den STiLLiNGschen Tafeln ebenso wenige lesen k\u00f6nnen, wie die Dichromaten, aber keine solche sind. Die Mehrzahl von ihnen besteht die HoLMG\u00dfENsche Probe ohne .wesentliche Fehler, wenn auch meist mit Z\u00f6gern. Ein kleinerer Teil macht bei der Woll-","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 259\nprobe (namentlich der Gr\u00fcnprobe) bedenkliche Fehler, etliche verhalten sich sogar typisch wie Dichromaten. Am Farbenmischapparat mittels der RAYLEi&H-Gleichung untersucht ergeben sie sich allesamt als anomale Trichromaten.\nDiese Leute k\u00f6nnen von den STiLLiNGsehen Tafeln der letzten\n(10.) Auflage in der Regel nur die erste und die letzte entziffern.\nL\u00e4fst man ihnen sehr viel Zeit und Ruhe, und gibt ihnen die\nTafeln in die Hand, so entziffern sie h\u00e4ufig noch eine ganze\nAnzahl weiterer Tafeln, indem sie m\u00fchsam die farbigen Punkte\n\u201ezusammensuchen\u201c, die die Ziffern bilden. Diese F\u00e4higkeit kann \u2022 \u2022 _\ndurch \u00dcbung sehr bedeutend gesteigert werden.\nAufser den Dichromaten und anomalen Trichromaten gibt es nun aber noch eine Gruppe von Personen, die wenigstens einen Teil der Tafeln nur mit M\u00fche, einzelne gar nicht lesen k\u00f6nnen. Sie sind, wie sich bei genauerer Pr\u00fcfung herausstellt, normale Trichromaten.\nDas Hauptinteresse konzentriert sich auf die Frage, warum die eigentlichen Anomalen die S tillin g s ch e Tafeln nicht lesen. Lotze deutet in seiner oben erw\u00e4hnten Dissertation eine auch von mir eine Zeitlang erwogene Deutungsm\u00f6glichkeit an, die n\u00e4mlich, dafs die im Druck der Tafeln verwendeten Farben so gemischt seien, dafs Ziffern und Grund wohl f\u00fcr den Normalen sich scharf voneinander abheben, nicht aber f\u00fcr den Anomalen, f\u00fcr dessen abweichendes Farbensystem das Aussehen der Mischung ein anderes ist. Danach w\u00e4re es m\u00f6glich, mit anders gemischten Pigmentfarben Tafeln nach Stillings Prinzip zu malen, die f\u00fcr den Anomalen leicht, f\u00fcr den Normalen schwer oder gar nicht zu entziffern w\u00e4ren.\nDiese Auffassung ist indessen nicht zutreffend. Die Differenzen in der Farbenmischung, die bestenfalls erzielt werden k\u00f6nnten, w\u00fcrden entfernt nicht ausreichen, um die Wirkung hervorzubringen, die man tats\u00e4chlich beobachtet. Ich w\u00fcrde jeden Versuch, Tafeln in Farbendruck herzustellen, die f\u00fcr den Anomalen lesbar, f\u00fcr den Normalen nicht lesbar sind, f\u00fcr g\u00e4nzlich aussichtslos halten.\nTheoretisch denkbar w\u00e4re es nat\u00fcrlich, mit spektralen Lichtern eine Tafel nach SriLLiNGSchem Prinzip herzustellen, die nur f\u00fcr den Anomalen lesbar w\u00e4re ; die Flecken, die den Grund der Tafel bilden, k\u00f6nnten z. B. in reinem homogenen Natriumgelb leuchten, zwischen ihnen eine Figur aus Flecken, die in einem Mischlicht leuchten, aus Rot und Gr\u00fcn so gemischt,","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nW. A. Nagel.\ndafs f\u00fcr den Normalen reines Gelb resultierte. Der Anomale w\u00fcrde die Figur orange auf gelbem Grunde sehen.\nDafs die herabgesetzte Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farbent\u00f6ne die Unlesbarkeit der Tafeln f\u00fcr die Anomalen bedinge, ist ebenfalls ausgeschlossen, denn bei vielen Anomalen ist diese Herabsetzung nicht bedeutend und aufserdem handelt es sich bei den Tafeln meistens um Nebeneinanderstellung von Farben, die im Spektrum weit auseinander liegen.\nIch halte es hiernach f\u00fcr das wahrscheinlichste, dafs die Unf\u00e4higkeit der meisten Anomalen, die STiLLiNGschen Tafeln zu lesen, auf ihrer Eigent\u00fcmlichkeit beruht, bedeutend l\u00e4ngere Zeiten zu brauchen, um den vollen charakteristischen Eindruck einer Farbe zu erhalten. Sie finden die farbigen Punkte, aus denen sich die Ziffern zusammensetzen, wohl heraus, und k\u00f6nnen deshalb die Zahlen m\u00fchsam lesen, wenn sie mit dem Finger oder einem Stift den Z\u00fcgen der Figuren folgen d\u00fcrfen. Halten sie aber die Tafel in der Hand und folgen nur mit dem Blick den farbigen Punkten, so entwickelt sich die charakterische von den Farben des Grundes verschiedener Farbe f\u00fcr sie zu langsam, als dafs sich die einzelnen Farbflecke zu einer erkennbaren Figur Zusammenschl\u00fcssen.\nL\u00e4fst man den Anomalen aber die Tafeln aus mehreren Metern Abstand betrachten, wobei sie mit einem Blick die ganze Figur erfassen k\u00f6nnten, so tritt das andere oben erw\u00e4hnte Moment hindernd in den Weg, die zu geringe Gr\u00f6fse des Gesichtswinkels. Auf den diagnostischen Wert der Stilling sehen Tafeln komme ich im Abschnitt 4 wieder zur\u00fcck.\nGuttmann hat in einer n\u00e4chstens zu ver\u00f6ffentlichenden Arbeit in sorgf\u00e4ltigen Versuchsreihen zahlenm\u00e4fsig nachgewiesen, dafs die Erkennungszeit f\u00fcr Farben bei den Anomalen betr\u00e4chtlich erh\u00f6ht ist, und konnte k\u00fcrzlich vor einer gr\u00f6fseren Zahl von normalen und anomalen Trichromaten, sowie von Dichromaten zeigen, dafs unter dem Gesichtswinkel von mehreren Graden kurz aufblitzende Farbenfelder von den Anomalen ebenso unsicher erkannt werden, wie von Dichromaten. Diese wie jene erkennen wohl, ob es eine kalte\u201c oder ..warme\u201c Farbe ist, k\u00f6nnen aber innerhalb jeder dieser Gruppen keine sicheren Unterschiede machen. Blaugr\u00fcn und reines Gr\u00fcn ist f\u00fcr sie unter diesen Umst\u00e4nden \u00fcberhaupt farblos.\nDie verl\u00e4ngerte Erkennungszeit f\u00fcr Farben halte ich f\u00fcr ein","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 261\nganz besonders wichtiges Symptom der anomalen Systeme, wichtig vor allen Dingen in praktischer Beziehung, insofern sie f\u00fcr die Untauglichkeit der Anomalen zum Eisenbahn- und Marine-Rienst besonders schwer ins Gewicht f\u00e4llt. In beiden Berufsarten kann man sich h\u00e4ufig vorkommende F\u00e4lle denken, wo eine blitzschnelle richtige Erkennung der Farbe und daraus folgendes Handeln vonn\u00f6ten ist.\nPraktisch minder wichtig und auch noch nicht gen\u00fcgend genau untersucht ist die gr\u00f6fsere Erm\u00fcdbarkeit des Farbensinns der Anomalen. Sie macht sich bei wissenschaftlichen Untersuchungen am Spektralapparat recht st\u00f6rend geltend, und bewirkt fehlerhafte Versuchsergebnisse, wTenn man nicht die Dauer der Einzelbeobachtung auf ein passendes geringes Mafs (etwa 2\u20145 Sek.) einschr\u00e4nkt.\nBedeutungsvoller wiederum ist die Eigent\u00fcmlichkeit der Anomalen, dafs gewisse Erscheinungen des simultanen Farbenkontrastes wesentlich verst\u00e4rkt auftreten, was ich schon in verschiedenen fr\u00fcheren Publikationen kurz erw\u00e4hnt habe. Soweit ich bis jetzt gesehen habe, \u00e4ufsert sich diese Eigent\u00fcmlichkeit sowmhl bei den Rot- wie den Gr\u00fcnanomalen nur dann, wenn Rot oder Gr\u00fcn kontrasterregende Farben sind, nicht aber bei Blau oder Violett. Sehr auff\u00e4llig zeigt sich die Kontraststeigerung am Farbenkreisel, wo der Anomale, wenn die \u00e4ufsere Scheibe rot ist, die innere, aus einer Schwarz-Gelb-Mischung bestehende gr\u00fcn sieht, ja selbst noch dann, wenn die innere Scheibe durch Rotbeimischung f\u00fcr den Normalen deutlich orange ist. Besonders interessant war es mir, zu erproben, wie sich anomale Trichromaten, die bisher im Eisenbahndienst standen, verhalten, wenn man ihnen auf schwarzem Grunde (im Dunkelzimmer) eine Reihe feiner farbiger Lichtpunkte zeigt, die unter \u00e4hnlichem Gesichtswinkel erscheinen, wie die Laternen im Eisenbahndienst. Es zeigte sich erstens, dafs sie ein deutliches Gr\u00fcn nicht selten weifs oder gelb nannten, andererseits aber ein Gelb (Lampenlicht) gr\u00fcn nannten, wenn es rechts und links in nicht zu grofser Entfernung von roten Lichtern flankiert war.\nDie praktische Bedeutung dieses Befundes leuchtet ein. Die theoretische Bedeutung ist dagegen noch recht unklar, und ich m\u00f6chte, ehe genauere Ermittelungen vorliegen, auf diese Frage nicht weiter eingehen. Erinnert m\u00f6ge noch daran werden, dafs Collin und ich bei Untersuchung eines Patienten, dessen eine","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nW. A. Nagel.\nFovea auf Grund eines pathologischen Prozesses vor\u00fcbergehend tritanopisch (violettblind) geworden war, w\u00e4hrend des Heilungsverlaufs einen Zustand fanden, in dem das kranke Auge ebenfalls gesteigerten Farbenkontrast sah, jedoch nur am violetten Ende des Spektrums: blau neben blauviolett sah gr\u00fcn aus. Da der Patient in diesem Stadium der Erkrankung zur Mischung eines Blau aus Blaugr\u00fcn und Violett deutlich mehr Violett brauchte, als ein Gesunder und auch als er selbst bei Beobachtung mit seinem gesunden Auge, liegt es nahe an die theoretisch zu erwartende dritte Art eines anomalen trichromatischen Systems (violettanomal) zu denken. M\u00f6glicherweise hat M. Knies1 unter seinen von ihm sogenannten \u201eViolettblinden\u201c einige solche Violettanomale vor sich gehabt, bei denen allerdings die Anomalie angeboren sein m\u00fcfste.\n4. Kritisches zur Diagnostik.\nWie schon in der Einleitung erw\u00e4hnt wurde, folgte aus der Einbeziehung der anomalen Trichromaten in den Begriff \u201efarbenunt\u00fcchtig\u201c die Notwendigkeit eine Methode zu finden, die gestattet, die Anomalen ebenso leicht und sicher zu diagnostizieren wie die Dichromaten. Dafs die bisherigen Methoden dazu wenig geeignet sein konnten, lag auf der Hand; teils wufste man fr\u00fcher von den Anomalen \u00fcberhaupt nichts, teils hielt man sie f\u00fcr eine interessante, aber im Eisenbahndienst ungef\u00e4hrliche, daher praktisch unwichtige Spielart des normalen Trichromaten. Donders, der die Minderwertigkeit ihres Farbensinns klar erkannte, interessierte sich weniger f\u00fcr die praktische Diagnostik. Holmgren, dessen Interesse gerade in der Diagnostik gipfelte, kannte das wahre Wesen des anomal trichromatischen Farbensinns noch nicht. Er stellte zwar bei seinen umfassenden Versuchen an grofsem Material eine zwischen dem Farbenblinden und dem F\u00e4rb en t\u00fcchtigen stehende Gruppe der \u201eunvollst\u00e4ndig Farbenblinden\u201c fest, aber diese umfafste wohl kaum alle Anomalen, dagegen die Mehrzahl der Anomalen plus einem Teil der Dichromaten, vor allem der Deuteranopen (Gr\u00fcnblinden).\nGewifs kann ein auf dem Gebiete der Farbensinnsst\u00f6rungen wohl erfahrener Untersucher mittels eines guten Wollsortiments nach Holmgren (nur die aus Upsala bezogenen kommen m. E.\n1 Archiv f. Augenheilk. 37, 234.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagriostik etc. 263\nhierf\u00fcr in Betracht) alle Farbeiran t\u00fcchtigen, d. h. sowohl Dichromaten wie anomale Trichromaten hinreichend sicher von den Normalen sondern. Aber es geh\u00f6rt dazu viel Zeit und ein reiches Mafs von Erfahrung. Ich f\u00fcr meine Person w\u00fcrde mich nicht getrauen, auf diese Weise zu untersuchen. Die meisten Farbenblinden und viele Anomale machen allerdings so charakteristische Fehler, dafs kein Zweifel dar\u00fcber bestehen kann, dafs man \u201eFarbenunt\u00fcchtige\u201c vor sich hat. Die Entscheidung dar\u00fcber, ob man Dichromaten oder anomale Trichromaten vor sich hat, kann allerdings h\u00e4ufig sehr schwer, nicht selten unm\u00f6glich sein. Aber auch die F\u00e4lle k\u00f6nnen Schwierigkeiten bereiten, in denen nur geringe Fehler gemacht werden, z. B. unges\u00e4ttigt gr\u00fcne oder unges\u00e4ttigt rote Farben nicht sicher von grau bzw. braun unterschieden werden. Man kann es hier nicht nur mit anomalen Trichromaten, sondern sogar mit Dichromaten (Deuteranopen) zu tun haben. Mehrfach wiederholte gr\u00fcndliche Untersuchung wird auch in solchen F\u00e4llen schliefslich ergeben, ob eine wirkliche Anomalie des Farbensystems vorliegt. Nat\u00fcrlich ist aber mit der Anerkennung dieser Sachlage das Urteil \u00fcber die Wollprobe als allgemeines amtliches Untersuchungsmittel gesprochen. Mehrfache, im ganzen stundenlang dauernde Untersuchungen d\u00fcrfen ebensowenig wde gr\u00fcndliche Erfahrung in der Untersuchung n\u00f6tig sein, um bei einer Person festzustellen, ob sie farbent\u00fcchtig oder farbenunt\u00fcchtig ist.