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{"created":"2022-01-31T13:10:33.532834+00:00","id":"lit1416","links":{},"metadata":{"alternative":"Arbeiten aus der Physiologischen Anstalt zu Leipzig","contributors":[{"name":"Owsjannikow, Phillip","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Arbeiten aus der Physiologischen Anstalt zu Leipzig: 308-315","fulltext":[{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber einen Unterschied in den reflectorischen Leistungen des verl\u00e4ngerten und des R\u00fccken-Markes der Kaninchen.\nVon\n\u00d6r. Ph. Owsjannikow.\nDie lebhaften und ausgebreiteten Reflexbewegungen, welche in allen Gliedern des Kaninchens durch die Reizung seiner Pfoten hervorzubringen sind, nachdem die H\u00e4lfte des Markes innerhalb der oberen Halswirbel durchschnitten ist, stehen in einem auffallenden Gegensatz zu denjenigen nach vollst\u00e4ndiger Durchschneidung des Halsmarkes. Dieser Unterschied l\u00e4sst ver-muthen, dass die in die Glieder des S\u00e4ugethieres reflectirten Be-wegungen zum grossen Theil in dem Gehirne ausgel\u00f6st werden. Obwohl diese Anschauung eine weit verbreitete genannt werden kann, so fehlte es doch bisher an einer durchgef\u00fchrten Untersuchung, durch welche dieselbe auf ihren wahren Werth zur\u00fcck-gef\u00fchrt wird. Aus diesem Red\u00fcrfniss entsprang eine Versuchsreihe die ich in dem Sommer des Jahres 1873 im physiologischen Laboratorium zu Leipzig unternommen habe. Da man schon wusste, dass eine Durchschneidung des verl\u00e4ngerten Markes unmittelbar hinter den Vierh\u00fcgeln die nach den Gliedmaassen des Kaninchens reflectirten Rewegungen nicht merklich beeintr\u00e4chtigt, so stellte ich meine Aufgabe genauer dahin: die Reflexe, welche von den Pfoten her erzeugt werden k\u00f6nnen, solange das verl\u00e4ngerte Mark erhalten ist, mit denjenigen zu vergleichen, die nach Abtragung des genannten Hirntheiles erscheinen. Zur Erreichung meines Zieles bediente ich mich der folgenden Mittel.\nDen Kaninchen, welche zum Versuche kamen, wurden die beiden Carotiden unterbunden und ihnen eine Luftr\u00f6hrenfistel angelegt damit die Hirnblutung vermieden und nach befinden die k\u00fcnstliche Athmung sogleich eingeleitet werden konnte. Hierauf wurde dem Thiere unter bekannten Handgriffen, namentlich aber mit m\u00f6glichster Vermeidung jeden Blutverlustes, das kleine","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"458] \u00dcber einen Unterschied in d. reflect. Leistungen etc. 309\nGehirn freigelegt und das verl\u00e4ngerte Mark aus seinen Verbindungen mit dem kleinen Gehirne und den Vierh\u00fcgeln durch glatte Schnitte gel\u00f6st. War dieses vollendet, so wurde an den Maulkorb ein kleiner Apparat geschraubt, welcher zur F\u00fchrung der Messerchen bestimmt war, durch welche das verl\u00e4ngerte Mark in beliebigen Zwischenr\u00e4umen der Quere nach durchtrennt werden sollte. Dieser Apparat war dem nachgebildet, welchen C. Ditt-mar *) beschrieben hat. Er unterschied sich von demselben nur dadurch dass er, statt eines Spaltes, zehn solcher trug, die je 1 Millimeter von einander entfernt in eine starke Messingplatte eingeschnitten waren. Bei un verr\u00fcckter Stellung der Platte \u00fcber dem verl\u00e4ngerten Marke konnte also das letztere zehnmal hinter einander in je 1 Millimeter Abstand durchschnitten werden. Da das Messingst\u00fcck ganz in derselben Weise wie der von Ditt-mar benutzte Spalt durch eine Schraube mit zugeh\u00f6riger F\u00fchrung vor dem Marke zu