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{"created":"2022-01-31T16:07:53.063851+00:00","id":"lit14185","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lipps, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1: 60-74","fulltext":[{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber eine falsche Nachbildlokalisation und damit Zusammenh\u00e4ngendes.\nVon\nTh. Lipps.\nDas Ph\u00e4nomen, um das es sich im Folgenden handelt, ist von mir seit lange beobachtet worden. Die erste darauf bez\u00fcgliche Mitteilung findet sich aber, so viel ich weii's, in E. Machs \u201eBeitr\u00e4gen sur Analyse der EmpfindungenJena 1886.\nMach berichtet S. 58 der genannten Schrift : \u201eWir betrachten in einem dunklen Zimmer ein Licht A und f\u00fchren dann eine rasche Blickbewegung nach dem tieferen Lichte B aus. Das Licht A scheint hierbei einen (rasch verschwindenden) Streifen nach oben zu ziehen. Dasselbe tliut nat\u00fcrlich auch das Licht Bu etc.\nDiese Angabe Machs bedarf verschiedener Erg\u00e4nzungen. Hier zun\u00e4chst eine Richtigstellung ihres Sinnes. Wenn Mach meint, \u201edasselbe thue nat\u00fcrlich auch das Licht Bu, so kann dies nicht heifsen, bei der einen und selben Blickbewegung von A nach B ziehe nicht nur das Licht A, sondern auch das Licht B einen Streifen nach oben. Dies w\u00e4re weder \u201enat\u00fcrlich\u201c, noch richtig. Die Meinung kann nur die sein, das Licht B ziehe einen Streifen nach unten, wenn der Blick rasch nach oben, also von B nach A gehe.\nOder allgemeiner gesagt : Jeder leuchtende Punkt oder Gegenstand, von dem ich meinen nach Blick irgend welcher Richtung rasch wegwende, scheint einen rasch verschwindenden Streifen nach entgegengesetzter Richtung zu ziehen.\nAuch diese Behauptung mufs noch verallgemeinert werden. Jedes von seiner Umgebung gen\u00fcgend sich abhebende Objekt","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber eine falsche Nachbildlolcalisation und damit Zusammenh\u00e4ngendes. 61\n\u00fcberhaupt scheint bei rascher Wegwendung des Blickes einen Streifen nach entgegengesetzter Sichtung aus sich zu entlassen,, das leuchtende Objekt einen leuchtenden, das weniger leuchtende einen schw\u00e4cheren und verwascheneren hellen, das dunkle einen verwaschenen dunklen.\nWeiter ist keineswegs erforderlich, dafs das Auge das Objekt erst fixiert und vom fixierten Objekte sich wegwendet. Auch wenn das Auge eine rasche Bewegung ausf\u00fchrt, die den Blick von einem indirekt gesehenen Objekte weiter wegf\u00fchrt, geht aus dem Objekt ein Streifen in der der Sichtung dieser Bewegung entgegengesetzten Sichtung hervor. So scheint, wenn ich von einem Punkte, der \u00fcber einer Seihe von Lichtern sich befindet, meinen Blick rasch nach rechts oder weiter nach oben wende, jedes der Lichter einen Streifen nach links, bezw. nach unten zu entsenden.\nFreilich mufs ich bemerken, dafs es den meisten sehr schwer zu fallen scheint, das bezeichnete Ph\u00e4nomen zu beobachten. Dies hat gewifs seinen Hauptgrund in der mangelnden \u00dcbung im indirekten Sehen. Darum mufs ich doch f\u00fcr meine Beobachtungen vollkommene Sicherheit in Anspruch nehmen. Ich sehe etwa, seit ich mich gew\u00f6hnt habe, darauf zu achten, des Abends von den Strafsenlaternen, wenn ich den Blick wegwende, \u00fcberall die bezeichneten leuchtenden Streifen ausgehen. Ich . sehe sie so deutlich, wie ich die Streifen sehe, die ein durchs ruhende Gesichtsfeld rasch hindurch bewegter leuchtender Gegenstand erzeugt; ich habe eine bestimmte Vorstellung von ihrer L\u00e4nge und ihrem meist unregelm\u00e4fsig wellenf\u00f6rmigen bei k\u00fcrzeren Augenbewegungen gelegentlich auffallend bogenf\u00f6rmigen Verlauf.\nMach sieht in dem Streifen ein falsch lokalisiertes positives Nachbild des gesehenen Objektes und ohne Zweifel mit Recht Dagegen ist er auf falscher F\u00e4hrte, wenn er dahingestellt l\u00e4fst, durch welche \u201eorganischen Einrichtungen\u201c des Auges diese falsche Lokalisation zu st\u00e4nde komme. Nicht nur giebt es sonst nichts, was auf solche besonderen organischen Einrichtungen hinwiese. Es scheint mir auch jede solche Erkl\u00e4rung durch die Natur des Ph\u00e4nomens ausgeschlossen.\nDafs in der That der leuchtende Streifen, den das Licht nach oben entsendet, wenn ich den Blick von A nach unten richte, ein falsch lokalisiertes Nachbild ist, davon habe ich den.","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nTh. Lipps.