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{"created":"2022-01-31T14:31:27.211533+00:00","id":"lit14172","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Fechner, Gustav Th.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1: 29-46","fulltext":[{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"(Jber negative Empfmdnngswerte.\nYon\nGustav Theodor Fechner (f 1887).\nBriefliche Mitteilungen an\nW. PRETER.\nIn den Jahren 1873 bis 1883 stand ich mit dem Begr\u00fcnder der Psychophysik im Briefwechsel. Derselbe behandelt haupts\u00e4chlich einige schwierige Fragen der Myophysilc, der Erkenntnistheorie, der Psychophysik. Fechners die letztere betreffende Mitteilungen zeigen zum Teil besser als seine ver\u00f6ffentlichten Schriften, wie er die Grundlagen seiner inneren Psychophysik zu befestigen wufste. Namentlich die Diskussion der negativen Empfindungswerte, zu welchen seine psychophysische Mafsformel f\u00fchrt, hat ein aktuelles Interesse, daher ich diese hier ohne K\u00fcrzung zusammenstelle. Ich habe nur einige Hinweise unter dem Text hinzugef\u00fcgt.\tW. P.\nLeipzig, d. 20. Dez. 73.\nEs hat mich nat\u00fcrlich nur sehr freuen k\u00f6nnen, dafs Sie (nach p. 98) in den .Resultaten Ihrer myophysischen Untersuchung 1 zugleich eine Unterst\u00fctzung meiner Ansicht, dafs die Empfindung logarithmisch von der Bewegung im Nervensysteme abh\u00e4ngt, gefunden haben, indes Mach und andere, meines Erachtens ohne zul\u00e4ngliche Gr\u00fcnde, sie vielmehr einfach proportional damit setzen wollen, was das logarithmische Verh\u00e4ltnis auf die Abh\u00e4ngigkeit der Nervenerregung vom Reize \u00fcbertr\u00e4gt. Hiermit fiele der Begriff der Schwelle f\u00fcr die innere Psycho-\n1 Das myophysische Gesetz. Von W. Pkeyek. Jena, 1874 (ausgegeb. 1873).","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nG. Th. Fechner.\nphysik ganz weg, und w\u00fcrde dieselbe \u00fcberhaupt eine ganz andere Gestalt annehmen, als ich ihr in den Elementen der Psychophysik gegeben. Die Untriftigkeit der BERNSTEiNschen Hypothese werde ich gelegentlich nachweisen.1\nIhrerseits gestehen Sie zu, dafs das myophysische Gesetz Grenzen seiner G\u00fcltigkeit hat, indem nach p. 93 die Hubh\u00f6he durch fortgesetzte Steigerung des Reizes nicht \u00fcber eine gewisse Grenze hinaus zu treiben ist, und nach p. 95 negative Hubh\u00f6hen, auf welche das Gesetz f\u00fchrt, wenn der Reiz unter die Schwelle f\u00e4llt, nicht Vorkommen ; wie ich meinerseits Grenzen der G\u00fcltigkeit des psychophysischen Gesetzes in der \u00e4ufsern Psychophysik, also in Bezug auf den \u00e4ufsern Reiz anzuerkennen habe. In betreff der obern Grenze der G\u00fcltigkeit bemerken Sie (S. 93 unten u. ff.), dafs dieselbe vielleicht nur scheinbar sein k\u00f6nne, oder (S. 94) nur von einer Zerst\u00f6rung des Gewebes bei hohen Reizwerten abh\u00e4ngen k\u00f6nne, wof\u00fcr ich eine entsprechende Annahme in der Psychophysik f\u00fcr die obere Grenze gestellt habe ; und jedenfalls kommt man in der Myophysik wie Psychophysik mit einer solchen Annahme f\u00fcr Erkl\u00e4rung der obern Grenze aus, da sie sich nicht durch Beobachtung widerlegen, freilich auch nicht beweisen l\u00e4fst ; hingegen w\u00fcrde es doch f\u00fcr beide Lehren unbequem sein, wenn sich darin eine Diskontinuit\u00e4t in der G\u00fcltigkeit des Gesetzes beim Schwellenwerte nach rationaler Auslegung der negativen Werte zeigen sollte. Was nun die Psychophysik anlangt, so habeich die negativen Empfindungswerte unter der Schwelle als imagin\u00e4re gedeutet, weil die Mathematik \u00fcberhaupt in F\u00e4llen, wo die Verminderung einer Gr\u00f6fse unter einen positiven Wert \u00fcberhaupt nicht m\u00f6glich ist, negative Werte dieser Gr\u00f6fse als imagin\u00e4re f\u00e4fst, und sonst diese Deutung in den El. d. Ps. (T. II. S. 39 ff.) durch verschiedene Betrachtungen zu rechtfertigen gesucht. Inzwischen finde ich in einer Anmerkung von Ihnen (S. 95) bemerkt, dafs Delboeuf Schwierigkeit in der Deutung der negativen Empfindungswerte gefunden, und mufs daher glauben, dafs ihm meine Er\u00f6rterungen \u00fcber diesen Punkt nicht gen\u00fcgt haben. Da ich erst durch Ihre Anmerkung auf seine Schrift aufmerksam geworden bin, habe ich sie mir erst jetzt\n1 Fechser: ln Sachen der Psychophysik. 1877.. S. 20, 138 ff.","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Uber negative Empfindungswerte.\n31\nverschreiben k\u00f6nnen, und mufs, bis ich sie erhalte, seine etwaigen Einw\u00e4nde gegen meine Deutung dahin stellen.