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{"created":"2022-01-31T16:09:54.723340+00:00","id":"lit14187","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Schumann, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1: 75-80","fulltext":[{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Aus dem psychologischen Institut der Universit\u00e4t G\u00f6ttingen.\n\u00dcber das Ged\u00e4chtnis f\u00fcr Komplexe regelm\u00e4fsig aufeinander folgender, gleicher Sehalleindr\u00fccke.\nVon\nF. Schumann.\nL\u00e4fst man eine Anzahl einfacher Geh\u00f6rseindr\u00fccke in bestimmten Zwischenpausen auf das Ohr einer Versuchsperson einwirken und darauf nach einer Pause eine gr\u00f6fsere, gleiche oder kleinere Anzahl, so kann die Versuchsperson, auch wenn sie nicht z\u00e4hlt, bis zu einer gewissen Grenze sehr genau die Gleichheit bezw. Verschiedenheit der beiden Gruppen erkennen.\nDie ersten systematischen Untersuchungen hier\u00fcber sind unter Wundts Leitung von Dietze gemacht (vgl. Philosoph. Stud. J, S. 362 lf.). Derselbe benutzte als Heize die Pendel-sohl\u00e4ge eines Metronoms, dessen Pendel in jeder Endlage durch einen Elektromagneten arretiert werden konnte. Die zu vergleichenden Gruppen folgten unmittelbar aufeinander und wurden durch ein mit dem ersten Schlage gleichzeitig ert\u00f6nendes Glockensignal markiert. Dietze bestimmte nun unter verschiedenen Umst\u00e4nden das Maximum der Anzahl von Schl\u00e4gen, welche in einer Gruppe enthalten sein konnten, wenn eine Vermehrung oder Verminderung derselben um einen Schlag noch in 80 % der F\u00e4lle genau erkannt wurde. Die Hauptresultate seiner Untersuchung sind folgende:\n1. Die Genauigkeit der Sch\u00e4tzung h\u00e4ngt wesentlich von der Geschwindigkeit der Succession der Pendelschl\u00e4ge ah. Die g\u00fcnstigste Geschwindigkeit liegt bei einem Intervall von 0,2\u20140,3 Sec.","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nF. Schumann.\n2.\tDie einzelnen Pendelschl\u00e4ge einer Gruppe werden nicht vollkommen gleichm\u00e4fsig aufgefafst, sondern einzelne unter ihnen werden rhythmisch betont. \u201eEine absolute Unterdr\u00fcckung dieser rhythmischen Gliederung ist unm\u00f6glich. Der einzige Effekt, den das Streben hierzu hervorbringt, besteht in der Deduktion auf die einfachste Taktform, die des Zweiachteltaktes, indem regelm\u00e4fsig einfach betonte und nicht betonte Eindr\u00fccke miteinander wechseln.\u201c\n3.\tDas Maximum der Anzahl von Schl\u00e4gen, welche noch in einer Gruppe enthalten sein k\u00f6nnen, ist wesentlich abh\u00e4ngig von der Art der rhythmischen Gliederung. Werden nur 2 Eindr\u00fccke zu einem Takte zusammengefafst, so betr\u00e4gt dasselbe etwa 16 Schl\u00e4ge, w\u00e4hrend es bei der Zusammenfassung von 8 Schl\u00e4gen zu einem Takte auf 40 Schl\u00e4ge steigt.\nIch habe nun diese Untersuchungen wiederholt mit etwas ver\u00e4nderter Versuchsanordnung. An einem um eine horizontale Axe mit gleichm\u00e4fsiger Geschwindigkeit sich bewegenden Dade waren in gleichen Abst\u00e4nden Platinspitzen befestigt, welche in ihrer tiefsten Lage einen Quecksilherkontakt schlossen und dadurch bewirkten, dafs ein kurzer Schlag eines elektromagnetischen Hammers, wie er zu Zeitsinnversuchen gebraucht wird, ausgel\u00f6st wurde. Durch eine weitere in den Stromkreis eingeschaltete Vorrichtung zum bequemen \u00d6ffnen und Schliefsen des Stromes konnte der Experimentator in jedem Augenblicke die Ausl\u00f6sung der Schl\u00e4ge unterbrechen. Die zu vergleichenden Gruppen wurden durch eine kleine Pause getrennt.