\ndeutlichsten Eindruck, wenn ich mich bem\u00fche, den Blick nachher ebenso rasch wieder zum Lichte A zur\u00fcckzuwenden. Ich sehe dann ann\u00e4hernd denselben Streifen noch einmal aufleuchten, in \u00e4hnlicher Form und gleicher Farbe und Leuchtkraft; zugleich ann\u00e4hernd an derselben Stelle und ebenso rasch entstehend und verschwindend. Vor allem wenn ich mehrere Male nacheinander meinen Blick von dem Lichte weg- und m\u00f6glichst rasch wieder zu ihm zur\u00fcckwende, dr\u00e4ngt sich mir die Gleichartigkeit oder Identit\u00e4t der bei der Abwendung und Wiederkehr des Blicks auftretenden Streifen auf. Folgen sich beide Streifen sehr rasch, so erscheint schliefslich das Auftauchen und Verschwinden des einen und des andern wie ein einziger Vorgang. Es ist mir, als ob bei der Abwendung des Blicks von dem Lichte ein Lichtstreifen nach oben sch\u00f6sse, der dann wiederum durch die R\u00fcckkehr des Auges in das Licht zur\u00fcckgef\u00fchrt w\u00fcrde.\nEs ist aber doch wohl kein Zweifel, dafs der bei der R\u00fcckkehr entstehende Streifen als Nachbild, oder besser als eine stetige Folge von Nachbildern gefafst werden mufs. Die Netzhaut des Auges wird bei der Bewegung nacheinander an einer Reihe von Punkten gereizt, und an jedem Punkte dauert der Reiz oder die Wirkung des Reizes eine Zeitlang nach. Daraus ergiebt sich bei der hier vorausgesetzten Bewegungsrichtung ohne weiteres die Wahrnehmung einer Lichtlinie, die nach oben zu herausschiefst und nach unten, nach dem Lichte zu, verschwindet.\nEbensowohl wird man dann aber auch den bei der Wegwendung des Blicks entstehenden Streifen als unmittelbare Reiznachwirkung, als \u201eNachbild\u201c in diesem Sinne, betrachten m\u00fcssen. Auch hier wird ja eine Reihe von Netzhautpunkten, und zwar ann\u00e4hernd dieselbe Reihe, mit demselben Ausgangsund Endpunkt, nacheinander gereizt, und auch die Wirkung dieser Reizungen dauert nach. Es entsteht also das Nachbild faktisch. Was sollte dann der in Rede stehende Streifen anders sein als eben dies Nachbild? W\u00e4re er etwas anderes, so m\u00fcfste ja das Nachbild noch neben ihm gesehen werden.\nDieser Auffassung entspricht es denn auch, dafs wir den Streifen sich verk\u00fcrzen sehen, wo die Bedingungen f\u00fcr die Verk\u00fcrzung des Nachbildes gegeben sind. Ich stelle etwa das Licht, das den Streifen aussenden soll, so tief, dafs es bei einer Bewegung des Kopfes nach oben sehr bald durch den","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber eine falsche Nachbildlokalisation und damit Zusammenh\u00e4ngendes. 63\nunteren Teil des Gesichts verdeckt wird. Wenn ich dann verm\u00f6ge einer Bewegung der bezeichneten Art \u2014 w\u00e4hrend gleichzeitig die Augen in ihren H\u00f6hlen ruhen \u2014 den Blick von dem Lichte wegwende, so kann nur ein kurzes Nachbild entstehen. Entsprechend sehe ich den Streifen verk\u00fcrzt.\nNun entwickelt sich freilich das Nachbild, das bei der Wegwendung des Blickes von einem Gegenst\u00e4nde entsteht oder richtiger zur\u00fcckbleibt, in gleicher Richtung, um in entgegengesetzter zu verschwinden, w\u00e4hrend bei dem in Rede stehenden Streifen das Gegenteil stattzufinden scheint. Aber eben in diesem letzteren Umstande besteht die zu erkl\u00e4rende falsche Lokalisation.\nDiese falsche Lokalisation nun giebt sich bei genauerer Betrachtung des bisher, trotz der gemachten Bemerkungen, noch nicht gen\u00fcgend genau bezeichneten Ph\u00e4nomens deutlich als Urteilst\u00e4uschung zu erkennen.\nWir setzen im Folgenden auf Grund des oben Gesagten an die Stelle des MACHschen Lichtes A ein beliebiges Objekt 0. Von ihm denken wir uns den Blick nach oben, nicht, wie Mach in seiner Mitteilung voraussetzt, nach unten gewandt. Der Endpunkt der Bewegung heifse P. Die Bewegung nach oben setze ich voraus, weil mir bei den dieser Darlegung zu Grunde liegenden Versuchen die Blickhebung weit m\u00fcheloser erschienen ist als die Blicksenkung. Wie man weifs, ist im Interesse einer nachher zu erw\u00e4hnenden Lokalisationstheorie das Gegenteil behauptet worden.\nIndem ich nun von 0 meinen Blick rasch gegen P wende, mache ich zun\u00e4chst eine Beobachtung, die das Bild, das Machs oben citierte Mitteilung in uns erwecken k\u00f6nnte, wesentlich ver\u00e4ndert. Ich sehe n\u00e4mlich zun\u00e4chst das 0 selbst, abgesehen von dem aus ihm hervorgehenden Streifen, um eine Strecke nach unten r\u00fccken. Diese Beobachtung war bei meinen Versuchen so sehr die zuerst sich aufdr\u00e4ngende, dafs sie sich mir anf\u00e4nglich ausschliefslich aufdr\u00e4ngte. Ich habe sie in meinen \u201ePsychologischen Studien\u201c im ersten Aufsatze im Interesse meiner Lokalisationstheorie verwendet, ohne dabei des Streifens, weil ich auf ihn nicht geachtet hatte, zu gedenken. \u2014 Es ist aber mit der Erkl\u00e4rung dieser scheinbaren eigenen Bewegung des 0 auch zur Erkl\u00e4rung des Streifens das Wesentlichste gethan.