\nGesetzt nun, sie liefse sich nach den von mir aufgestellten Gr\u00fcnden doch f\u00fcr das psychophysische Gesetz halten, so w\u00fcrde freilich der Hauptgrund, auf dem ich dabei fufse, dafs n\u00e4mlich eine reale Abnahme der Empfindungsgr\u00f6fse unter Null nicht m\u00f6glich ist, negative Werte dieser Gr\u00f6fse also nur imagin\u00e4re bedeuten k\u00f6nnen, auf die Myophysik nicht direkt \u00fcbertragbar sein, weil ein Muskel, vom Schwellenwerte an, sich ebensogut seiner Natur nach verl\u00e4ngern als verk\u00fcrzen kann. Aber sollte nicht vielleicht die Sache so zu fassen sein? Gehen wir von einem im gewissen Sinne analogen Fall aus. Ein K\u00f6rper bewege sich unter dem Einfl\u00fcsse einer konstanten schiebenden Kraft auf einer Ebene fort oder solle mittelst einer solchen fortgeschoben werden, so wird schon der kleinstm\u00f6gliche Wert dieser-Kraft hinreichen, eine Bewegung daran hervorzubringen, indem die Teilchen desselben von denen der Ebene aus, auf denen sie unmittelbar aufliegen, gegen die n\u00e4chsten vorr\u00fccken (ato-mistische Diskontinuit\u00e4t der Teilchen dabei vorausgesetzt); aber wenn die Kraft nicht grofs genug ist, werden sie durch die elastische Gegenwirkung dieser Teilchen in einem gewissen Abstande von denselben ins Gleichgewicht kommen, ohne \u00fcber dieselben hinausgef\u00fchrt werden zu k\u00f6nnen, was erst von einem gewissen Werte der Kraft, dem Schwellenwerte des Schubes, an der Fall sein kann. Sollte nun eine Formel konstruiert werden,, welche die Geschwindigkeit des Gleitens auf der Ebene in Abh\u00e4ngigkeit von der schiebenden Kraft und den Umst\u00e4nden, unter denen sie wirkt, ang\u00e4be, so d\u00fcrfte die durch den Widerstand aufgehobene Geschwindigkeit bei Kraftwerten unterhalb der Schwelle auch nicht mit Null, sondern mit negativen Werten auszudr\u00fccken sein, um durch die verschiedene Gr\u00f6fse dieser Werte die verschiedene Ann\u00e4herung derselben an positive Werte der Geschwindigkeit bei fortbestehendem Gleichgewicht zu repr\u00e4sentieren, was anders ist sowohl bei einem K\u00f6rper, der ohne treibende und gegenwirkende Kr\u00e4fte in Ruhe ist, als bei einem solchen, der (wie eine belastete Wagschale durch eine andere gleichbelastete Wagschale) durch eine gegenwirkende Kraft in Ruhe ist, ohne dafs mit der ver\u00e4nderten absoluten Gr\u00f6fse der sich aufwiegenden Kr\u00e4fte eine Ann\u00e4herung oder Entfernung von der Entstehung positiver Werte der Geschwin-","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nG. Th. Fechner.\ndisrkeit stattfindet, in welchen F\u00e4llen der Ruhezustand aller-dings als Null der Geschwindigkeit zu bezeichnen. Die \u00dcbertragung dieser Betrachtung auf den tetanisierten Muskel ist leicht. Auch bei diesem wird erst eine gewisse Kraftgr\u00f6fse erreicht und \u00fcberschritten werden m\u00fcssen, um die Teilchen zwischeneinander und durch- und \u00fcbereinander hinauszuschieben; bis dahin werden die Teilchen nach einer N\u00e4herung in verschwindender Gr\u00f6fse nur in einem dauernden Gleichgewichtszust\u00e4nde verharren, und die hierbei aufgehobene Geschwindigkeit und davon abh\u00e4ngige Hebung hiernach auch mit negativem Vorzeichen zu bezeichnen sein. Jedoch \u00fcberlasse ich es Ihnen zu beurteilen, ob mit diesen Betrachtungen der Schwierigkeit beizukommen ist, und m\u00f6chte selbst nicht behaupten, dafs sie ganz evident sind.\nLeipzig, den 13. Januar 1874.\nWas die untere G\u00fcltigkeitsgrenze Ihrer Formel anlangt, so hat sich das Bl\u00e4ttchen dahin gewendet, dafs ich, nachdem ich Ihre Auffassung derselben angegriffen, jetzt vielmehr meine Auffassung gegen die Ihrige zu verteidigen habe. Sie finden keinen prinzipiellen Mifsstand darin, dafs die myophysische Mafsformel unterhalb der Schwelle negative Hebungen, d. h. Ausdehnungen des Muskels gibt, die sich doch in der Erfahrung nicht finden, und acceptieren die Vorstellung nicht, die ich zur Beseitigung dieses Mifsstandes geltend zu machen suchte und auch jetzt noch geltend mache, nur dafs ich in der Berufung auf das Beispiel der Reibung statt des \u00fcbereilt gebrauchten Ausdrucks, dafs vernichtete Geschwindigkeit mit negativem Vorzeichen zu bezeichnen sei, vielmehr das, was an positiver Geschwindigkeit noch fehlt, im Sinne meiner Vorstellungsweise so zu bezeichnen habe. Doch dies beiseite. Sie stimmen hingegen Delboeuf in dem Einwurfe, den er gegen meine Auffassung der negativen Empfindungswerte erhebt, bei und k\u00f6nnen dann nat\u00fcrlich auch in der Myophysik nicht von dieser Auffassung Gebrauch machen. Nun ist mir Delboeufs Schriftchen1 erst vor ein paar Tagen zugekommen, und habe ich es daher noch nicht durchstudieren k\u00f6nnen, aber doch das,\n1 Etude psychophysique par J. Delboeuf. Bruxelles, 1873 (Rayez). Extrait du tome XXIII des M\u00e9moires publi\u00e9s par T Acad. roy. de Belgique.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n33\nworauf es in der hier angeregten Frage ankommt, n\u00e4her eingesehen und hier\u00fcber folgendes zu sagen:\nDelboeuf macht wesentlich zwei Einw\u00e4nde, deren ersten, mit \u201eDevons nous insisteru etc. auf p. 15 beginnenden ich glaube, \u00fcbergehen zu k\u00f6nnen, teils weil ich vermute, dafs Sie ihn selbst nicht teilen, teils weil er samt dem daran Gekn\u00fcpften unsere Differenz nicht wesentlich angeht. Was aber den andern, von Ihnen geteilten Einwurf betrifft, der sich direkt gegen meine Deutung der negativen Empfindungswerte richtet, so kann ich nur sagen, dafs er auf einem Mifsverst\u00e4ndnisse meiner Auffassung beruht, von dem ich wohl glauben mufs, dafs ich es verschuldet habe, weil Sie mit Delboeuf darin Zusammentreffen, aber mich doch befremdet finde, dafs es der Fall ist.\nDelboe\u00fcf sagt p. 17 : \u201eNous pourrions a priori rejeter des sensations n\u00e9gatives, parceque les sensations sont n\u00e9cessairement quelque\nchose, et que l'expression sensation n\u00e9gative est un non-sens...