\nWer von den Lesern meine Publikationen aus dem Ende des letzten Jahrzehnts kennt, bemerkt eine \u00c4nderung meiner Wertsch\u00e4tzung der HoLMGRENschen Methode. Ich habe diese fr\u00fcher als Hilfsmittel f\u00fcr die Diagnose der typischen Dichromaten g\u00fcnstiger taxiert, als ich es jetzt tun kann. Es soll ja, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, die M\u00f6glichkeit keineswegs bestritten werden, nach Holmgren schnell und sicher die schwereren Farbensinnsst\u00f6rungen festzustellen (die Differenzialdiagnose ist praktisch wenig wichtig), aber es geh\u00f6rt gr\u00f6fsere Erfahrung und Routine dazu, um die Pr\u00fcfung auszuf\u00fchren, als die meisten annehmen und als auch ich fr\u00fcher angenommen habe. Freilich wer sich genau an Holmgrens eigene Vorschriften f\u00fcr die Pr\u00fcfung halten wollte, brauchte nicht mehr als die Gabe, den Untersuchten w\u00e4hrend der Untersuchung gut zu beobachten. Aber wer h\u00e4lt sich denn heutzutage an die HoLMGRENschen Vorschriften? Ich habe mit vielen \u00c4rzten gesprochen, die berufs-","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nW. A. Nagel\nm\u00e4fsig Farbensinnspr\u00fcfungen ausznf\u00fchren haben. Aber ich habe nicht viele gefunden, die das einfache von Holmgren selbst empfohlene Verfahren wirklich kannten und beherrschten.1 Sehr bezeichnend ist es schon, dafs die in Deutschland zusammengestellten und zum Teil durch Staatsbeh\u00f6rden an die Arzte verteilten Wollsortimente durchaus nicht den Bedingungen entsprechen, die an \u201eWollproben nach Holmgren\u201c zu stellen sind. Sehr wahrscheinlich wird es in anderen L\u00e4ndern ebenso sein, mit Ausnahme vielleicht von Schweden, wo es am einfachsten ist, die Wollen von den beiden Quellen in Upsala zu beziehen, die die richtige Auswahl von Wollf\u00e4den in richtiger Qualit\u00e4t und Zahl liefern. Dazu kommt, dafs die Mehrzahl der mit Farbensinnspr\u00fcfung betrauten \u00c4rzte die Vorschriften f\u00fcr die Pr\u00fcfung \u00fcberhaupt nicht gen\u00fcgend kannte, oder sich f\u00fcr berechtigt hielt, das Verfahren zu \u201everbessern\u201c und zu \u201evereinfachen\u201c. Geradezu unglaubliche Dinge kann man in dieser Hinsicht erfahren, und zwar zum Teil aus dem Munde der Herren selbst, die nach so \u201evereinfachtem HoLMGRENschen Verfahren\u201c untersuchten. Wurde mir doch von einer Anzahl von \u00c4rzten, die berufsm\u00e4fsig \u201enach Holmgren \u201c den Farbensinn zu pr\u00fcfen hatten, mitgeteilt, dafs sie auf diese Pr\u00fcfung pro Kopf nicht\n1 Dafs die Farbensinnspr\u00fcfung vielfach so stiefm\u00fctterlich behandelt wird, dafs man glaubt, sie ohne weiteres Studium und ohne \u00dcbung ausf\u00fchren zu k\u00f6nnen, w\u00e4hrend man bei anderen sinnesphysiologischen und sonstigen Untersuchungen viel gr\u00f6fsere Anspr\u00fcche an sich und andere stellt, erkl\u00e4rt sich leicht daraus, dafs der augen\u00e4rztliche Praktiker, von dem der Anf\u00e4nger die Untersuchungsmethoden lernen soll, der als unheilbar bekannten und f\u00fcr die meisten Menschen nicht sehr wichtigen Farbenblind heit kein nennenswertes Interesse entgegenbringt. Gerade dem vielbesch\u00e4ftigten Augenarzt wird am wenigsten Zeit bleiben, sein grofses Material zum Studium der Farbenblindheit und zur Ein\u00fcbung in ihre Diagnostik auszun\u00fctzen ; er hat wichtigeres zu tun. So erkl\u00e4rlich also die Sachlage ist, so unerw\u00fcnscht ist sie doch, denn zur Untersuchung von Eisenbahn- und Marinepersonal ist eine gr\u00fcndliche Beherrschung dieses Gebietes n\u00f6tig. Erfahrene Ophthalmologen werden mir gewifs zugeben, dafs die diagnostischen Leistungen der Augenkliniken im Gebiet des Farbensinns noch verbesserungsf\u00e4hig sind. Unter diesen Umst\u00e4nden ist es nicht sehr verwunderlich, wenn die Bahn- und Marine\u00e4rzte geringe diagnostische Leistungen aufweisen. Man wdrd von ihnen nicht viel mehr erwarten k\u00f6nnen, solange in den Augenkliniken nicht h\u00f6here Anspr\u00fcche an die Diagnosen auf farbenphysio- und pathologischem Gebiet gestellt werden, als es manchen Orts geschieht.","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 265\nmehr als 10 Sekunden Zeit verwenden k\u00f6nnten. Wenn unter diesen Umst\u00e4nden schlechte Resultate erzielt werden, so kann das nat\u00fcrlich nicht \u00fcberraschen und nicht der Wollprobe zur Last gelegt werden.\n_\t\u2022 \u2022\nEs ist wohl nicht nur meine \u00dcberzeugung, sondern die \u00dcberzeugung vieler, dafs \u00fcber den Wert einer Methode der Farbensinnspr\u00fcfung nur die nach dieser Methode ausgef\u00fchrte Untersuchung zahlreicher Personen entscheiden kann, die danach mittels der Spektralfarben gepr\u00fcft werden. Die Untersuchung am Spektralapparat geeigneter Konstruktion ist und bleibt eben doch das souver\u00e4ne Mittel, mit dem die anderen Untersuchungsmittel nicht in Konkurrenz treten k\u00f6nnen. Vor ihm versagen, wenn er von kundiger Hand eingestellt und verwertet wird, alle K\u00fcnste der Simulation wie der Dissimulation von Farbensinnsst\u00f6rungen. 1\nHolmgren hatte sich bem\u00fcht, in sorgf\u00e4ltigen und langwierigen Untersuchungen am Spektralapparat festzustellen, welche\n1 Allgemein ist diese Wertsch\u00e4tzung der Untersuchung am Spektralapparat freilich nicht. Man kann in \u00e4rztlichen Kreisen mit mehr oder weniger deutlicher Mifsachtung von diesen \u201ephysiologischen und physikalischen Spitzfindigkeiten und Finessen:\u00a3 reden h\u00f6ren. Die so sprechen, sind nat\u00fcrlich \u00fcberwiegend Personen, die erstens mit dem Spektralapparat als solchem, zweitens mit der systematischen Pr\u00fcfung an diesem wenig oder gar nicht vertraut sind. Dieselben Personen verstehen vielleicht ebensowenig das Konstruktionsprinzip des Induktionsapparats, des Telephons und Mikroskops ; deren Benutzung aber mufsten sie erlernen, und es sind ihnen nun keine physikalischen Spielereien mehr. Dafs mancher praktische Arzt und Bahnarzt vor dem Spektralapparat und gar vor einem der komplizierten Farbenmischapparate eine leise Scheu hat, ist begreiflich, weil den wenigsten Gelegenheit geboten wird, die Benutzung eines solchen Instruments zu sehen oder gar selbst damit zu arbeiten. Bedauerlich aber ist es, wenn, wie es mir bekannt ist, einzelne Ophthalmologen und auch Bahnaugen\u00e4rzte behaupten, die Untersuchung am Spektralapparat verwirre die untersuchten (wenig gebildeten) Personen und gebe unklare Eesultate, weil zu viel von ihnen verlangt w\u00fcrde. Damit zeigen diese \u00c4rzte nur, dafs sie gar nicht wissen, wie am Farbenmischapparat untersucht wird. Tats\u00e4chlich wird hierbei sehr viel weniger Intelligenz vom Untersuchten verlangt, als etwa bei der HoLMGRENSchen oder \u00dcAAEschen Whllprobe. Die stupidesten Kekruten reagieren am Spektralapparat prompt und klar, und es d\u00fcrfte eine Kleinigkeit sein, bei jedem f\u00fcnfj\u00e4hrigen Kind, das die Farbennamen kennt, am Spektralapparat die Diagnose des Farbensinns zu .stellen. Aicht an den Untersuchten, sondern an den Untersucher stellt \u25a0dieses Verfahren einige Anspr\u00fcche.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nW. A. Nagel.\nArten von Farbensinnsst\u00f6rungen diejenigen Personen hatten, die bei der Wollprobe Fehler machten. Wenn wir jetzt bei Nachpr\u00fcfung seiner Ergebnisse zu etwas anderen Resultaten kommen, als Holmgeen selbst, so liegt das wohl in der Hauptsache daran, dafs die Methoden der Untersuchung am Spektralapparat wesentlich vervollkommnet sind, und die modernen Farbenmischapparate mit Leichtigkeit feststellen lassen, was mit den von Holmgeex verwendeten Vorrichtungen schwer oder \u00fcberhaupt nicht festzustellen war. So konnte Holmgeen \u00fcber das Wesen des Farbensinns seiner \u201eunvollst\u00e4ndig Farbenblinden\u201c (der jetzigen anomalen Trichromat en) nicht ganz ins klare kommen.\nVon den \u00fcbrigen Autoren, die Methoden zur Farbensinnspr\u00fcfung angegeben haben, hat keiner durch umfangreiche Untersuchungen am Spektralapparat seinem Verfahren die n\u00f6tige feste Grundlage gegeben. Die Zahl der Abhandlungen \u00fcber Farbensinnspr\u00fcfung ist bekanntlich grofs, und namentlich sehr zahlreiche Bahnaugen\u00e4rzte haben in die Diskussion \u00fcber das zweckm\u00e4fsigste Verfahren zur Ermittelung der Farbenblindheit eingegriffen, und diese oder jene Methode als praktischste und \u201esicherste\u201c empfohlen. Nach Beweisen f\u00fcr die Sicherheit der Methoden sucht man aber vergebens. Ich kann mir, wie gesagt, einen anderen Weg, die Zuverl\u00e4ssigkeit einer f\u00fcr die Praxis bestimmten Methode nachzuweisen, nicht denken, als den, dafs man eine gr\u00f6fsere Zahl von Personen nach dieser Methode untersucht, und nachher dieselben Personen am Spektralapparat nachpr\u00fcft, also mit dem unbedingt zuverl\u00e4ssigsten, nur nicht f\u00fcr die allgemeine Praxis geeigneten Verfahren. Kommt es nur auf den Vergleich zweier Methoden an, also etwa auf die Vergleichung einer neuen Methode mit der bisher als zuverl\u00e4ssigste anerkannten, so vereinfacht sich die Aufgabe. Die neue Methode mufs dann, wenn sie den Vergleich bestehen soll, zum mindesten die gleiche Zahl von Farbenblinden bei gleichem Zeitaufwand diagnostizieren lassen. \u00dcberlegen ist sie, wenn sie dieselben Farbenblinden wesentlich schneller erkennen l\u00e4fst oder wenn man mit ihrer Hilfe Farbenblinde findet, die bei der anderen Methode durchgeschl\u00fcpft waren.\nMan m\u00f6ge mir diese scheinbar selbstverst\u00e4ndlichen Bemerkungen verzeihen. Ich m\u00f6chte mit ihnen die Ablehnung einer Anzahl von Methoden der Farbensinnspr\u00fcfung motivieren, die sich grofser Beliebtheit und Verbreitung erfreuen. Ich denke","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 267\ndabei vor allem an die STiLLiNGsche Methode, f\u00fcr die das eben Gesagte ganz besonders gilt. Ihr Prinzip ist fein erdacht und im h\u00f6chsten Grade einleuchtend, ihre Anwendung einfach, die Aufgabe f\u00fcr Untersucher und Untersuchte eine leichte. Auf diesen so stark f\u00fcr Stillings Tafeln sprechenden Momenten mag es wohl beruhen, dafs anscheinend niemand sich veranlafst sah, die Zuverl\u00e4ssigkeit der Methode zu erproben. Mir wenigstens ist eine Untersuchung, die sicheren Aufschlufs hier\u00fcber g\u00e4be, nicht bekannt. An Kritik auf Grund einzelner untersuchter F\u00e4lle fehlt es allerdings nicht. Auch ich habe solche u. a, in meiner oben erw\u00e4hnten Arbeit ge\u00fcbt.\nDie Tatsache, dafs die nach Stilling gestellte Diagnose h\u00e4ufig nicht mit der am Spektralapparat zu stellenden \u00fcbereinstimmte, mufste zur Vorsicht mahnen. Insbesondere die bei Verwendung der Tafeln notwendig erfolgende Gleichstellung von Dichromaten mit einer grofsen Gruppe der Trichromaten war bedenklich und es war zun\u00e4chst nicht zu erkennen, warum viele Personen, die die Wollprobe glatt bestehen, bei Stilling als farbenblind erschienen.\nDie oben erw\u00e4hnten neuen Untersuchungen haben diese Fragen in gewisser Dichtung gekl\u00e4rt, indem sie zeigten, dafs aufser den Dichromaten (Protanopen und Deuteranopen) vor allem die s\u00e4mtlichen \u201eAnomalen\u201c die Tafeln nicht lesen k\u00f6nnen.\nIch habe fr\u00fcher auf Grund der Tatsache, dafs die mir bekannten Anomalen die HoLMGBENsche Probe ganz oder nahezu fehlerlos bestanden, geschlossen, es w\u00e4re bedenklich, wenn durch Untersuchung mit Stillings Tafeln Dichromaten und anomale Trichromaten zusammen geworfen w\u00fcrden. Ich stehe, wie aus den obenstehenden Ausf\u00fchrungen zu entnehmen ist, heute nicht mehr auf diesem Standpunkt. Die Untersuchung von mehreren hundert Anomalen hat mir, wie gesagt, gezeigt, dafs diese wenigstens f\u00fcr die Bet\u00e4tigung im Eisenbahn- und Marinedienst ebenso ungeeignet sind, wie Dichromaten.\nBestehen bleibt indessen zun\u00e4chst ein Einwand, der weniger Stillings Tafeln als seine Art der Diagnosestellung trifft: man kann nicht alle die farbenblind nennen, die Stillings Tafeln nicht lesen, bzw. die von der 10. Aufl. die Tafeln 2\u20149 nicht lesen (Tafel 1 und 10 liest, soweit ich gesehen habe, jeder, der auch nur ganz m\u00e4fsige Sehsch\u00e4rfe hat) farbenblind nennen. Mehr als die H\u00e4lfte dieser Personen ist nicht farbenblind. Es","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nW. A. Nagel.\nt/\ndeckt sich allerdings die Gruppe derer, die an kleinen farbigen Objekten (Signallaternen etc.) ungen\u00fcgendes leisten, mit derjenigen der bei Stilling (Tafel 2\u20149) v\u00f6llig Versagenden. Aber in beiden F\u00e4llen, bei Untersuchung mit Stillings Tafeln wie bei der Untersuchung mit kleinsten farbigen Lichtpunkten setzen wir Bedingungen, die als ungew\u00f6hnliche zu bezeichnen sind. Derjenige, dessen Farbensinn nur unter diesen Bedingungen versagt, sonst aber keine ohne spezielle Untersuchung auffallende Abnormit\u00e4t zeigt, wird weder von der Wissenschaft als farbenblind anerkannt, noch von Laien so genannt, Darum ist es unzweckm\u00e4fsig und wissenschaftlich unzutreffend, wenn man jeden, der Stillings Tafeln nicht lesen kann, farbenblind nennt.\nSachlich wichtiger und nicht recht erkl\u00e4rlich ist, dafs, wie ich schon fr\u00fcher erw\u00e4hnt habe und auch andere angeben, eine nicht geringe Zahl von Personen mehrere STiLLiNGsche Tafeln, auch der 10. Auflage, nicht lesen k\u00f6nnen, ohne dafs sie jedoch Dichromaten oder anomale Trichromaten sind. Als sonstigen gemeinsamen Zug bei diesen Personen weifs ich nur den zu nennen, dafs f\u00fcr sie das \u201ereine Gelb\u201c etwas anders definiert zu sein scheint, als f\u00fcr diejenigen Personen, die Stillings Tafeln glatt lesen. Ich werde hierauf sp\u00e4ter zur\u00fcckkommen. Auch in der Einstellung der BAYLEiGH-Gleichung zeigen sich kleine Differenzen, die aber bei weitem nicht an die Unterschiede zwischen normalen und anomalen Trichromaten heranreichen, vielmehr gegen sie verschwindend klein sind.\nZu den verschiedenen R\u00e4tseln, die uns die interessanten STiLLiNGschen Tafeln aufgeben; geh\u00f6rt auch die Frage, warum nachweislich eine nicht ganz kleine Zahl von Personen mit dichromatischem und anomal-trichromatischem Farbensinn die Probe nach Stilling bestehen kann. In meiner Gegenwart haben freilich Dichromaten und Anomale von der 10. Auflage der Tafeln nur wenige Ziffern m\u00fchsam erkennen k\u00f6nnen (aufser den immer leicht gelesenen Tafeln 1 und 10), wenn ich nicht durch ungeeignetes Halten der Tafeln die M\u00f6glichkeit gab, durch den verschieden starken Glanz von Ziffern und Grund die Entzifferung vorzunehmen.\nNur der Lokomotivf\u00fchrer Sch., \u00fcber den ich fr\u00fcher berichtet hatte1, vermochte fast alle Zahlen zu lesen, obwohl er im zentralen Netzhautgebiet typischer Dichromat war.\n1 Diese Zeitschrift 39, 93, 1905.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 269\nVon Interesse sind die Ergebnisse einer Untersuchung an 1778 Unteroffizieren und Mannschaften der Eisenbahnregimenter, die auf Veranlassung der Medizinalabteilung des preufsischen Kriegsministeriums zum Zweck der Entscheidung \u00fcber die Brauchbarkeit meiner Farbentafeln unternommen worden w\u00e4ren. Obwohl alle diese Leute mindestens einmal nach Holmgren, die Mehrzahl auch nach Stilling ein- oder mehrmals untersucht worden waren (das Personal der Betriebsabteilung sogar mehrmals nach Holmgren und Stilling), fanden die mit der Nachuntersuchung betrauten Milit\u00e4r\u00e4rzte noch 13 Dichromaten und 31 Anomale (5 Protanopen, 8 Deuteranopen, 5 Rotanomale, 26 Gr\u00fcnanomale). Die Diagnose konnte ich in allen F\u00e4llen am Farbenmischapparat best\u00e4tigen.