\nJene scheinbare eigene Bewegung des 0 habe ich nun","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nTh. Tipps.\nschon am eben genannten Orte auf Urteilst\u00e4uschung zur\u00fcckgef\u00fchrt. Ich f\u00fchre diese Erkl\u00e4rung hier n\u00e4her aus, um dann von da unmittelbar zu dem Besonderen unseres gegenw\u00e4rtigen Problems weiter zu gehen.\nVoraussetzung der Erkl\u00e4rung ist, dafs Bewegungsempfindungen des Auges mit der Einordnung der Gesichtseindr\u00fccke in das Sehfeld, also mit der Wahrnehmung der wechselseitigen Lage und Entfernung gleichzeitig gesehener Objekte nichts zu thun haben. Oben erw\u00e4hnter Aufsatz giebt \u2014 mir noch immer zwingend erscheinende \u2014 Gr\u00fcnde f\u00fcr diese Voraussetzung. Es ist aber eben die hier in Rede stehende Thatsache, sofern ihre Erkl\u00e4rung jene Voraussetzung n\u00f6tig macht, geeignet, sie zu best\u00e4tigen. \u2014 \u00dcbrigens werde ich auf die Meinung, Augenbewegungen bestimmten unser Bewufstsein der Gr\u00f6fse wahrgenommener Entfernungen, nachher mit einem Wort zur\u00fcckkommen.\nDagegen geben gewifs Bewegungsempfindungen des Auges, und nicht minder solche des Kopfes, des K\u00f6rpers den Mafsstab ab zur Abmessung der Verschiebungen, welche das ganze Sehfeld und jeder Punkt desselben innerhalb des uns umgebenden, als ruhend gedachten Gesamtraumes erleidet; wir beurteilen nach der Gr\u00f6fse solcher Bewegungen oder er-schliefsen aus ihr die Gr\u00f6fse des Weges, den unser Blick eberi Verm\u00f6ge dieser Bewegungen in dem ruhenden Raume zur\u00fccklegt.\nWie dies zugehe, ist leicht verst\u00e4ndlich. An sich enthalten jene Bewegungen nicht die mindeste Hindeutung auf R\u00e4umlichkeit, also auch auf Raumgr\u00f6fsen in sich. Sie selbst sind ja f\u00fcr unser Bewufstsein nichts als eine Folge rein intensiver Zust\u00e4nde. Aber sie k\u00f6nnen durch die Erfahrung dazu gelangen, durchmessene Raumgr\u00f6fsen zu bedeuten. Ich wende den Blick von einem ruhenden A zu einem ebensolchen B. Den Weg von A nach B und seine Gr\u00f6fse nehme ich wahr, unabh\u00e4ngig von allen Augen- und sonstigen Bewegungen. Zugleich aber habe ich das Bewufstsein jener stetigen Reihe von intensiven Zust\u00e4nden, in welcher die Bewegungsempfindung besteht. Das Zusammentreffen der beiden Bewufstseinsinhalte macht, dafs sie sich verkn\u00fcpfen. So wird die Bewegung zum Zeichen des durchlaufenen Weges, seiner Richtung und Gr\u00f6fse.\nNicht immer habe ich nun aber von diesen beiden Objekten meiner Wahrnehmung, der Bewegung und der Weggr\u00f6fse ein","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Uber eine falsche Nachbildlokalisation und damit Zusammenh\u00e4ngendes. 65\ngleich deutliches Bewufstsein. Nicht immer insbesondere, wenn ich eine Blickbewegung ausf\u00fchre, achte ich gleich sorgf\u00e4ltig auf die Gr\u00f6fse des durchlaufenen Weges. Wenn ich von einem Punkte mein Auge rasch zu einem weiter entfernten wende, so pflege ich dies zu thun, weil dort ein Objekt ist, das meine Aufmerksamkeit reizt. Es kommt mir dann darauf an, das Objekt m\u00f6glichst rasch zu fassen, nicht aber mir von dem zwischen beiden Punkten hegenden Weg und seiner Gr\u00f6fse Bechenschaft zu geben. Und umgekehrt, wenn mein Interesse darauf gerichtet ist, eine Weggr\u00f6fse abzumessen und mir einzupr\u00e4gen, dann fliege ich nicht vom Anfangspunkte zum Endpunkt dieses Weges m\u00f6glichst rasch und in einem Zuge, ohne Anhalt und Beachtung des Zwischenliegenden, sondern gehe schrittweise, da und dort thats\u00e4ehlich oder in Gedanken anhaltend, absetzend, verweilend. Ich verfahre so, selbst wenn ich meine, die Bewegung in einem Zuge auszuf\u00fchren. Damit zerf\u00e4llt die Bewegung jedesmal in eine Beihe mehr oder weniger abgegrenzter Teilbewegungen, der Weg in eine Folge von Wegteilen, die jenen Teilbewegungen zugeh\u00f6ren. Nicht die Bewegung als unterschiedsloses Ganzes, sondern diese durch Haltpunkte geteilte Bewegung wird sonach zum Zeichen des durchlaufenen Weges oder der Folge von Teilen, in die er zerf\u00e4llt. Und es leuchtet ein, dafs die Bewegung zu einem um so sichereren Zeichen f\u00fcr den thats\u00e4ehlich, d. h. nach Aussage der Wahrnehmung durchlaufenen Weg, zu einem um so sichereren Mafsstab f\u00fcr die Gr\u00f6fse dieses Weges werden mufs, je mehr die Bewegung in Teile zerfiel und jeder Teil mit dem zugeh\u00f6rigen und f\u00fcr sich aufgefafsten St\u00fcck des durchlaufenen Weges sich verbinden konnte.