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{"created":"2022-01-31T16:15:14.608739+00:00","id":"lit14164","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ebbinghaus, Hermann","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1: 463-485","fulltext":[{"file":"p0463.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Bmpfindnngswerte.\nVon\nH. Ebbinghaus.\n(Fortsetzung und Schlufs.)\nIII.\n\u00dcber den materiellen Gebalt der PECHNERscben Auffassung ist freilich nicht viel zu sagen. Sie ist irrig und irreleitend, das wird, wie ich vertraue, aus der Gesamtheit der gegenw\u00e4rtigen Ausf\u00fchrungen f\u00fcr jeden, der sich in diese hineindenkt, hervorgehen. Von Interesse ist nur die W\u00fcrdigung der Gesichtspunkte, die in Fechners Geiste zu ihrer Entstehung Anlafs gaben und ihn gewissermafsen in sie verwickelten. Sein Irrtum wird damit noch auf andere Weise \u00fcberwunden.\nDie richtige Auffassung des Wesens von Empfindungswerten fehlt durchaus nicht bei Eechner. Sie liegt z. B. ganz und gar seiner rechnerischen Behandlung der ebenmerklichen Unterschiede zu Grunde, die deshalb in diesem Punkte auch v\u00f6llig in Ordnung ist. Er betrachtet die ebenmerklichen Unterschiede als Differentiale im mathematischen Sinne, d. h. als sehr kleine Gr\u00f6fsen. Nun haftet aber doch die Differentialnatur weder der einen noch der anderen Empfindung an, zwischen denen der Unterschied bemerkt wird, auch ist das Empfindungsdifferential sehr wohl zu unterscheiden von dem Unterschied der objektiven Reize, durch den es verursacht wird. Es besteht also allein in dem Bewufstsein einer geringen Verschiedenheit, eines kleinen Abstandes oder einer kleinen Distanz zwischen den beiden gegebenen Elementarempfindungen. Als sehr kleine. Empfindungsgr\u00f6fse wird mithin die Empfindung einer sehr kleinen Distanz, oder, wie man sagen kann, eine sehr kleine Distanzempfindung betrachtet, ganz in \u00dcbereinstimmung mit den obigen Ausf\u00fchrungen \u00fcber Empfindungswerte.","page":463},{"file":"p0464.txt","language":"de","ocr_de":"464\nH. Ebbinghaus.\nAber diese richtige Vorstellung von der Sache wirkt nur sozusagen im geheimen und aufs er an diesem einen Punkte nur gelegentlich einmal1 ; sie ist nicht recht deutlich zum Bewufst-sein gekommen und nicht konsequent durchgef\u00fchrt. Die einfache Folgerung z. B., dafs, wenn das Differential eines Empfindungswertes die Empfindung einer sehr kleinen Distanz sei, dafs dann notwendigerweise ein endlicher Empfindungswert die Empfindung einer gr\u00f6fseren Distanz sein m\u00fcsse und gar nichts anderes sein k\u00f6nne, findet sich nirgendwo klar und b\u00fcndig ausgesprochen in den Elementen der Psychophysik. An einer Stelle der Briefe klingt ein solcher Gedanke einmal an. \u201eIn der That aber fasse ich die negativen Empfindungen nicht als Entfernungen vom Dasein schlechthin, sondern .... als Entfernungen vom Nullpunkte eines Daseins, was quantitativer Bestimmungen f\u00e4hig ist, und ebenso die positiven Empfindungswerte nicht als daseiende Empfindungen schlechthin, deren Quantit\u00e4t aufser acht f\u00e4llt, sondern als Entfernungen von demselben Nullpunkte des Daseins nur in entgegengesetztem Sinne . . . ,\u201c2. Allein diese Auffassung ist doch wesentlich eingeschr\u00e4nkter als die richtige und der Behandlung der ebenmerklichen Unterschiede zu Grunde liegende. Letztere sind\n1\tZ. B. noch einigermafsen bei der 3ton Ableitung der logarithmi-schen Formel, Eiern, d. Psychophysik, II, S. 36.\n2\tS. diese Zeitschr., I, S. 35/36. Zu vollerer Durchf\u00fchrung ist dieser Gedanke gelangt in der letzten Publikation Fechsers kurz vor seinem Tode: \u201e\u00dcber die psychischen Mafsprinzipien und das Webersche Gesetz\u201c in Wundts Philos. Studien, IY, S. 179 ff. (1887). Wundt hatte denselben Gedanken schon seit der 2. Aufl. seiner Physiolog. Psychologie (1880) deutlich herausgearbeitet. Er interpretiert das logarithmische. Gesetz ganz in dem Sinne, dem ich selbst folge: \u201eDie Merklichkeit einer Empfindung w\u00e4chst proportional dem Logarithmus des Beizes\u201c und f\u00fcgt dann hinzu, dafs die Merklichkeit gemessen werde durch die Entfernung der Empfindung von ihrem der \u00dfeizschwelle entsprechenden Nullwerte nach oben und nach unten (a. a. O. S. 358). Die Abweichung gegen die 1. Aufl. wird auf die Anregungen der TANNERvschen Kontroverse (1878) zur\u00fcckzuf\u00fchren sein, an der sich ja Wundt beteiligte. Aber er hat dem Druck dieser Kontroverse nur sozusagen um ein ebenm\u00f6gliches Minimum nachgegeben und sie nicht in ihre unabweislichen Konsequenzen verfolgt. In allen \u00fcbrigen Punkten, wie z. B. auch in Bezug auf die negativen Empfindungen, ist er wesentlich bei Fechner stehen geblieben. Die unten (S. 468 f.) folgenden Ausf\u00fchrungen \u00fcber Nullwert und Nullpunkt der Empfindungen und \u00fcber die Hereinziehung der Schwelle richten sich daher auch gegen die WtWDTSche Darstellung.","page":464},{"file":"p0465.txt","language":"de","ocr_de":"Uber negative Empfindungswerte.\n46i>\nGr\u00f6fsen als Entfernungen je zweier ganz beliebiger, nur sehr \u00e4hnlicher Empfindungen voneinander, nach der Stelle der Briefe dagegen sollen die Empfindungen Gr\u00f6fsen sein lediglich als Entfernungen von einem einzigen Punkte, dem sogenannten Nullpunkte ihres Daseins.\nJa, in einer bestimmten Hinsicht bewegt sich Fechner in Vorstellungen, die einen direkten Gegensatz gegen die Aulfassung der Empfindungswerte als Distanzen involvieren, n\u00e4mlich durch seine gesonderte Behandlung der sogenannten Unterschiedsempfindungen. Unsere Empfindungen von Distanzen, die da einzig und allein das sind, was an den Empfindungen numerischen Wert und Gr\u00f6fsencharakter hat, sind ganz dasselbe, was Fechner als Unterschieds- oder Kontrastempfindung bezeichnet; die logarithmische Formel ist also eigentlich, in FECHNERscher Terminologie, eine Unterschiedsmafsformel. Aber Fechner betrachtet erstens die Empfindungen als Gr\u00f6fsen und zweitens die Unterschiedsempfindungen ebenfalls als Gr\u00f6fsen i er mufs sich demnach unter den einfachen Empfindungsgr\u00f6fsen,, trotz seiner Behandlung der ebenmerklichen Unterschiede, doch wieder dunkel etwas vorstellen, was zwar Gr\u00f6fse, aber von Unterschieds- oder Distanzempfindungen verschieden sei. Ganz dementsprechend konstruiert er auch zwei Formeln, eine Empfin-dungsmafsformel und eine Unterschiedsmafsformel. Der letzteren hat meines Wissens noch niemand irgendwelche sachliche Brauchbarkeit abgewinnen k\u00f6nnen, und diese Thatsache, nach einem Menschenalter so lebhafter Besch\u00e4ftigung mit den FECHNERschen Leistungen, mag als ein Fingerzeig daf\u00fcr dienen, dafs die Duplicit\u00e4t der Formeln eine Hyperplasie ist.1\nDie bei Fechner unzweifelhaft vorhandene Vorstellung davon, dafs Empfindungsgr\u00f6fsen eben Distanzempfindungen sind, ist also gekreuzt und in den Hintergrund gedr\u00e4ngt durch andere\n1 K\u00fcrzlich machte Radakovic (Viertel). f. iviss. Philos., XIV. S. 20) scharfsinnig auf den Widerspruch aufmerksam, in dem die Unterschiedsmafsformel gegen eine der FECHNERSchen Ableitungen seiner Em-pfindungsmafsformel steht, und zwar gegen die in der Psychophysik an 3t\u00abr Stelle gegebene (PsychophII, S. 36 f.). Das Remedium ist. nach dem Obigen einfach. Man ignoriere die unhaltbare und \u00fcberfl\u00fcssige Unterschiedsmafsformel, dann verschwindet der Widerspruch und die betreffende Ableitung, die von allen die einfachste und brauchbarste ist, verbleibt in der ihr geb\u00fchrenden Geltung.","page":465},{"file":"p0466.txt","language":"de","ocr_de":"466\nH. Ebbinghaus.