verschieben war, so konnte der Ausgangspunkt der Schnitte von jedem beliebigen Theile desselben genommen werden, und weil die Ebene der Platte parallel mit der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers des Hinterhauptbeines stand, so durchschnitten die durch die Spalten gef\u00fchrten Messerchen das Mark senkrecht zu seiner L\u00e4ngenausdehnung. Die Messerchen selbst besassen nur die halbe Breite des Spaltes in dessen Richtung von rechts nach links, so dass zur Ausf\u00fchrung eines vollkommenen Querschnittes durch das Mark 2 Messerchen in denselben Spalt gesteckt werden mussten. Hierdurch gewann die Ausf\u00fchrung des Schnittes an Sicherheit, zugleich war es m\u00f6glich jede der beiden H\u00e4lften gesondert abzutrennen und endlich gelang es die Blutung, die sonst der Schnitt zu erzeugen pflegt, fast vollkommen zu vermeiden. Dieser wichtige Vortheil war bei der Anwendung zweier Messerchen dadurch zu erreichen, dass die beiden einander zugekehrten Kanten an dem Ende mit welchem sie auf den Knochen eintrafen, etwas abgeschr\u00e4gt waren, wodurch, wenn beide neben einander standen, ein dreiseitiger Raum gebildet wurde, in dem die Basilararterie Platz fand. Auch die Verwendung der Platte mit ihren zehn Spalten, statt der fr\u00fcher gebrauchten einspaltigen Einrichtung, war in der Absicht die Rlutung zu vermeiden gew\u00e4hlt worden. Mit ihr konnte das durch das Mark gef\u00fchrte Messerchen an seinem Orte gelassen werden, ohne die M\u00f6glich-\n1) Diese Berichte Jahrgang 1 873. p. 452. ,","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\n[459\nDr. Ph. Owsjannikow,\nkeit einer fortschreitenden Zergliederung aufzuheben. Somit verstopfte jedes in dem Spalt beziehungsweise in dem Mark gelassene Messer die Quellen der Blutung, die es selbst er\u00f6ffnet hatte. Die Voraussicht, unter welcher die messerf\u00fchrende Platte bestellt war, bewies sich in der That als eine zutreffende, denn es konnten mit dem Apparate 10 Querschnitte des Markes sicher und reinlich hintereinander ausgef\u00fchrt werden. Die Platte war nun urspr\u00fcnglich entweder so gestellt, dass der oberste Spalt unmittelbar \u00fcber der hinteren Grenze der Yierh\u00fcgel, oder der unterste unmittelbar \u00fcber der Spitze des calamus scriptorius stand.\nDer oben ausgesprochenen Absicht gem\u00e4ss sollten die Reize auf die empfindlichen Fl\u00e4chen der Pfoten wirken. Damit dieses in allen Graden der St\u00e4rke und Dauer geschehen konnte, schien es angezeigt den Inductionsstrom zu benutzen. Dieses geschah in der indess von Woroschiloff1) beschriebenen Weise, die sich hier um so mehr eignete, als das Thier durch die Behandlung seines Gehirnes im Gebrauche seiner Gliedmaassen beschr\u00e4nkt war. Da das letztere wegen der vorausgegangenen Operation sowohl wie auch in Folge der ruhigen Lage bedeutend abk\u00fchlte, so legte ich dasselbe meistens in einen W\u00e4rmekasten, dessen Wasser eine Temperatur von einigen und 30\u00b0 C. besass. Mit diesen Mitteln ist es mir immer gelungen nach Wunsch schwache und starke Reflexe auszul\u00f6sen. Selbstverst\u00e4ndlich wurde zwischen je zwei aufeinander folgenden Reizen ein Zeitraum von 2 bis 5 Minuten eingeschaltet.\nBei der Beobachtung der Bewegungen habe ich mich auf die der Gliedmaassen beschr\u00e4nkt ; hiebei w\u00fcrde eine graphische Darstellung derselben sehr hilfreich gewesen sein. Leider ist es mir nicht gelungen diesen Wunsch in Erf\u00fcllung zu bringen. Um mich unter diesen Umst\u00e4nden von willk\u00fcrlichen Sch\u00e4tzungen unabh\u00e4ngig zu machen, zog ich nur die Grenzf\u00e4lle in Betracht, ob n\u00e4mlich eine Bewegung in irgend einer Gliedmaasse erschien oder ausblieb.