\nIn unserem Zusammenh\u00e4nge handelt es sich nun aber um Bewegungen, die relativ grofs und eben dadurch ausgezeichnet sind, dafs das sie ausf\u00fchrende Auge von einem Punkte zum andern ohne Anhalt fliegt, so dafs die Bewegung, soweit irgend m\u00f6glich, nur als unterschiedsloses Ganzes zum Bewufstsein kommt. Um dies zu erh\u00e4rten, f\u00fcge ich hier wiederum den oben gemachten Angaben eine erg\u00e4nzende Bemerkung hinzu. Die scheinbare Bewegung des 0 -\u2014 wenn ich von 0 nach P gehe \u2014, ist bei der ersten Blickbewegung vielleicht wenig merklich. Sie steigert sich dann, wenn ich die Blickbewegung durch \u00f6ftere Wiederholung ein\u00fcbe. Sie wird am gr\u00f6fsten, wenn ich\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie.\t5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nTh. IApps.\nes so weit gebracht habe, dafs ich die Bewegung unwillk\u00fcrlich, einer Art von Zwang gehorchend, also so leicht und anhaltlos als m\u00f6glich vollziehe.\nDa solche Bewegungen durch die Erfahrung nicht als solche zu Zeichen von bestimmten Weggr\u00f6fsen haben werden k\u00f6nnen, so kann ich die Gr\u00f6fse des Weges, der durch sie zur\u00fcckgelegt wird, nur sch\u00e4tzen nach Analogie der vorhin bezeichneten \u201egeteilten\u201c Bewegungen. Wie die Grr\u00f6fse unser \u201eungeteilten\u201c Bewegungen zur Grr\u00f6fse dieser \u201egeteilten\u201c Bewegungen, so m\u00fcssen sich die durch beide zur\u00fcckgelegten Wege zu einander zu verhalten scheinen. Jene Bewegungen werden aber im Vergleich mit diesen notwendig untersch\u00e4tzt. Also m\u00fcssen auch die durch jene zur\u00fcckgelegten Weggr\u00f6fsen untersch\u00e4tzt werden.\nWir sch\u00e4tzen Zeitgr\u00f6fsen verschieden je nach der Art dessen, was sie erf\u00fcllt. Die Zeit verfliegt, wenn ein einheitlicher und stetiger Zusammenhang von Gedanken oder Erlebnissen uns besch\u00e4ftigt, in welchem jedes einzelne Moment nicht als solches, sondern nur als Durchgangspunkt innerhalb des Ganzen in Betracht kommt. Sie schleicht, wenn wir bald dieser, bald jener \u00e4ufseren oder gedanklichen Besch\u00e4ftigung uns zuwenden, oder wenn verschiedenartige, gegeneinander relativ selbst\u00e4ndige und f\u00fcr sich bedeutungsvolle Erlebnisse sich folgen.\nDieser Unterschied der Sch\u00e4tzung \u00fcbertr\u00e4gt sich auch auf Weggr\u00f6fsen. Der Weg, den ich gehe, wird verk\u00fcrzt durch die das Interesse spannende, d. h. die Vorstellungsth\u00e4tigkeit von Punkt zu Punkt ohne Anhalt und Unterbrechung weiterf\u00fchrende Unterhaltung ; er erscheint lang, wenn die Unterhaltung stockt, immer wieder von neuem und mit neuen Gedanken einsetzt. In \u00e4hnlicher Weise scheint mir unter im \u00fcbrigen gleichen Umst\u00e4nden auch der gel\u00e4ufige Weg, den ich von vornherein als Ganzes im Auge habe, k\u00fcrzer als der neue, der durch immer neue Wahrnehmungen f\u00fcr meine Auffassung in eine gr\u00f6lsere oder geringere Anzahl selbst\u00e4ndiger Teile zerlegt wird.\nAuch die Untersch\u00e4tzung der ununterbrochenen Linie im Vergleiche mit der durch Querstriche geteilten kann hierher gezogen werden. Wiederum zerf\u00e4llt jene f\u00fcr meine successive Auffassung und Einpr\u00e4gung in eine Reihe relativ selbst\u00e4ndig auffafsbarer Teile; die Querstriche wirken als Haltpunkte, die","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber eine falsche Nachbildlokalisation und damit Zusammenh\u00e4ngendes. (J7\ndem Zusammensein: umpfen wehren. Dieser fehlen die Haltpunkte, darum schrumpft sie in der Vorstellung zusammen.\nNach solchen Analogien nun mufs auch die Bewegung des Blickes von 0 nach P, also auch der Weg, den ich damit zur\u00fccklege, untersch\u00e4tzt werden. Zugleich sehe ich doch, w\u00e4hrend ich die Bewegung ausf\u00fchre, welche wirkliche Entfernung zwischen 0 und dem Blickpunkt des Auges allm\u00e4hlich entsteht. Soweit die Entstehung dieser Entfernung nicht der Bewegung des Blickes ihr Dasein verdankt, kann sie nur in einer eigenen , entgegengesetzt gerichteten Bewegung des 0 ihren Grund haben. Ich deute also notwendig den Vorgang in diesem Sinne.\nVon hier aus nun kannich sogleich weitergehen. Jene Deutung ger\u00e4t n\u00e4mlich in Gefahr des Widerspruchs mit der Wahrnehmung. Wenn 0 eine eigene Bewegung nach unten ausf\u00fchrt, so mufs es sich auch von P entfernen, es sei denn, dafs auch P um die gleiche Gr\u00f6fse nach unten r\u00fcckt. Von einer solchen Bewegung des P bemerke ich aber nichts, solange mir nur daran liegt, von O m\u00f6glichst rasch nach P zu kommen, solange 0 nur Ausgangspunkt, P nur Zielpunkt der Bewegung ist. Als Zielpunkt der Bewegung erscheint mir P fest; und ich denke, es ist leicht zu sehen, warum. P erscheint fest, weil ich es, eben als Zielpunkt, in Gedanken festhalte. Dies mufs ich aber thun. Die Blickbewegung, um die es sich hier handelt, ist eine jedes Z\u00f6gern, jedes Schwanken, jede Unbestimmtheit ausschliefsende. Dies setzt