\nDie unter 1. und 3. angef\u00fchrten Desultate Dietzes kann ich im allgemeinen best\u00e4tigen; dagegen mufs ich bestreiten, dafs eine Unterdr\u00fcckung der rhythmischen Gliederung unm\u00f6glich sei. Die verschiedensten Versuchspersonen gaben auf Befragen an, dafs sie recht gut die Schl\u00e4ge singul\u00e4r auffassen k\u00f6nnten, und ich selbst kann ein gleiches von mir behaupten. Allerdings ist durchaus richtig, dafs durch die Grupp en bildung das Vergleichen wesentlich erleichtert wird, von einer Unm\u00f6glichkeit der Unterdr\u00fcckung einer rhythmischen Gliederung kann aber durchaus keine Dede sein. Zur Erkl\u00e4rung dieses Widerspruchs zwischen meiner Erfahrung und derjenigen Dietzes k\u00f6nnen nun zwei Umst\u00e4nde dienen: der Einflufs der \u00dcbung und die Verschiedenheit der Versuchsanordnung. Hat man sich n\u00e4mlich erst einmal an eine taktm\u00e4fsige Auffassung der","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das Ged\u00e4chtnis f\u00fcr Komplexe gleicher Schalleindr\u00fcclce.\n77\nSchl\u00e4ge gew\u00f6hnt, so h\u00e4lt es allerdings schwer, sich von derselben wieder freizumachen. So gelang es z. B. einem Herrn, der sich viel mit Metrik besch\u00e4ftigt hatte, erst nach einiger \u00dcbung die Schl\u00e4ge singul\u00e4r aufzufassen. Zweitens kann auch die Behauptung Dietzes dadurch bedingt sein, dafs er mit den Pendelschl\u00e4gen eines Metronoms operierte. Bei einigen Probeversuchen mit dem Metronom fand ich n\u00e4mlich ebenfalls eine grofse Neigung zur Taktbildung, die sich leicht dadurch erkl\u00e4rt, dafs die beiden Schl\u00e4ge, welche bei den beiden verschiedenen Lagen des Pendels ausgel\u00f6st werden, nicht ganz gleichm\u00e4fsig sind.\nDer eigentliche Zweck der Wiederholung der Versuche war, etwas n\u00e4heres zu erfahren \u00fcber das Wesen der psychischen Vorg\u00e4nge, welche beim Vergleichen von Gruppen successiver Geh\u00f6rseindr\u00fccke stattfinden. Da ergab sich denn leicht durch Selbstbeobachtung folgendes: Die einzelnen Schl\u00e4ge des Hammers begleitet man gew\u00f6hnlich mit irgend welchen Gliedbewegungen oder mit Innervationen der Sprachmuskeln, welche am Hehlkopf lokalisierte Spannungsempfindungen hervorrufen, u. dgl. m. Werden nun, wie es bei den Untersuchungen von Dietze geschah, die Versuche in der Weise angestellt, dafs \u00f6fters hintereinander mit derselben Normalgruppe (die erste von 2 zu vergleichenden Gruppen sei als Normalgruppe, die zweite als Vergleichsgruppe bezeichnet) operiert wird, so wird diese Gruppe, wie sie durch ihre Anzahl charakterisiert ist, in das motorische bezw. sensorische Ged\u00e4chtnis aufgenommen. W\u00e4hrend man n\u00e4mlich im allgemeinen nach jedem Schlage einen folgenden erwartet und die begleitenden Bewegungen vorbereitet, h\u00f6rt diese Erwartung und diese Vorbereitung nach mehrmaligem Operieren mit derselben Normalgruppe unwillk\u00fcrlich mit dem letzten Schlage der Normalgruppe auf. Bei der Vergleichsgruppe h\u00f6rt dann ebenfalls die Vobereitung und Erwartung auf, sobald die Anzahl der Schl\u00e4ge derjenigen der Normalgruppe gleich geworden ist. Folgt nun bei der Vergleichsgruppe noch ein Schlag oder eine Anzahl von Schl\u00e4gen, nachdem die Erwartung zu Ende ist, oder sind bei derselben die Schl\u00e4ge beendet, w\u00e4hrend die Erwartung eines weiteren Schlages sich noch einstellt, so h\u00e4lt man die Vergleichsgruppe f\u00fcr gr\u00f6fser, bezw. kleiner als die Normalgruppe;","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nF. Schumann.