\nWenn das Thier nicht mehr selbstst\u00e4ndig athmete, so wurde augenblicklich die Trachealcan\u00fcle mit dem Blasebalg in Verbindung gesetzt, so dass das Blut bis zum Schluss des Versuches keinen Mangel an Sauerstoff litt.\n1) Diese Berichte 1874. p. 256.","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"460] \u00dcber einen Unterschied in d. reflect. Leistungen etc. 311\nIn den Versuchen, deren Verfahren ich soeben geschildert, gelangte ich zu dem Resultat, dass von einer jeden Pfote aus Zuckungen in allen \u00fcbrigen herbeizuf\u00fchren sind, solange die Rautengr\u00fcbe nirgends verletzt ist, w\u00e4hrend niemals von den hintern Pfoten aus eine Zuckung in den Armen oder von den vordem Pfoten aus eine Zuckung in den Beinen zu erhalten war, wenn in der H\u00f6he des calamus scriptorius das R\u00fcckenmark von dem verl\u00e4ngerten getrennt gewesen. Der K\u00fcrze wegen mag der Reflex der allgemeine heissen, welcher von den vordem zu den hintern Extremit\u00e4ten und in umgekehrter Richtung geht, derjenige aber der \u00f6rtliche, welcher von den hintern aus nur zu diesen und dem Schw\u00e4nze und von den Vorderpfoten aus nur zu den Armen geht. Es l\u00e4sst sich also aus meinen Versuchen vorl\u00e4ufig der Schluss ziehen, dass die allgemeinen Reflexe nur im verl\u00e4ngerten Marke, die \u00f6rtlichen aber im R\u00fcckenmarke zu Stande kommen. \u2014 Damit jedoch die allgemeinen Reflexe noch m\u00f6glich seien, ist es nicht n\u00f6thig, dass der ganze Boden der Rautengrube erhalten geblieben sei. Wenn nur etwas mehr als ein Drittel seiner L\u00e4nge \u2014 diese von der Spitze des calamus scriptorius an bis zum Eingang des aquaeductus gerechnet \u2014 noch unversehrt und mit dem R\u00fcckenmark in Verbindung geblieben ist, so k\u00f6nnen die allgemeinen Reflexe auch durch eine m\u00e4ssig starke Reizung erzielt werden. Die M\u00f6glichkeit hierzu verschwindet jedoch wenn nur noch etwas weniger als ein Drittel der medulla oblongata mit dem R\u00fcckenmarke zusammenh\u00e4ngt. Unter Ber\u00fccksichtigung des Umstandes dass die L\u00e4nge der Rautengrube von der Spitze des calamus scriptorius bis in den Eingang der Wasserleitung bei einem mittelgrossen Kaninchen der kleinern Rasse etwa anderthalb Centimeter betr\u00e4gt, w\u00fcrde aus dem oben gew\u00e4hlten Ausdrucke folgen, dass die allgemeinen Reflexe noch bestehen, wenn das verl\u00e4ngerte Mark 6 Mm. oberhalb der Spitze des calamus scriptorius seiner ganzen Quere nach durchschnitten ist, dass sie dagegen verschwunden sind, wenn die Messerchen 5 Mm. von dem genannten Orte entfernt das Mark der Quere nach durchtrennt haben. Von dieser auffallenden Thatsache, nach welcher sich die M\u00f6glichkeit zur allgemeinen Reflex\u00fcbertragung an ein so beschr\u00e4nktes St\u00fcck der medulla oblongata kn\u00fcpft, habe ich mich durch sehr zahlreiche ausnahmslos \u00fcbereinstimmende Versuche \u00fcberzeugt. \u2014 Nach","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\tDr. Prt. Owsjannikow,\t[461\neiner allerdings geringeren Zahl von Beobachtungen scheint es sogar als ob die allgemeinen Reflexe noch vorhanden w\u00e4ren, wenn einerseits der Schnitt um 5 Mm., anderseits aber um 6 Mm. von der Spitze der Rautengrube entfernt\u2019 bis zur Mittellinie gef\u00fchrt worden ; demgem\u00e4ss w\u00fcrde die Erhaltung eines St\u00fcckes von nur 1 Mm. L\u00e4nge auf einer einzigen Seite ausreichen um die allgemeinen Reflexe zu erm\u00f6glichen. Bei einseitiger Erhaltung des betreffenden St\u00fcckes erfolgte jedoch die Uebertragung nicht nach allen Richtungen hin mit gleicher Energie. War z. B. auf der linken Seite der medulla der Schnitt tiefer gelegt als auf der rechten, so konnten vom linken Beine aus zwar die beiden Arme in Bewegung gebracht werden, aber der rechte zuckte st\u00e4rker als der linke.