\nVorstellungen. Sie ist daher auch ganz einflufslos geblieben f\u00fcr die Auffassung der negativen Empfindungswerte. Diese letzteren empfangen ihre Deutung vielmehr, wie bekannt, aus dem ganz anderen Gedankengange heraus, der seinen Mittelpunkt in der sogenannten Thatsache der Schwelle hat. Auf allen Sinnesgebieten l\u00e4fst sich folgendes beobachten. Wenn man auf ein Sinnesorgan einen \u00e4ufseren Reiz in sehr geringer St\u00e4rke und ganz allm\u00e4hlich einwirken l\u00e4fst, so merkt man im allgemeinen, d. h. im Durchschnitt zahlreicher F\u00e4lle, nicht gleich etwas von dem Vorhandensein eines Objektiven, sondern erst, wenn der Reiz einen gewissen geringen Wert, den sogenannten Schwellenwert, \u00fcberschreitet. Ebenso umgekehrt: wenn man die Einwirkung eines \u00e4ufseren Reizes auf ein Sinnesorgan allm\u00e4hlich abschw\u00e4cht, so geht auch die Empfindung allm\u00e4hlich zur\u00fcck, aber sie h\u00f6rt v\u00f6llig auf, etwas von der Wirkung des \u00c4ufseren zu enthalten, nicht erst dann, wenn der Reiz den Wert 0 erreicht, sondern schon vorher, wenn er noch eine gewisse kleine Gr\u00f6fse hat. Diese richtige und in gewissem Mafse auch wichtige Thatsache hat nun f\u00fcr Rechner eine ganz aufser-ordentliche Bedeutung gewonnen ; ich kann nur sagen, ungl\u00fccklicherweise und teils durch Zufall, teils durch Mifsverst\u00e4ndnis.\nEr untersucht die allgemeine Abh\u00e4ngigkeit der Empfindungen e von der Intensit\u00e4t der \u00e4ufseren Reize r und findet dabei, dafs die einen ann\u00e4hernd wachsen wie dieLogarithmen der anderen, dafs also e \u2014 lc log r. Nun hat diese Formel in der That die Eigenschaft, dafs nach ihr die e in Abh\u00e4ngigkeit von kleinen r ein, wenn man so will, \u00e4hnliches Verhalten zeigen wie die Empfindungen in Abh\u00e4ngigkeit von schwachen Reizen. Nimmt r ab, so nimmt auch e ab, aber es verschwindet schon, d. h. es erreicht den Wert 0, ehe r ganz verschwindet, f\u00fcr den Wert r \u2014 1. Dieses blofs \u00e4hnliche Verhalten aber der Empfindungen und der Formel gestaltet sich in Fechners Geiste wie selbstverst\u00e4ndlich zu einem identischen. Er betrachtet ohne weiteres, und es wird zun\u00e4chst wohl jedem so gehen, obwohl es falsch ist, wie ich vorweg bemerke, er betrachtet das, was die Empfindung wird bei dem Verschwinden oder bei dem Schwellenwert des Reizes, als ihren, d. h. als ihren einzig m\u00f6glichen Nullwert. Dann besteht allerdings v\u00f6llige \u00dcbereinstimmung zwischen der Formel und den von schwachen Reizen erzeugten Empfindungen: in beiden F\u00e4llen wird einerseits etwas Null, wenn","page":466},{"file":"p0467.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n467\nandererseits das, wovon es abh\u00e4ngt, noch eine kleine endliche Gr\u00f6fse hat. Die Formel leistet mithin auf solche Weise zweierlei: erstens wird sie den Beziehungen zwischen gr\u00f6fseren r und c ann\u00e4hernd gerecht, zweitens deckt sie die Thatsache der Schwelle, und die Freude \u00fcber diese vermeintliche Doppelleistung hat nun Fechner v\u00f6llig gefangen genommen. Er wird nicht m\u00fcde, auf sie als auf etwas ganz Besonderes aufmerksam zu machen, und sieht die wichtigste Best\u00e4tigung seiner logarith-mischen Formel darin, dafs sie und eben nur sie auch der Thatsache der Schwelle Rechnung zu tragen verm\u00f6ge. Ja, er findet, dafs die Herleitung einer Formel f\u00fcr die Abh\u00e4ngigkeit der Empfindungen im allgemeinen von ihren Reizen eigentlich illusorisch sei, wenn nicht die Thatsache der Schwelle best\u00fcnde und man diese mit heranziehe. Soweit dann sp\u00e4ter der Gedanke, dafs Empfindungswerte Distanzempfindungen sind, bei ihm Raum findet, betrachtet er, wie wir sahen, den Wert, den die Empfindung bei dem Schwellenwert des Reizes annimmt, also ihren sogenannten Nullwert, auch als den gebotenen Nullpunkt, von dem aus die Distanzen zu rechnen sind. Und in diesem Zusammenh\u00e4nge ergeben sich denn notwendigerweise auch die negativen Empfindungen: werden die r in der logarithmischen Formel kleiner als 1, so werden die e kleiner als 0, also negativ, und zwar den absoluten Werten nach um so gr\u00f6fser, je minimaler die r sind; was alles ich hier, samt den Versuchen Fechners, sich mit diesen negativen Werten abzufinden und sie zu interpretieren, als bekannt voraussetze.\nDafs irgend jemand sich mit diesen negativen Empfindungen, die da bei den geringsten Spuren von objektiven Reizen die ungeheuersten Werte bekommen, dabei aber im Bewufstsein stets unterhalb der noch gar nicht vorhandenen Empfindungen verbleiben, aus voller \u00dcberzeugung befreundet habe, wage ich zu bezweifeln. Was ihnen zu einer dreifsigj\u00e4hrigen Existenz in den B\u00fcchern verholfen hat und vermutlich auch noch weiter verhelfen wird, ist aufser der Autorit\u00e4t Fechners der Zusammenhang, in dem sie auftreten. Denn in der That haben die Hauptpunkte dieses Gedankenganges, die Hereinziehung der Schwelle in die logarithmische Formel, ferner die Vorstellungen \u00fcber den Nullwert und Nullpunkt der Empfindungen, auf den ersten Blick etwas durchaus Plausibeles und Bestechendes. Dennoch aber, wenn man sich einmal \u00fcberzeugt hat, was negative Empfin-\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie.\tHl","page":467},{"file":"p0468.txt","language":"de","ocr_de":"468\nH. Ebbinghaus.\ndungswerte verm\u00f6ge der Natur unseres Empfindens und der Natur der Negativit\u00e4t allein sein k\u00f6nnen, und dafs demnach die FECHNERschen negativen Empfindungen, da sie etwas anderes sind, nichts sind, so l\u00e4sst sich die Vermutung nicht mehr abweisen, dafs auch jener Zusammenhang, aus dem sich die FECHNERSchen Unm\u00f6glichkeiten notwendig ergeben, nicht ganz in Ordnung sein k\u00f6nne. Und das ist in der That der Fall. Die ganzen Ausf\u00fchrungen \u00fcber Nullwert und Nullpunkt der Empfindungen, sowie \u00fcber die Zusammengeh\u00f6rigkeit des Weber-schen Gesetzes und der Thatsache der Schwelle sind irrig und desorientierend. Es ist in ihnen allerlei durcheinandergewirrt und verzwirnt, was, obwohl auf den ersten Blick sich beinahe selbstverst\u00e4ndlich gerade so zusammenf\u00fcgend, doch nicht zusammengeh\u00f6rt und wohl auseinandergehalten werden mufs.