\nD'apr\u00e8s Fechner, une sensation n\u00e9gative est une sensation tr\u00e8s faible dont on n'a pas conscience\u201c etc. Sie werden das \u00dcbrige leicht aus dem Ged\u00e4chtnis oder durch Nachschlagen erg\u00e4nzen; doch kommt wenig darauf an, weil sich schon hier zeigt, dafs Delboeufs Einwurf teils den Gebrauch eines Wortes trifft, ohne die unterliegende Sache zu treffen, \u00fcber die ich mich deutlich genug ausgesprochen zu haben glaubte, teils gegen eine Auffassung der Sache gerichtet ist, die ich gar nicht habe.\nIn der That verstehe ich ausdr\u00fccklich unter negativer Empfindung nicht eine sehr schwache Empfindung, von der man kein Bewufstsein hat, wie mir Delboeuf unterlegt, sondern eine imagin\u00e4re Empfindung, die gar nicht da ist, indes doch partielle Bedingungen ihrer Entstehung da sind, eine Empfindung, an deren Zustandekommen insofern noch etwas fehlt, als an den Bedingungen ihres Zustandekommens noch etwas fehlt, oder kurz, das Fehlende an einer Empfindung als Funktion des Verh\u00e4ltnisses dessen, was von den Bedingungen dazu doch da ist. zu dem, was da sein m\u00fcfste, sollte die Empfindung wirklich entstehen. Und wenn man fragt: wie l\u00e4fst sich \u00fcberhaupt noch von einer Empfindung sprechen, wenn eine solche nicht da ist, so sage ich, in demselben Sinne als sich von imagin\u00e4ren Gr\u00f6fsen in der Mathematik sprechen l\u00e4fst, ohne dafs eine Gr\u00f6fse da ist. Auch verwechsele ich negative und imagin\u00e4re Empfindungswerte (die nach den Verh\u00e4ltnissen\n3\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie.","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nff. Th, Fechner.\nder Empfindung zusammenfallen) eben deshalb nicht mit Nullwerten der Empfindung, weil die Mathematik solche Werte nicht verwechselt, und sollte meinen, dafs Sie, wenn Sie die Notwendigkeit solcher Unterscheidung in der Mathematik anerkennen, schon durch die Konsequenz sich dann gen\u00f6tigt finden m\u00fcfsten, solche auch in der Verwendung der Mathematik in der Psyehophysik anzuerkennen, oder mit dieser Verwendung die Psyehophysik selbst fallen zu lassen. Aber Sie finden keinen Anhalt der Vorstellung f\u00fcr eine solche Unterscheidung im Empfindungsgebiete. Sie sagen: \u201eEntweder hat die Granglienzelle eine Empfindung oder sie hat keine.\u201c Und ich selbst sage: sollte die Empfindung an sich, abstrakt von ihrer physischen Unterlage betrachtet werden, so w\u00e4re jener Unterschied nicht zu machen oder gleichg\u00fcltig; aber so ist es ja nicht, vielmehr ist es gerade die Abh\u00e4ngigkeit des Psychischen von der physischen Unterlage, womit sich die Psyehophysik besch\u00e4ftigt, sind es die physischen Entstehungsbedingungeil der Empfindung, die sie durch ihre Formeln unter sich fassen will. Da aber ist es nicht gleichg\u00fcltig, ob eine Empfindungs-gr\u00f6fse mit Null bezeichnet wird, wo der geringste Zuwachs der unterliegenden psychophysischen Bewegung positive Empfindung hervortreten l\u00e4fst, oder mit gr\u00f6fseren oder geringeren negativen Werten, wonach erst gr\u00f6fsere oder geringere Zuw\u00fcchse der physischen Bedingung dazu n\u00f6tig sind. Auch gewinnt eine \u201eEntfernung der Empfindung vom Dasein\u201c, die ich als negative Empfindung fasse, und die bei einer abstrakten Empfindung keine angebbare Bedeutung h\u00e4tte, als Funktion der allgemeinen Daseinsbedingungen der Empfindung und nach dem Zusammenh\u00e4nge mit den Entstehungsbedingungen der positiven Empfindung allerdings einen bestimmten Sinn. Sie sagen: man k\u00f6nne sich unter \u201enegativen Farben, negativen T\u00f6nen\u201c nichts vorstellen. Gewifs nichts unter negativen physischen Farben oder Tonschwingungen, \u2014 die aber in der Psyehophysik gar nicht Vorkommen, da selbst den negativen Empfindungen noch positive Werte psychophysischer lebendiger Kraft zugeh\u00f6ren, \u2014 wohl aber unter negativen Empfindungen von Farben, T\u00f6nen, wenn man sie in angegebener Weise fafst.\nMeinerseits scheint mir das gerade eine sch\u00f6ne Eigenschaft der Mafsformel, dafs sie in mathematischem Zusammenh\u00e4nge mit dem Mafse der wirklich vorhandenen Empfindung zugleich","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n35\nein Mafs der Entfernung von dem wirklichen Vorhandensein oder, anders gesagt, mit dem Mafse der Bewufstseinshelligkeit ein Mals der Tiefe des Unbewufstseins giebt, und zugleich, dafs sie dem unklar oder in sich widerspruchsvoll erscheinenden Ausdruck unhewufster geistiger Th\u00e4tigkeit, den doch die Psychologie kaum missen kann, eine exakte und exakter Verwertung f\u00e4hige Deutung unterlegt.\nOh ich Sie mit allen diesen Er\u00f6rterungen zu befriedigen vermag, weifs ich freilich nicht, da Sie durch die Er\u00f6rterungen in meinen Elementen, die im vorigen nur etwas ausgef\u00fchrt sind, nicht befriedigt worden sind; doch werde ich dabei beharren m\u00fcssen, so lange ich mich nicht von der Triftigkeit der Gegener\u00f6rterungen zu \u00fcberzeugen vermag.\nAus dem bisher nur ganz oberfl\u00e4chlichen Einblick in den \u00fcbrigen Inhalt der DELBOEUFschen Schrift sehe ich, dafs er meine Mafsformel (die ich selbst f\u00fcr prinzipiell streng nur im Gebiete der inneren Psychophysik ansehe) dahin modifiziert hat, dafs die untere Abweichung derselben von der G\u00fcltigkeit (die in der \u00e4ufseren Psychophysik nachweislich ist) im Gebiete der Lichtempfindung (scheinbar) wegf\u00e4llt.