\nBei einer von der Eisenbahnverwaltung veranstalteten Untersuchung des Personals der Berliner Stadtbahn nach Stillings Methode ergab sich auch eine nicht geringe Zahl von Personen, die die Probe mindestens teilweise bestanden hatten, aber in Wirklichkeit Dichromaten oder Anomale waren.\nDieses Durchschl\u00fcpfen von Dichromaten durch die Stilling-sche Probe kann ich mir nur erkl\u00e4ren: 1. durch Vorliegen \u00e4hnlicher Verh\u00e4ltnisse wie bei dem oben erw\u00e4hnten Lokomotivf\u00fchrer, d. h. \u00fcberlegenen Farbensinn der Netzhautperipherie bei gleichzeitiger Benutzung gr\u00f6fserer Netzhautfl\u00e4chen, oder 2. durch Verwertung des Glanzes der Ziffern auf Stillings Tafeln, oder 3. durch grobe Fehler in der Untersuchung.\nLetzteres Moment wird sich bei keiner Methode sicher aus-schliefsen lassen, Punkt 2 scheint technisch nicht zu vermeiden zu sein, da er bei alten und neuen Auflagen der Tafeln von verschiedenen Autoren kritisch erw\u00e4hnt wird. Ob und wieweit etwa der unter 1. erw\u00e4hnte Umstand die Fehler mitbedingt hat, l\u00e4fst sich zurzeit nicht sicher sagen. K\u00e4men solche F\u00e4lle wie der des Lokomotivf\u00fchrers Sch. h\u00e4ufiger vor, so spr\u00e4che das noch entschiedener gegen die Verwendbarkeit der STiLLiNGschen Tafeln zur amtlichen Untersuchung als die Unentzifferbarkeit einiger Tafeln f\u00fcr Normale.\nIch m\u00f6chte auf Grund der neueren Erfahrungen meine pers\u00f6nliche Ansicht \u00fcber den diagnostischen Wert des STiLLiNGschen Verfahrens dahin zusammenfassen, dafs es als einziges, ausschlaggebendes entschieden unzul\u00e4ssig ist, dafs es dagegen als unterst\u00fctzendes, vielleicht der Hauptuntersuchung voraus-","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nW. A. Nagel.\ngehendes Untersuchungsverfahren nur n\u00fctzlich sein kann. Ich w\u00fcrde auch empfehlen, der Untersuchung nach meinem Verfahren (mit meinen Farbentafeln) die Untersuchung mittels STiLLiNGscher Tafeln vorauszuschicken, sofern dazu Zeit ist; ein Z\u00f6gern \u00f6der Versagen bei dem Entziffern der Stilling sehen Tafeln w\u00fcrde den Untersucher zur Vorsicht bei der weiteren Untersuchung mahnen. Da jedoch die nur zu bekannte Neigung vieler \u00c4rzte, die als einfachste empfohlenen Proben noch weiter zu \u201evereinfachen\u201c (z. B. bei der Wollprobe nur mit rosa zu pr\u00fcfen, wodurch die Probe ganz wertlos wird), vielleicht dazu f\u00fchren k\u00f6nnte, dafs sich manche bei der so bequemen Untersuchung nach Stilling beruhigen und hiernach Diagnose stellen, habe ich mich nicht entschliefsen k\u00f6nnen, den Beh\u00f6rden die STiLLiNGsche Probe als Vorprobe zu empfehlen, was mir sonst nahegelegen h\u00e4tte. Die Eisenbahn-, Armee- und Marinebeh\u00f6rden haben sich nach Pr\u00fcfung der Frage durch verschiedene Sachverst\u00e4ndige entschlossen, meiner Auffassung beizutreten, und nur meine Tafeln einzuf\u00fchren, von denen weiter unten zu sprechen sein wird.\nNeben den bisher erw\u00e4hnten Methoden erfreut sich noch die Florkontrastmethode der Anerkennung in weiteren Kreisen. Sie ist von Pel\u00fcger1 2 in eine zur Diagnostik bestimmte Form gebracht worden, und H. Cohn 2 hat das ziemlich teure Pel\u00fcger-sche Buch durch eine \u00e4ufserst kompendi\u00f6se und entsprechend billige Tafel ersetzt. Auf das Prinzip der Methode einzugehen, kann ich hier wohl unterlassen, da es sehr bekannt ist. Cohn wie Pel\u00fcger haben in ihren Tafeln wissenschaftlich interessante und technisch sehr anerkennenswerte diagnostische Hilfsmittel geliefert, die sich aber zur entscheidenden Diagnosestellung, vollends als einziges Verfahren, absolut nicht eignen. Die Begr\u00fcndung dieser meiner Ansicht brauche ich nicht zu wiederholen, da sich verschiedene Autoren in ganz \u00e4hnlichem Sinne ausgesprochen haben, wie ich in den oben zitierten Arbeiten.3 Man w\u00fcrde bei Verwertung selbst der technisch sehr gut gelungenen neuesten CoHNschen Tafel viele Personen als\n1\tE. Pel\u00fcger, Tafeln zur Bestimmung der Farbenblindheit. Bern 1880.\n2\tH. Cohn, T\u00e4felchen zur Pr\u00fcfung feineren Farbensinns. Berlin 1900.\n3\tSo auch ganz neuerdings Collin (Zur Kenntnis und Diagnose der angeborenen Farbensinnsst\u00f6rungen, Heft 32 der Ver\u00f6ffentlichungen aus dem Gebiet des Milit\u00e4rsanit\u00e4tswesens. 1906).","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 271\nfarbenblind oder farbenschwach bezeichnen m\u00fcssen, die tats\u00e4chlich nicht nur an grofsen, sondern auch an ganz kleinen farbigen Objekten sich als vollkommen farbent\u00fcchtig erweisen. In dem Prinzip der Farbensinnspr\u00fcfung mittels des Florkontrastes liegen eben wom\u00f6glich noch mehr Komplikationen als in dem der pseudoisochromatischen Tafeln Stillings. Am auffallendsten ist die Tatsache, dafs die anomalen Trichromaten, bei denen der Simultankontrast im Farbenpaar Gr\u00fcn-Rot, wie erw\u00e4hnt, gegen\u00fcber der Norm gesteigert erscheint, sobald es sich um ges\u00e4ttigte Farben in scharf begrenzten Feldern handelt, bei der MEYERschen Florkontrastanordnung (unges\u00e4ttigte Farben mit unscharfen Grenzen) die Kontrastfarbe schlechter als der Normale sehen. Hierauf bez\u00fcgliche Experimentaluntersuchungen, die im physikalischen Laboratorium des Berliner physiologischen Instituts gegenw\u00e4rtig ausgef\u00fchrt werden, bringen hoffentlich die erw\u00fcnschte Aufkl\u00e4rung.\nAls eine mit manchen Vorteilen ausgestattete Methode erscheint mir die \u00dcAAEsche \\ die bekanntlich auf der Verwendung einer Tafel beruht, auf welcher bunte Wollf\u00e4den in 10 Reihen an geordnet sind, und zwar einzelne Reihen nur aus verschiedenen Schattierungen einer und derselben Farbe bestehend, die Mehrzahl aus verschiedenfarbigen F\u00e4den zusammengesetzt. Ein Nachteil besteht, wie ich schon fr\u00fcher hervorgehoben habe, darin, dafs seltsamerweise die wirklich einfarbigen Reihen von einem Ende zum anderen in der Helligkeit gleichm\u00e4fsig abgestuft sind und sich dadurch auch f\u00fcr den Farbenblinden von den \u00fcbrigen Reihen scharf abheben, in denen helle und dunkle Farben regellos wechseln. Auch sind die hier zusammengestellten Farben nicht die richtigen Verwechslungsfarben irgend eines Typus von Farbenblindheit. Diesen M\u00e4ngeln liefse sich leicht abhelfen. Prinzipiell unrichtig finde ich die Zusammenordnung aller Farbenproben auf einer Tafel, wodurch das Auswendiglernen \u00fcberaus leicht gemacht ist.\n5. Neue pseudoisochromatische Tafeln.\nDen bisher genannten Verfahren zur Diagnose der Farbenblindheit, die unter den bekannt gegebenen die relativ besten sein d\u00fcrften, schienen mir auch jetzt, nach 7 j\u00e4hriger gr\u00fcndlicher\n1 Die Farbenblindheit und deren Erkennung. Nach A. Daae, \u00fcbersetzt von M. Saenger. 3. Aufl.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 41.\n18","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nW. A. Nagel.\nErprobung, meine pseudoisochromatischen Tadeln aus dem Jahre 1898 doch \u00fcberlegen, sowohl was Leichtigkeit, besonders aber was Sicherheit der erzielten Diagnose betrifft. Sie sind ja wohl hinl\u00e4nglich bekannt, so dafs ich auf ihr Prinzip nicht einzugehen brauche. Erw\u00e4hnt sei nur, dafs bei ihrer Konstruktion eine Anlehnung an Stillings Tafeln insofern erfolgt ist, als Verwechselungsfarben in verschiedenen Helligkeitsstufen, durch Farbendruck hergestellt, dargeboten werden; mit der DAAEschen Tafel haben sie den Vorzug vor den STiLLiNGschen gemein, dafs die Zusammenordnung der farbigen Punkte zu Buchstaben oder Zahlen wegf\u00e4llt, und dadurch die \u00fcbergrofse Empfindlichkeit gegen kleine Fehler im Farbendruck, aufserdem auch die Abh\u00e4ngigkeit von der Geschwindigkeit der Farbenperzeption eliminiert ist. Der Farbendruck erscheint gegen\u00fcber der Wollstickerei zweckm\u00e4fsiger, weil er feinere Abstufungen und handlichere Tafeln gestattet. Ich hielt es daher f\u00fcr das zweckm\u00e4fsigste, das von der Eisenbahnverwaltung gew\u00fcnschte neue Verfahren, das die Ermittelung aller Farbenunt\u00fcchtigen gestatten soll, wenn irgend m\u00f6glich auf dem gleichen Prinzip zu begr\u00fcnden. Dies erwies sich als m\u00f6glich und so kam es zu der Neuausgabe der Tafelsammlung. Herbst 1905 erschien die (nicht in den Handel gelangte) zweite Auflage, die von einigen Beh\u00f6rden zu Versuchszwecken benutzt wurde, Anfang 1906 dann die dritte Auflage, deren Bestand von 5000 Exemplaren in zwei Monaten ab* gesetzt war, so dafs zur Zeit dieser Niederschrift die vierte (gegen die dritte unver\u00e4nderte) Auflage ausgegeben werden mufste.\nDa sich bei den vorhergehenden Untersuchungen, welche die Eisenbahnverwaltung hatte anstellen lassen, gezeigt hatte,, dafs die Bahnangestellten, die vor einer Farbensinnspr\u00fcfung standen, durch intensive Ein\u00fcbung auf die Wollprobe oder die Stilling sehe Probe nicht selten die Gewinnung sicherer Resultate wesentlich erschwert hatten, wurde beschlossen und durch Vertrag zwischen der Eisenbahn Verwaltung und dem Herausgeber der Tafeln einerseits und der Verlagsbuchhandlung J. F. Bergmann andererseits letztere verpflichtet, die Tafeln nicht allgemein in den Handel zu bringen, sondern sie nur an \u00c4rzte, \u00e4rztliche und wissenschaftliche Anstalten und an Beh\u00f6rden abzugeben.\nIm folgenden erlaube ich mir, einige n\u00e4here Mitteilungen \u00fcber die Tafeln zu machen. Der Titel lautet:","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 273\nTafeln zur Untersuchung des Farhenunterscheidungs-Verm\u00f6gens, von Professor Dr. W. Nagel in Berlin. Dritte (vierte) vermehrte Auflage. Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 1906.\nDie Sammlung von Tafeln in ihrer neuen Gestalt setzt sich aus zwei Abteilungen A und B zusammen, denen eine genaue Gebrauchsanweisung beigegeben ist.\nDie Abteilung A besteht aus 16 Tafeln. Die Mehrzahl von diesen ist eine fast unver\u00e4nderte Reproduktion der 12 Tafeln der 1. Auflage. Als \u00fcberfl\u00fcssig habe ich den unges\u00e4ttigten Purpur der fr\u00fcheren Tafel 12 weggelassen. Dagegen ist neu hinzugef\u00fcgt eine Tafel, die den gleichen Purpurton wie die Tafel 3 zeigt, dazwischen aber 2 graue Punkte, die f\u00fcr den Dichromaten in der gleichen Farbe wie der Purpur erscheinen. Aufserdem sind mehrere neue Tafeln mit dem diagnostisch besonders wichtigen Paar von Verwechslungsfarben, Grau und Gr\u00fcn hinzugef\u00fcgt, w\u00e4hrend fr\u00fcher nur Tafel 4 diese Farbenzusammenstellung enthielt. Auf Tafel 16 ist das Gr\u00fcn so unges\u00e4ttigt genommen, dafs auch mancher nicht Farbenblinde oder Nichtanomale die Tafel f\u00fcr einfarbig grau bezeichnet. Diese Tafel ist ein Reagens auf wirklich gutes Unterscheidungsverm\u00f6gen f\u00fcr Farbent\u00f6ne. Personen, deren Farbensinn sich in jeder Hinsicht als gut erwiesen hat, haben bei mir Tafel 16 nie f\u00fcr ganz grau erkl\u00e4rt, wohl aber solche, die auch sonst zuweilen kleine Unsicherheiten aufweisen, ohne dafs man aber von \u201eschwachem Farbensinn\u201c h\u00e4tte reden m\u00f6gen. Diese kleinen Differenzen innerhalb der grofsen Gruppe der als \u201efarbent\u00fcchtig\u201c bezeichneten Personen bed\u00fcrfen noch der n\u00e4heren Aufkl\u00e4rung.\nNeu ist auch eine Tafel (Nr. 12) mit gelbgr\u00fcn und gelbbraun in je zwei Schattierungen.\nDie Abteilung B der Tafelsammlung besteht aus nur 4 Tafeln, von denen die erste (B I) identisch ist mit A 12.\nB 2 und B 3, unter sich fast gleich, enthalten aulser einem lebhaften Rot ein reines Braun in zwei verschiedenen Helligkeitsstufen. B 4 endlich besteht aus Rot und zweierlei Schattierungen eines kr\u00e4ftigen Gr\u00fcn.\nDie Gebrauchsanweisung, die den Tafeln beigegeben ist, hier zu rekapitulieren, d\u00fcrfte \u00fcberfl\u00fcssig sein. Dagegen m\u00f6chte\nich in K\u00fcrze die Grunds\u00e4tze angeben, die der Konstruktion der;\n18*","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nW. A. Nagel.\nTafeln selbst und der Fassung der Gebrauchsanweisung zugrunde liegen.\nIn Abteilung A sind, wie in der ersten Auflage, die Farben Rot und Gr\u00fcn in solchen Schattierungen gew\u00e4hlt, dafs sie f\u00fcr den Rotgr\u00fcnblinden beider Typen dem Grau, das auf vielen Tafeln enthalten ist, gleich aussehen. Die Mehrzahl aller Tafeln, und gerade auch diejenigen, auf denen f\u00fcr den Farbent\u00fcchtigen das Rot oder Gr\u00fcn besonders hervorsticht, erscheinen dem Dichromaten farblos, grau, in verschiedenen Schattierungen, zuweilen mit einem Stich ins Gelbliche (1 und 16). Auffallend ist ihm nur ein bl\u00e4ulicher Ton auf einzelnen Punkten der Tafeln 8 und 11. Ganz scharf sticht f\u00fcr jeden Rotgr\u00fcnblinden das Gelbgr\u00fcn der Tafeln 6, 11 und 12 von allen \u00fcbrigen Farben ab. Es ist ihm die einzige kr\u00e4ftige Farbe in der Abteilung A \u00fcberhaupt.\nDaher kommt es auch, dafs bei der ersten Frage: \u201eauf welcher Tafel sind rote oder r\u00f6tliche Punkte zu sehen\u201c fast ausnahmslos jeder unbefangene Dichromat, der die Tafeln noch nicht kennt, die Tafeln 6 und 11, meistens auch 12 nennt. Bei der Frage nach der Tafel mit nur roten Punkten wird dann h\u00e4ufig Tafel 12 gezeigt, da das Gelbgr\u00fcn und das Gelbbraun beide mit Rot Gleichung geben k\u00f6nnen.