\nIch versuche zun\u00e4chst, die falschen Vorstellungen \u00fcber den vermeintlichen Nullwert der Empfindungen zu kl\u00e4ren. Hat in der That die Empfindung ihren Nullwert da, wo von dem Vorhandensein eines schwachen objektiven Reizes nichts mehr gemerkt wird? Ich behaupte, dafs die allerdings naheliegende Bejahung dieser Frage auf nichts anderem beruht, als auf einem versteckten Hineinschillern des Gedankens an den objektiven Reiz. Der objektive Reiz hat freilich seinen Nullwert oder doch beinahe seinen Nullwert in jenem Falle, f\u00fcr das Bewufstsein ist er jedenfalls Nichts und Nichts ist doch gleich Null. Aus diesem Grunde und aus keinem anderen geschieht es, dafs auch die Bezeichnung der entsprechenden Empfindung als einer Nullempfindung so bereitwillige Annahme findet. Aber wenn man sich jedes Gedankens an die objektiven Reize entschl\u00e4gt und sich einzig und allein an die Empfindungen selbst h\u00e4lt, wie es doch notwendig ist, wenn man sie zu diesen Reizen als etwas anderem in Beziehung setzen will, so f\u00e4llt jede Veranlassung fort, gerade jener Empfindung vor allen anderen einen Nullwert zuzuschreiben.\nNumerischen Wert haben, wie wir sahen, ganz allgemein nicht die elementaren Empfindungen an sich, sondern die zwischen ihnen bestehenden Verschiedenheiten oder Distanzen, soweit diese be-wufst werden. Das heifst doch mit anderen AVorten: an und f\u00fcr sich betrachtet hat nicht eine bestimmte, sondern jede beliebige isolierte Empfindung in quantitativer Hinsicht den Wert 0, jede ist als Gr\u00f6fse eine Nullempfindung. Ganz","page":468},{"file":"p0469.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindtmgswerte.\n469\nebenso wie jeder Ort oder Punkt des Baumes quantitativ gleich Null ist, so auch jede Elementarempfindung; beide haben eben keine Dimension, und Gr\u00f6fse oder Zahl sind dimensionale Gebilde. Und wie die Orte im Innern der Erde nicht mehr oder weniger Null sind als diejenigen auf den h\u00f6chsten Bergspitzen, sondern alle in gleichem Mafse, so sind auch die sozusagen tiefsten Empfindungen eines Gebiets als Gr\u00f6fsen nicht kleiner und der Null n\u00e4her als die h\u00f6chsten. Freilich nimmt die dem Nullwert oder, wenn man lieber will, dem Schwellenwert des Reizes entsprechende Empfindung unter allen \u00fcbrigen eine ausgezeichnete Stelle ein. Aber das, was sie auszeichnet, ist nicht ihr Nullwert, \u2014 in dem stimmt sie mit s\u00e4mtlichen anderen \u00fcberein -\u2014, sondern dies, dafs sie gewissermafsen die tiefstm\u00f6gliche Empfindung des betreffenden Gebietes ist, dafs sie den nat\u00fcrlichen Ausgangs- und Anfangspunkt der ganzen Reihe der \u00fcbrigen bildet. Diese ihre Eigent\u00fcmlichkeit aber und ihr Gr\u00f6fsencharakter sind doch zwei verschiedene Dinge und m\u00fcssen streng auseinander gehalten werden.\nEbenso schief aber wie dieser Gedanke von dem specifischen Nullwert der Schwellenempfindung, ist der weitere Gedanke Fechsers, dafs dieser sogenannte Nullwert gleichzeitig den gebotenen Nullpunkt bilde, von dem aus die Verschiedenheiten, Distanzen oder Merklichkeitsgrade der \u00fcbrigen Empfindungen zu rechnen seien. Auch er ist viel zu eingeschr\u00e4nkt und dadurch irreleitend. Unter einer Mehrheit von Gebilden, die in irgend einer Reihe aufeinander folgen, giebt es keines, welches etwa seiner Natur nach dazu pr\u00e4destiniert w\u00e4re, als Nullpunkt f\u00fcr die Abz\u00e4hlung oder Entfernungsbestimmung der \u00fcbrigen zu dienen. Sondern die Festsetzung eines solchen Nullpunktes ist etwas v\u00f6llig Willk\u00fcrliches und Konventionelles. Es kann sein und wird meist so sein, dafs nicht alle Punkte gleich zweckm\u00e4fsig f\u00fcr diese Wahl sind; aus praktischen Gr\u00fcnden empfiehlt es sich in der Regel, den nat\u00fcrlichen Anfangsoder Endpunkt oder einen anderen charakteristischen Punkt der Reihe zu nehmen. Aber wenn man absieht von solchen, der Sache selbst doch fremden R\u00fccksichten, so ist jeder beliebige Punkt zum Nullpunkt f\u00fcr Mafsbestimmungen gleich tauglich ; wie man auch w\u00e4hlen m\u00f6ge, alle sachlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Gliedern der Reihe bleiben dadurch v\u00f6llig unber\u00fchrt.\n31*","page":469},{"file":"p0470.txt","language":"de","ocr_de":"470\nH. Ebbinghaus.\nIch mufs zur Erl\u00e4uterung wieder auf die jedermann gel\u00e4ufige r\u00e4umliche Anschauung rekurrieren. Der nat\u00fcrliche Ausgangspunkt f\u00fcr alle terrestrischen Erhebungen ist das Meeresniveau, und da Zweckm\u00e4fsigkeitsgr\u00fcnde hinzukommen, w\u00e4hlt man dieses auch meist als Nullpunkt f\u00fcr die quantitativen Bestimmungen der Erhebungen. Aber unter Umst\u00e4nden kann eine andere Wahl zweckm\u00e4fsiger sein, dann nimmt man etwa den Wasserspiegel irgend eines Flusses oder die Basis eines G-eb\u00e4udes, und man k\u00f6nnte prinzipiell schlechterdings nehmen, welchen Punkt man wollte, ohne dafs dadurch an den Beziehungen der H\u00f6hen zu den Tiefen oder an den Gesetzen, in denen H\u00f6hen eine Rolle spielen, das Allermindeste ge\u00e4ndert w\u00fcrde. Ja den eigentlichen nat\u00fcrlichen Ausgangspunkt aller H\u00f6hen bildet der Mittelpunkt der Erde, denn hier f\u00e4ngt alles Oben an und h\u00f6rt alles Unten auf. Aber diesen fundamentalsten Anfangspunkt w\u00e4hlt man gleichwohl nicht als Nullpunkt f\u00fcr numerische H\u00f6henbestimmungen, weil er \u00e4ufserst unpraktisch w\u00e4re; man ist also in Bezug auf diese Wahl v\u00f6llig unabh\u00e4ngig.\nGanz ebenso verh\u00e4lt es sich mit den Empfindungen. Betrachtet man sie isoliert, so haben sie alle in gleicher Weise den Wert Null; betrachtet man sie in Beziehung zu einander, so gewinnen sie Entfernung und damit Gr\u00f6fse. Aber auf welche einzelne Nullempfindung man diese Gr\u00f6fsen als auf ihren Nullpunkt bezieht, ist v\u00f6llig gleichg\u00fcltig; im Prinzip kann man jede beliebige nehmen. Einen nat\u00fcrlichen Ausgangspunkt haben die Empfindungen an dem, was sie sind beim Fehlen \u00e4ufserer Einwirkungen auf die Sinnesorgane ; vielleicht ist es zweckm\u00e4fsig, diesen nat\u00fcrlichen Ausgangspunkt auch zum Nullpunkt zu machen. Aber mehr und etwas anderes als zweckm\u00e4fsig ist es nicht; als selbstverst\u00e4ndlich oder notwendig kann es in keiner Weise gelten. Und ob man so verf\u00e4hrt oder anders, mufs f\u00fcr alle inneren Beziehungen der Empfindungen zu einander ganz einerlei sein. Was man bei einer bestimmten Wahl des Nullpunktes etwa in Formeln fafst, mufs auch nach einer beliebigen Verlegung des Nullpunktes aus den entsprechend abge\u00e4nderten Formeln wieder heraus zu interpretieren sein. So verh\u00e4lt es sich in der That, wie sich in No. IV zeigen wird, auch mit dem WEBERschen Gesetz, bei einer richtigen Interpretation der betreffenden Formel: alle Beziehungen der Em-","page":470},{"file":"p0471.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n471\npfindungsgr\u00f6fsen zu einander bleiben genau dieselben, ob man diese Gr\u00f6fsen auf die Schwellenempfindung oder auf irgend eine andere als ihren Nullpunkt bezieht.