voraus, dafs mein auf die Bewegung gerichtetes Wollen ein durchaus bestimmtes, eindeutiges, ohne Schwanken sich selbst gleiches sei. Und derart kann mein Wollen nicht sein, wenn ich mir nicht das Ziel als ein eindeutiges, als unverr\u00fcckbar dasselbe denke. Der Wille zu jener Blickbewegung schliefst also die Vorstellung der r\u00e4umlichen Identit\u00e4t des P mit sich unmittelbar in sich. Der Gedanke dieser r\u00e4umlichen Identit\u00e4t ist f\u00fcr mich, indem ich die Bewegung ausf\u00fchren will und ausf\u00fchre, unvermeidliche Voraussetzung. Ich kann danach, wenn ich die Blickbewegung untersch\u00e4tze, nicht P als mir durch eigene Bewegung entgegenkommend, sondern nur 0, das durch kein solches Vorurteil an der eigenen Bewegung verhindert wird, als von mir fliehend betrachten.\nErst wenn ich, statt nur immer \u2014 der Absicht nach \u2014 von 0 nach P zu gehen, vielmehr rasch zwischen 0 und P\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\nTh. Lipps.\nhin und her gehe und nach M\u00f6glichkeit auf beide zugleich achte und ihren wahrgenommenen r\u00e4umlichen Zusammenhang festhalte, also die Bewegung auf das feste System O P zu beziehen mich bem\u00fche, scheinen mir beide in der meiner Blickbewegung entgegengesetzten Bichtung sich zu bewegen. Ich kann so in der That willk\u00fcrlich 0 allein oder 0 und P sich scheinbar verschieben lassen.\nImmerhin k\u00f6nnen auch im letzteren Palle die scheinbaren Bewegungen von 0 und P nicht die gleiche Gr\u00f6fse haben. Ich mag noch so sehr zwischen 0 und P hin und her gehen, bei jeder einzelnen Bewegung ist darum doch entweder 0 Ausgangspunkt und P Zielpunkt oder umgekehrt. Und besteht \u00fcberhaupt die Neigung, den Zielpunkt als fest zu betrachten, so mufs diese Neigung auch hier wirken. Die Bem\u00fchung, 0 und P samt ihrer wahrgenommenen r\u00e4umlichen Distanz festzuhalten, wird zwar, wenn P Zielpunkt ist, das P, und ebenso, wenn 0 Zielpunkt ist, das 0 in die scheinbare Bewegung mit hineinzwingen; aber die der Blickbewegung entgegenkommende eigene Bewegung des Zielpunktes muss doch immer hinter der Fluchtbewegung des Ausgangspunktes zur\u00fcckzubleiben scheinen.\nDarnach ergiebt sich in beiden hier unterschiedenen F\u00e4llen w\u00e4hrend der Blickbewegung von 0 nach P der Gedanke einer Eigenbewegung des 0, durch welche, wenn sie wirklich stattf\u00e4nde, 0 um eine Strecke von P wegger\u00fcckt, also die Entfernung 0 P um ein St\u00fcck vergr\u00f6fsert werden m\u00fcfste. Durch diesen Gedanken nun trete ich in Widerspruch mit der Wahrnehmung, derzufolge die Entfernung zwischen 0 und P w\u00e4hrend des Vorganges sich selbst gleich geblieben ist, Ich sehe ja, wenn ich bei P angelangt bin, 0 von P soweit entfernt, als beim Beginn der Bewegung P von 0 entfernt war. Freilich ist dies Gleichheitsbewufstsein kein absolut sicheres ; es schwankt zwischen gewissen Grenzen. Eine geringe Vergr\u00f6fserung jener Entfernung werde ich \u00fcbersehen, ich werde mir also auch den Schein einer solchen anstandslos gefallen lassen. 0 wird sogar, ohne dafs der Widerspruch f\u00fchlbar wird, um so weiter scheinbar nach unten r\u00fccken und dabei P hinter sich zur\u00fcck lassen d\u00fcrfen, je gr\u00f6fser die Entfernung 0 P ist. Und es ist, wie wir sp\u00e4ter sehen werden, nicht ohne Bedeutung, dafs es sich so verh\u00e4lt. \u2014- Soweit aber jenes Gleichheitsbewufstsein reicht, bleibt der bezeichnete Widerspruch in Kraft.","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Uber eine falsche Nachbildlokalisation und damit Zusammenh\u00e4ngendes. 69\nSoweit er nun besteht und in Kraft bleibt, mufs er gel\u00f6st werden. Er kann aber gel\u00f6st werden, wenn es eine Wahrnehmung giebt, die uns erlaubt, beide einander widersprechende Gedanken, den, dafs 0 nach unten r\u00fccke und P hinter sich lasse, und den andern, dafs 0 dann doch wiederum ann\u00e4hernd in der urspr\u00fcnglichen Entfernung von P sich befinde, in dem Gedanken der R\u00fcckkehr des 0 nach oben zu vereinigen. \u2014 Eine solche Wahrnehmung nun ist die Wahrnehmung des Nachbildstreifens.\nIndem wir diesen Nachbildstreifen jetzt in den Kreis der Betrachtung ziehen, haben wir aber zun\u00e4chst Folgendes zu beachten. In dem Streifen widerholt sich von Punkt zu Punkt das Bild des Objektes. An jedem Punkte haben wir das Objekt, wenn auch nicht \u00fcberall gleich deutlich. Unterscheiden wir dennoch in einem solchen Streifen das Objekt selbst von dem Streifen, der von ihm ausgeht, oder den es nach sich zieht, und weisen diesem Objekte an einem bestimmten Punkte des Streifens seine Stelle an, so m\u00fcssen wir daf\u00fcr jedesmal einen besonderen Grund haben. Wir wissen aber einstweilen noch nicht, wo wir bei der Eigenartigkeit unseres Ph\u00e4nomens Grund haben werden, innerhalb unseres Streifens das \u201eObjekt selbst\u201c zu suchen.