\nh\u00f6ren andererseits die Schl\u00e4ge mit dem zuletzt erwarteten auf, so h\u00e4lt man Normal- und Vergleichsgruppe f\u00fcr gleich.\nEine derartige Einstellung auf die Anzahl der Schl\u00e4ge der Normalgruppe tritt nat\u00fcrlich verschieden rasch ein, je nach der Versuchsperson, ihrer \u00dcbung in derartigen Versuchen und je nach der Anzahl von Schl\u00e4gen, die zu einer Gruppe zusammengefafst werden. Nach einiger \u00dcbung der Versuchsperson wird die Einstellung bei Gruppen von 6\u20147 Schl\u00e4gen und singul\u00e4rer Auffassung derselben gew\u00f6hnlich schon nach 3 -4 Versuchen subjektiv deutlich merkbar und die Urteile fallen auch subjektiv sicher aus, w\u00e4hrend bei den ersten Versuchen nur sehr unsicher geurteilt wird.\nDas von mir durch Selbstbeobachtung Gefundene kann nat\u00fcrlich zun\u00e4chst nur individuelle Bedeutung haben, und es ist durchaus nicht unm\u00f6glich, dafs andere Individuen sich anderer H\u00fclfsmittel beim Vergleichen solcher Gruppen bedienen. Da ich ferner schon vor Beginn der Versuche vermutet hatte, dafs das Vergleichen in der oben angedeuteten Weise zustande komme, so w\u00e4re es auch nicht undenkbar, dafs die vorgefafste Meinung meine Selbstbeobachtung beeinflufst h\u00e4tte. Ich habe daher versucht, durch Heranziehen verschiedener Versuchspersonen hier\u00fcber Aufschlufs zu erhalten. Herr Professor M\u00fcller best\u00e4tigte meine Erfahrungen. Von den anderen in Selbstbeobachtung nicht ge\u00fcbten Personen war es dagegen schwieriger, gen\u00fcgende Aufkl\u00e4rung \u00fcber die beim Vergleichen der Gruppen in ihrem Bewufstsein stattfindenden Vorg\u00e4nge zu erhalten. Fragte ich nach Anstellung einer Anzahl von Versuchen einfach darnach, so konnten die Versuchspersonen entweder gar keine Antwort geben oder sie gaben Verlegenheitsantworten wie: \u201eIch habe das im Gef\u00fchl\u201c u. dgl. m. Teilte ich ihnen dann meine Erfahrungen mit, so best\u00e4tigten sie dieselben teils gleich, teils aber auch erst, nachdem sie bei einigen neuen Versuchen besonders darauf geachtet hatten. Nur ein Herr erkl\u00e4rte, dafs bei ihm die Erwartung mit dem letzten Schlage der Normalgruppe nicht aufh\u00f6re. Derselbe sch\u00e4tzte aber auch verh\u00e4ltnism\u00e4fsig sehr ungenau.\nSoll die obige Theorie richtig sein, so m\u00fcssen sich ferner noch die von Dietze gefundenen Thatsachen durch dieselbe erkl\u00e4ren lassen, und in der That hat dies auch keine Schwierigkeiten. So erkl\u00e4rt sich die Erleichterung des Vergleichens durch","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das Ged\u00e4chtnis f\u00fcr Komplexe gleicher Schalleindr\u00fccke.\n79\nein taktm\u00e4fsiges Auffassen der Schl\u00e4ge leicht, wenn wir bedenken, dafs die zu einem Takte zusammengefafsten Schl\u00e4ge f\u00fcr das Ged\u00e4chtnis gleichsam eine Einheit bilden, und dafs daher die taktm\u00e4fsig gegliederten Gruppen leichter reproduziert werden k\u00f6nnen. Zur Erkl\u00e4rung der Thatsache, dafs ein Intervall von 0,2 \u2014 0,3 Sek. zwischen den einzelnen Schl\u00e4gen das g\u00fcnstigste f\u00fcr die Vergleichung ist, brauchen wir ferner nur anzunehmen, dafs dieses Intervall auch f\u00fcr die Aufnahme ins Ged\u00e4chtnis das g\u00fcnstigste ist.\nAuf einen hohen Grad von Einstellung d\u00fcrfte ferner die Thatsache zur\u00fcckzuf\u00fchren sein, dafs eine meiner Versuchspersonen , welche fr\u00fcher vielfach bei astronomischen Beobachtungen die Schl\u00e4ge einer Sekundenuhr gez\u00e4hlt hatte und zwar in der Weise, dafs sie immer nur bis 10 z\u00e4hlte und dann wieder mit 1 anfing, bei den obigen Versuchen jedesmal den zehnten Schlag genau angeben konnte.