\nIn diesem Sinne sind also die FECHNERschen Vorstellungen von dem Nullwert und Nullpunkt der Empfindungen zu korrigieren. Thut man das, so verschwinden auch die negativen Empfindungen im FECHNERschen Sinne, deren Anst\u00f6fsigkeit auf die Unrichtigkeit der ihnen zu Grunde liegenden Voraussetzungen aufmerksam machen mufs. Denn einen anderen Nullwert der Empfindungen oder einen anderen Nullpunkt als die Schwellenempfindung k\u00f6nnen sie nicht vertragen.\nWie steht es nun aber mit der Bedeutung der Schwelle selbst, d. h. mit ihrer Wichtigkeit f\u00fcr das WEBERsche Gesetz und die logarithmische Formel? Im Grunde ist diese Frage bereits erledigt durch fr\u00fcher Gesagtes. In Wahrheit hat das Verhalten der Empfindungen bei schwachen Reizen und dasjenige der logarithmischen Formel bei kleinen r nur eine ganz \u00e4ufserliche \u00c4hnlichkeit miteinander, das eine ist aber keineswegs sachlich eine wirkliche Spiegelung des anderen. Die Identificierung beruht auf den falschen Vorstellungen \u00fcber den Nullwert der Empfindungen; korrigiert man diese, so zeigt sich, dafs die logarithmische Formel gar nichts von der That-sache der Schwelle enth\u00e4lt und gar nichts davon enthalten kann. Denn wenn die Schwellenempfindung nicht mehr noch weniger den Wert 0 hat wie jede beliebige andere isolierte Empfindung, so kann auch die Eigenschaft der logarithmischen Formel, f\u00fcr r\u2014 1 e \u2014 0 zu liefern, in keiner besonderen Beziehung zu der Schwellenempfindung stehen, sondern mufs etwas sein, was zu jeder beliebigen anderen Empfindung in derselben Beziehung steht. Wie das allerdings und auf ganz einfache Weise der Fall ist, wird in No. IV zu zeigen sein.\nIch will aber aufser dieser einfachen Erledigung der Schwellenfrage die Sache noch von einer anderen Seite diskutieren. Wie unerm\u00fcdlich und nachdr\u00fccklich auch Fechnkr behaupten m\u00f6ge, dafs die allgemeine Abh\u00e4ngigkeit der Empfindungen von den Reizst\u00e4rken und die Thatsache der Schwelle enge zusammen geh\u00f6ren, ich wage ebenso nachdr\u00fccklich die entgegengesetzte Behauptung, dafs diese beiden an und f\u00fcr sich sehr wichtigen Dinge gar nichts miteinander zu thun haben und jedes f\u00fcr das andere bedeutungslos ist, dafs ihre Zusammen-","page":471},{"file":"p0472.txt","language":"de","ocr_de":"472\nH. Ebbinghaus.\nziehung g\u00e4nzlich verfehlt ist und dafs eine klare Einsicht in alle hiermit zusammenh\u00e4ngenden Verh\u00e4ltnisse schlechterdings unm\u00f6glich ist, so lange man sich von dieser Verwirrung nicht freigemacht hat.\nWorin besteht denn eigentlich die Thatsache der Schwelle ihrem ganzen Umfange nach? Fechneii thut, als ob sie etwas w\u00e4re, was f\u00fcr jedes Sinnesgebiet nur einmal vorhanden ist und was deshalb auch von der logarithmischen Formel f\u00fcr einen bestimmten Wert der Ver\u00e4nderlichen wiedergegeben werden kann. Aber sie ist doch wahrhaftig auf jedem Sinnesgebiet etwas hundert- und tausendmal Existierendes. Wie f\u00fcr den Nullwert (bezw. Schwellenwert) des Reizes, so gilt f\u00fcr jeden beliebigen anderen Wert, den er haben kann, ganz dieselbe Erscheinung: bei einer allm\u00e4hlichen Verst\u00e4rkung (bezw. Abschw\u00e4chung) des jeweilig einwirkenden Reizes verr\u00e4t sich in der Empfindung davon nicht gleich etwas, sondern erst wenn die Zunahme (oder Abnahme) einen gewissen kleinen Wert \u00fcberschritten hat. Fechneb unterscheidet zwar bei diesem Ph\u00e4nomen den Fall, dafs der Reiz den kleinstm\u00f6glichen f\u00fcr die Empfindung merkbaren Wert hat, als Reizschwelle, von allen anderen F\u00e4llen, als Unterschiedsschwellen, aber wie kann man nur, wenn man die Dinge ohne Hintergedanken betrachtet, ganz und gar Zusammengeh\u00f6riges so auseinander-reifsen? Der Fall, dafs der Reiz den kleinstm\u00f6glichen von Null verschiedenen Wert erreicht, ist ja eigentlich, wie man oft genug bemerkt hat, ein rein fiktiver Grenzfall, der that-s\u00e4chlich nicht verwirklicht werden kann, weil wir schwache, aber immer noch recht bemerkliche objektive Reizungen (aus organischen Ursachen stammend) gar nicht loszuwerden im st\u00e4nde sind. Es existiert also im Grunde nur ein einziges Ph\u00e4nomen, n\u00e4mlich das der Unterschiedsschwelle, welches sich bei allen m\u00f6glichen Werten der objektiven Reize in gleicher Weise geltend macht. Aufserdem aber besitzt f\u00fcr die Empfindung \u2014 und auf die kommt es doch bei dem ganzen Ph\u00e4nomen an \u2014 der (angen\u00e4herte) Nullwert des Reizes g\u00e4r nichts besonders Ausgezeichnetes vor anderen Werten. Wir k\u00f6nnen bei m\u00f6glichstem Fehlen objektiver Reize (aus \u00e4ufseren und inneren Ursachen) charakteristische Empfindungen haben (Schwarz, Stille), und k\u00f6nnen beim Vorhandensein relativ starker Reize unter Umst\u00e4nden nichts empfinden, wie man sich","page":472},{"file":"p0473.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n473\ngew\u00f6hnlich ausdr\u00fcckt, nachdem n\u00e4mlich Adaptation eingetreten ist. Was kann es nun wohl f\u00fcr einen Wert und f\u00fcr einen Sinn haben, die Abh\u00e4ngigkeit der Empfindungen yon den objektiven Reizen durch eine Formel zu beschreiben, die einer allgemeinen Eigent\u00fcmlichkeit dieser Abh\u00e4ngigkeit f\u00fcr einen einzigen, nicht einmal besonders ausgezeichneten Spezialfall Rechnung tr\u00e4gt, f\u00fcr die hundert oder tausend \u00fcbrigen und gleichwertigen Spezialf\u00e4lle dieser Eigent\u00fcmlichkeit aber stumm ist? Ich sollte sagen, es hat gar keinen Wert, und statt mit Fechner grofses Gewicht darauf zu legen, dafs die Formel dem Schwellenph\u00e4nomen in jenem einzigen Falle gerecht werden kann, mufs man vielmehr \u00fcber eine so singul\u00e4re und dadurch seltsame Leistung stutzig werden.\nMan k\u00f6nnte nun meinen und hat in der That gemeint,1 um die Beziehungen zwischen objektiven Reizen und Empfindungen ganz und voll auszudr\u00fccken, m\u00fcsse man nach einem Gesetz bezw. einer Formel suchen, welche der Thatsache der Unterschiedsschwelle durchweg Rechnung trage, welche also f\u00fcr jede allm\u00e4hliche Zunahme des objektiven Reizes zun\u00e4chst ein Gleichbleiben und dann erst ein Wachsen der Empfindung an-zeige, so dafs die Kurve der Empfindungen von jedem beliebigen Werte des Reizes ausgehend, gewissermafsen einen treppenf\u00f6rmigen Verlauf nehme. Ich glaube aber vielmehr, dafs mit der Aufstellung einer solchen Formel nicht etwas besonders Vollkommenes, sondern etwas besonders Verwirrendes geleistet w\u00e4re, und meine, dafs sich die ganze Falschheit der Durcheinander wirrung von Schwelle und WEBERschem Gesetz nicht besser darthun l\u00e4fst als dadurch, dafs sie zu einer so ungeheuerlichen Konsequenz f\u00fchrt.\nWie die Dinge nach meiner Ansicht aufzufassen und auseinander zu halten sind, will ich an einer Analogie zeigen. Analogien beweisen nichts, aber sie orientieren. Und f\u00fcr die Abwehr eines falschen und die Empfehlung eines richtigen Standpunktes kommt es nicht sowohl auf eine Kette von Beweisen als vielmehr darauf an, dafs der richtige Gesichtspunkt einfach aufgezeigt werde, damit Jedermann sich \u00fcberzeuge, wie sich die Verh\u00e4ltnisse von ihm aus klar und durchsichtig gestalten.