\nDanach ist f\u00fcr uns der Streifen, der vom Objekte 0 nach oben geht, zun\u00e4chst eben ein Streifen \u2014 ohne weiteren Zusatz. Er hat ein unteres Ende, das wir 0i, ein oberes, das wir 02 nennen wollen. Bisher sahen wir infolge der Untersch\u00e4tzung der Blickbewegung das 0 nach unten r\u00fccken; jetzt verr\u00fcckt sich an seiner Stelle der Streifen. Er thut es, indem er nach oben zu entsteht.\nSetzen wir nun die Gr\u00f6fse, um die wir die Bewegung des Blickes untersch\u00e4tzen, also zugleich die Gr\u00f6fse, um welche der Streifen nach unten zu r\u00fccken scheint \u2014 m, die L\u00e4nge des Streifens = n, und nehmen an, m sei = n. Dann mufs O2 w\u00e4hrend der Entstehung des Streifens ann\u00e4hernd in Ruhe zu bleiben und der Streifen von ihm aus nach unten zu entstehen scheinen.\nDer Streifen verschwindet dann wieder und zieht sich in das Objekt zusammen. Zugleich fordert, indem wir dem Endpunkt P der Bewegung uns n\u00e4hern oder nachdem wir bei ihm angelangt sind, mehr und mehr die Wahrnehmung, dafs Oi nicht","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nTh. Lipps.\nwesentlich von P sich entfernt liabe, ihr Recht und zwingt uns, den Giedanken, dafs Oi nach unten ger\u00fcckt sei, r\u00fcckg\u00e4ngig zu machen. Dies k\u00f6nnen wir nur, indem wir die Bewegung des Oi in Gedanken r\u00fcckg\u00e4ngig machen. Eben dazu aber bietet uns das Verschwinden des Streifens Gelegenheit. Dafs der Streifen sich in das Objekt zusammenzieht, und dafs sein unteres Ende trotz der scheinbaren Bewegung nach unten nun doch ann\u00e4hernd in seiner urspr\u00fcnglichen Lage gesehen wird, dies beides vereinigt sich von selbst zu dem Gedanken, der Streifen habe sich in der Richtung nach oben ins Objekt zusammengezogen. Ich deute also, was ich sehe, in diesem Sinn. Indem ich so den zwingenden, aber der Wahrnehmung-widersprechenden Gedanken der Bewegung nach unten in meinen Gedanken korrigiere, hebe ich den Widerspruch auf.\nJetzt erst stellen wir auch die Frage nach dem Orte, den wir dem Objekte selbst innerhalb des Streifens, also w\u00e4hrend des ganzen wirklichen und scheinbaren optischen Vorgangs anweisen.\nDa das Objekt selbst, ich meine das an seiner Stelle gesehene und nicht blofs als Nachbild im Auge vorhandene, in Wirklichkeit immer das untere Ende des Streifens bildet, also mit 0t zusammenf\u00e4llt, so sollte man zun\u00e4chst erwarten, dafs man es auch w\u00e4hrend des ganzen Vorganges da zu sehen glaubte. Es m\u00fcfste dann das Objekt nach unten zu schiefsen und den Streifen hinter sich herzuziehen scheinen, um nachher wieder, w\u00e4hrend der Streifen verlischt, nach oben zur\u00fcckzukehren. Und zwar m\u00fcfste es in der Weise zur\u00fcckzukehren scheinen, als ob es von dem sich in sich selbst zusammenziehenden Streifen nachgezogen, sozusagen aufgesogen w\u00fcrde. In der That ist diese Deutung nicht die naturgem\u00e4fse. Angenommen, das Objekt f\u00fchrte jene scheinbaren Bewegungen wirklich aus, es w\u00fcrde etwa ein Licht vor dem ruhenden Auge rasch nach unten, dann wiederum ebenso rasch nach oben geschoben, so erg\u00e4be sich ja ein v\u00f6llig anderes Bild. Da wir dies Bild nicht haben, sondern nur eben das Verl\u00f6schen eines Streifens wahrnehmen, so m\u00fcssen wir die entgegengesetzte Deutung vorziehen, d. h. wir m\u00fcssen annehmen, das Objekt bleibe ann\u00e4hernd an seiner Stelle, und entlasse den Streifen nach unten, um ihn dann nach oben zu wieder in sich zur\u00fcckzunehmen. Diese Deutung ist die widerspruchlosere. Sie ist","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber eine falsche NachbildloJcalisation und damit Zusammenh\u00e4ngendes. 71\ndavon abgesehen, weil sie hinsichtlich des Verhaltens des Objektes die einfachsten Voraussetzungen macht, die einfachste. Es kommt derselben aufserdem zu gute, dafs \u00fcberall zwischen Anfang und Ende des Streifens die Bilder des Objektes sich \u00fcbereinander schieben und nur oben und unten das Objekt klarer sich abgrenzt, dafs aber wiederum das untere Ende am weitesten in das Gebiet des indirekten Sehens r\u00fcckt, wo die Bestimmtheit des Sehens mehr und mehr sich vermindert. Wir sind aber, von andern Gr\u00fcnden abgesehen, gewifs zun\u00e4chst geneigt, das Objekt da zu suchen, wo es uns am klarsten und bestimmtesten entgegentritt. Wir suchen es im \u00fcbrigen am naturgem\u00e4fsesten da, wo wir es beim Beginn des ganzen Vorganges gesehen haben und am Ende desselben Wiedersehen.