\nEine nur etwas allgemeinere Formel habe ich schon zu demselben Zwecke p. 108 und 195 des zweiten Teiles meiner Elemente gegeben und ziehe bis auf weiteres die meinige vor, da Delboeufs Formel f\u00fcr den Fall, dafs gar kein Lichtreiz das Auge trifft, die Lichtempfindung Null werden l\u00e4fst, indes doch die Empfindung des Augenschwarz \u00fcbrig bleibt, die freilich manche f\u00fcr keine Empfindung halten m\u00f6chten. Dies wird nicht hindern, dafs seine Resultate in den Grenzen seiner Versuche gut genug mit der Erfahrung stimmen, was ich voraussetze, ohne sie bisher noch darauf angesehen zu haben.\n22. u. 23. Jan. 74.\nSie finden es disparat, dafs ich die negativen Empfindungswerte als Entfernungen vom Dasein der Empfindung, die positiven als Empfindungs st\u00e4rken fasse, was nicht miteinander vergleichbar sei. In der That aber fasse ich die negativen Empfindungen nicht als Entfernungen vom Dasein schlechthin, sondern \u2014 trotz Ihrer unten zu betrachtenden Bemerkung, als wenn dies auf dasselbe herausk\u00e4me \u2014 als Entfernungen vom Nullpunkte eines Daseins,\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nG. Th. Feckntr.\nwas quantitativer Bestimmungen f\u00e4hig ist, und ebenso die positiven Empfindungswerte nicht als daseiende Empfindungen schlechthin, deren Quantit\u00e4t aufser acht f\u00e4llt, sondern als Entfernungen von demselben Nullpunkte des Daseins nur in entgegengesetztem Sinne, mit R\u00fccksicht, dafs Gr\u00f6fsenbe-stimmungen \u00fcberall einer r\u00e4umlichen Repr\u00e4sentation f\u00e4hig sind, und w\u00fcfste nicht, was in all dem Unzul\u00e4fsiges oder Disparates l\u00e4ge. \"Wenn man aber einwendet, dafs Entfernungen vom Nullpunkte in negativem Sinne \u00fcberhaupt keine Gr\u00f6fsen bedeuten k\u00f6nnen, so erwiedere ich: doch! in demselben Sinne als die Mathematik von negativen und imagin\u00e4ren Gr\u00f6fsen spricht und sprechen mufs, und ich die Mathematik nun eben auf Gr\u00f6i'senbestimmungen der Empfindungen anwende; glaube aber, schon im vorigen Briefe hier\u00fcber genug gesagt zu haben.\nNun sagen Sie freilich: \u201eSetzt man statt des Wortes \u201eDasein\u201c das Wort \u201eNullpunkt\u201c, so ist das nur eine verbale \u00c4nderung, keine begriff liehe.\u201c Und wenn dem wirklich so w\u00e4re, so h\u00e4tten alle Ihre Gegenbetrachtungen, die diesen Satz im Hintergr\u00fcnde haben, recht und w\u00e4re es mit der ganzen vorigen Betrachtungsweise nichts. Aber haben Sie diesen Satz wohl ernsthaft \u00fcberlegt\"? Sollten Sie nicht bemerken, dafs, wenn es gilt, die quantitativen Verh\u00e4ltnisse der Empfindung in Abh\u00e4ngigkeit vom K\u00f6rperlichen unter einen scharfen Ausdruck zu fassen, es gar nicht gleichg\u00fcltig ist, ob ich die Gr\u00f6fse der Empfindung als positive oder negative (gr\u00f6fsere oder geringere) Entfernung vom Nullpunkte des Daseins oder als Entfernung vom Dasein \u00fcberhaupt fasse und r\u00e4umlich repr\u00e4sentiere ? Letztere Fassung l\u00e4fst blofs insofern eine quantitative Bestimmtheit zu, als sie in die erste \u00fcbersetzt wird, Sie aber muten der Mathematik zu, die bestimmte Fassung durch die unbestimmte zu ersetzen oder begrifflich damit zu identifizieren. Hier handelt es sich doch nicht um den Begriff der Qualit\u00e4t, sondern der Quantit\u00e4t der Empfindung, und nur, wenn es sich um erstere handelte, w\u00e4re Entfernung vom Dasein und vom Nullpunkte des Daseins dasselbe.\nSie sprechen Ihre Auffassung in der That sehr deutlich und entschieden aus, wenn Sie sagen: \u201edas Entferntsein hier (bei der Empfindung) unr\u00e4umlich gedacht, kann sich doch nur","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n37\nauf einen Zustand beziehen. Ist der Zustand erreicht, dann kann er durch Zunahme der Empfindungsgr\u00f6fse nicht noch mehr erreicht werden, als er schon ist.\u201c Aber hierin liegt eben das Proton Pseudos Ihrer Auffassung, dafs Sie auf dem Begriffe der qualitativen Seite des Zustandes fufsen, w\u00e4hrend es sich um die quantitative Seite handelt. Setzen Sie einmal statt Empfindung eines k\u00f6rperlichen Zustandes Verm\u00f6gen in Geld oder Geldeswert. Der Begriff des Verm\u00f6gens f\u00e4llt nicht mit dem von Geldeswert selbst zusammen, aber ist eine Funktion desselben, worunter auch Schulden als negatives Verm\u00f6gen treten. Der Begriff des Verm\u00f6gens in diesem Sinne ist nun auch der Begriff eines Zustandes, aber versuchen Sie doch einmal, Ihre Betrachtungsweise auf quantitative Bestimmungen des Verm\u00f6gens anzuwenden; Sie werden sie damit nur unm\u00f6glich machen, und zwar nicht minder die des positiven Verm\u00f6gens als der Schulden. Es geht nun einmal bei Gr\u00f6fsen-bestimmungen nicht, Entfernung vom Nullpunkte des Daseins mit Entfernung vom Dasein \u00fcberhaupt begrifflich zu identifizieren.