\nBeil\u00e4ufig glaube ich mich auch davon \u00fcberzeugt zu haben, dass der Ort der allgemeinen Reflexe nicht unmittelbar an die Mittellinie der Rautengrube grenzt. Wiederholt ist es mir gelungen aus der Mitte des verl\u00e4ngerten Markes einen schmalen Streifen bis auf eine Entfernung von nur 3 Mm. \u00fcber der Spitze des calamus auszuschneiden, ohne dass hiernach die allgemeinen Reflexe verschwunden w\u00e4ren. Meine Methode ist jedoch wenig zu einer Zergliederung des Markes in der Richtung von rechts nach links geeignet; aus diesem Grunde enthalte ich mich weiterer Angaben \u00fcber die seitliche Ausbreitung des reflectirendcn Werkzeuges.\nAuch ohne meine Aufmerksamkeit dem Gegenst\u00e4nde besonders zuzuwenden , sammelte ich einige Erfahrungen Uber das Lagenverh\u00e4ltniss zwischen den Orlen der allgemeinen Gliederreflexe und dem des sogenannten Alhmungscentrums. Beide verbreiten sich der L\u00e4nge des Markes nach Uber ungef\u00e4hr dieselben Stellen, es scheint jedoch als ob das erstere etwas tiefer als das letztere gegen den calamus herabreiche. Fast jedesmal wenn sich der Schnitt bis auf 6 Mm. dem genannten Punkte gen\u00e4hert hatte, folgten sich die Athembewegungen so selten, dass die k\u00fcnstliche Respiration eingeleitet werden musste. Bei dieser Lage des Schnittes hatte sich aber, wie schon erw\u00e4hnt, die Bef\u00e4higung zum allgemeinen Reflex noch erhalten. Sowie ein solcher durch den electrischen Reiz auf die Hinterpfote veranlasst war, gesellte sich zu den Zuckungen in den Armen auch eine Inspiration. Demgem\u00e4ss kam dem Markreste noch die Bef\u00e4higung","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"462] \u00dcber einen Unterschied in d. reflect. Leistungen etc. 313\nzu, die Muskel^ des Brustkorbes zu einer Athembewegung zusammen zu f\u00fcgen.\nAus den vorstehenden Mittheilungen ergiebt sich also, dass die obere Grenze der Werkzeuge, durch welche alle Glieder des Kaninchens zu geordneten Reflexbewegungen verkn\u00fcpfbar sind, um ein weniges \u00fcber das untere Drittel des verl\u00e4ngerten Markes hinaufreicht. Fraglicher k\u00f6nnte es scheinen, ob auch die untere Grenze der genannten Organe genau bestimmt sei; mit andern Worten ob der Beweis auch daf\u00fcr geliefert sei, dass sich die reflectorische Leistungsf\u00e4higkeit des R\u00fcckenmarkes darauf beschr\u00e4nke , die Erregung der sensiblen Fl\u00e4chen eines Beines nur auf die Muskeln eines oder beider Beine und des Schwanzes, und die Erregung der sensiblen Fl\u00e4chen eines Armes nur auf die Muskeln eines oder beider Arme zu \u00fcbertragen.