\nEin Farbenblinder, der schon weifs, dafs die gelbgr\u00fcnen Punkte nicht rot sind und sich daher vor der falschen Angabe h\u00fctet, ist auf reines Raten angewiesen. Dasselbe ist nat\u00fcrlich bei der Frage nach Gr\u00fcn oder Grau der Fall.\nBei richtiger, der Gebrauchsanweisung genau entsprechender Untersuchung erkennt man auch die anomalen Trichromat en schon fast stets bereits im ersten Teil der Pr\u00fcfung. Die Frage nach den roten Punkten bestehen allerdings sowohl die Rot- wie die Gr\u00fcnanomalen beinahe immer, zuweilen fast ohne Z\u00f6gern. Bei der Frage nach \u201enur Gr\u00fcn\u201c, oder \u201enur Grau\u201c werden sie dagegen gleich unsicher, und zeigen h\u00e4ufig auf solche Tafeln, auf denen gr\u00fcn und grau zugleich ist. Wenn eine solche auch nur vor\u00fcbergehend f\u00fcr einfarbig gehalten wird (mit Ausnahme der oben erw\u00e4hnten Tafel 16), oder auch nur die Neigung erkennbar ist, bei der Auswahl von Gr\u00fcn oder Grau wesentlich vorsichtiger und langsamer vorzugehen, als bei dem Heraussuchen des Rot, so ist das schon immer verd\u00e4chtig und fordert zur Vorsicht auf. Man l\u00e4fst sich dann m\u00f6glichst","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 275\nschnell alle Tafeln zeigen, die Gr\u00fcn, und dann alle die Grau enthalten.\nWer eine der Tafeln mit Grau und Gr\u00fcn (4, 13, 14) f\u00fcr einfarbig w\u00e4hlt und den Irrtum nicht sogleich selbst bemerkt, oder wer auf der Tafel 5 Grau oder auf 9 Gr\u00fcn zu sehen behauptet, ist sicher kein normaler Trichromat, also farbenunt\u00fcchtig. Er braucht kein Dichromat zu sein, einen solchen kann man vielmehr erst diagnostizieren, wenn auch im Rot Fehler gemacht werden.\nAbteilung B l\u00e4fst ebenfalls den Unterschied der Dichromaten und der Anomalen scharf hervortreten und beide leicht vom Normalen unterscheiden. Der Untersuchte hat in diesem zweiten Teil der Pr\u00fcfung Farbennamen zu nennen, wobei aber, wie bei meinem Farbengleichungsapparat, die Benennung nur als Indikator daf\u00fcr dienen soll, ob der Untersuchte die Zusammensetzung der Ringe aus mehreren Farben bemerkt.\nF\u00fcr den Dichromaten sind n\u00e4mlich die Tafeln B 1, B 2 und B 3 einfarbig und zwar f\u00fcr den Deuteranopen (Gr\u00fcnblinden) auch fast ohne Helligkeitsunterschiede der einzelnen Punkte, w\u00e4hrend sich f\u00fcr den Protanopen (Rotblinden) die roten Punkte dunkel gegen\u00fcber dem Braun abheben. Charakteristisch ist das Verhalten der Anomalen gegen die Tafeln B 1 bis B 3. Manche, die zu den von mir oben so genannten extremen Anomalen geh\u00f6ren, zeigen sich schon bei B 1 als abnorm; nach der Farbe der Tafel gefragt, bezeichnen sie sie kurzweg als gr\u00fcn, seltener auch als braun oder gelb; jedenfalls geben sie durch ihre Ausdrucksweise zu erkennen, dafs sie nur einerlei Farbe sehen. Hierin gleichen sie den Dichromaten.\nTafel B 2 und 3 nennt der Anomale, vor allem der Gr\u00fcnanomale, wenn er unbefangen an die Probe herantritt, \u201erot und gr\u00fcn\u201c. Es tritt hier die oben (S. 261) erw\u00e4hnte Erscheinung in Wirkung, dafs kr\u00e4ftiges Rot oder kr\u00e4ftiges Gr\u00fcn einem daneben sichtbaren neutralen Grau oder Braun eine mehr oder weniger deutliche Beimischung der Komplement\u00e4rfarbe geben. Das Braun der Tafel B 2, isoliert gezeigt, nennen die Anomalen richtig braun, neben dem Rot nennen sie es gr\u00fcn.\nIch sagte, der unbefangene Anomale reagiere so; wer einmal dar\u00fcber belehrt worden ist, dafs er sich hierbei geirrt hat, oder wer \u00fcberhaupt die Tatsache der Kontraststeigerung bei sich kennt (wie eine Anzahl meiner Mitarbeiter), der vermeidet","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nW. A. Nagel.\ngerne die Bezeichnung gr\u00fcn. Das Gr\u00fcn ist eben f\u00fcr den Anomalen eine so wenig ausgesprochene Farbe, unterscheidet sich so wenig von Grau oder Braun, dafs er diese Benennung gewissermafsen instinktiv nur mit Vorsicht und Z\u00f6gern anwendet. Ich habe indessen noch keinen Gr\u00fcnanomalen gefunden (aufser den mit dem Prinzip meiner Untersuchung vertrauten Personen), der sich nicht bei Vorlegung der Tafel B 2 oder B 3 sofort prompt verraten h\u00e4tte. Bei Rotanomalen hat dagegen dieser Teil der Probe einige-male versagt, sie benannten das Braun richtig oder als grau. Das beweist nicht, dafs der Farbenkontrast bei ihnen geringer sei als beim Gr\u00fcnanomalen; das Rot hat f\u00fcr den Rotanomalen wrie f\u00fcr den Rotblinden einen sehr herabgesetzten Reizwert und es l\u00e4fst sich im Farbendruck ein so lichtstarkes und dabei reines Rot nicht hersteilen, das den Farbenkontrast schon auf kleinen Feldern sicher ausl\u00f6st. An meinem Farbengleichungsapparat, bei welchem durchleuchtete farbige Gl\u00e4ser in Verwendung kommen, ist der gesteigerte Kontrast (Gr\u00fcnerscheinen des Dunkelgelb neben Rot) leicht nachzuweisen. Ein Mangel der Tafeln kann in dem angegebenen Verhalten kaum gefunden werden, da die Rotanomalen erstens sich schon im ersten Teil (A) der Pr\u00fcfung regelm\u00e4fsig erkennen lassen, und sie zweitens auch bei der Tafel B 1 meistens irren und sie f\u00fcr einfarbig erkl\u00e4ren.\nAus dem Mitgeteilten ergibt sich, dafs die neuen Tafeln die beiden haupts\u00e4chlich in Betracht kommenden Arten von Dichromaten und ebenso die beiden bisher bekannten Arten anomal trichromatischer Systeme zu ermitteln gestatten. Das bei ihrer Konstruktion angestrebte Ziel, die F\u00e4rb en t\u00fcchtigen von den Farbenunt\u00fcchtigen zu sondern, ist also erreicht. Dafs dabei die Farbenunt\u00fcchtigen noch in die deutlich getrennten Gruppen der Dichromaten und anomalen Trichromaten zerfallen, ist kein Schaden. Die Tafeln sind zwar, \u2014 das m\u00f6chte ich jeden Beurteiler zu ber\u00fccksichtigen bitten \u2014, zun\u00e4chst ausschliefslich f\u00fcr die Bed\u00fcrfnisse der Farbensinnspr\u00fcfung bei Eisenbahn- und Marinepersonal konstruiert und es ist deshalb auf Beigabe einzelner weiterer Tafeln und auf ausf\u00fchrlicheren Text verzichtet wmrden, Erg\u00e4nzungen, die f\u00fcr den Gebrauch in Kliniken und physiologischen Laboratorien immerhin w\u00fcnschenswert sein k\u00f6nnten.\nInsbesondere ist bei den Tafeln keine spezielle R\u00fccksicht auf die Untersuchung erworbener Farbensinnsst\u00f6rungen genommen worden, zu denen sie sich zum Teil wegen des kleinen Gesichts-","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 277\nWinkels der farbigen Objekte, znm Teil auch wegen der absichtlich beschr\u00e4nkten Zahl der benutzten Farbent\u00f6ne nicht sonderlich eignen. F\u00fcr diesen Zweck haben wir hier im allgemeinen die Verwendung meines Farhengleichungsapparats zweckm\u00e4fsiger gefunden, und ich m\u00f6chte, wie Collin1 2, glauben, dafs dieser Apparat event, nach noch weiterer Verbesserung f\u00fcr die Diagnose erworbener Farbensinnsst\u00f6rungen n\u00fctzlich sein kann.\nAuch f\u00fcr Ermittelung von Tritanopie (Violettblindheit oder Blaugelbblindheit) sind meine Tafeln nicht als sicheres Hilfsmittel zu betrachten. Unsere Erfahrungen \u00fcber diese Anomalien sind doch noch nicht gen\u00fcgend, um mit \u00e4hnlicher Sicherheit wie bei den anderen Anomalien ein diagnostisches Verfahren angeben zu k\u00f6nnen. Immerhin m\u00f6chte ich nicht unterlassen zu erw\u00e4hnen, dafs mir die Tafeln A 6 und 11 doch schon zweimal gute Dienste geleistet haben : sie gaben bei dem durch Piper 2 ver\u00f6ffentlichten Fall von Tritanopie den ersten Hinweis auf diese St\u00f6rung. Auch bei der Untersuchung einer Kompagnie Seesoldaten in Kiel fand ich einen Mann, der h\u00f6chst wahrscheinlich Tritanop ist. Er konnte auf A 6 und A 11 nichts Blaugr\u00fcnes erkennen und nannte das Braun auf B 2 und 3 rot.\nNicht ber\u00fccksichtigt ist ferner bei den Tafeln die M\u00f6glichkeit der Simulation. F\u00fcr die Zwecke der Eisenbahn, in deren Interesse die Tafeln ja konstruiert wurden, waren besondere Tafeln zur Entlarvung von Simulanten \u00fcberfl\u00fcssig, da kaum Umst\u00e4nde eintreten k\u00f6nnen, unter denen ein Angestellter der Eisenbahn veranlafst ist, Farbensinnsst\u00f6rung zu simulieren. Sollte ein Angestellter ein Eisenbahnungl\u00fcck verschuldet haben und (was h\u00f6chst unwahrscheinlich ist) Farbenblindheit als Milderungsgrund vorschieben wollen, so w\u00fcrde er doch sicherlich einem Bahnaugenarzt zugef\u00fchrt und von diesem bei so ernster Sachlage aufs sorgf\u00e4ltigste nach verschiedenen Methoden untersucht werden m\u00fcssen.\nN\u00e4herliegend ist Simulation bei den Marinemannschaften, da wegen der getrennten Aushebungsgebiete Farbenblindheit (wie mir gesagt wurde) nicht' nur vom Marinedienst, sondern auch vom Milit\u00e4rdienst \u00fcberhaupt befreit. Da aber von seiten der zust\u00e4ndigen Beh\u00f6rden hierauf kein Gewicht gelegt wurde, habe\n1\ta. a. 0.\n2\tDiese Zeitschrift 40.","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nW. A. Nagel.\nich die Einf\u00fcgung von Tafeln zur Simulantenentlarvung unterlassen.\nWas die Zeit betrifft, die zur Untersuchung der einzelnen Person mittels der Tafeln n\u00f6tig ist, so haben wir diese bei den Marinemannschaften in Kiel, sowie bei Mannschaften der Eisenbahnregimenter zu 50 Sekunden im Durchschnitt bestimmt, f\u00fcr den Fall, dafs es sich nicht um ganz ungew\u00f6hnlich stumpfsinnige oder \u00e4ngstliche Individuen handelte und dafs streng nach der Gebrauchsanweisung alle Fragen gestellt wurden. Bei intelligenten Personen mit sehr gutem Farbensinn kommt man mit 30 Sekunden aus. In Maximo kann f\u00fcr einen ge\u00fcbten Untersucher die Pr\u00fcfung bis zwei Minuten in Anspruch nehmen.\nEisenbahn, Armee und Marine legen begreiflicherweise keinen Wert auf die Feststellung der Frage, ob ein als farbenblind Befundener dem Typus der Protanopen (Rotblinden) oder Deuter-anopen (Gr\u00fcnblinden) zugeh\u00f6rt, ebenso ob ein Anomaler rotanomal oder gr\u00fcnanomal ist. Um aber doch die M\u00f6glichkeit dieser Feststellung zu geben, habe ich die Tafel B 4 beigef\u00fcgt, die bei den gew\u00f6hnlichen Untersuchungen nicht mit benutzt werden sollte. Sie enth\u00e4lt kr\u00e4ftiges Karminrot neben Gr\u00fcn von zweierlei Helligkeitsstufen. Rot und Dunkelgr\u00fcn sind in ihrem Helligkeitsverh\u00e4ltnis so gew\u00e4hlt, dafs f\u00fcr die Rotblinden und Rotanomalen ersteres, f\u00fcr die Gr\u00fcnblinden und Gr\u00fcnanomalen letzteres als das Dunklere erscheint. W\u00e4hrend der Farbent\u00fcchtige eine solche \u201eheterochrome\u201c HelligkeitsVergleichung nur ungern und unsicher ausgef\u00fchrt, erscheint f\u00fcr den Farbenunt\u00fcchtigen die Aufgabe, die \u201ehellere\u201c oder \u201edunklere\u201c der beiden Farben zu nennen, einfach und leicht. Auch B 2 und B 3 eignen sich zur Differenzialdiagnose : braun und rot sind f\u00fcr den Gr\u00fcnblinden (bzw. Gr\u00fcnanomalen) fast gleich hell, f\u00fcr den Rotblinden (bzw. Rotanomalen) das Rot deutlich dunkler.\nIch wage zu hoffen, dafs mit der Einf\u00fchrung der neuen Methode die Zahl der F\u00e4lle von unerkannter Farbenblindheit unter den Eisenbahnbediensteten und in Armee und Marine betr\u00e4chtlich heruntergehen wird und seltener als fr\u00fcher die h\u00f6chst unerfreuliche Situation eintreten wird, dafs ein Mann nach 10\u201412 j\u00e4hrigem Dienst pl\u00f6tzlich wegen angeborener, aber bisher unerkannter Farbenblindheit aus seiner Stellung entlassen werden und in einen anderen Berufszweig geschoben werden mufs. Man wird ja nicht hoffen d\u00fcrfen, dafs alle Fehldiagnosen aufh\u00f6ren;","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 279\nvon den Fehldiagnosen, die bisher vorkamen, war gewifs ein nennenswerter Teil nicht auf Rechnung des offiziell eingef\u00fchrten Verfahrens, sondern auf Rechnung der Art zu setzen, wie sich die Untersucher die Gebrauchsanweisung ansahen und wie sie sie befolgten. Das wird auch bei dem neuen Verfahren nicht ganz ausbleiben und f\u00fcr die Ergebnisse ung\u00fcnstig wirken. Am meisten zu warnen ist vor der Meinung, das Verfahren k\u00f6nne noch wesentlich vereinfacht werden. Die sog. Vereinfachungen und Verbesserungen an Holmorens Methode sollten als warnendes Exempel dienen.\nDie M\u00e4ngel, die seinem Verfahren anhaften, wurden durch die \u201eVerbesserungen\u201c nicht beseitigt: der zu grofse Gesichtswinkel der farbigen Objekte und die Notwendigkeit f\u00fcr den Untersuchten, selbst mit Hand anzulegen und eine Auswahl zu treffen.\nDiese beiden Schattenseiten sind bei dem neuen Verfahren beseitigt, die Objekte sind klein genug, um \u00fcberwiegend das foveale Sehen zu pr\u00fcfen ; die charakteristischen Farbenverwechselungen sind dem Farbenblinden abgenommen, sie liegen auf den einzelnen Tafeln schon fertig vor und der Untersuchte hat nichts weiter zu tun, als auf die Tafeln zu zeigen, die ihm die vom Untersucher verlangten Farben zu zeigen scheinen. Die Farbenzusammenstellungen auf den Tafeln sind, wie man leicht erkennt, fast genau den von Holmoren gefundenen und abgebildeten Gruppen von Verwechselungsfarben1 entsprechend, nur bei meinen Tafeln im allgemeinen aus kr\u00e4ftigeren und ges\u00e4ttigteren Farben bestehend.\nDie Untersuchung mit den Tafeln bietet also Vorteile, die nicht zu erzielen waren, solange man an den HoLMORENschen grofsen Wollb\u00fcndeln festhielt, die dagegen in den Methoden von Daae und Stillino schon bis zu einem gewissen Grade ausgen\u00fctzt waren.\nEs wird nicht \u00fcberfl\u00fcssig sein, auch an dieser Stelle auf einige allgemeine Verhaltungsmafsregeln hinzuweisen, die f\u00fcr die Gewinnung sicherer Untersuchungsergebnisse beachtet werden m\u00fcssen. Sie teilen sich deutlich in solche, welche bei meinen und bei dem HoLMORENschen Verfahren in gleicher Weise zu beachten sind (1-\u20143), und in solche, die dem neuen Verfahren eigent\u00fcmlich sind (4).