\nDies, was ich etwa Ihren Einw\u00fcrfen gegen\u00fcber zur Rechtfertigung meiner Deutung der negativen Empfindungswerte zu sagen verm\u00f6chte, und womit ich nicht umhin kann, dieselbe auch jetzt noch zu vertreten. Aber ich mufs zugeben, dafs, die Zul\u00e4ssigkeit derselben in der Psychophysik vorausgesetzt, die \u00dcbertragung dieser Deutung auf negative Geschwindigkeitswerte (in der Myophysik und Reibungslehre) gewagt erscheinen kann, und ich \u00fcberlasse es gern Ihrer Beurteilung, ob sie Ihnen hier acceptabel erscheint. Ich selbst gestehe, nicht ganz klar dar\u00fcber zu sein. Sie haben ja freilich recht, wenn Sie sagen: \u201edafs es dem mathematischen Gebrauche der Bezeichnungen positiv und negativ nicht entspricht, das, was einer Geschwindigkeit zur Erreichung eines gewissen Wertes fehlt, negative Geschwindigkeit zu nennen. Die Richtung sei allein mafsgebend.\u201c Aber erstens handelt es sich ja hier nicht darum, das, was einer Geschwindigkeit zur Erreichung irgend eines gewissen, eines beliebigen Wertes, der auch positiv sein k\u00f6nnte, noch fehlt, als negative Geschwindigkeit zu fassen, sondern das, was zur Erreichung des ganz bestimmten Nullwertes, wo die Geschwindigkeit eben beginnt, noch fehlt, so zu fassen, und zwar als Funktion der vor-","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nG. Th. Fechner.\nhandelten Bedingungen so zu fassen.1 Zweitens kann im allgemeinen daran erinnert werden, dafs die mathematische Deutung der Vorzeichen -j- und \u2014 sich \u00fcberhaupt den Umst\u00e4nden und Voraussetzungen der Aufgabe anzupassen hat, wonach sich auch im allgemeinen fragen l\u00e4fst, oh jene Deutung auf Gegensatz der Dichtungen bei der Geschwindigkeit unter allen Umst\u00e4nden unverbr\u00fcchlich sei, und ob nicht da, wo es in der Natur der Aufgabe selbst liegt, vielmehr das Nicht-erreichen und das \u00dcberschreiten des Punktes beginnender Geschwindigkeit in Betracht zu ziehen, als den Gegensatz der Dichtungen, die von mir vorgeschlagene Deutung Platz finden kann. Ich w\u00fcfste wenigstens mit dem Falle der Deibung nicht anders zurecht zu kommen. Doch wie gesagt, ist dies eine Sache, die zu entscheiden Ihnen n\u00e4her liegt als mir. Nur m\u00f6chte ich noch erw\u00e4hnen, dafs das von Ihnen hei dieser Gelegenheit angezogene Beispiel mit dem Gl\u00fchen des Platindrahtes mir das, wogegen Sie es richten, nicht recht zu treffen scheint. Gewifs kann der Zustand des Platindrahtes, bevor er zu gl\u00fchen beginnt, nicht als negativer bezeichnet werden, aber warum? weil es f\u00fcr den Gebrauch des negativen Vorzeichens eben nicht darauf ankommt, dafs ein gewisser W\u00e4rme-zustand noch nicht erreicht sei, sondern dafs der Nullpunkt der W\u00e4rmeschwingung noch nicht erreicht sei; dieser ist aber bei allen nicht absolut kalten K\u00f6rpern schon \u00fcberschritten, und kein Anlafs in der W\u00e4rmelehre, von einer Entfernung vom Nullpunkt noch unterhalb des Nullpunkts zu sprechen, daher ein negatives Vorzeichen in Bezug darauf \u00fcberhaupt keinen Platz findet, so lange wir uns in der Physik halten. Treten wir aber mit dem Beispiele in die Psychophysik \u00fcber, f\u00fcr welche erst das Sichtbarwerden des W\u00e4rmezustandes als Sache der Empfindung Bedeutung gewinnt, so geht das negative Vorzeichen nach den von mir vertretenen Prinzipien\n1 Delboeitf glaubt p. 17. 18. seiner Schrift, einen Einwand gegen meine Aufstellung negativer Empfindungswerte darin finden zu k\u00f6nnen, dafs der Nullpunkt der Thermometerskala beliebig verschoben und so aus negativen positive Temperaturgrade gemacht werden k\u00f6nnten, warum nicht entsprechend mit der Empfindung? \u2014 Deshalb nicht, weil der Nullpunkt der Empfindungsskala eben nicht willk\u00fcrlich wie der der Thermometerskala verschoben werden kann. [F.]","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Uber negative Empfindungswerte.\n39\neben nur auf die Empfindung \u00fcber, insofern die W\u00e4rmeschwingung nicht zureicht, sie bis auf den Nullpunkt oder Schwellenpunkt zu bringen, ohne damit auf die dazu nicht zureichende W\u00e4rmeschwingung selbst \u00fcberzugehen; und ich denke, dafs all das eben nur in der Konsequenz dieser Prinzipien liegt.\nWenn Sie bemerken, dafs \u201enach meiner Auffassung Be-wufstseinshelligkeit und Empfindungsst\u00e4rke solidarisch verbunden seien\u201c, und \u201eeinander genau proportional gehen\u201c m\u00fcssen, so haben Sie den sehr wesentlichen Unterschied \u00fcbersehen, den ich zwischen der Bewufstseinsintensit\u00e4t mache, wiefern sie von der Gr\u00f6fse des Empfindungsreizes (oder der dadurch ausgel\u00f6sten psychophysischen Th\u00e4tigkeit von speciellem Charakter) abh\u00e4ngt, und wiefern sie von der Aufmerksamkeit (oder \u00fcberhaupt einer allgemeinen Bewufstseinsth\u00e4tigkeit, wof\u00fcr ich einen allgemeineren psychophysischen Prozefs postuliere) abh\u00e4ngt, wor\u00fcber ich in dem die innere Psychophysik behandelnden Teile meiner Elemente unter Mitber\u00fccksichtigung der Tr\u00e4ume sehr ausf\u00fchrlich gehandelt habe. Mag sein, dafs diese Darstellung anfechtbar ist und darum keine sonderliche Beachtung gefunden hat, sa kann ich danach jedenfalls die obbemerkte \u201eSolidarit\u00e4t\u201c nicht als meinen Ansichten entsprechend anerkennen. Eine Empfindung kann vielmehr danach ebenso unter die Schwelle des Totalbewufstseins fallen, wenn bei gleich gehaltenem Empfindungsreize die Aufmerksamkeit (der ihr unterliegende Prozefs) unter die Schwelle f\u00e4llt, als wenn bei gleichgehaltener Aufmerksamkeit der Empfindungsreiz (der dadurch ausgel\u00f6ste eigent\u00fcmliche Prozefs) unter die Schwelle f\u00e4llt.