\n1 Stadler : Philos. Monatsh., XIV (1878), S. 220 u. 228.","page":473},{"file":"p0474.txt","language":"de","ocr_de":"474\nH, Ebbinghaus.\n'Man denke sieh, die Beziehung, welche zwischen der St\u00e4rke elektrischer Str\u00f6me und den durch sie hervorgebrachten Ablenkungen einer Magnetnadel besteht, sei unbekannt, sie solle empirisch ermittelt und durch eine Formel dargestellt werden. Bei der Untersuchung wird sich Folgendes herausstellen. W\u00e4hlt man sprungweise wachsende Stromst\u00e4rken, so weicht die Nadel zunehmend weiter von ihrer urspr\u00fcnglichen Ruhelage ab, aber die Stellungen, in denen sie zur Ruhe kommt (welche f\u00fcr bestimmte Stromst\u00e4rken immer sehr ann\u00e4hernd dieselben sind) differieren f\u00fcr gleiche Unterschiede der Stromst\u00e4rken immer weniger voneinander, je st\u00e4rker die Str\u00f6me bereits sind, und eine Ausweichung von 900 erreicht die Nadel \u00fcberhaupt niemals. Macht man den Bogen, in dem der Strom die Nadel umkreist, grofs im Verh\u00e4ltnis zu den Dimensionen der Nadel, so l\u00e4fst sich die gesuchte Beziehung in einer sehr einfachen Formel ausdr\u00fccken, die Stromst\u00e4rken r verhalten sich bekanntlich wie die Tangenten der Ausschlagswinkel e, also r\u2014h tan e. Man kann aber die Untersuchung auch anders anstellen, indem man n\u00e4mlich statt sprungweiser Ver\u00e4nderungen der Stromst\u00e4rken kontinuierliche w\u00e4hlt. Dann ergiebt sich zwar im grofsen und ganzen dieselbe Abh\u00e4ngigkeit der Nadelausschl\u00e4ge von den Str\u00f6men, sie wird aber kompliziert und etwas getr\u00fcbt durch ein anderes Ph\u00e4nomen. N\u00e4mlich wenn man, von einer beliebigen Stellung der Nadel ausgehend, den sie umkreisenden Strom ganz allm\u00e4hlich verst\u00e4rkt, so r\u00fchrt sie sich zun\u00e4chst nicht, und der Satz, dafs die Tangente ihres Ausschlagswinkels der St\u00e4rke des jeweiligen Stromes entspricht, wird zunehmend ungenau. Mit einem Male aber, bei einer gewissen Gr\u00f6fse der Stromverst\u00e4rkung, ger\u00e4t die Nadel in Bewegung und geht nun gleich mit einem kleinen Ruck in die neue ihr nach der Stromst\u00e4rke zukommende Lage \u00fcber. Diese Erscheinung zeigt sich, wie gesagt, bei jeder Ausgangsstellung der Nadel, bei ihrer urspr\u00fcnglichen Ruhelage nicht mehr noch minder als bei jeder anderen. Wenn man sie genauer untersuchte, so w\u00fcrde man zweifellos die allgemeine die Nadelbewegungen beherrschende Gesetzm\u00e4fsigkeit auch hier waltend finden: die St\u00e4rke des f\u00fcr gleiche Bewegungsanst\u00f6sse erforderlichen Stromzuwachses wird in einer durch jenes Gesetz bedingten Beziehung stehen zu dem jeweilig bereits vorhandenen Strom; aber doch sind die Erscheinung selbst und jene Gesetzm\u00e4fsigkeit verschiedene Dinge.","page":474},{"file":"p0475.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n475\nWie wird sich, nun der Physiker bei dieser zweiten Ver-fahrungsweise mit der formelhaften Darstellung seiner Resultate verhalten? Offenbar besteht das Gesamtverhalten der Nadel gegen\u00fcber den elektrischen Str\u00f6men in den beiden Erscheinungen gleichzeitig, in der Gr\u00f6fse des jeweiligen Ablenkungswinkels und in den ruckweisen Ver\u00e4nderungen ihrer Lage. Aber sollte es wohl irgend Jemandem in den Sinn kommen, die Beschreibung dieses allerdings thats\u00e4chlichen Gesamtverhaltens dadurch unrettbar zu verwirren, dafs er seine beiden Z\u00fcge in ein einziges Monstrum von Formel sozusagen zusammenpackte? Die Nadel ist freilich ein einheitliches Ding und bewegt sich als solches. Aber wir glauben doch nicht, dafs sie jene beiden ihre Bewegung charakterisierenden Eigent\u00fcmlichkeiten auf Grund derselben Eigenschaften entfalte, sondern deshalb, weil sie verschiedene Eigenschaften hat und in verschiedenen Weisen von ihrer Eingebung abh\u00e4ngt: soweit sie magnetisch ist, wird sie abgelenkt durch den Strom, und soweit sie sich nicht ohne Reibung bewegt, geschehen die Ver\u00e4nderungen ihrer Ablenkung ruckweise. Da wir aber nun unsere Beschreibungen der Ph\u00e4nomen doch nicht liefern, um die Einsicht in deren Zusammenhang und Fundierung zu verwirren, sondern um sie hervorzutreten zu lassen und zu erleichtern, so ist es auch notwendig, jene beiden Seiten in dem Verhalten der Nadel auseinander zu halten und sie nicht etwa in eine einzige Formel zusammen zu werfen (falls eine solche \u00fcberhaupt m\u00f6glich sein sollte) und dadurch beide unkenntlich zu machen.\nGanz analog verh\u00e4lt es sich aber nach meiner Auffassung mit den Empfindungen. Die \u00e4ufseren Reize sind gewisser-mafsen die auf die Ruhelage des sich selbst \u00fcberlassenen Organismus einwirkenden elektrischen Str\u00f6me, die Empfindungen gleichsam die Ausschl\u00e4ge, mit denen der Organismus auf jene reagiert. Die Beziehungen der einen zu den anderen, studiert bei allm\u00e4hlicher Verst\u00e4rkung der \u00e4ufseren Reize, zeigen gleichzeitig zwei charakteristische Z\u00fcge. Die Zunahme der Empfindungen unter dem Einflufs wachsender Reizst\u00e4rken erfolgt f\u00fcr gleiche Zunahmen der Reize immer langsamer, je st\u00e4rker diese bereits sind ; \u00fcber einen gewissen Maximalwert gehen sie selbst bei gr\u00f6fster Steigerung der Reize nicht hinaus; in mittleren Gegenden verhalten sie sich ann\u00e4hernd gem\u00e4fs dem","page":475},{"file":"p0476.txt","language":"de","ocr_de":"476\nII. Ebbinghaus.\nWEBERschen Gesetz. Aufs er dem aber zeigt ihre Ver\u00e4nderung, bei jeder beliebigen gerade bestehenden Empfindung, das Ph\u00e4nomen der Schwelle. Beides besteht gleichzeitig und unzertrennlich an denselben Empfindungen und geh\u00f6rt also in gewisser Hinsicht allerdings \u00e4ufserlich zusammen. Aber wenn man sich das Verst\u00e4ndnis dieser Dinge nicht geradezu verbauen will, so darf man sich nicht vorstellen, dafs es dieselben Eigenschaften der empfindungvermittelnden Substrate sein k\u00f6nnten, auf denen jene Erscheinungen beruhen; sie zeigen dieses v\u00f6llig Verschiedene vielmehr, weil sie verschiedene Seiten haben. Wie man sich diese des n\u00e4heren denken will, mag dahingestellt bleiben. Ich selbst bin aufs Festeste davon \u00fcberzeugt, das WEBERsche Gesetz hat seinen eigentlichen Grund in den Eigent\u00fcmlichkeiten der Umsetzungen, welche durch die \u00e4ufseren Heize in den Sinnesnerven oder auch in den Einbettungssubstanzen ihrer Endapparate ausgel\u00f6st werden,1 die Erscheinung der Schwelle aber ist als ein Analogon der Reibung aufzufassen, sie beruht auf einem Tr\u00e4gheitswiderstand, welchen die nerv\u00f6se Substanz irgendwo jeder Ab\u00e4nderung der in ihr jeweilig etablierten Prozesse entgegensetzt. Jedenfalls sind die beiden Erscheinungen sachlich v\u00f6llig auseinander zu halten. Jemand der nach einer beide gleichzeitig umfassenden Formulierung sucht, kommt mir vor wie ein Physiker, der die Ausschl\u00e4ge einer Magnetnadel unter dem Einflufs elektrischer Str\u00f6me und die ruckweisen Ver\u00e4nderungen dieser Ausschl\u00e4ge durch ein und dieselbe Formel darzustellen bestrebt ist. Fechner aber gleicht einem noch viel merkw\u00fcrdigeren Physiker. Er will gleichsam eine Formel liefern, die im allgemeinen lediglich die Gr\u00f6fse der Nadelausschl\u00e4ge darstellt, ohne von den ruckweisen Bewegungen Notiz zu nehmen. Nur f\u00fcr einen einzigen Fall, und darauf legt er das gr\u00f6fste Gewicht, soll auch das Letztere der Fall sein, n\u00e4mlich f\u00fcr den Fall, dafs sich die Nadel in ihrer urspr\u00fcnglichen Ruhelage befindet.