\n1 F. Holmgren: Omf\u00e4rgblindheteni dess f\u00f6rh\u00e4llande tili jernv\u00e4gstrafiken och sj\u00f6v\u00e4sendet. Upsala 1877.","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nW. A. Nagel.\n1.\tDie Untersuchung darf nur bei guter Tagesbeleuchtung, nicht in der D\u00e4mmerung und nicht bei k\u00fcnstlicher Beleuchtung vorgenommen werden. Dies gilt f\u00fcr alle Methoden, bei denen Pigmentfarben benutzt werden. Ein Verstofs dagegen macht die ganze Pr\u00fcfung wertlos.\n2.\tBei der Untersuchung ist alles zu vermeiden, was den Untersuchten einsch\u00fcchtern oder verwirren k\u00f6nnte. Gr\u00f6fste Ruhe und Selbstbeherrschung des Untersuchers ist eine Grundbedingung f\u00fcr schnelle und zuverl\u00e4ssige Pr\u00fcfung.\n3.\tWenn mehrere Personen zu pr\u00fcfen sind, ist es besser, wenn sie getrennt untersucht werden. Jedenfalls d\u00fcrfen die anderen Personen nicht bei der Pr\u00fcfung der ersten direkt Zusehen.\n4.\tDa es auf Pr\u00fcfung des fovealen Sehens ankommt, ist es sehr wichtig, dafs die Tafeln aus angemessener Entfernung betrachtet werden, am besten aus 3/4 m Abstand, mindestens aber aus 1 *[2 m. Wenn die Tafeln auf dem Tisch ausgebreitet sind und der Untersuchte aufrecht vor diesem steht, erh\u00e4lt man einen hinreichenden Abstand. Erheblichere Ametropie mufs hierzu korrigiert sein, was \u00fcbrigens bei Eisenbahn und Marine weniger in Betracht kommt, da hier eine h\u00f6hergradige Ametropie oder gar Amblyopie (die das Erkennen der einzelnen farbigen Punkte unm\u00f6glich macht) an und f\u00fcr sich schon Dienstuntauglichkeit bedingt.\nDie Abteilung B der Tafeln lasse ich aus gr\u00f6fserer N\u00e4he (ca. 30 cm) betrachten, bei Abteilung A aber halte ich streng darauf, dafs der Untersuchte aufrecht zu stehen hat. Wenn er sich immer wieder versucht f\u00fchlt, sich niederzubeugen und die Tafeln aus der N\u00e4he zu betrachten, so ist das (einigermafsen gute Sehsch\u00e4rfe, von 1/2 oder mehr vorausgesetzt) schon ein starker Grund zum Verdacht auf Farbensinnsst\u00f6rung und fordert zu gr\u00fcndlicher Pr\u00fcfung auf.\nSchliefslich m\u00f6chte ich noch auf einige Einw\u00e4nde kurz eingeh en, die gelegentlich gegen meine Tafeln geltend gemacht worden sind.\nDen Einwand Br\u00fcckners1, dafs bei der geringen Zahl (12) der Tafeln in der ersten Auflage und bei der Nummerierung auf der Vorderseite der Tafel der Dissimulation (durch Aus-\n1 Gr\u00e4ee-Saemischs Handbuch, der gesamten Augenheilkunde, II. Auf!.,\nIY. Bd., S. 406.","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 281\nwendiglernen) Vorschub geleistet werde, habe ich bei den neuen Auflagen ber\u00fccksichtigt: Die Zahl der Tafeln ist erh\u00f6ht, ganz besonders die der f\u00fcr Dichromaten \u00e4hnlich aussehenden, die Nummern sind auf der R\u00fcckseite angebracht. Entbehrt werden konnten sie nicht, wegen der Hinweisungen im Text; auch sind sie f\u00fcr den farbenblinden Arzt unentbehrlich.\nEinige Kollegen haben Anstofs daran genommen, dafs ich bei Abteilung B Farbennamen nennen lasse. Das ist eine auf Mils Verst\u00e4ndnis beruhende Reminiszenz an die Zeit, wo man mit Seebeck und Holmoben Front machen mufste gegen die Farbensinnspr\u00fcfung mittels Vorzeigen und Benennenlassen farbiger Papierst\u00fccke. Pr\u00fcfung mit Farbennennung ist zul\u00e4ssig und erfolgreich, wenn man Objekte von kleinem Gesichtswinkel (1\u00b0 und weniger) verwendet.\nHat man solche kleine farbige Objekte in hinreichend grofser Zahl und Nuancierung, so k\u00f6nnte man durch blofses Vorzeigen und Benennenlassen eine einwandfreie Diagnose (ob farbent\u00fcchtig oder farbenunt\u00fcchtig) stellen. Aber das w\u00fcrde zeitraubend und m\u00fchsam sein. Sehr viel schneller geht es, wenn man immer mehrere Farben nebeneinander zeigt, nach dem Namen fragt und aus der Antwort entnimmt, ob der Untersuchte die qualitativen Unterschiede bemerkt oder nicht. Auf die spezielle Wahl der Namen kommt es sehr wenig an, namentlich bei Braun. Sagt aber jemand von Tafel Bl, sie sei gr\u00fcn und weifs auch auf besondere Nachfrage keine zweite Farbe zu nennen, die neben dem Gr\u00fcn vorhanden ist, so ist das ein deutlicher Beweis f\u00fcr abnormen Farbensinn. Nat\u00fcrlich mufs, wenn nur eine Farbe genannt wird, immer sogleich gefragt werden, ob nicht noch eine andere Farbe da sei, denn Leute, die \u00e4ngstlich sind, glauben oft schon das ihrige getan zu haben, wenn sie bei B 1 das Gr\u00fcn oder bei B 2 das Rot genannt haben, obgleich sie wohl merken, dafs noch etwas aufserdem da ist. Ich lasse mir, wenn die zweite Farbe erst auf besondere Frage genannt wurde, mit einem Stift anzeigen, wo diese farbigen Punkte sind. Geht das schnell und richtig, so kann man der qualitativen Unterscheidung sicher sein.\nWer daran zweifelt, dafs Farbenbenennung in diesem eingeschr\u00e4nkten Sinne zu richtigen Diagnosen f\u00fchrt, dem m\u00f6chte ich empfehlen, mit meinem Farbengleichungsapparat Versuche an Normalen und Farbenblinden zu machen. Die ersten zwei","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nW. A. Nagel\nbis drei Fragen und Antworten, ja h\u00e4ufig die erste Antwort des Untersuchten (der nach dem von mir angegebenen Schema gepr\u00fcft wird) ergeben schon die Diagnose. Es ist eben bei diesem Verfahren auch die Farbenbenennung nur ein Zeichen daf\u00fcr, ob der Untersuchte die zwei vorgelegten Farben als Gleichung oder als Ungleichung sieht.\nDarin liegt ein bedeutungsvoller Unterschied gegen das Verfahren, das von Zeit zu Zeit immer wieder empfohlen wird : die Pr\u00fcfung der Eisenbahnangestellten \u201ean der Strecke\u201c. Dabei wird im allgemeinen nur eine Farbe allein gezeigt, deren Helligkeit und S\u00e4ttigung nicht abgestuft wird, oder es werden mehrere verschiedenfarbige Bahnlaternen nebeneinander gezeigt. Eine Verbesserung dieses Verfahrens stellt die Pr\u00fcfung mit der EvERSBuscHschen Laterne1 dar, die gestattet, Helligkeit, S\u00e4ttigung und Gesichtswinkel der farbigen Fl\u00e4che zu variieren. Pr\u00fcfung mit mehreren solchen Laternen gleichzeitig, in denen die gezeigten Lichter in zweckentsprechender Weise nach Qualit\u00e4t und Quantit\u00e4t variiert w\u00fcrden, k\u00f6nnte zu sehr guten und sicheren Ergebnissen f\u00fchren; man verwendete dabei eben auch wieder das Prinzip der Farbengleichungen. Es kann aber wohl keinem Zweifel unterliegen, dafs eine solche Pr\u00fcfung sehr viel m\u00fchsamer und zeitraubender w\u00e4re als die Untersuchung mit den Tafeln, die die Farbenverwechselungen farbig zusammengestellt enthalten.\nIn einer zweiten H\u00e4lfte dieser Arbeit werde ich auf die Beziehungen zwischen dichromatischem und anomaltrichromatischem Farbensinn n\u00e4her eingehen.\n1 Vgl. v. Gr\u00e4fes Arch. f. Ophthalm. 50, 1, 1900.\n(Eingegangen den 6. Juni 1906.)\n(Schlufs folgt.)","page":282},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"319\n\u25a0 Aus der physikalischen Abteilung des physiologischen Instituts zu Berlin.)\nFortgesetzte\nUntersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik der angeborenen St\u00f6rungen des Farbensinns.\nVon\nProfessor W. A. Nabel in Berlin.\n(Schlufs.)\n6. Neue Erfahrungen \u00fcber das Earbensehen der Dichromaten\nauf grobem Felde.\n\u2022 \u2022\nUber die nachstehend mitgeteilten Untersuchungen habe ich schon auf der Versammlung der ophthalmologischen Gesellschaft zu Heidelberg im August 1906 kurz berichtet. Auch sie datieren in ihren ersten Anf\u00e4ngen wie die in den vorhergehenden Kapiteln mitgeteilten Erfahrungen schon aus den Jahren 1897 bis 1899, sind aber erst jetzt zu einem gewissen vorl\u00e4ufigen Abschlufs gekommen und haben gleichzeitig dadurch ein neues Interesse gewannen, dafs die oben referierten neuen Erfahrungen an anomalen Trichromaten zusammengenommen mit den hier zu berichtenden Beobachtungen die Beziehungen zwischen Dichromaten und anomalen Trichromaten noch enger zu gestalten scheinen, als man bisher annehmen konnte. Die meisten der Versuche, \u00fcber die ich. hier berichte, sind an mir selbst angestellt, und die bis jetzt gewonnenen Resultate gestatten nicht zu behaupten, dafs sich alle Dichromaten, oder auch nur alle Deute-ranopen so verhalten m\u00fcfsten wie ich. Im Gegenteil liegen hinreichende Anhaltspunkte f\u00fcr die Annahme erheblicher Unterschiede im Verhalten der einzelnen dichromatischen Individuen vor. Soviel kann ich indessen mit Bestimmtheit sagen, dafs\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 41.\t21","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nW. A. Nagel.\nsolche eigenartige Erscheinungen, wie sie nachstehend beschrieben werden, auch bei nicht wenigen anderen Deuteranopen Vorkommen.\nDas Neue ist folgendes: Es gibt Dichromaten, die im rein fovealen Sehen ein typisches dichromatisches Farbensystem aufweisen, beim Sehen mit grofsen Netzhautfl\u00e4chen aber ein komplizierteres System zeigen, das nicht anders denn als ein trichro-matisches bezeichnet werden kann. In den mir bekannten F\u00e4llen handelt es sich bestimmt nicht um ein normales trichromatisches System, w\u00e4hrend ein solches in anderen F\u00e4llen vielleicht vorhanden ist. Welcher Art das nicht - normale System in den ersteren F\u00e4llen ist, ob es mit einem der typischen anomal-triehromatischen Systeme von Rayleigh zusammenf\u00e4llt, ist zurzeit noch nicht endg\u00fcltig entschieden.\nBekanntlich bestreiten sehr viele Personen, die mit sicheren Methoden als Dichromaten diagnostiziert sind, \u2014 und zumal Gebildete, zur Selbstbeobachtung geeignete Personen \u2014, mit Bestimmtheit, dafs ihr Farbensinn so betr\u00e4chtliche Irrt\u00fcmer bedingen k\u00f6nne, wie die Verwechselung von Rot und Gelb oder Rot und Gr\u00fcn. Insbesondere bestreiten sie meistens, dafs Rot f\u00fcr sie nur eine andere Schattierung dessen sei, was sie sonst gelb nennen. Unsicherheit im Gr\u00fcn und Braun wird leichter zugegeben, ebenso im Violett und Blau. Solche Leute davon zu \u00fcberzeugen, dafs sie die von der Physiologie beschriebenen Farben Verwechselungen wirklich alle machen und dafs das bekannte raffinierte Raten ihnen unter Umst\u00e4nden nichts hilft, das gelingt in den meisten F\u00e4llen, wenn man sie mit Herings oder meinem Farbengleichungsapparat oder mit einem Spektralapparat untersucht, der zwei Farben nebeneinander zu stellen gestattet. Wenn sie dann Rot und Gelb fortw\u00e4hrend verwechseln, bald das Gelb (wenn es die dunklere Farbe ist) rot, das Rot gelb nennen, bald auch ein Rot gr\u00fcn und ein Gr\u00fcn gelb, und wenn sie die Heiterkeit bemerken, die sie mit ihren oft aus tiefster \u00dcberzeugung gemachten Angaben bei gleichzeitig anwesenden Farbent\u00fcchtigen hervorrufen, dann erst geben sie resigniert zu, dafs da doch etwas Erhebliches nicht in Ordnung sei. Manche Leute heben dann wohl hervor, dafs sie an solchen Apparaten, namentlich am Spektralapparat, unter ung\u00fcnstigen Bedingungen beobachten, weil ihnen dies ungewohnt sei ; Eisenbahnangestellte sagen wohl, das Gr\u00fcn an meinem Apparate sei ein anderes als das bei der Eisenbahn zu Signallaternen verwendete. Dieses w\u00fcrden sie nie mit Rot \u00f6der Gelb","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie mul Diagnostik etc. 321\nverwechseln. Das ist nat\u00fcrlich richtig, beweist aber ebenso nat\u00fcrlich nichts gegen das Vorhandensein typischer Farbenblindheit.\nIch, der ich Dichromat (Denteranop) bin, habe diese Zweifel bis zu einem gewissen Grade auch durchgemacht. Ich wufste zwar, dafs ich Farbenpaare, die f\u00fcr den Farbent\u00fcchtigen himmelweit verschieden aussehen, f\u00fcr gleichfarbig halten kann, wufste aber andererseits auch schon lange, dafs ich bei gr\u00f6fseren farbigen Fl\u00e4chen sehr selten mich darin irre, ob die betreffende Farbe r\u00f6tlich ist oder nicht. Ich hielt das jedoch zun\u00e4chst f\u00fcr ein blofses Raten oder f\u00fcr ein Urteil auf Grund der verschiedenen S\u00e4ttigungsgrade der Farben, also jedenfalls f\u00fcr etwas nicht Neues und nicht Interessantes.\nNeuerdings habe ich nun aber in einer mehr systematischen Weise meine Urteile \u00fcber die Farben namentlich schwach ges\u00e4ttigter farbiger Fl\u00e4chen mit den Urteilen normaler Trichro-maten verglichen und dabei leicht konstatieren k\u00f6nnen, dafs, soweit es sich um die Farbe Rot handelte, die Zahl der richtigen Urteile viel zu grofs war, um durch zuf\u00e4llig richtiges Raten erkl\u00e4rt zu werden. Ich zog daraus den Schlufs, es m\u00fcsse f\u00fcr mich eine spezifische Rotempfindung geben, die sich nicht nur durch verschiedene S\u00e4ttigung von einer anderen Farbenempfindung, etwa der Gelbempfindung unterscheidet.1\nEs besteht bekanntlich ein zur Demonstration des dichro-matisehen Sehens besonders geeigneter und vielfach angestellter Versuch in der Herstellung einer f\u00fcr den Dichromaten g\u00fcltigen Gleichung zwischen Blaugr\u00fcn und Purpur, welche Farben so gew\u00e4hlt werden k\u00f6nnen, dafs sie f\u00fcr den Farbenblinden neutral grau erscheinen. Man kann diesen Versuch u. a. sehr gut mittels des Farbenkreisels ausf\u00fchren. Nimmt man von den bekannten RoTHEsehen Papieren das stark ins Blau gehende Blaugr\u00fcn und mischt auf dem Kreisel dazu etwas gelbliches Gr\u00fcn, so erh\u00e4lt man bei richtigem Sektorenverh\u00e4ltnis eine Farbe, die f\u00fcr die augenblickliche \u201eStimmung\u201c des Dichromatenauges farblos, grau,\n1 Aus fr\u00fcher Kindheit schon entsinne ich mich, dafs ich mit Verwunderung bemerkte, wie ich die von anderen als rot, gr\u00fcn, gelb und weifs bezeichneten Schiffslaternen auf den Schweizerseen bei Nacht nicht unterscheiden konnte, dagegen die roten Lichter sofort mit Leichtigkeit herausfand, wenn sie sich im Wasser spiegelten und ihr Bild in einen langen Streifen auseinander gezogen war.