\nSie fragen endlich noch: \u201eWarum soll den Beizen unterhalb der Schwelle nicht etwas anderes entsprechen, als Empfindung? aber etwas, was sp\u00e4ter mit der Empfindung zusammengeht, z. B. W\u00e4rme, \u00c4nderung der elektromotorischen Eigenschaften der Ganglienzelle \u00e4hnlich wie beim Muskel?\u201c Verstehe ich Sie recht, so treffe ich hierin ganz mit Ihnen \u00fcberein, da ich ja selbst meine, dafs die physischen Ver\u00e4nderungen, die mit der Empfindung \u00fcber der Schwelle als wesentliche Bedingungen derselben mitgehen, auch schon unterhalb der Schwelle nur in unzureichender St\u00e4rke zur Erweckung der Empfindung vorhanden sind.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nG. Th. Fechner.\nDocli genug, mit der Bitte, dafs Sie diese Bemerkungen so freundlich als die fr\u00fcheren aufnehmen m\u00f6gen. Mit vorz\u00fcglicher Hochachtung\nder Ihrige\nFechner.\n6. Febr. 1874.\nSie bemerken : in betreff meiner Auffassung der negativen Empfindungswerte sei insofern nicht mehr mit mir zu streiten, als ich selbst \u201eeinr\u00e4ume, von den Vorzeichen -j- und \u2014 einen etwas anderen Gebrauch zu machen, als gemeiniglich in der Mathematik \u00fcblich ist\u201c. Aber weder habe ich dies einger\u00e4umt, noch r\u00e4ume ich es, jetzt ein, wenn ich damit einr\u00e4umen soll, dafs ich den Sinn, in welchem die Mathematik diese Vorzeichen braucht, in der Psychophysik irgendwie verlasse, da ich vielmehr immer wiederholt darauf hingewiesen habe, dafs die Mathematik in einem ganz entsprechenden Falle \u2014 nicht entsprechende, und w\u00e4ren sie noch so zahlreich, kann man aber doch nicht geltend machen \u2014 die Zeichen -f- und \u2014 ganz ebenso braucht als ich. Ihy Ausdruck \u201e\u00fcblich\u201c bezieht sich eben nur auf die Menge nicht entsprechender F\u00e4lle. Dafs die von mir f\u00fcr gewisse Verh\u00e4ltnisse vorgeschlagene Deutung negativer Geschwindigkeitswerte als imagin\u00e4rer Zweifeln unterliegen kann, habe ich schon fr\u00fcher anerkannt, und es liegt auch zun\u00e4chst kein Interesse f\u00fcr mich vor, darauf zu bestehen.\nVon anderer Seite jedoch bestreiten Sie aufs neue meine Auffassung des Verh\u00e4ltnisses zwischen positiven und negativen Empfindungen aus dem Gesichtspunkte, dafs sich solche mit dem von mir statuierten Verh\u00e4ltnisse zwischen bewufst und unbewufst nicht reimen, oder auch, dafs das letztere Verh\u00e4ltnis sich mit dem ersten nicht reime, kurz, Sie finden hier etwas, was nicht zusammenklappt. Nun gestehe ich offen, selbst nach wiederholtem Durchlesen kein rechtes Verst\u00e4ndnis Ihres hierauf gehenden Einwurfes haben gewinnen zu k\u00f6nnen ; wovon ich den Grund schliefslich in nichts anderem zu finden weifs, als dafs Sie ebensowenig im letzten als vorhergehenden Briefe sich auf eine Unterscheidung des Bewufstseins einlassen, die ich nicht minder zur Pr\u00e4cisierung als Beantwortung des Ein-","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n41\nwurfes wesentlich, halte ; daher ich mich auch hier wieder werde wiederholen m\u00fcssen, indem ich auf diese Unterscheidung zur\u00fcckkomme. Ob ich damit Ihren Einwurf eigentlich treffe, weifs ich freilich ebensowenig, als ob Ihr Einwurf eigentlich meine Auffassung trifft; doch will ich, bevor ich auf den Versuch einer Antwort eingehe, schematisch zu zeigen suchen, wie ich mir\u2019s denke.\nSeien zwei Punkte \u00fcbereinander und ein Punkt dazwischen gegeben; die Richtung nach oben sei als positiv genommen, so wird der Zwischenpunkt sich vom untern Punkte in positivem, vom obern in negativem Abstande finden. Fragt nun jemand, ob eine gewisse Eigenschaft dessen, was sich am Zwischenpunkt befindet, solidarisch mit seinem positiven oder negativen Abstande sei, ohne Unterscheidung, auf welchen Punkt er den Abstand bezieht, so scheint mir das eine Frage derselben Art zu sein, als die, der ich in Ihrem Einwurfe begegne. Nat\u00fcrlich kann, was in einem Sinne stimmt, nicht mehr im andern Sinne stimmen. Doch nun ohne Bild:\nIch meine, man hat ein h\u00f6heres Bewufstsein zu unterscheiden, das der willk\u00fcrlich richtbaren und verlegbaren Aufmerksamkeit, der Reflexion, Abstraktion u. s. w. \u2014 bleiben wir hier nur bei der willk\u00fcrlich verlegbaren Aufmerksamkeit stehen \u2014 und ein niedres Bewufstsein, das der sinnlichen Empfindung und ihrer Reproduktion in Erinnerung. So geschieht es schon in der Psychologie und mufs auch in der Psychophysik geschehen, indem man ersterer allgemeine, dieser speciellere psychophysische Prozesse (im Sinne der Erl\u00e4uterung im 42. Abschn. meiner Elemente) unterlegt. Ob nun Bewufstsein \u00fcberhaupt da ist, oder, psychophysisch ausgedr\u00fcckt, die Schwelle des Totalbewufstseins \u00fcberschritten oder nicht erreicht ist, h\u00e4ngt weder von der Intensit\u00e4t und Schwelle der einen noch andren jener Th\u00e4tigkeiten allein ab, sondern ist eine zusammengesetzte Funktion beider. Sei nun die willk\u00fcrliche Aufmerksamkeit in einem Sinnesgebiete tief unter der Schwelle, w\u00e4hrend die durch einen Reiz in diesem Gebiete erweckte Empfindung \u00fcber ihrer Schwelle ist,1 mithin jene in diesem Sinnesgebiete mit negativem, diese mit positivem Vorzeichen, bez\u00fcglich ihrer respektiven Schwellen, behaftet, so\n1 Beispiele dazu finden sich in meinen Elementen. [F.]","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nG. Th. Fechner.