\nAn der Richtigkeit dieser so eng gefassten Bef\u00e4higung des R\u00fcckenmarkes der S\u00e4ugethiere k\u00f6nnte man durch die Erscheinungen irre werden, welche das Strychnin hervorzurufen vermag. \u2014 W\u00e4hrend der Wirkungsdauer dieses Giftes bedingt, wie bekannt, die Reizung jedes sensiblen Ortes in allen Muskeln des Thieres einen Tetanus, auch noch dann, nachdem das Mark unterhalb des calamus scriptorius durchschnitten war. Diese ihm vorher fehlende Eigenschaft tetanische Reflexe zu erzeugen empf\u00e4ngt aber das R\u00fcckenmark viel zu kurze Zeit nach der Einf\u00fchrung des Giftes, als dass indess eine Umformung seiner anatomischen Structur h\u00e4tte stattfinden k\u00f6nnen. Somit ist die Veranlassung f\u00fcr das Auftreten der neuen Function nur in einer chemischen Aenderung zu suchen. Weil nun aber anderseits das Strychnin nur die Nerven zur krampfhaften Erregung anzufachen weiss, welche in das R\u00fcckenmark ausm\u00fcnden, so folgt dass das Gift zur Entfaltung seiner Kr\u00e4fte des letztem bedarf. F\u00fcgt man, was allerdings erlaubt scheint, hinzu dass das R\u00fck-kenmark nur wegen der Eigenth\u00fcmlichkeiten seines Baues der Strychninwirkung anheimfallen k\u00f6nne, so ist man zu dem Schl\u00fcsse berechtigt: dass in dem R\u00fcckenmarke ein reflectirendes Werkzeug liegt, welches durch einen Zusatz von Strychnin aus einem latenten Zustande geweckt werden kann, in dem es sich w\u00e4hrend seiner Ber\u00fchrung mit gesundem Blute befindet. \u2014 Ist aber diese Folgerung begr\u00fcndet, so ergiebt sich aus ihr, dass dem normalen R\u00fcckenmarke die Ausl\u00f6sung allgemeiner Reflexe","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"[463\n314\tDr. Ph. Owsjannikow,\nversagt sei, da zum Erscheinen der letztem noch der Hinzutritt einer neuen Bedingung geh\u00f6rt, die dem gesunden R\u00fcckenmarke ahgeht. Aber aus der Vergleichung der Reflexe, welche vom R\u00fcckenmarke vor und w\u00e4hrend seiner Vergiftung ausgel\u00f6st werden, ergiebt sich noch ein Weiteres. W\u00e4hrend der Strychninwirkung bedingt die kleinste Erregung jedes beliebigen sensiblen Nerven gleichzeitig und \u00fcberall einen heftigen motorischen Ausbruch. Wie verschieden sind hiervon die Reflexe, welche das unvergiftete Mark ausschickt ! An ihm stuft sich in geregelter Mannigfaltigkeit mit dem Ort, der St\u00e4rke und der Dauer der sensiblen Reizung auch die Bewegung ab. Insofern man also den Reflex von der anatomischen Structur abh\u00e4ngig macht, w\u00fcrde man bei der vollkommenen Verschiedenheit der geordneten und der Strychninreflexe f\u00fcr jeden von beiden eine besondere, keinen-falls aber eine f\u00fcr beide identische Einrichtung anzunehmen haben. Somit l\u00e4sst sich, wie mir scheint, mit Hilfe des Strychnins kein Beweis daf\u00fcr liefern, dass im R\u00fcckenmark ein Apparat vorhanden sei durch welchen alle Gliedmaassen des Thieres zu geordneten Reflexbewegungen verkn\u00fcpft werden.\nDen Unterschied welchen die Reflexe vor und nach dem Schnitt durch das obere Ende des Halsmarkes aufzeigen, k\u00f6nnte man auch einer L\u00e4hmung zuschreiben, welche die Reflexmechanismen in Folge des geschw\u00e4chten Blutlaufes erlitten haben, indem man die \u00f6rtlichen Reflexe f\u00fcr einen niederen Grad der allgemeinen erkl\u00e4rte. Aber auch hierzu liefern die Thatsachen keine Berechtigung. Verursachte der geringe Druck des Blutstromes das Ausbleiben der allgemeinen Reflexe, so m\u00fcssten dieselben auch schon geschwunden sein, nachdem etwas mehr als das untere Drittel des verl\u00e4ngerten Markes aus seiner Verbindung mit den oberen Abschnitten desselben gel\u00f6st war. Denn wenn das letztere geschehen, so ist der arterielle Blutdruck schon so tief wie nachdem Schnitt an der obern Grenze des untern Drittels gesunken. Zudem kann, wie Woroschiloff gezeigt hat, der \u00f6rtliche nicht in den allgemeinen Reflex umgewandelt werden, wenn nach der Zerschneidung des Halsmarkes unter dem calamus der Blutdruck durch Reizung der n. splanchnici dauernd erh\u00f6ht wird.