\n21*","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\naussieht; ebenso l\u00e4fst sich ans Rot und Violett oder Blau ein jenem Gr\u00fcn gleichaussehendes, vom Normalen als Purpur be-zeichnetes Licht mischen.\nDie Herstellung dieser \u201eNeutralgleichung\u201c gelingt nun f\u00fcr mich und andere Dichromaten ganz leicht, wenn wir den Farbenkreisel aus 5\u20146 m Abstand betrachten. Sie gelingt schon weit weniger befriedigend aus 2 m Abstand, sie gelingt gar nicht mehr, wenn man das Feld aus 1/2 m Abstand betrachtet. Es gibt in diesem Falle keinerlei Mischungsverh\u00e4ltnis von Blau und Rot, bei welchem die Mischfarbe dem Blaugr\u00fcn gleich aussieht. Auch Zumischung von Schwarz und Weifs zu einem der beiden Lichter bewirkt keine Gleichung. Es ist also kein S\u00e4ttigungsunterschied, sondern ein Farbenunterschied, der nicht zu beseitigen ist. Nur wenn man sowohl dem Blaugr\u00fcn, wie dem Purpur sehr viel Weifs oder sehr viel Schwarz beimischt, ist auch an dem aus 1/2 m Abstand betrachteten Kreisel die Gleichung m\u00f6glich. Dann ist aber auch schon f\u00fcr den Farbent\u00fcchtigen die Farbe entweder unter die Schwelle der Wahrnehmbarkeit ger\u00fcckt, oder sie ist dieser Schwelle sehr nahe.\nGanz Analoges gilt f\u00fcr den Fall, dafs auf der einen Kreiselscheibe ein dem Spektralrot \u00e4hnliches Rot gezeigt wird, und auf der anderen Scheibe diejenige Mischung aus Schwarz und Gelb, die auf kleinem Felde dem Dichromaten als jenem Rot gleich erscheint. Auf grofsem Felde ist diese Gleichung nicht zu erzielen, auch nicht wenn die S\u00e4ttigung nach M\u00f6glichkeit gleich gemacht wird. Nur wenn auf beiden Seiten sehr viel Schwarz oder sehr viel Weifs zugemischt wird, ist auch auf grofsem Felde Gleichung m\u00f6glich.\nDie hervorstechendste Erscheinung bei diesen Beobachtungen ist immer die, dafs der Dichromat eine grofse Fl\u00e4che, die von einem nicht allzu unges\u00e4ttigten roten Lichte erleuchtet ist, stets richtig als rot erkennt. Es ist hierzu auch keine Vergleichsfl\u00e4che n\u00f6tig, wie ich in einer langen Reihe von Versuchen festgestellt habe.\nIch habe diese Versuche aufser mit Pigmentfarben und durchleuchteten Lichtfiltern auch mit Spektralfarben gemacht. Eine kleine Scheibe von Mattglas, etwa 4 cm2 grofs, oder ein ebenso grofses St\u00fcck d\u00fcnnen weifsen Papiers wurde von der einen Seite her mit spektralem Licht bestrahlt, dessen Wellenl\u00e4nge zwischen dem \u00e4ufsersten Rot und einem Gr\u00fcn von ca. 540 -tut beliebig","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 323\nvariiert werden konnte. Brachte ich ein Auge so nahe wie m\u00f6glich an die farbig leuchtende Fl\u00e4che heran, so war das Gesichtsfeld dieses Auges in grofsem Umfang (zu mindestens 50\u00b0) mit dem betreffenden homogenen Lichte erf\u00fcllt. Unter diesen Umst\u00e4nden ist die Verwechselung von Rot mit Gelb oder Gr\u00fcn g\u00e4nzlich ausgeschlossen. In Gemeinschaft mit Herrn Dr. Angier, der hierbei als (farbent\u00fcchtiger) Versuchsleiter fungierte, stellte ich ferner fest, dafs der Punkt im Spektrum, wo die Farbe aus Gelb ins R\u00f6tliche, d. h. zun\u00e4chst ins Orange \u00fcbergeht, f\u00fcr mich, den Dichromaten, fast genau mit derselben Sch\u00e4rfe festzustellen ist, wie f\u00fcr den normalen Trichromaten. Angaben \u00fcber die Wellenl\u00e4nge dieser Stelle im Spektrum vermag ich zurzeit noch nicht zu machen, da die von uns ben\u00fctzte Versuchsanordnung die hinreichend genaue absolute Bestimmung der Wellenl\u00e4nge nicht gestattete. Diese Bestimmung wird mit besseren Vorrichtungen nachgeholt werden.\nWie ich schon in meinem Heidelberger Vortrage erw\u00e4hnt habe, liegt der Gedanke sehr nahe, bei diesen und \u00e4hnlichen Versuchen eine verh\u00e4ngnisvolle Fehlerquelle darin zu finden, dafs bei Beobachtung auf grofsem Felde sich durch Beteiligung der St\u00e4bchenerregung das D\u00e4mmerungssehen einmischen k\u00f6nnte. Man weifs ja, dafs der D\u00e4mmerungswert homogenen roten Lichtes sehr gering ist, dafs er schon im Orange und Gelb schnell ansteigt und im Gr\u00fcn zwischen 530 und 540 sein Maximum erreicht. Unter den Bedingungen des D\u00e4mmerungssehens, bei Dunkeladaptation und nicht zu grofsen Helligkeiten, n\u00e4hert sich jedes Licht von betr\u00e4chtlichem D\u00e4mmerungs wert der charakteristischen Beschaffenheit des D\u00e4mmerungslichtes, seine Farbe n\u00e4hert sich dem bl\u00e4ulichen Weifs, w\u00e4hrend das Rot unter den gleichen Bedingungen seine Qualit\u00e4t um so reiner bewahrt, je l\u00e4ngerwellig es ist.\nBesonders eindringlich l\u00e4fst sich diese Erscheinung f\u00fcr den Dichromaten, speziell den Deuteranopen demonstrieren. Erf\u00fcllt man die eine H\u00e4lfte eines kreisf\u00f6rmigen Feldes, das unter dem Gesichtswinkel von 3\u20144\u00b0 erscheint, mit homogenem Rot, etwa von der Wellenl\u00e4nge 670 ^u, die andere H\u00e4lfte mit Gr\u00fcn von der Wellenl\u00e4nge 540 so l\u00e4fst sich f\u00fcr den Deuteranopen durch geeignete Helligkeitsregulierung bekanntlich v\u00f6llig befriedigende Gleichung zwischen den beiden Farben erzielen, sobald das Auge helladaptiert ist. Anders dagegen, wrenn dieses Feld mit den","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nW. A. Nagel.\nperipheren Teilen der Netzhaut betrachtet wird, die beim Aufenthalt im Zimmer, wenn nicht besondere Vorkehrungen getroffen sind, immer einigermafsen dunkeladaptiert sind. Hier wird die Gleichung sofort zur Ungleichung, das Rot bleibt leuchtend farbig, die andere (gr\u00fcne) H\u00e4lfte des Feldes wird weifslich.\nHierbei werden also die beiden objektiv verschiedenen Lichter trotz ihrer fovealen Gleichheit f\u00fcr den Dichromaten unterscheidbar, aber nur durch einen S\u00e4ttigungsunterschied. Man braucht dem Rot nur die geeignete Menge weifsen Lichtes zuzumischen, dann ist f\u00fcr den peripheren Netzhautteil die Gleichung wieder herstellbar.\nBeruht nun die oben beschriebene Unterscheidungsf\u00e4higkeit des Dichromaten f\u00fcr Rot und Gelb, bzw. Gr\u00fcn nicht auch nur auf der Verwertung solcher S\u00e4ttigungsdifferenzen ?\nStellt man auf kleinem Felde, wie oben angegeben, eine g\u00fcltige Gleichung zwischen Rot und Gr\u00fcn ein und vergr\u00f6fsert, w\u00e4hrend der Dichromat das Feld betrachtet, den Gesichtswinkel, unter dem es f\u00fcr ihn erscheint, auf 10\u201420\u00b0, so tritt in der Tat eine Veranderung im gleichen Sinne auf, wie wir sie beim \u00dcbergang von fovealer zu peripherer Betrachtung eines kleinen Feldes auftreten sahen: die rote H\u00e4lfte des Feldes erscheint ges\u00e4ttigter farbig als die andere (vorausgesetzt n\u00e4mlich, dafs sich die Versuchsperson in dem gew\u00f6hnlichen Zustand mittlerer Adaptation befindet, wie er sich beim Aufenthalt in m\u00e4fsig hellem Zimmer einstellt). Aber \u2014 das ist das Wesentliche \u2014, die S\u00e4ttigungsdifferenz ist nicht die einzige Verschiedenheit, die Auftritt; wie schon oben bemerkt, ist es auf keine Weise m\u00f6glich, durch S\u00e4ttigungsverminderung auf der Rotseite die Gleichung auch f\u00fcr grofses Feld wiederherzustellen. Es bleibt die Farbendifferenz bestehen, um so deutlicher, mit je gr\u00f6fserer Ann\u00e4herung der gleiche S\u00e4ttigungsgrad (soweit solcher bei Farben di ff erenz zu beurteilen ist) erreicht wird.\nSorgt man durch gute Helladaptation, wom\u00f6glich bei erweiterter Pupille, daf\u00fcr, dafs das D\u00e4mmerungssehen auf grofsem Felde sich nicht einmischt, so tritt die erw\u00e4hnte S\u00e4ttigungsdifferenz bedeutend zur\u00fcck, die Farbendifferenz dagegen um so mehr hervor.\nAuch bei den Versuchen mit spektralem Licht ohne Vergleichsfeld, von denen oben die Rede war, wurde auf die M\u00f6glichkeit der T\u00e4uschung durch S\u00e4ttigungsverschiedenheiten Bedacht","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 325\ngenommen. Wir beschr\u00e4nkten uns nicht darauf, die homogenen Lichter von Rot bis Gr\u00fcn von mir betrachten und benennen zu lassen, sondern richteten es so ein, dafs dem Rot seine Komplement\u00e4rfarbe in wechselnder Menge beigemischt werden konnte, so dafs es in allen S\u00e4ttigungsstufen bis herab zum blassen R\u00f6t-Jichweifs gezeigt werden konnte. Sah ich also das Gesichtsfeld mit einer blassen, unges\u00e4ttigten Farbe erf\u00fcllt, so konnte ich i\\ priori nicht wissen, ob diese Gr\u00fcn oder Blafsrot sei, konnte dies auch bei Betrachtung in kleinem, fovealem Felde keinesfalls erkennen. Der Augenschein bei Betrachtung im grofsen Felde aber liefs mich nicht im Zweifel dar\u00fcber, ob Rot vorlag oder nicht.\nBei diesen Versuchen wurde \u00fcbrigens stets f\u00fcr gute Helladaptation gesorgt; w\u00e4hrend Herr Dr. Angier ohne mein Wissen die eine oder andere Farbe einstellte, blickte ich auf eine von hellem Bogenlieht erleuchtete weifse Fl\u00e4che.\nBemerkenswert und in guter \u00dcbereinstimmung mit den Beobachtungen an Kreiselgleichungen ist, dafs die Roterkennung mit Sicherheit nur dann erfolgte, wenn die Lichtst\u00e4rke ziemlich grofs war. Bei geringeren Intensit\u00e4ten versagte mein Unterscheidungsverm\u00f6gen bei den unges\u00e4ttigten Nuancen.\nAlles in allem genommen, scheinen mir die beschriebenen Beobachtungen den Beweis zu liefern, <1 als wirklich eine \u00fcberdieLeistungen des dich romain ischenSehorganshinausgehendeUnter sch eidun g s-f \u00e4higkeit vorhanden ist, und nicht etwa eine T\u00e4uschung durch Einmischung des D\u00e4mmerungsapparates auf grofser Netzhaut fl\u00e4che vor liegt.\nEs stellt sich nun die Frage, welcher Art der Farbensinn der Augen vom Typus der meinigen ist, im Falle dafs grofse Netzhautfl\u00e4chen gereizt werden. Wir sahen, dafs es sich um ein typisches dichromatisches System bestimmt nicht handeln kann, \u00fcberhaupt um kein dichromatisches System im \u00fcblichen Sinne. Liegt nun eines der bekannten trichromatischen Systeme vor?\nIch bemerke vorweg, dafs mit den mir bis jetzt zur Verf\u00fcgung stehenden experimentellen Hilfsmitteln diese Frage noch nicht eindeutig entschieden werden konnte. Der gegebene Weg ist nat\u00fcrlich der, mittels spektral zerlegten Lichtes auf grofsen Feldern (von mindestens 10 \u00b0) die Einstellung derjenigen Mischungsgleichungen zu versuchen, die in bekannter Weise die typischen drei trichromatischen Systeme charakterisieren.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nW. A. Nagel.\nZu diesem Zwecke reichten die f\u00fcr mich verf\u00fcgbaren Farbenmischapparate nicht aus, da sie bei gen\u00fcgender Lichtst\u00e4rke und Reinheit der Spektralfarben die Feldgr\u00f6fse nicht \u00fcber etwa 4^ steigen lassen. Wollte man das Feld vergr\u00f6fsern, so w\u00fcrde entweder die Lichtst\u00e4rke oder die Reinheit in unzul\u00e4ssiger Weise vermindert werden. Es ist also eine Neukonstruktion notwendig, die in Vorbereitung steht.\nDas bisher vorliegende Beobachtungsmaterial gestattet immerhin die Festlegung einiger nicht unwichtiger Punkte. Bei mir und den anderen untersuchten Dichromaten weist das Sehen auf grofsem Felde einige ganz bemerkenswerte \u00c4hnlichkeiten mit dem Farbensehen der anomalen Trichromaten auf, wie es in den ersten Abschnitten dieser Abhandlung charakterisiert wurde, und zwar nicht nur mit dem peripheren sondern auch mit dem fovealen Sehen dieser Personen. Die s\u00e4mtlichen oben genannten, von Guttmann 1 zusammengestellten sekund\u00e4ren Merkmale des Farbensinnes der Anomalen zeigen sich auch bei mir. Da es bisher nicht gelungen ist, zwischen diesen sekund\u00e4ren Merkmalen und dem inneren Wesen der anomalen Systeme, wie wir es auf Grund der Forschungen von K\u00f6nig und v. Kries auffassen, einen urs\u00e4chlichen Zusammenhang herzustellen, w\u00e4re es voreilig, zu behaupten, der Dichromat meiner Art sehe auf grofser Fl\u00e4che genau so, wie der anomale Trichromat auf fovealem Felde. Das wichtigste Charakteristikum, die anomale Mischungsgleichung in der langwelligen Spektralh\u00e4lfte, ist eben, wie gesagt, bei mir nicht nachgewiesen, und man kann daher zurzeit nicht mehr sagen, als dafs es nicht verwunderlich w\u00e4re, wenn dieses Charakteristikum auch noch nachgewiesen w\u00fcrde.\nDie angedeuteten \u00c4hnlichkeiten mit dem anomalen trichro-matischen System liegen im folgenden:\n1. Auf Feldern von nicht zu geringer Gr\u00f6fse (2\u20143 \u00b0), bei nicht zu geringer Helligkeit und hinreichender Sichtbarkeitsdauer erh\u00e4lt kein Anomaler eine Gleichung zwischen homogenem Rot und Gelb bzw. Gelbgr\u00fcn ; wohl aber bekommen manche Anomalen (die von mir oben provisorisch als \u201eextreme\u201c bezeichneten) Gleichung zwischen Gelb und Gr\u00fcn aus der Gegend der Thalliumlinie. Die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farbent\u00f6ne in dieser\n1 Sitzungsber. I. Kongrefs f\u00fcr experimentelle Psychol. 1904.","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 327\nSpektralregion ist f\u00fcr alle Anomalen herabgesetzt (Donders), bei einzelnen geradezu auf Null reduziert.\nDas gleiche trifft bei einem Farbensinn meiner Art zu, wenn die Farben auf grofsem Felde dargeboten werden: Rot gibt mit Gelb oder Gelbgr\u00fcn keine Gleichung, dagegen Gelb mit Gelbgr\u00fcn.\n2.\tHomogenes Rot (und Orange) verliert bei Herabsetzung der Intensit\u00e4t seine spezifische Farbigkeit f\u00fcr den Anomalen (im kleinen Felde von 2\u20143 \u00b0) und gibt dann Gleichung mit licht-schwachem Gelb. Das geschieht bei einer Helligkeit, bei der der normale Trichromat noch deutlich Rot (bzw. Orange) sieht.