\nMan denke sich einmal, was doch sicher dereinst der Fab sein wird, die ber\u00fchmte logarithmische Formel sei abgethan und durch eine andere, das Verhalten der Empfindungen besser spiegelnde, ersetzt. Dafs diese auch wieder die zuf\u00e4llige Eigent\u00fcm-\n1 S. m. Abh. : \u201e\u00dcber den Grand der Abweichungen von dem Weberschen Gesetz u.s.w.\u201c Pfl\u00fcgers Archiv, 45, S. 121.","page":476},{"file":"p0477.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungsiuerte.\n477\nlichkeit haben sollte, f\u00fcr r = 1 den Wert e = 0 zu liefern, ist mindestens h\u00f6chst unwahrscheinlich, jedenfalls k\u00f6nnen wir uns ohne jede sachliche Schwierigkeit denken, es sei nicht der Fall. An der Erscheinung der Reizschwelle im FECHNE\u00dfschen Sinne kann nat\u00fcrlich dadurch nicht das Mindeste ge\u00e4ndert werden, sie bleibt in alle Zukunft was sie jetzt ist, eine eigent\u00fcmliche Erfahrungsthatsache. Nur f\u00e4llt dann k\u00fcnftig jede, selbst rein \u00e4ufserliche M\u00f6glichkeit fort, dieses Ph\u00e4nomen in die Empfindungsmafsformel hineinzugeheimnissen, und es mufs f\u00fcr Jedermann ohne weiteres klar sein, was jetzt darzuthun so viele Worte kostete, dafs die FECHNERsche Verkn\u00fcpfung der beiden Dinge allein durch einen irreleitenden Zufall m\u00f6glich war.\nIV.\nEs bleibt noch eine letzte kurze Er\u00f6rterung, auf die bereits mehrfach hingewiesen wurde und die in der Beantwortung zweier naheliegender Fragen besteht.\nN\u00e4mlich erstens. Die negativen Empfindungswerte in dem unter No. II dargelegten Sinne m\u00fcssen, so behauptete ich (S. 334), in jeder beliebigen Empfindungsmafsformel darinstecken und aus ihr herauszuinterpretieren sein. Die logarith-mische Formel kann als eine wenigstens ann\u00e4hernd richtige Empfindungsmafsformel gelten, auf welche Weise enth\u00e4lt sie also unsere negativen Empfindungswerte? Und auf welche Weise sind diese etwa in anderen Formeln enthalten?\nUnd zweitens. Wenn die FECHNE\u00dfschen negativen Empfindungswerte nichts sind und die Hereinziehung der Schwelle in eine Empfindungsmafsformel irrig, wie l\u00e4fst es sich vermeiden, diese beiden Dinge aus der ja doch ann\u00e4hernd richtigen logarithmischen Formel herauszuinterpretieren?\nBeides beantwortet sich gleichzeitig, und in einfacherWeise.\nMan vergegenw\u00e4rtige sich die logarithmische Formel in ihrer allgemeinsten Gestalt\ne Je log -f- c\nalso noch ohne die FECHNERsche Bestimmung der Konstanten c. Wie man zu ihr gelangt ist, soll gleichg\u00fcltig sein. Am besten ist es jedenfalls, sie zun\u00e4chst nicht aus den Beobachtungsresultaten mit ebenmerklichen, sondern mit sog. \u00fcbermerklichen Unterschieden abzuleiten, etwa so, wie es im Anschlufs an eine","page":477},{"file":"p0478.txt","language":"de","ocr_de":"478\nH. Ebbinghaus.\nder FECHNERschen Ableitungen G. E. M\u00fcller thut (Psychophysik S. 227). \"Wie ist nun die unbekannte Konstante c n\u00e4her zu bestimmen, f\u00fcr die Fechner seine Reizschwelle heranzieht? Man mufs etwa so sagen.\nDa die Formel nicht von isolierten Empfindungen, sondern von Empfindungswerten, d. h. von Distanzempfindungen, etwas aussagen soll, so m\u00fcssen die e auf irgend eine, an sich v\u00f6llig willk\u00fcrliche, Elementarempfindung e\u201e als ihren Ausgangs- oder Vergleichspunkt bezogen werden. Ob eine solche Ausgangsempfindung ausdr\u00fccklich genannt ist oder nicht, ist v\u00f6llig gleichg\u00fcltig; hinzugedacht mufs sie sein, sonst hat die Formel keinen Sinn (s. S. 329), die e bedeuten dann nichts Z\u00e4hlbares. F\u00fcr die r gilt ganz dasselbe, aber hier ist ohnedies keine Gefahr des Irrtums; Jedermann interpretiert ohne weiteres eine ihm f\u00fcr Raumstrecken, Gewichte u. dergl. genannte Zahl in richtiger Weise. Da bei Empfindungen dies noch nicht Jedermann von selbst thut, empfiehlt es sich, ihm die Sache ausdr\u00fccklich vorzuschreiben und deutlich zu sagen, der eigentliche Sinn der Empfindungsmafsformel wird dargestellt durch die Symbole\ne/e0 = Je log r -f- c.\ne0 ist dabei, wie nicht genug wiederholt werden kann, v\u00f6llig willk\u00fcrlich ; es ist der Ausgangspunkt der Messungen, der konventionelle Nullpunkt, und kann als solcher in der Skala der Empfindungen hoch oder tief liegen, ganz wie auch der Ausgangspunkt r\u00e4umlicher Messungen beliebig hoch oder tief gew\u00e4hlt werden kann. Der dem e0 entsprechende \u00e4ufsere Reiz sei r\u201e. Nun bestimmt sich c ohne weiteres durch die Bemerkung, dafs jede isolierte Empfindung als solche, oder was dasselbe ist, jede nicht mit einer anderen, sondern allein mit sich selbst verglichene Empfindung keine Gr\u00f6fse hat, dafs also ihr numerischer Wert == 0 ist. Denn ich habe hiernach\neje\u201e = 0 = Jc log r\u201e + c woraus c = \u2014 Je log r\u201e.\nDies eingesetzt in die allgemeine Formel ergiebt sich\ne/e\u201e = Je log \u2014.\nr.","page":478},{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n479\nDie Bestimmung der Einheiten, in denen die Reizgr\u00f6fsen r und die Empfindungsgr\u00f6fsen e/e\u201e gemessen werden sollen, bleibt bier nocb Vorbehalten; die Wahl der Reizeinbeit ist gleichg\u00fcltig f\u00fcr die Formel, durch die Festsetzung der Empfindungseinbeit wird k bestimmt.\nDas Resultat siebt ganz \u00e4hnlich aus, wie das FECHNERSche, bat aber einen v\u00f6lbg anderen Sinn, da e0 (bezw. r\u201e) schlechterdings hier mit der Schwelle nichts zu thun hat, sondern ganz willk\u00fcrlich ist. Wo man dieses e0 auch ansetzen m\u00f6ge, die Formel ergiebt stets dasselbe klare und widerspruchsfreie Resultat. Jedes e\u201e verglichen mit sich selbst, d. h. jede Empfindung als isolierte und an und f\u00fcr sich betrachtet, hat den Wert 0, ganz wie es nach dem Obigen (S. 323 u. 468) der Fall sein mufs. Alle e ferner, die von e0 aus nach einer Richtung entfernt liegen, nach einer Seite von ihm abstehen, haben, verglichen mit jenem, positive Distanzen, oder sind, in Bezug aufe\u201e, positive Empfindungswerte ; alle e dagegen, die nach der entgegengesetzten Richtung liegen, haben negative Distanzen, oder sind, immer in Bezug auf e\u201e, negative Empfindungswerte. Welche Richtung man urspr\u00fcnglich als die positive festsetzt, ist ganz gleichg\u00fcltig; das h\u00e4ngt von dem Vorzeichen von k, d. h. von der Wahl der Empfindungseinheit ab. An den absoluten Entfernungen der e voneinander aber (d. h. an den absoluten Gr\u00f6fsen der Empfindungswerte) wird verm\u00f6ge der Struktur der Formel durch eine Verlegung des Nullpunktes nichts ge\u00e4ndert.