\nDamit ist aber doch nicht ausgeschlossen, dafs auch die thats\u00e4chliehe und unserer Beobachtung sich nicht v\u00f6llig entziehende Identit\u00e4t des Objektes mit 01 eine gewisse Wirkung \u00fcbt. In der That sehe ieh, wie bereits betont, das Objekt, indem es den Streifen nach unten aus sich zu entlassen scheint, immer zugleich selbst in gewissem Grade nach unten wegschiefsen oder wegzucken. Es ist mir, als ob es eben bei dieser Bewegung den Streifen sozusagen aus sich herausw\u00fcrfe ; nur dafs es dabei doch nicht wesentlich von der Stelle, bezw. von P hinwegzur\u00fccken scheint. \u00dcbrigens begegnet es mir auch gelegentlich, dafs ich, die entgegenstehenden Momente \u00fcbersehend, schwanke, ob nicht doch das Objekt selbst die ganze Bewegung nach unten auszuf\u00fchren und dabei den Streifen hinter sich herzuziehen scheine.\nDafs dann, wenn auch P sich zu bewegen scheint, das Objekt entsprechend weiter nach unten zu r\u00fccken und da zu bleiben scheint, und warum das der Fall sei, ergiebt sich aus fr\u00fcher Gesagtem.\nEine mittlere, nicht allzu grofse Entfernung des P von 0 habe ich bisher in Gedanken vorausgesetzt. Nur bei einer solchen trifft die bisherige Darstellungsweise in allen Teilen zu. Lassen wir jetzt die Entfernung kleiner werden.\nAngenommen, die m\u00f6glichst rasche Bewegung des Blickes von 0 nach P bes\u00e4fse bei jeder Gr\u00f6fse der Distanz OP dieselbe Geschwindigkeit, so m\u00fcfste sich immer ein gleich langer Nachbildstreifen entwickeln k\u00f6nnen. Jene Voraussetzung trifft aber offenbar nicht zu. Ich habe ein deutliches Gef\u00fchl, dafs es mich","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nTh. Lipps.\nM\u00fche kostet, meinen Blick rasch von 0 wegzuwenden und die Bewegung an einem nahe gelegenen Punkte P zu sistieren. Ich bin subjektiv gewifs, dafs die Bem\u00fchung, den Blick nicht weiter fliegen zu lassen, die Bewegung verlangsamt. Darum wundert es mich nicht, dafs bei kleineren Entfernungen OP die L\u00e4nge n des Nachbildstreifens sich verkleinert und schliefs-lich gar kein solcher mehr zu st\u00e4nde kommt. Zugleich verringert sich auch das Mafs, um welches die Bewegung untersch\u00e4tzt wird, also die Gfr\u00f6fse w, und zwar, wie man erwarten wird, schneller als n. m wird mehr und mehr kleiner als n.\nGeschieht dies nun, so mufs unseren Voraussetzungen zufolge das Objekt den rasch verschwindenden Streifen ni\u00e7ht blofs nach unten, sondern mehr und mehr zugleich nach oben zu entsenden scheinen, nicht absolut gleichzeitig, sondern so, dafs der Streifen nach oben in seinem Entstehen und Vergehen dem nach unten etwas vorauseilt. Zugleich werden wir auch hier den Eindruck haben m\u00fcssen, dafs das Objekt selbst um ein St\u00fcck, nur um ein immer geringeres St\u00fcck na\u00e7h unten zu\u00e7kt. Dies entspricht denn auch meinen Beobachtungen vollkommen. Und ich sehe darin eine besonders deutli\u00e7he Best\u00e4tigung der Richtigkeit meiner Erkl\u00e4rung.\nEndlich gelingt es mir auch, obgleich nur schwer und nur bei m\u00f6glichst kleinen und wohleinge\u00fcbten Bewegungen, den Streifen nur na\u00e7h oben, gelegentlich bis zu P herauss\u00e7hiefsen zu sehen, w\u00e4hrend das Objekt ganz kurz nach unten zu zucken scheint. Hier schwindet die falsche Lokalisation des Nachbildes vollst\u00e4ndig, weil die Bedingungen geschwunden sind, auf denen na\u00e7h unseren Voraussetzungen das Ph\u00e4nomen beruht.\nUmgekehrt scheint das Objekt, wenn die Entfernung OP sich vergr\u00f6fsert, nicht nur einen l\u00e4ngeren Streifen nach unten zu ziehen, sondern zugleich selbst immer st\u00e4rker nach unten zu r\u00fccken und da zu verbleiben. Dies erkl\u00e4rt sich daraus, dafs wir, wie oben bemerkt, uns bei gr\u00f6fserer Entfernung OP ein st\u00e4rkeres Wegr\u00fccken des 0 gefallen lassen k\u00f6nnen, ohne den Widerspruch zwischen diesem Gedanken und der Wahrnehmung des sich gleichbleibenden r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisses zwischen 0 und P zu f\u00fchlen.\nNoch eine Beobachtung habe ich zu erw\u00e4hnen, die mir zuerst an dem ganzen Ph\u00e4nomen als das Merkw\u00fcrdigste erschien. Angenommen, das Objekt, von dem ich meinen Blick","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Uber eine falsche Nachbildlohalisation und damit Zusammenh\u00e4ngendes. 73\nrasch nach oben wende, sei ein auf einem Tische stehendes brennendes Licht. Dann scheint der von dem Lichte nach unten gehende Streifen \u00fcber den Tisch hinweg nach unten zu schiefsen. In solchen F\u00e4llen gewinnt nat\u00fcrlich der Eindruck, dafs wirklich ein vom Objekte verschiedener Streifen nach unten gehe, besondere St\u00e4rke. Der bezeichnete Umstand verliert aber sein Wunderbares, wenn man bedenkt, dafs das Auge bei seiner Bewegung, ebenso wie das Bild des Lichtes, auch das Bild des Tisches mitnimmt und das mitgenommene Bild f\u00fcr das an seiner Stelle gebliebene Objekt h\u00e4lt. Es bewegt sich also in der That der Streifen \u00fcber das unbewufst nach oben verschobene Nachbild des Tisches.