\nWas hier f\u00fcr den Anomalen auf kleinem Felde gilt, gilt f\u00fcr den Dichromaten meiner Art auf grofsem Felde.\nBez\u00fcglich des Gr\u00fcn trifft das gleiche bei Anomalen und Dichromaten in erh\u00f6htem Mafse zu.\n3.\tWird homogenem Rot reichlich Blau zugemischt, so wird (auf kleinem Felde) vom Anomalen der Rotgehalt der Mischung schon nicht mehr bemerkt, wenn ihn der Normale noch deutlich erkennt. Violettaussehende Rot- und Blaumischungen sowie ein homogenes, kurzwelliges, f\u00fcr den Normalen schon ins Violette gehendes Licht h\u00e4lt der Anomale demgem\u00e4fs h\u00e4ufig f\u00fcr Blau.\nDas gleiche gilt f\u00fcr den Dichromaten meiner Art auf grofsem Felde. Das Blau verdeckt auch f\u00fcr ihn das Rot.\n4.\tDie Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farbent\u00f6ne im langwelligen Spektralteil sinkt f\u00fcr den Anomalen bedeutend bei Verk\u00fcrzung der Expositionszeit. Bei hinreichend kurzer Sichtbarkeit der Farbenfelder sieht der Anomale wie ein Dichromat (im fovealen Sehen).\nAuch f\u00fcr den Dichromaten meiner Art macht sich die \u00dcberlegenheit seines Farbensehens auf grofsem Feld \u00fcber das rein dichromatische Sehen nur bei relativ langer Expositionszeit geltend. Damit der Dichromat auf grofsem Feld im langwelligen Spektralteil ann\u00e4hernd die gleiche Leistung an Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farben t\u00f6ne aufweisen kann, wie der Normale auf kleinem Feld, bedarf er einer viel l\u00e4ngeren Beobachtungszeit als dieser. Bei kurzer Expositionszeit (beispielsweise 1/10 Sek.) ist sein Sehen auch auf grofsem Felde ein rein dichromatisches.\n5.\tF\u00fcr die anomalen Trichromaten ist der Farbenkontrast in dem Gebiet der l\u00e4ngerwelligen Farben in eigent\u00fcmlicher Weise gesteigert. Reines Gelb erscheint ihnen gr\u00fcn, wenn lebhaftes Rot daneben sichtbar ist, rot wenn Gr\u00fcn daneben ist. Auch der","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nW. .4. Nagel.\nSuccessivkontrast ist gesteigert. F\u00fcr die Dichromaten meiner Art trifft insofern \u00e4hnliches zn, als auf grofsem Felde Gelb, Weifs oder Grau neben lebhaftem Gr\u00fcn rot erscheint.\nIch m\u00f6chte nun zun\u00e4chst namentlich auf diesen letzten Punkt etwas n\u00e4her eingehen, weil die hier erw\u00e4hnten Erscheinungen bei dem Farbensehen der Dichromaten eine betr\u00e4chtliche Polle spielen, die bisher ganz unbekannt war.\nVor mehreren Jahren versuchte ich bei einem Gr\u00fcnanomalen (Dr. Guttmann) die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farbent\u00f6ne in der Weise festzustellen, dafs auf einem Farbenkreisel die grofse Scheibe durch Mischung von Schwarz und Gelb braun gef\u00e4rbt wurde, w\u00e4hrend auf der kleineren Scheibe, die ebenfalls Schwarz -)- Gelb enthielt, variable kleine Mengen von Rot oder Gr\u00fcn beigemischt wurden. Es stellte sich heraus, dafs wenn der Anomale die kleine Scheibe allein sah, betr\u00e4chtliche Gr\u00fcnzumischungen unbemerkt blieben, w\u00e4hrend sie sofort bemerkt wurden, wenn gleichzeitig die Vergleichsscheibe sichtbar war; bemerkt aber wurde der Gr\u00fcnzusatz eigentlich nicht direkt und an und f\u00fcr sich, sondern dadurch, dafs das Vergleichsbraun rot oder orange wurde.\nW\u00e4hrend wir also die Gr\u00fcnmenge suchten, die eben erkennbar w\u00e4re, trat zu einer Zeit, wo das Gr\u00fcn als solches noch nicht erkennbar wrar, der kr\u00e4ftige Kontrast der unterschwelligen Farbe auf das Nachbarfeld deutlich auf.\nGanz \u00e4hnlich liegen nun die Verh\u00e4ltnisse bei mir, dem \u201eDichromaten\u201c ; nur gilt, was beim Anomalen schon auf kleinem Feld zutrifft, bei mir nur auf grofsem Felde, und es sind etwas st\u00e4rkere S\u00e4ttigungen n\u00f6tig. Betrachte ich einen Farbenkreisel aus solcher Entfernung, dafs er mir unter einem Gesichtswinkel von nicht mehr als 4\u00b0 erscheint, und lasse auf ihm aufsen ein Gelbbraun, innen ein Gelbgr\u00fcn mischen, dafs unter den gegebenen Umst\u00e4nden f\u00fcr mich Gleichung mit jenem gibt, so wird diese Gleichung alsbald ung\u00fcltig, sobald ich nahe an den Kreisel herantrete ; nicht aber dadurch, das das Gr\u00fcn als solches sichtbar w\u00fcrde, sondern dadurch, dafs das Gelb orange bis rot wird. Das Gelb kann nach dem Urteil des Normalen selbst etwas gr\u00fcnlich sein; neben kr\u00e4ftigem Gr\u00fcn wird es f\u00fcr mich doch rot.\nNoch pr\u00e4gnanter gelingt dieser Versuch, wenn aufsen ein ges\u00e4ttigtes, f\u00fcr den Farbent\u00fcchtigen schon ein wenig ins Bl\u00e4uliche gehendes gr\u00fcnes (f\u00fcr den Dichromaten neutralgraues) Feld ge-","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik de. 329\nnommen wird, innen ein Grau, das f\u00fcr den Dichromaten dem Gr\u00fcn foveal helligkeits- und farbengleich erscheint. Aus der N\u00e4he gesehen, erscheint mir die graue Scheibe in leuchtendem Karminrot.1\nEs liegt hier ein \u00e4ufserst seltsames Verhalten vor : Das Gr\u00fcn selbst kenne ich nicht als eine eigentliche Farbe, selbst bei grofsen Fl\u00e4chen erkenne ich es nicht, wenn es nicht sehr ges\u00e4ttigt ist. Vor allen Dingen habe ich niemals, unter keinen Umst\u00e4nden, etwa durch Nachbild eines Kotreizes oder durch Induktion von seiten einer roten Fl\u00e4che aus eine Gr\u00fcnempfindung, wrnhl aber ausgepr\u00e4gte Rotempfindung durch Induktion von seiten einer gr\u00fcnen Fl\u00e4che oder als Nachbild eines ges\u00e4ttigten Gr\u00fcn. Ob eine Fl\u00e4che gr\u00fcn ist oder nicht, kann ich tats\u00e4chlich nur daran mit Sicherheit erkennen, ob sie in einem neutralen Nachbarfeld durch Simultankontrast, oder im Nachbild Rotempfindung hervorruft. Dafs dagegen eine Fl\u00e4che rot ist, kann ich entweder, wenn die Farbe gen\u00fcgend hell und nicht zu unges\u00e4ttigt und das Feld gen\u00fcgend grofs ist, direkt, oder wenn das Feld zu klein, die Farbe zu dunkel oder allzublafs ist, gar nicht erkennen.\nEs passiert mir sehr h\u00e4ufig, dafs ich nach zuf\u00e4lligem l\u00e4ngerem Anblicken einer gr\u00fcnen Fl\u00e4che (von deren gr\u00fcner Farbe ich nichts weifs) durch das aufdringliche rote Nachbild frappiert werde und erst hierdurch mir bewufst werde, etwas gr\u00fcnes betrachtet zu haben. Geradeso wie die Kontrastwirkung auf fovealem Felde bei anomalen Trichromaten offenbar viel st\u00e4rker ist als irgend ein Farbenkontrast beim normalen Trichromaten, so mufs auch die Kontrasterregung auf grofsen Fl\u00e4chen beim Dichromaten meiner Art wesentlich intensiver sein, als sie der Normale kennt.\n1 Unter Karminrot verstehe ich die Farbe des Karmin in fester Form oder einer Lithionkarminl\u00f6sung in nicht zu d\u00fcnner Schicht, also jedenfalls eine warme Farbe, im Gegensatz zu der kalten Purpurfarbe stark verd\u00fcnnter oder in d\u00fcnner Schicht gesehener Karminl\u00f6sung.\nAls besonders bemerkenswert registriere ich hier, ohne weiter auf sie einzugehen, die Tatsache, dafs mir auch ein noch auf der warmen Seite liegendes Gr\u00fcn ein warm-rotes, nicht purpurnes Nachbild erzeugt. Erleuchte ich eine Fl\u00e4che von 30\u201440 0 Gesichtswinkel mit spektralem Licht von 540 gg, also einem ausgesprochenen warmen Licht, so erscheint mir nach pl\u00f6tzlichem L\u00f6schen der Lichtquelle oder Schliefsen der Augen das Gesichtsfeld nicht etwa rosa, sondern warm rot, etwa in dem Ton, den man als Erdbeerrot bezeichnet.","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nTF. .4. Nagel.\nBlickt der Normale erst einige Sekunden auf eine lebhaft gr\u00fcne und dann auf eine (etwa helligkeitsgleiche) graue oder braune Fl\u00e4che, so sieht er wohl Andeutungen einer durch Kontrast erzeugten R\u00f6tung dieser Fl\u00e4che, nicht aber eine so frappante, lang anhaltende Farbenver\u00e4nderung, wie ich sie sehe.\nEin sehr in die Augen fallender Unterschied zwischen meiner Reaktionsweise und derjenigen vieler Anomalen liegt nur darin, dafs bei diesen auch die umgekehrte Kontrastwirkung auf tritt, d. h. dafs Grau, Braun oder Gelb neben kr\u00e4ftigem Rot f\u00fcr sie Gr\u00fcn erscheint. Diese Erscheinung ist so konstant, dafs sie an jedem unge\u00fcbten Anomalen sich sofort konstatieren l\u00e4fst, weshalb ich sie ja auch bei der im Abschnitt 5. besprochenen neuen Untersuchungsmethode geradezu als ein charakteristisches Erkennungszeichen verwendet habe. Diese Anomalen kennen eben die Empfindung gr\u00fcn wirklich, wenn sie auch bei kleinen Fl\u00e4chen, kurzer Gichtbarkeitsdauer, und geringer S\u00e4ttigung und Helligkeit oft genug Verwechselungen mit Braun oder Grau machen. Sie vermeiden gerne die Bezeichnung gr\u00fcn, dr\u00fccken sich gewissermafsen um sie herum, wo sie k\u00f6nnen. Um so auffallender ist es daher, wenn sie mit solcher Bestimmtheit von Gr\u00fcn sprechen, sobald der Kontrast von seiten eines lebhaften Rot ihnen solches erscheinen l\u00e4fst.\nEs gibt jedoch auch Gr\u00fcnanomale, bei denen die M\u00f6glichkeit Gr\u00fcnempfindung zu haben, noch weit mehr eingeschr\u00e4nkt ist. Ein derartiger Gr\u00fcnanomaler ist Herr Professor Schumann, der \u00fcber seinen Farbensinn selbst Beobachtungen angestellt und ver\u00f6ffentlicht hat.1 Ihm fehlt, wie er versichert, die Gr\u00fcnempfindung v\u00f6llig, w\u00e4hrend gleichwohl objektiv gr\u00fcnes Licht bei ihm im fovealen Felde durch Kontrast ein benachbartes weifses Feld rot f\u00e4rbt.\nDie von Schumann (a. a. 0.) selbst gemachten Angaben\n1 Sitzungsber. I. Kongrefs f\u00fcr experimentelle Psychol. Giefsen 1904. Schumann sagt (a. a. 0.) es sei gut, clafs die \u201eungew\u00f6hnliche Form von Farbenblindheit\u201c, die er bei sich diagnostiziert, einen Psychologen betroffen habe, \u201eda ein Laie bei der Untersuchung durch einen Physiologen wohl einfach in die Kategorie der anomalen Trichromaten eingereiht worden w\u00e4re\u201c.\nProf. Schumanns Fall ist tats\u00e4chlich keine Farbenblindheit. Es ist anomal trichromatisches System. Wo man wissenschaftlich von \u201eFarbenblinden\u201c spricht, versteht man darunter Dichromaten (oder Achromaten). Prof. Schumann tut nicht gut, hieran zu r\u00fctteln.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 381\nscheinen sich im wesentlichen auf Beobachtungen mit spektralen Lichtern, also wohl auf kleines Feld zu beziehen, und man erf\u00e4hrt nicht, ob der Farbensinn auf grofsem und kleinem Felde nennenswerte Unterschiede auf weist. Die von G. E. M\u00fcller in der Diskussion zu Schumanns Vortrag gemachten Angaben scheinen sich auf Kreiselgleichungen zu beziehen, also mindestens auf nicht ganz kleine Felder.\nEs wird von hohem Interesse sein, wenn weitere F\u00e4lle von anomal-trichromatischem System, wie es bei Professor Schumann vorliegt, systematisch untersucht werden unter Ber\u00fccksichtigung der zwei wichtigen Faktoren: Gr\u00f6fse der gereizten Netzhautfl\u00e4che und Dauer der Reizung. Einstweilen l\u00e4fst sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen, wie weit die Verh\u00e4ltnisse des fovealen Sehens bei Schumann und des Sehens auf grofsem Felde bei mir \u00fcbereinstimmen. Schumann gibt an, dafs er Gleichung zwischen Weifs und Gr\u00fcn dann bekam, wenn er zwischen die beiden Felder einen 2\u20143 mm breiten Streifen legte, dessen Mitte er fixierte. Er tat dies, um \u201eRandkontrast\u201c und Successivkontrast zu vermeiden. Tats\u00e4chlich eliminierte er aber dabei fast den ganzen fovealen Netzhautbezirk1 und es bleibt zun\u00e4chst dahingestellt, wieviel von der Gleichungsm\u00f6glichkeit auf Kosten der Kontrastbeseitigung, wieviel auf Kosten des Ausfalles eines grofsen Teiles der Fovea gesetzt werden inufs. Auch kommt es ja bei derartigen Versuchen sehr auf die Dauer der Beobachtungen an, viel mehr als bei Beobachtungen normaler Trichromaten. Wie oben im Abschnitt 3. erw\u00e4hnt, bekommt man von Anomalen vom Typus des Professors Schumann Gleichungen zwischen Gelb und leicht gelblichem Gr\u00fcn ; aber auch diese Gleichungen haben nicht die Sicherheit und Bestimmtheit, wie etwa die typischen fovealen Mischungsgleichungen eines normalen Trichromaten oder eines Dichromaten. Sie werden von einer und derselben Person bald anerkannt, bald verworfen. Die genauere Feststellung der Bedingungen hierf\u00fcr ist eine der n\u00e4chsten Aufgaben auf diesem Gebiete.\nDie hier in Frage kommenden Versuche stellen nicht geringe Anforderungen an die Versuchsperson. Ich habe mindestens ein Dutzend von Anomalen des Typus von Prof. Sch\u00fcmann untersucht,\n1 Die Versuche Schumanns sind am HELMHOi/rzschen Farbenmischapparat ausgef\u00fchrt, an welchem ein Streifen von 3 mm Breite unter dem Gesichtswinkel von nicht ganz einem Grad erscheint.","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nTF. A. Nagel.\nkann aber nicht mehr sagen, als dafs die Art ihres fovealen Sehens meinem Sehen auf grofsem Felde sehr \u00e4hnlich ist, w\u00e4hrend ich volle \u00dcbereinstimmung nicht behaupten m\u00f6chte. Alle diese Personen bezeichneten \u00fcbrigens bei Pr\u00fcfung mit meinen Tafeln das Braun neben Rot ohne weiteres als Gr\u00fcn. Da die Leute im \u00fcbrigen sich sehr \u00e4hnlich wie Prof. Schumann verhielten, ist es leicht m\u00f6glich, dafs auch dieser wie jene im rein fovealen Sehen und bei gen\u00fcgend langer Reizdauer einen Rest von Gr\u00fcnempfindung haben k\u00f6nnte.