\nWem noch eine Unklarheit oder Schwierigkeit zur\u00fcckgeblieben ist, der wolle sich an einem Zahlenbeispiel orientieren. Es seien\nf\u00fcnf objektive Reize mit den numerischen Werten 16 40 100 250 625.\nDa die Reizwerte gleiche Quotienten miteinander bilden, so werden die von ihnen hervorgerufenen Empfindungen\nei e2 es e4 e5","page":479},{"file":"p0480.txt","language":"de","ocr_de":"480\nH. Ebbinghaus.\n(die gleichzeitig, wie wir annehmen wollen, der mittleren Gegend des betreffenden Empfindungsgebiets angeh\u00f6ren) \u00e4quidistant sein. Es gelten also von ihnen, gem\u00e4fs den Er\u00f6rterungen von No. II, u. a. folgende Beziehungen :\nC,/C\u201e Cg/^3 \u2018\t....\ne1/e3 \u2014 2 . eje2 oder e1/e4 = 3 . elfei eje2 = \u2014e2/e1= \u2014 e3/e2 u. s. f.\nAlle diese und andere \u00e4hnliche Beziehungen sind nun aber bei richtiger Interpretation in unserer Formel\nT\ne/e0 \u2014 Je log -\nr\u201e\nvollkommen enthalten. W\u00e4hle ich z. B. als willk\u00fcrlichen Nullpunkt f\u00fcr die Bestimmung der Empfindungswerte die Elementarempfindung e2, so resultiert f\u00fcr diese, auf sich selbst bezogen, ganz wie es sein mufs, der Wert 0.\nY\neje2 = Je log -f = 0.\n7 2\nF\u00fcr die Empfindungsdistanz eje2 ergiebt sich ein gewisser Wert mit negativem Vorzeichen, f\u00fcr die entgegengesetzt gerichteten Distanzen e3/e2, e4/e2 ... gleiche bezw. doppelt so grofse Werte mit positivem Vorzeichen. Nehme ich statt e2 etwa e4 als Nullpunkt, so wird an dem Wesen dieser Besultate nichts ge\u00e4ndert. Der Nullpunkt e4 auf sich selbst bezogen liefert wieder den Wert 0; alle in Bezug auf ihn aufsteigenden Distanzen erhalten das entgegengesetzte Vorzeichen von den in Bezug auf ihn absteigenden Distanzen. An den absoluten Gr\u00f6fsen-verh\u00e4ltnissen dieser Distanzen aber wird durch die Verlegung des Nullpunktes schlechterdings nichts ge\u00e4ndert. Bei Beziehung auf e2 findet sich z. B.\neje2 = Je log 2,5 eje2 \u2014 Je log (2,5)2 = 2 Je log 2,5\nAlso\teje2 \u2014 2 . eje2 oder auch \u2014 2 . eje3\nUnd ebenso bei Beziehung auf e4\neJei = \u2014 k log 2,5 eJei = \u2014 * log (2)5)2\n= \u2014 2 .Je log 2,5\nAlso wieder e2/e4 = 2 . e8/e4","page":480},{"file":"p0481.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber negative Empfindungswerte.\n481\nd. h., ob icb die zwischen den Empfindungen e2 und ei bestehende Verschiedenheit in der einen oder in der anderen Richtung betrachten m\u00f6ge, ihr numerischer Wert bleibt immer das Doppelte der zwischen den Empfindungen e3 und e4 bestehenden Verschiedenheit.\nAuf solche Weise stecken also die negativen Empfindungswerte in der logarithmischen Formel und sind sie aus ihr herauszuinterpretieren. Aber nicht nur in dieser Formel stecken sie, sondern, wie soeben wiederholt behauptet, sie m\u00fcssen in jeder anderen Formel enthalten sein, die mit dem Anspruch, etwas \u00fcber Empfindungswerte auszusagen, auftritt. Denn Empfindungs werte besitzen, verm\u00f6ge der Natur unseres Empfindens, immer das Doppelgesicht zweier Richtungen, und was man von ihren sonstigen Beziehungen also auch finden und formulieren m\u00f6ge, es mufs dieser Grundeigent\u00fcmlichkeit stets Rechnung tragen. Auch diese Behauptung willich nochkurz illustrieren.\nStatt der logarithmischen Formel denke man sich einmal eine ganz andere als Ausdruck der Beziehungen zwischen Reizgr\u00f6fsen und Empfindungsgr\u00f6fsen. Ich benutzte oben zur schematischen Erl\u00e4uterung dieser Beziehungen eine von elektrischen Str\u00f6men umkreiste Galvanometernadel; man fingiere vor\u00fcbergehend, dafs das Schema Wahrheit sei; es enth\u00e4lt ja manche Z\u00fcge, die dem wahren Verhalten noch besser entsprechen, als das logarithmische Gesetz. Die \u00e4ufseren Reize sollen sich also verhalten wie die trigonometrischen Tangenten der Empfindungsgr\u00f6fsen : r\u2014 k tan e. Daraus w\u00fcrde folgen\nV\ne \u2014 arctan ^, d. h. die Empfindungen wachsen wie die B\u00f6gen\nzu den als trigonometrische Tangenten betrachteten Werten der Reize. Wie w\u00e4re diese Formel zu verstehen? Man m\u00fcfste sagen, ganz wie oben (S. 478) : damit sie f\u00fcr Empfindungswerte \u00fcberhaupt einen Sinn hat, m\u00fcssen die e bezogen werden auf irgend einen ganz willk\u00fcrlichen Nullpunkt, auf eine bestimmte Ausgangsempfindung. Ob man diese ausdr\u00fccklich nennt oder nicht, ist gleichgiltig ; hinzugedacht mufs sie sein, sonst hat es keinen Sinn, von Empfindungs wert en zu sprechen. Soll sie aber ausdr\u00fccklich in der Formel genannt sein und bezeichnet man sie mit e0, den sie hervorbringenden Reiz mit r\u201e, so ist die Formel zu schreiben, wie ich im einzelnen nun nicht weiter ableite :","page":481},{"file":"p0482.txt","language":"de","ocr_de":"482\nH. Ebbinghaus.\ne/eQ = arctan \u2014 arctan\nIn dieser Gestalt aber liefert sie wieder dem Wesen nach ganz dieselben Resultate wie oben die logarithmische Formel. Jedes e0 auf sich selbst bezogen resultiert mit dem Wert 0; alle in Bezug auf e0 aufsteigenden Distanzempfindungen erhalten das entgegengesetzte Vorzeichen von den in derselben Beziehung absteigenden; die absoluten Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse aber der einzelnen Distanzen zu einander werden von der Wahl des Nullpunktes schlechterdings nicht ber\u00fchrt.\nSoweit die Antwort auf die vorhin zuerst gestellte Frage nach dem Enthalteusein der negativen Empfindungswerte in der logarithmischen (oder irgend einer anderen) Empfindungsmafs-formel. Die zweite Frage, wie man es n\u00e4mlich vermeiden k\u00f6nne, die negativen Empfindungswerte im FECHNE\u00dfschen Sinne und die Thatsache der Schwelle aus jener Formel herauszuinterpretieren, ist dadurch gleich mit beantwortet. Man kommt gar nicht weiter in Verlegenheit wegen einer solchen Interpretation. Denn die Eigent\u00fcmlichkeit der Formel, f\u00fcr r\u2014 1 den Wert e = 0 zu liefern, an welche Fechner seine Reizschwelle und seine negativen Empfindungen ankn\u00fcpft, wird sozusagen bereits verbraucht, um zu den negativen Empfindungswerten im richtigen Sinne zu gelangen. Es fehlt an jeder Handhabe, nun aufserdem auch noch die Thatsache der Reizschwelle in die Sache hereinzuziehen. Die Formel hat eben, wie bereits oben bemerkt (S. 471), zu der Schwellenempfindung gar keine anderen und engeren Beziehungen als zu jeder beliebigen anderen Empfindung.