\nAuch von einem andern, den bisherigen gerade entgegengesetzten Gesichtspunkte aus k\u00f6nnte man zu der Behauptung gelangen, dass der Ausfall der allgemeinen Reflexe nach Durchschneidung des Halsmarkes k\u00fcnstlich herbeigef\u00fchrt sei ; man k\u00f6nnte","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"464] \u00dcber einen Unterschied in D. Reflektor. Leistungen etc. 315\nsich zu dem Ende auf die Annahme eines Werkzeuges st\u00fctzen, welches unterhalb des letzten Drittels des verl\u00e4ngerten Markes gelegen und bef\u00e4higt sei, w\u00e4hrend seiner Erregung die Ausl\u00f6sung von Reflexen im R\u00fcckenmark zu hemmen. Diesem hypothetischen Apparate m\u00fcsste man ausserdem noch die Eigenschaft zutheilen, in Folge seiner Durchschneidung zu einem Tetanus veranlasst zu werden, welcher die Reizbarkeit des R\u00fcckenmarkes zu \u00fcberdauern verm\u00f6chte. Gr\u00fcnde f\u00fcr diese Hypothese kenne ich keine, wohl aber Thatsachen die mit derselben nicht in Einklang zu bringen sind. Von vorneherein ist es schon unwahrscheinlich, dass die durch einen Schnitt herbei gef\u00fchrte Erregung stundenlang bestehen k\u00f6nnte ; w\u2019ir kennen im R\u00fcckenmark allerdings Theile die durch einen vor\u00fcbergehenden Druck tetanisch erregt werden. Hierher geh\u00f6ren z. B. die n\u00e4chsten Umgebungen des Ursprunges aller motorischen Wurzeln. Jeder noch so vor\u00fcbergehende Nadelstich, welcher die genannten Theile trifft, erzeugt einen Tetanus in den Muskeln die von den betroffenen Nervenwurzeln versorgt werden, aber dieser dauert auch in den g\u00fcnstigsten F\u00e4llen nur wenige Minuten hindurch. \u2014 Wollte man aber, auch von dieser Schwierigkeit absehen, so w\u00fcrden sich andere erheben, die durch die Lagerungsverh\u00e4ltnisse des hemmenden Werkzeuges geschaffen w\u00fcrden. Dieses letztere m\u00fcsste sich n\u00e4mlich tief in das R\u00fcckenmark hinein erstrecken, denn die Ausbreitung der Reflexe w\u00e4chst nicht, wenn auch der Querschnitt durch jenes selbst gelegt wird. Hier aber m\u00fcssten ihm ganz besondere Eigenth\u00fcmlichkeiten zugeschrieben werden, damit trotz seiner Anwesenheit die gekreuzte Hyper\u00e4sthesie erkl\u00e4rlich bliebe, welche nach halbseitiger Durchschneidung auf jeder beliebigen H\u00f6he des R\u00fcckenmarkes einzutreten pflegt. Nach alle diesem d\u00fcrfte es entschuldigt sein, wenn ich die weitere Discussion der Hemmungshypothese unterlasse.\nSolange also keine andern als die gegenw\u00e4rtig bekannten Gr\u00fcnde daf\u00fcr vorliegen, dass das R\u00fcckenmark durch den Schnitt an seinem obern Ende neue Eigenschaften empfange und fr\u00fcher besessene verliere, wird man annehmen m\u00fcssen, dass jn ihm nur \u00f6rtliche, im verl\u00e4ngerten Marke dagegen die allgemeinen Reflexe vermittelt werden. Wie es aber geschehen k\u00f6nne, dass in einem so kleinen Raume des verl\u00e4ngerten Markes so zahlreiche Nerven in so mannigfachen Abstufungen und Verbindungen erregt werden k\u00f6nnen, d\u00fcrfte uns noch lange r\u00e4thselhaft bleiben.","page":315}],"identifier":"lit1416","issued":"1874","language":"de","pages":"308-315","startpages":"308","title":"\u00dcber einen Unterschied in den reflectorischen Leistungen des verl\u00e4ngerten und des R\u00fccken-Markes der Kaninchen","type":"Journal Article"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:10:33.532839+00:00"}