\nIn R\u00fccksicht auf diese Frage habe ich mich ganz besonders bem\u00fcht festzustellen, ob bei mir irgend welche Anzeichen f\u00fcr das Vorhandensein einer Gr\u00fcnempfindung vorliegen, aber mit durchaus negativem Erfolg. Es ist mir oft passiert, dafs ich von einer grofsen farbigen Fl\u00e4che mit Bestimmtheit zu erkennen glaubte, dafs sie leuchtend gr\u00fcn sei, \u2014 aber ich irrte mich. Besonders wichtig scheint mir auch, dafs selbst das leuchtendste Rot niemals durch Kontrast eine Gr\u00fcnempfindung hervorruft. Ist es ein gelbliches Rot, so wird Blauempfindung induziert, ist ein bl\u00e4uliches Rot, Gelbempfindung.\nHierin scheint mir nun ein wesentlicher Unterschied zwischen meinem Farbensinn und demjenigen des Lokomotivf\u00fchrers Sch. zu liegen, \u00fcber den ich fr\u00fcher (diese Zeitschrift 39, S. 95) berichtet habe. Er war im fovealen Sehen ebenso sicher wie ich selbst Deuteranop; an gr\u00f6fseren farbigen Objekten unterschied er aber auch gr\u00fcn und grau, wo es mir unm\u00f6glich war. Die Unterscheidung des Rot und Purpur von den deuteranopischen Verwechselungsfarben gelang dem Sch. auch bei betr\u00e4chtlich kleinerem Gesichtswinkel, als ich ihn ben\u00f6tige.\nLeider war, wie ich schon fr\u00fcher mitteilte, die genauere Untersuchung des so eigenartigen Falles aus besonderen Gr\u00fcnden nicht m\u00f6glich, und so mufs ich mich auf die Erw\u00e4hnung der zwei M\u00f6glichkeiten beschr\u00e4nken, die sich hier aufdr\u00e4ngen: Sch. und ich sehen auf kleinem Feld deuteranopisch, auf grofsem nicht; beruht nun seine \u00dcberlegenheit beim Sehen auf grofsem Felde auf einem nur graduellen Unterschied, so dafs sein Farbensehen auf grofsem Felde sich zu dem meinigen verh\u00e4lt, wie das Farbensehen auf kleinem Felde bei einem der gew\u00f6hnlichen Gr\u00fcnanomalen (Lotze1, Guttmann) zu dem eines extrem Gr\u00fcn-\n1 Untersuchung eines anomalen trichromatischen Systems. Dissertation. Freiburg 1898.","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie uncl Diagnostik etc. 333\nanomalen (Schumann)? Oder hat der Lokomotivf\u00fchrer Sch. auf grofsem Felde ein normales trichromatisches System, ich dagegen ein gr\u00fcnanomales?\nAlle Wahrscheinlichkeit spricht ja f\u00fcr die erstere Eventualit\u00e4t, aber Sicherheit liegt nicht vor. Hoffentlich gelingt es bald, diesen oder einen \u00e4hnlichen Fall zur Untersuchung mit vervoll-kommneten Hilfsmitteln heranzuziehen.\nDie bisher gemachten Erfahrungen legen die Vermutung nahe, dafs es unter den Personen mit foveal rein diehromatischem Sehen vielerlei Unterabteilungen ohne scharfe Grenzen gibt, deren Sehen auf grofsem Felde sich ebenso sehr unterscheidet, wie das foveale Sehen der anomalen Trichromaten: eine l\u00fcckenlose Reihe von denjenigen Personen an, denen man kaum eine Spur von Farbenschw\u00e4che anmerkt (Lotze), zu den deutlicher Farbenschwachen (Guttmann,Levy j) und endlich zu den extremen Anomalen (Schumann u. a.) Diese Reihe unter den Dichromaten wiese die gleichen Symptome in wachsendem Mafse auf, die wir oben als sekund\u00e4re Merkmale der Anomalen kennen lernten. Dahingestellt bleibt zun\u00e4chst, ob das die Anomalen prim\u00e4r und wesentlich Charakterisierende, das Verhalten gegen Mischungsgleichungen in der warmen Spektralh\u00e4lfte, im grofsfl\u00e4chigen Sehen der Dichromaten sich wird ebenfalls nachweisen lassen.\nVon besonderem Interesse wird es sein, ob sich, nachdem ich mich selbst gewissermafsen als unvollst\u00e4ndigen Dichromaten \u201eentlarvt\u201c habe, \u00fcberhaupt noch echte, vollst\u00e4ndige Dichromaten linden werden, d. h. solche, die auch auf gr\u00f6fstem Felde rein dichromatiseh sehen. Bei solchen m\u00fcfste die Rotempfindung auch noch fehlen, oder, richtiger gesagt, die Unterschiedsempfindlichkeit zwischen Rot und Gelb gleich Null werden, wie sie es bei mir zwischen Gr\u00fcn (540) und Gelb ist. Ob das vorkommt? Wir kennen wohl eine zusammenh\u00e4ngende Reihe von\n1 \u00dcber einen zweiten Typus des anomalen tri chromatischen Farbensystems etc. Dissertation. Freibnrg 1903.\nNB. Ich f\u00fchre die Namen Lotze usw. als Vertreter der Typen an, weil dieses Anomale sind, die sich selbst publizistisch ge\u00e4ufsert haben. Ich kenne freilich F\u00e4lle, bei denen die Schw\u00e4che des Farbensinns noch wesentlich weniger hervortritt, als bei Lotze, und andererseits solche, bei denen die hier als f\u00fcr Prof. Schumann charakteristisch angef\u00fchrten Symptome noch pr\u00e4gnanter hervortreten. Doch d\u00fcrfte klar sein, welche Eigenschaften ich mit jenen Namen vorzugsweise festlegen wollte.","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nW. A. Nagel.\nFarbensinnsarten, in der die Gr\u00fcnempfindung successive immer mehr verschwindet. Wir wissen bis jetzt nichts hinsichtlich einer \u00e4hnlichen Reihenbildung in der Rotempfindung.\nWahrscheinlich ist es freilich, dafs auch hierin Unterschiede Vorkommen ; sicher vorhanden sind sie hinsichtlich der zeitlichen Verh\u00e4ltnisse der Farbenempfindung. Unter gewissen Bedingungen, d. h. bei einem Rot bestimmter S\u00e4ttigung, Nuance und Helligkeit brauche ich ebensoviele Sekunden, um das Rot zu empfinden und zu erkennen, als der Normale Hundertstelsekunden braucht. Die Gr\u00fcnanomalen rangieren (ich kann hier nur sch\u00e4tzen, da genauer messende Versuche mir fehlen) zwischen dem Normalen und mir, und differieren sicherlich ganz bedeutend untereinander.\nAuch in anderer Hinsicht steht bei den Anomalen die Erkennungsf\u00e4higkeit f\u00fcr Rot nicht auf der H\u00f6he des Normalen. Bei sehr kleinem Felde (Vio\u00b0 und darunter) sind sie in der Unterscheidung von Rot und Gelb unsicher. \u201eMinimalfeldhelligkeiten\u201c, wie sie v. Kries durch Siebeck {diese Zeitschrift 41, S. 89) unl\u00e4ngst bestimmen liefs, w\u00fcrden die Anomalen voraussichtlich an wesentlich gr\u00f6fseren Feldern noch bestimmen k\u00f6nnen.\nEs fehlt also nicht an Hinweisen auf Beeintr\u00e4chtigung auch der Rotempfindung bei Gr\u00fcnanomalen. Dagegen kennt man meines Wissens keinen Fall, in dem die Rotempfindung sehr erheblich, die Gr\u00fcnempfindung sehr wenig beeintr\u00e4chtigt w\u00e4re. Keinesfalls k\u00f6nnen in diesem Zusammenh\u00e4nge die Rotanomalen als Beispiel genannt werden, denn auch bei ihnen \u00e4ufsert sich die \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c ganz vorzugsweise in der Verwechselung von Gr\u00fcn und Grau. Auch bei den Rotanomalen ist von den Farbenempfindungsqualit\u00e4ten die Gr\u00fcnempfindung am deutlichsten beeintr\u00e4chtigt.\nWufste man schon bisher sehr wohl, dafs die subjektive, psychologische Gliederung der Farbenempfindungen von der physiologischen Komponentengliederung der Farbensysteme scharf getrennt gehalten werden m\u00fcsse, so bilden doch die eben erw\u00e4hnten Tatsachen besonders \u00fcberzeugende Illustrationen hierzu. Es ist gewifs nicht \u00fcberfl\u00fcssig, diese Tatsachen eindringlich hervorzuheben; ist doch das, was so viele an der Gegenfarbentheorie besticht, der Umstand, dafs diese so viel verspricht, dafs sie die psychologische Ordnung der Farbenempfindungen und die physiologischen Gesetze der Erregung im lichtempfindlichen","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 335\nApparat in eine sehr enge und einfache Verbindung setzen will. Gerade die Basierung auf den Hauptfarbenqualit\u00e4ten hat Herings Lehre so viele Freunde unter den Psychologen und den Ophthalmologen gewonnen. Darum verdient es hervorgehoben zu werden, dafs das eigentliche Prinzip der eng zusammenh\u00e4ngenden Gegenfarben in vielen F\u00e4llen durchbrochen ist: Man kennt zahllose pathologische F\u00e4lle, wo in evidenter Weise rein nur die Gr\u00fcnempfindung oder die Gelbempfindung ausgel\u00f6scht ist; man kennt anomale Trichromaten, die kr\u00e4ftige Rotempfindung haben, aber der Gr\u00fcnempfindung v\u00f6llig ermangeln. Hierzu gesellt sich jetzt als dritte Tatsachenreihe das Sehen der Dichromaten meiner Art auf grofsem Felde, mit erhaltener Rotempfindung und g\u00e4nzlichem Fehlen einer Gr\u00fcnempfindung.\nDie neue Erfahrung, dafs es Personen mit dichromatischem und trichromatisehern Farbensystem im gleichen Auge gibt, er\u00f6ffnet bemerkenswerte Aussichten. Vor allem wird die Beziehung zwischen Dichromaten und anomalen Trichromaten wesentlich klarer als bisher festgestellt werden k\u00f6nnen. Aber auch f\u00fcr die psychologische Betrachtung des Farbensinns m\u00fcssen sich neue Wege \u00f6ffnen, sobald man in die Lage gesetzt sein wird, quantitative Untersuchungen des Farbensinns auf grofsen Netzhautfl\u00e4chen mit der gleichen Genauigkeit zu machen, wie es auf fovealen Feldern schon l\u00e4ngst m\u00f6glich war.\nIch habe im vorhergehenden geflissentlich fast nur von Deuteranopen und Gr\u00fcnanomalen gesprochen, dagegen Protanopen und Rotanomale beiseite gelassen, weil erstere mir, dem Deuteranopen naturgem\u00e4fs n\u00e4her liegen. In aller K\u00fcrze aber m\u00f6chte ich erw\u00e4hnen, dafs ich auch bei einigen Protanopen den bestimmten Eindruck gewonnen habe, dafs sie auf grofsem Felde kein rein dichromatisches Sehen haben, sondern sich wie Rotanomale verhalten. N\u00e4heres hoffe ich bald mitteilen zu k\u00f6nnen.\nEndlich noch einen Streifblick auf die praktische Seite der Sache. Aus dem Umstande, dafs ich und andere Deuteranopen mif grofsem Felde nicht mehr dichromatisch sehen, erkl\u00e4rt sich leicht, warum so viele Deuteranopen die Wollprobe so glatt bestehen, namentlich die Purpurprobe. Die Wollb\u00fcndel pr\u00e4sentieren sich unter einem Gesichtswinkel, der grofs genug ist, um Rotempfindung entstehen zu lassen. Die Langsamkeit, mit der sich die Rotempfindung entwickelt, erkl\u00e4rt die Langsamkeit der Wahl. Der Lokomotivf\u00fchrer Sch., der auch die gr\u00fcnen und grauen Woll-\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 41.\t22","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nW. A. Nagel.\nb\u00fcndel unterscheiden konnte, wenn auch langsam (und kaum mit Hilfe des Kontrastes, wie ich es kann), mufs, wie schon oben erw\u00e4hnt, schon auf weit kleineren Feldern trichromatisch gesehen haben, trotz seiner rein dichromatischen Fovea, denn er konnte an meinen Farbentafeln und an Stillings Tafeln, wenn er sie nahe ans Auge brachte, Farbenunterscheidungen machen, die jenseits der M\u00f6glichkeit beim dichromatischen Sehen liegen. Solche F\u00e4lle scheinen extreme Seltenheiten zu bleiben, w\u00e4hrend wohl die \u00fcberwiegende Zahl der Deuteranopen sich verh\u00e4lt, wie ich es tue. Ich kann an Stillings und meinen Tafeln die roten Punkte bei Lupenvergr\u00f6fserung erkennen.\nBer\u00fccksichtigt man, dafs sowohl beim Eisenbahndienst wie in der Marine das Erkennen kleiner farbiger Objekte (weit unter der Foveagr\u00f6fse) in kurzer Zeit notwendig ist, so wird zugegeben werden m\u00fcssen, dafs die oben mitgeteilten neuen Beobachtungen aufs eindringlichste gegen eine Methode der Farbensinnspr\u00fcfung sprechen, bei der relativ grofse farbige Fl\u00e4chen dem Auge lange dargeboten werden, wie es bei der Wollprobe unvermeidlich ist. Pr\u00fcfung des fovealen Farbensinnes mufs mafsgebend sein.\nNachtrag w\u00e4hrend der Korrektur.\nIn den letzten Wochen, nach Abschlufs der obenstehenden Mitteilungen ist es mir gelungen, in der Untersuchung des Farbensehens der Dichromaten meiner Art auf grofsem Felde um einen Schritt weiter zu kommen und die \u00c4hnlichkeit meines Farbensehens mit dem der Gr\u00fcnanomalen noch evidenter zu erweisen. In Gemeinschaft mit Frau Lilienfeld und Herrn Dr. Vaughan (beide normale Trichromaten) habe ich am Farbenkreisel Rot-Gelbgr\u00fcnmischungen hergestellt. Es wurde dasjenige Mischungsverh\u00e4ltnis aufgesucht, bei dem f\u00fcr die Normalen die Mischfarbe gelblich ohne Beiklang von r\u00f6tlich oder gr\u00fcnlich erschien. Dazu waren unter den gegebenen Verh\u00e4ltnissen meist 180\u00b0 von jeder der beiden Farben n\u00f6tig. Die Zahlen lagen zwischen 178 und 182. Unter gleichen Bedingungen erscheint f\u00fcr mich diese Mischung, aus der N\u00e4he betrachtet, also bei sehr grofsem Feld, stark rot. An einem sehr tr\u00fcben, dunklen Beobachtungstage brauchte ich nur 140 bis 150\u00b0 Rot, um die Schwelle zu erreichen, bei der der Umschlag von Rot in \u201eNicht-","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik etc. 337\nRot\u201c erfolgte. Die Schwankungsbreite betrug etwa 8 bis 10\u00b0. Eine Grenze zwischen Gelb und Gr\u00fcn vermag ich nicht aufzufinden, die gr\u00f6fsten \u00c4nderungen in der Mischung jenseits der angegebenen Grenze \u00e4ndern f\u00fcr mich am Aussehen der Mischung nichts.\nAn einem sehr hellen, sonnigen Tage verschob sich das Verh\u00e4ltnis noch mehr. Auf der hell beleuchteten Kreiselscheibe erschien f\u00fcr mich. Rot schon bei 100\u00b0 Rotbeimischung deutlich. Die Grenze lag zwischen 89 und 95\u00b0, w\u00e4hrend sie f\u00fcr den Normalen unver\u00e4ndert in der Gegend von 180\u00b0 geblieben war.\nDurch Variierung der Helligkeit und S\u00e4ttigung der Mischfarben, die, wie auch nat\u00fcrlich das eingestellte Mischungsverh\u00e4ltnis dem Beobachter unbekannt blieb, wurde daf\u00fcr gesorgt, dafs die Entscheidung, ob Rot oder Nicht-Rot gesehen wurde, wirklich nur auf Grund einer bestimmten spezifischen Rotempfindung und nicht auf Grund eines S\u00e4ttigungs- oder Helligkeitsunterschiedes gef\u00e4llt wurde.\nEs wird sp\u00e4ter \u00fcber diese Versuche genauer berichtet werden.\n(Eingegangen am 25. Oktober 1906.)\n22*","page":337}],"identifier":"lit13463","issued":"1907","language":"de","pages":"239-282, 319-337","startpages":"239","title":"Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie und Diagnostik der angeborenen St\u00f6rungen des Farbensinns [In zwei Teilen]","type":"Journal Article","volume":"41"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:09:59.511252+00:00"}