\nNur f\u00fcr einen einzigen Fall k\u00f6nnte man vielleicht einen Augenblick zweifeln, ob nicht doch die FECHNERsche Interpretation unvermeidlich sei. Die Wahl des Nullpunktes, auf den man die Empfindungen beziehen mufs, damit sie Gr\u00f6fsen werden, soll, wie wiederholt betont, willk\u00fcrlich sein. Wenn man nun, eben wegen dieser Willk\u00fcr, einmal festsetzte, als Nullpunkt solle f\u00fcr irgendwelche Betrachtungen die Schwellenempfindung gelten? Dann w\u00fcrden in der That alle Empfindungen oberhalb der Schwelle positive Distanz, d. h. positiven Wert bekommen, dagegen alle Empfindungen unterhalb der Schwelle negativen Wert, und zwar dem absoluten Betrage nach um so gr\u00f6fsere negative Werte, je minimaler die sie verursachenden objektiven","page":482},{"file":"p0483.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n483\nReize w\u00e4ren. Kurz es w\u00e4re Alles ganz so wie bei Fechner, und alles gegen seine negativen Empfindungsgr\u00f6fsen Gesagte scheint damit gerade zum guten Schlufs wieder in Verwirrung zu geraten. Allein es bleibt zum Gl\u00fcck Alles v\u00f6llig in Ordnung. Die logarithmische Formel ist f\u00fcr kleine Werte der objektiven Reize notorisch ungiltig und l\u00e4ngst, ehe die Reize dem sogenannten Schwellenwert nahekommen, hat sie aufgeh\u00f6rt, auch nur ann\u00e4hernd ein Spiegel des sachlichen Verhaltens zu sein. Was daher f\u00fcr kleine Reizwerte \u00fcberhaupt und speziell f\u00fcr den Reizschwellenwert aus ihr folgt, ist sachlich vollkommen bedeutungslos, es ist eine rein analytische Konsequenz.1\nEines der bekanntesten Gesetze der Physik sagt, dafs das Volumen eines Gases (bei konstantem Druck) proportional ist der von \u2014 273\u00b0 C ab gemessenen Temperatur. Daraus folgt ohne weiteres, dafs das Volumen jedes Gases, bei Abk\u00fchlung auf \u2014 273\u00b0 auf Null reduziert sein m\u00fcsse; ein h\u00f6chst merkw\u00fcrdiges Resultat. Aber man wird nicht finden, dafs die Physiker wegen dieser Merkw\u00fcrdigkeit sich besonders die K\u00f6pfe zerbrochen h\u00e4tten. Sondern, da es ihnen v\u00f6llig sicher ist, dafs das Verhalten der Gase, l\u00e4ngst ehe die Abk\u00fchlung bei \u2014 273\u00b0 angelangt ist, aufgeh\u00f6rt hat, jener Formulierung zu entsprechen, so ist das, was sich aus dieser f\u00fcr so niedere Temperaturen mit analytischer Notwendigkeit ergiebt, sachlich irrelevant; was die Gase bei \u2014 273\u00b0 wirklich machen, steht dahin. Ich finde nun nicht, dafs die Psychologen Veranlassung h\u00e4tten, das ber\u00fchmte logarithmische Gesetz mit gr\u00f6fserer Ehrfurcht sozusagen zu betrachten als die Physiker das eben genannte GAY-LussACsche. Beides sind Formulierungen, welche in \u00fcberraschender analytischer Einfachheit einen an sich sehr verwickelten Thatbestand innerhalb gewisser Grenzen und auch\n1 Man darf also freilich den Nullpunkt der Empfindungsmessungen ansetzen wo man will, aber wenn man diese Ansetzung in einer sehr tiefen Gegend der Empfindungsskala beliebt, so darf man nicht mehr die logarithmische Formel benutzen, um daraus Konsequenzen zu ziehen, denn diese gilt dort nicht mehr. Nur wenn man die wirkliche Empfindungsmafsformel bes\u00e4fse, k\u00f6nnte man sicher sein, auch in einem solchen Falle noch ein sinnvolles Kosultat zu erhalten; hei einer unrichtigen Formel w\u00e4re dies ein Zufall, dessen Ausbleiben weiter nichts Verwunderliches hat.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie.\n82","page":483},{"file":"p0484.txt","language":"de","ocr_de":"484\nH. Ebbinghaus.\nda nur mit einer gewissen Ann\u00e4herung wiedergeben. Sie empfehlen sich aufserordentlich zur praktischen Benutzung, denn sie enthalten, soweit sie \u00fcberhaupt gelten, in konzentriertester Gestalt eine F\u00fclle von sachlichen Beziehungen, die bei entsprechender Interpretation wieder aus ihnen hervortreten (wie das z. B. soeben an den negativen Empfindungswerten gezeigt wurde). Was aber aus ihnen rechnungsm\u00e4fsig folgt f\u00fcr Gebiete, in denen sie nachweislich nicht mehr g\u00fctig sind, braucht in Bezug auf seine sachliche Bedeutung nicht weiter diskutiert zu werden ; es hat eben keine.1\nSo rundet sich die dargelegte Auffassung der positiven und negativen Empfindungswerte von allen Seiten ab zu einem klaren, in sich geschlossenen und dem realen Verhalten der Empfindungen entsprechenden Ganzen.\nNachtrag.\nIch habe leider vers\u00e4umt, oben (S. 321) bei Nennung Delboeufs zu erw\u00e4hnen, dafs auch Preyer bereits vor Jahren einen der wesentlichsten Punkte in Bezug auf Empfindungswerte richtig gesehen hat, dafs es sich n\u00e4mlich bei diesen um einen Gegensatz der Eichtung handelt. In seiner Schrift jElemente der reinen Empfindungslehre\u201c (1877) sagt er z. B. S. 20: \u201eDie einfache intensive Empfindungsgr\u00f6fse ist diejenige Gr\u00f6fse, welche durch eine in derselben Eichtung erfolgende \u00c4nderung des erzeugenden Elements entsteht.\u201c Ferner S. 43: \u201eDemnach wird das Empfinden beim Auftreten oder Entstehen einer\nEmpfindung........als ein positives, das Empfinden beim\nVerschwinden oder E\u00fcckg\u00e4ngigwerden.......als ein negatives\nEmpfinden zu bezeichnen sein\u201c (genau ausgedr\u00fcckt w\u00e4re allerdings jenes als eine Succession positiver Empfindungswerte,\n1 Das obige Argument ist die einfachste Weise, mit den Fechner-schen negativen Empfindungswerten fertig zu werden, aber an sieh ganz ebenso zwingend, wie das fr\u00fcher unter II und III aus inneren Gr\u00fcnden gegen sie Angef\u00fchrte. Nat\u00fcrlich ist es auch von Anderen mehrfach geltend gemacht worden, so z. B. von Preyer in seinem k\u00fcrzlich ver\u00f6ffentlichten Briefwechsel mit Fechner S. 9 u. a.","page":484},{"file":"p0485.txt","language":"de","ocr_de":"Uber negative Empfindungswerte.\n485\ndieses als eine Succession negativer zu bezeichnen). Aber wie stark die Fessel der FECHNERschen Auffassung in der That war, zeigt sich darin, dafs Pr\u00eater ihr dann doch wieder Konzessionen macht, die, sofern ich \u00fcberhaupt seine \u00e4ufserst abstrakt gehaltenen Ausf\u00fchrungen verstehe, die Sache wieder in Verwirrung bringen. Er definiert als Intensit\u00e4tsgrad Null einer Empfindung das, was \u00fcbrig bleibt, \u201ewenn von einer gegebenen positiven Intensit\u00e4tsempfindung soviel subtrahiert wird, als sie selbst betr\u00e4gt\u201c (S. 45). Im wesentlichen ist das der FECHNERsche Empfindungsschwellenwert und in \u00e4hnlicher Auffassung erkl\u00e4rt dann auch Preyer, dafs jener Intensit\u00e4tsgrad Null immer dann vorhanden sei, \u201ewenn die Intensit\u00e4t eben noch nicht oder eben nicht mehr beurteilt wird\u201c, wie z. B. im Augenblick nach dem normalen Einschlafen. Unterhalb dieses Nullpunktes aber, \u201enach Abwendung der Aufmerksamkeit von einem Sinnesgebiet\u201c oder \u201eim Unbewufsten\u201c l\u00e4fst er die Empfindungsintensit\u00e4ten negativ sein, was wesentlich wieder mit der hier bek\u00e4mpften FECHNERschen Auffassung zusammenf\u00e4llt.\nBerichtigung.\nS.325 Z.ll v u. lies Quantit\u00e4tsbestimmungen statt Qualit\u00e4tsbestimmungen.","page":485}],"identifier":"lit14164","issued":"1890","language":"de","pages":"463-485","startpages":"463","title":"\u00dcber negative Empfindungswerte: III, IV und Nachtrag","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:15:14.608745+00:00"}