\nWie schon eingangs gesagt, finde ich in dem besprochenen Ph\u00e4nomen eine direkte Best\u00e4tigung meines Widerspruches gegen die Theorie, welche die Ausmessung des Sehfeldes mit Augenbewegungen in Zusammenhang bringt. Untersch\u00e4tze ich die Gr\u00f6fse des Weges, den das bewegte Auge zur\u00fccklegt, d. h. sch\u00e4tze ich sie geringer, als sie nach Ausweis der Wahrnehmung ist, dann giebt es eine von Augenbewegungen unabh\u00e4ngige Wahrnehmung von r\u00e4umlichen Gr\u00f6fs en. Vielerlei ist ja freilich zu Gunsten der \u201eAugenbewegungstheorie\u201c, wie ich sie hier kurz nennen will, vorgebracht worden. Aber es ist doch wohl gewifs, dafs alles dies nichts bedeuten kann, wenn auch nur ein einziger entscheidender Grund dagegen vorgebracht werden kann. Es schiene mir danach wohl der M\u00fche wert, dafs, man die Gegengr\u00fcnde sorgf\u00e4ltig pr\u00fcfte.\nVielleicht erweisen sie sich bei solcher Pr\u00fcfung als unstichhaltig. Dann ist noch immer kein Beweis der Theorie gegeben. Es m\u00fcfste auch gezeigt werden, dafs die Thatsachen, die zu ihren Gunsten gedeutet werden k\u00f6nnen, nicht auch anders zu deuten sind. Ich erlaube mir daran zu erinnern, dafs ich in meinen \u201ePsychologischen Studien\u201c und den \u201e Grundthatsachen des Seelenlebensu mich bem\u00fcht habe, entscheidende Gr\u00fcnde gegen die Theorie vorzubringen und mit der Theorie wirklich oder vermeintlich \u00fcbereinstimmende Thatsachen auf anderem Wege verst\u00e4ndlich zu machen.\nIch f\u00fcge aber hier noch einige Bemerkungen hinzu. 1. Eine Theorie verdient im Grunde erst diesen Namen, wenn sie f\u00fcr das zu Erkl\u00e4rende einen Erkl\u00e4rungsgrund nicht nur . einfach statuiert, sondern auch zeigt, wiefern er Erkl\u00e4rungsgrund sein","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nTh. Tipps.\nkann, d. h. welcher bekannte oder nach allgemeinen Anschauungen verst\u00e4ndliche Zusammenhang zwischen dem Erkl\u00e4rungsgrund und dem zu Erkl\u00e4renden bestehe. Die Erf\u00fcllung dieser Forderung vermisse ich bei der \u201eAugenbewegungstheorie\u201c.\n2.\tNoch vorher und abgesehen davon mufs die Theorie in sich selbst klar sein. Dieser Forderung widerspricht jene Theorie in dreifacher Weise. Ich unterschied oben zwei v\u00f6llig verschiedene Arten des Raumbewufstseins, das Bewufstsein der wechselseitigen Entfernung der Objekte innerhalb des Sehfeldes und das Bewufstsein der Lage des Sehfeldes oder eines Punktes desselben im Gesamtraum. Welches Raumbewufstsein meint die Theorie, welches wird ihr zufolge durch Augenbewegungen erzeugt? Soviel ich sehe, bald dieses, bald jenes, ohne deutliches Bewufstsein des fundamentalen Unterschiedes.\n3.\tAuch wenn es sich nur um Raumgr\u00f6fsen innerhalb des Sehfeldes handelt, hat das \u201eRaum- oder Raumgr\u00f6fsenbewufst-sein\u201c einen doppelten Sinn. Es kann die wahrgenommene und die im Vergleich mit andern gesch\u00e4tzte Gr\u00f6fse gemeint sein. So sehe ich den Mond gleich grofs im Zenith und am Horizonte. Ich sch\u00e4tze ihn aber, durch gewisse Erfahrungsmomente ver-anlafst, gr\u00f6fser am Horizonte. Ich frage wiederum : welches Gr\u00f6fsenbewufstsein meint die Theorie?\n4.\tDie Theorie l\u00e4fst Entfernungen gr\u00f6fser erscheinen, wenn ihre Durchmessung gr\u00f6fsere Anstrengung oder M\u00fche erfordert. Auch diese \u201eAnstrengung\u201c oder \u201eM\u00fche\u201c hat einen doppelten Sinn. Sie ist Anstrengung aus peripherischen oder Anstrengung aus centralen Gr\u00fcnden. M\u00f6glichst grofse Seitw\u00e4rtsdrehung des Auges bei ruhiger Haltung des Kopfes kostet M\u00fche, weil sie eine Zumutung ist f\u00fcr den Augenmuskel. Dagegen f\u00e4llt es mir aus psychologischen oder \u201ecentralen\u201c Gr\u00fcnden schwer, das geradeaus gerichtete Auge mit bewufster Absicht um eine kleine Strecke m\u00f6glichst rasch zu bewegen; ich bin in Versuchung, die Bewegung weiter zu f\u00fchren. Ich frage wiederum : welche Anstrengung oder M\u00fche meint man?\nMir scheint die Theorie der Lokalisation auf Grund der Augenbewegungen erst ernstlich diskutierbar, wenn diese Fragen gen\u00fcgend deutlich beantwortet sind.","page":74}],"identifier":"lit14185","issued":"1890","language":"de","pages":"60-74","startpages":"60","title":"\u00dcber eine falsche Nachbildlokalisation und damit Zusammenh\u00e4ngendes","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:07:53.063857+00:00"}