\nkann trotz dieses positiven Vorzeichens der Empfindung doch das Bewufstsein derselben fehlen, weil es mit dem ganzen Bewufstsein, dessen Moment es ist, unter die Totalschwelle f\u00e4llt, was sich selbst schematisch darstellen l\u00e4fst, indem man die Totalschwellenh\u00f6he als Mittel der komponierenden Schwellenh\u00f6hen und die H\u00f6he des Totalbewufstseins der \u00fcber oder darunter als (algebraische) Summen der komponierenden Be-wufstseinsh\u00f6hen bez\u00fcglich ihrer respektiven Schwellen darstellt1 (wobei negative von positiven in Abzug kommen). Insofern ist also positiver Wert der Empfindung bez\u00fcglich ihrer Schwelle und Bewufstsein der Empfindung nicht solidarisch, indem sie dabei doch negativ gegen die Totalschwelle sein kann, welche f\u00fcr Dasein und Nichtdasein von Bewufstsein \u00fcberhaupt den Ausschlag gibt. Aber wenn man die Lehre von den psychophysischen Verh\u00e4ltnissen der Empfindung f\u00fcr sich in der Beobachtung verfolgt, kann man es doch nur, w\u00e4hrend das Totalbewufstsein im betreffenden Empfindungsgebiete \u00fcber der Schwelle ist, und dann ist positiver und negativer Wert der Empfindung bez\u00fcglich ihrer Schwelle allerdings solidarisch mit Bewufstsein und Unbewufstsein eben dieser Empfindung, obwohl nicht solidarisch mit Bewufstsein und Unbewufstsein \u00fcberhaupt, denn w\u00e4hrend eine gewisse Empfindung unter der Schwelle ist, kann eine andere \u00fcber der Schwelle sein, oder eine intensive Aufmerksamkeit sich z. B. auf das Vernehmen eines Schalles richten, der nicht da ist, oder man im tiefem Nachdenken begriffen sein. Das alles ist f\u00fcr mich sehr klar, weil ich mich in diesen Vorstellungskreis hineingelebt habe, ich finde es aber sehr m\u00f6glich, dafs es f\u00fcr Sie noch ebenso unklar bleibt, als mir Ihr Einwurf geblieben ist, weil ich mich nicht ebenso in Ihren Vorstellungskreis hineingelebt habe. Also wollen wir miteinander aufheben, wenn wir uns nicht weiter in der Sache zu verst\u00e4ndigen verm\u00f6gen.\n24. u. 25. Febr. 1874.\nIn betreff der negativen Empfindungswerte bemerken Sie, dafs ich selbst zur Erl\u00e4uterung derselben das Beispiel nega-\n1 Dies wenigstens die einfachste Eepr\u00e4sentation, woran man denken kann. [F.]","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\n43\ntiver Geschwindigkeitswerte bei der Reibung herangezogen. In dieser Beziehung t\u00e4uscht Sie unstreitig die Erinnerung, Nicht zur Erl\u00e4uterung negativer Empfindungswerte in der Psychophysik, wozu ich das Beispiel f\u00fcr untauglich halte, weil es Schwierigkeiten darbietet, sondern zur m\u00f6glichen Erl\u00e4utert ng der negativen Hebungswerte in der Myophysik habe ich das Beispiel der Reibung herangezogen, indem ich allerdings meinte, dafs sich all das wohl unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt fassen liefse, es auch jetzt noch meine, nur in anderer Weise, als woran ich fr\u00fcher dachte, \u2014\u25a0 wie ich denn von Anfang hierin mich keiner Klarheit in dieser Beziehung r\u00fchmte. Die Schwierigkeit, negative Geschwindigkeitswerte bei der Reibung und negative Hebungswerte bei Ihren Versuchen als imagin\u00e4re zu fassen, liegt n\u00e4mlich darin, dafs die Deutung der erstem als Geschwindigkeiten von entgegengesetzter Richtung und der letztem als Verl\u00e4ngerungen des Muskels n\u00e4her liegt, eine Schwierigkeit, die bei negativen Empfindungswerten wegf\u00e4llt. Denn unter Null der Empfindung oder jenseits derselben giebt es eben nichts, was durch negative Werte derselben bedeutet werden k\u00f6nnte, als imagin\u00e4re Werte derselben, gerade wie beim Radius vector der Polarkoordinaten, daher ich nur auf diesen, nicht auf die Reibung zur Erl\u00e4uterung der negativen Empfindungswerte in den Elementen der Ps. und andeutungsweise in meinem Schreiben bezug genommen. Das Beispiel mit der Raddrehung, was Sie heranziehen, tritt aber mit dem der Reibung ganz unter denselben Gesichtspunkt, und kann ich daher die Parallele mit der Empfindung, auf der Sie fufsen, nicht als zutreffend zugestehen. Bei der Raddrehung w\u00fcrde man (entsprechend als bei der Reibung, anders als bei der Empfindung) negative Drehungswerte als solche von entgegengesetzter Richtung fassen k\u00f6nnen.\nInzwischen glaube ich, dafs sich allerdings in allen diesen F\u00e4llen eine Parallele mit der Empfindung herstellen l\u00e4fst, wenn man dabei nur nicht auf negative Geschwindigkeitswerte rekurriert, wie ich meinte zu k\u00f6nnen. Gehen wir auf das Beispiel der Reibung zur\u00fcck, denken uns einen K\u00f6rper durch irgend eine Kraft auf einer Ebene fortgeschoben und stellen eine Untersuchung an, bei welchem Werte der schiebenden Kraft ein Teilchen a des K\u00f6rpers das zun\u00e4chst vor ihm liegende b","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nG. Th. Fechner.