\nEine wesentlich verschiedene Ansicht \u00fcber die Grundlage des Vergleichens von Gruppen successiver Geh\u00f6rseindr\u00fccke hat Wundt (Physiol. Psych. II, 3. Auf!., S. 248 f.) entwickelt. Derselbe schliefst in folgender Weise : \u201eApperzipiert man n\u00e4mlich eine Reihe aufeinander folgender Sinnesreize, so treten bei jeder neuen Apperzeption die vorangegangenen allm\u00e4hlich weiter in den dunklen Umkreis des inneren Blickfeldes zur\u00fcck und verschwinden endlich ganz aus demselben. Gelingt es nun zu bestimmen, welche unter der Reihe vorausgegangener Vorstellungen soeben an der Grenze des Bewufstseins angelangt ist, wenn eine neue apperzipiert wird, so ist damit auch f\u00fcr den Fall aufeinander folgender einfacher Vorstellungen der Umfang des Bewufstseins ermittelt. Die so gestellte Aufgabe l\u00e4fst sich l\u00f6sen, indem man als Sinnesreize Pendelschl\u00e4ge w\u00e4hlt, von denen immer eine fest bestimmte Anzahl durch regelm\u00e4fsig aufeinander folgende andere Schalleindr\u00fccke z. B. Glockenschl\u00e4ge eingefafst wird. Ermittelt man nun, wieviel Pendelschl\u00e4ge auf diese Weise zu einer Gruppe zusammengefafst werden, w\u00e4hrend f\u00fcr unser Bewufstsein die Gleichheit der aufeinander folgenden Gruppen noch deutlich bleibt, so ist damit zugleich ein Mafs f\u00fcr den Umfang des Bewufstseins gewonnen.\u201c Gegen diese Schlufsfolgerung erheben sich aber schwere Bedenken. Was zun\u00e4chst die Behauptung Wundts","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nF. Schumann.\nanbetrifft, dafs bei Apperzeption eines Schalles ein Teil der vorangegangenen noch mit im Bewufstsein sei, so f\u00fchrt derselbe nichts zu ihrer Begr\u00fcndung an. Ich vermag nun diese Behauptung weder durch Selbstbeobachtung zu verifizieren, noch ist mir irgend eine Thatsache bekannt, zu deren Erkl\u00e4rung eine solche Annahme durchaus erforderlich w\u00e4re. So oft ich auch bei den obigen Experimenten versucht habe, etwas von den in den dunkeln Umkreis des inneren Blickfeldes zur\u00fccktretenden Vorstellungen zu bemerken, so ist es mir doch nie gelungen und ebensowenig den Versuchspersonen, welche ich darauf aufmerksam machte. Folgten die Schl\u00e4ge nicht zu schnell aufeinander, so konnte ich im Gegenteil ziemlich sicher konstatieren, dafs beim Auftauchen eines Eindruckes im Bewufstsein nichts mehr von dem vorangegangenen vorhanden war, falls nicht etwa ein Erinnerungsbild desselben willk\u00fcrlich oder unwillk\u00fcrlich reproduziert wurde.\nFerner beruht die weitere Schlufsfolgerung \"Wundts auf der nicht ausgesprochenen Voraussetzung, dafs wir Gruppen einfacher Pendelschl\u00e4ge hinsichtlich ihrer Anzahl nur dann genau miteinander vergleichen k\u00f6nnen, wenn die Schl\u00e4ge einer Gruppe gleichzeitig im Bewufstsein vorhanden sind. Nun ist doch aber bis jetzt \u00fcberhaupt noch kein ernstlicher Versuch zu einer Theorie der beim Vergleichen stattfindenden psychischen Vorg\u00e4nge gemacht, so dafs eine Voraussetzung hinsichtlich dieser Vorg\u00e4nge doch erst eingehend begr\u00fcndet werden mufs und nicht stillschweigend bei Schlufsfolgerungen angewendet werden darf. Zur Begr\u00fcndung der Voraussetzung Wundts w\u00fcfste ich aber nichts anzuf\u00fchren.","page":80}],"identifier":"lit14187","issued":"1890","language":"de","pages":"75-80","startpages":"75","title":"\u00dcber das Ged\u00e4chtnis f\u00fcr Komplexe regelm\u00e4\u00dfig aufeinander folgender, gleicher Schalleindr\u00fccke","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:09:54.723345+00:00"}