\nder Ebene (atomistiseh in kleiner Entfernung davon gedacht) nicht zu erreichen und zu \u00fcberschreiten vermag, so werden wir dem Sinne der Aufgabe gem\u00e4fs die Entfernungen des Teilchens a von b als negativ oder positiv bez\u00fcglich b (als Schwellenwert) zu betrachten haben, je nachdem b nicht erreicht oder \u00fcberschritten ist, und sollte sich nach Ausdruck durch eine Formel zeigen, dafs bei nicht sehr starken Kraftwerten b gar nicht erreicht werden kann, mithin der Abstand von a bez\u00fcglich b negativ bleibt, so hiefse das, das \u00dcberschreiten von b hat einen negativen Wert, es kann zu einem wirklichen Gleiten von a \u00fcber b hinaus nicht kommen, sondern blofs zu einer Ann\u00e4herung an diesen Punkt. So k\u00f6nnten vielleicht auch bei den myophysischen Versuchen, m\u00f6chte die Frage auf das Zustandekommen von Hebung oder Dehnung eines Muskels gerichtet sein, negative Werte der Hebung oder Dehnung nur bedeuten, dafs die Kraft zu gering war, um irgend ein Teilchen nach L\u00e4ngen- oder Querrichtung des Muskels \u00fcber das andere hinauszuschieben und dadurch eine Hebung oder Dehnung merklich werden zu lassen. Doch auch das mag dahingestellt bleiben.\nDas in Ihrem fr\u00fcheren Briefe vom gl\u00fchenden Platindraht entnommene Beispiel ist wesentlich anderer Art als das bez\u00fcglich des Wasserrades.\nSie argumentieren gegen meine Auffassung negativer Werte aus folgender Parallele :\nDer Draht\n1)\tundurchstr\u00f6mt\nK\u00e4lte Dunkelheit\n2)\tschwacher Strom\nW\u00e4rme Dunkelheit\n3)\tstarker Strom\nheifs\nLichterscheinung\nDie Ganglienzelle\nM\nl f.\n|\tungereizt\n! keine psychophysische Bewegung 1\tkeine Empfindung\nschwacher Reiz\nschwache psychophys. Bewegung keine Empfindung\nstarker Reiz \u25a0i starke psychophysische Bewegung v\tEmpfindung.\nSie sagen, dafs in dieser Parallele alles objektiv zu nehmen,","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber negative Empfindungswerte.\t45\ndafs das Gl\u00fchen ebenso notwendig eintritt, wenn ein gewisser Temperaturgrad erreicht ist, als die Empfindung, wenn ein gewisser Wert der psychophysischen Bewegung erreicht ist. Aber ich mufs schlechthin in Abrede stellen, und stelle damit zugleich alle Konsequenzen, die Sie aus der Parallele gegen mich ziehen, in Abrede, dafs man mit den Ausdr\u00fccken K\u00e4lte, W\u00e4rme, Hitze, Dunkelheit, Lichterscheinung physische Zust\u00e4nde fundamental und objektiv bezeichnen kann, es sind vielmehr Ausdr\u00fccke, welche die gr\u00f6fsere oder geringere Entfernung des physischen Zustandes des Drahtes von dem Punkte oder \u00fcber den Punkt hinaus, wo er eine gewisse Empfindung zu erwecken anf\u00e4ngt, unbestimmt bezeichnen; das Gl\u00fchen das Drahtes tritt nicht bei einem festen Temperaturgrade des Drahtes ein, sondern wenn die Temperatur, nachdem sie schon vorher die Schwelle der W\u00e4rmeempfindung \u00fcberschritten, nun auch die Schwelle der Lichtempfindung (ihrer Erregung n\u00e4mlich) zu \u00fcberschreiten anf\u00e4ngt, d. i. bei verschiedenen Temperaturgraden je nach der verschiedenen Empfindlichkeit der Individuen, und tritt f\u00fcr den Blinden gar nicht ein. Also sind alle jene Ausdr\u00fccke von der linken Seite auf die rechte Seite zu \u00fcbertragen, wonach f\u00fcr die linke zur objektiven Bezeichnung des physischen W\u00e4rmezustandes nur gr\u00f6fsere oder geringere, aber \u00fcberall positive Werte von lebendiger Kraft der W\u00e4rmeschwingungen \u00fcbrig bleiben; nirgends ein Nullwert, r\u00fccklings dessen man von negativen Werten der W\u00e4rme sprechen kann, indes man allerdings von negativen Empfindungswerten sprechen kann, die r\u00fccklings bestimmter physischer W\u00e4rmezust\u00e4nde unter Voraussetzung bestimmter Empfindlichkeit ein treten.\nUnsere Differenz \u00fcber Bewufstsein anlangend, so glaube ich jetzt einzusehen, obwohl ich dar\u00fcber nicht sicher bin, dafs sie blofs auf einer verschiedenen Weite, in der wir den Begriff des Bewufstseins fassen, ruht. Ich sage: kein Bewufstsein ist da, wenn weder sinnliche Empfindung noch ein h\u00f6heres Be-wufstseinsph\u00e4nomen da ist, wie im traumlosen Schlafe, rechne aber in meiner weiteren Passung des Begriffes die sinnliche Empfindung selbst als eine Bestimmung oder ein Moment des Bewufstseins, was Sie nicht thun, denn nach Ihnen steigt das Bewufstsein in keiner Weise, wenn bei h\u00f6chst gespannter Aufmerksamkeit eine Empfindung hinzutritt, nach mir steigt es um die ganze Intensit\u00e4t der Empfindung, wobei ich aber den","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nG. Th. Feehner.\nniedren Bewufstseinsakt der Empfindung und den h\u00f6heren der Aufmerksamkeit unterscheide. Das w\u00e4re doch ein reiner Streit der Definitionen, der sich bei der Unbestimmtheit im allgemeinen Gebrauche des Begriffes Bewufstsein nicht rein ausfechten, sondern nur von jedem durch seine eigene Erkl\u00e4rung f\u00fcr seine besonderen Zwecke entscheiden l\u00e4fst.\n(Fortsetzung folgt im n\u00e4chsten Heft.)","page":46}],"identifier":"lit14172","issued":"1890","language":"de","pages":"29-46","startpages":"29","title":"\u00dcber negative Empfindungswerte: Briefliche Mitteilungen an W. Preyer","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:31:27.211539+00:00"}