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{"created":"2022-01-31T16:11:53.569182+00:00","id":"lit14191","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"M\u00fcnsterberg, Hugo","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1: 99-107","fulltext":[{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Aus dem psychologischen Laboratorium zu Freiburg i. B.\nDie Association successiver Vorstellungen.\nVon\nH. M\u00fcnsterberg.\nDie Theorien \u00fcber Vorstellungsreproduktion divergieren in hohem Mafse bez\u00fcglich der Frage, ob die innere Verwandtschaft zweier Vorstellungen allein schon veranlassen kann, dafs eine von beiden die andere ins Ged\u00e4chtnis zur\u00fcckruft oder ob zu der inneren \u00c4hnlichkeit und Abh\u00e4ngigkeit stets noch \u00e4ufsere Beziehungen, wie Gleichzeitigkeit oder zeitliche Folge als Bedingungen der Association hinzutreten m\u00fcssen. Bez\u00fcglich dieser zweiten Gruppe von Associationsgesetzen befinden sich die Theorien dagegen in weitreichender \u00dcbereinstimmung; jederzeit fast wurde zugegeben, dafs Vorstellungen, welche simultan oder in unmittelbarer Succession in demselben Bewufstsein erzeugt werden, sich sp\u00e4terhin gegenseitig reproduzieren. In der That zeigt es sich ja fortw\u00e4hrend, dafs nicht nur die gleichzeitigen Erregungen mehrerer Sinne sich im Ged\u00e4chtnis miteinander verkn\u00fcpfen, sondern dafs auch die nacheinander dargebotenen Teile einer Reizreihe sich f\u00fcr das Bewufstsein derart verbinden, dafs etwa der Anfang einer Tonfolge, einer Wortreihe, einer Kette von Erlebnissen sofort die Erinnerung an die Fortsetzung wachruft; alles Auswendiglernen, alle Erfahrung beruht darauf.\nTrotzdem der Thatbestand dieser Ged\u00e4chtnisleistung nun unzweifelhaft ist, d\u00fcrfte die \u00fcbliche Deutung derselben doch nicht unanfechtbar sein; ich glaube, dafs wir nicht berechtigt sind, die successive Association der simultanen zu koordinieren, dafs es vielmehr eine unmittelbare Association successiver Vorstellungen \u00fcberhaupt nicht giebt. Meines Erachtens kommt\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nH. M\u00fcnsterberg.\ndie Verkn\u00fcpfung nacheinander gebotener Eindr\u00fccke a b c d auf zwei verschiedene Weisen zu st\u00e4nde. Entweder ist a im Bewufstsein noch nicht erloschen, sobald b eintritt, b noch nicht verschwunden, sobald c kommt, kurz, obgleich die Reize suceedieren, sind von den entsprechenden Empfindungen mindestens je zwei stets simultan im Bewufstsein ; nicht die Folge, sondern die Gleichzeitigkeit w\u00e4re dann die Ursache, dafs a nun b und b wieder c im Ged\u00e4chtnis hervorruft. Oder zweitens: jeder Reiz ruft in uns reflektorische Bewegungen hervor, ein Wortbild beispielsweise Sprachbewegungen, und die Reihe successiver Reize erzeugt auf diese Weise eine Reihe von Bewegungen, resp. Bewegungsantrieben, welche sich, genau wie andere einge\u00fcbte Bewegungskomplexe, miteinander verbinden; die erste Bewegung l\u00f6st die zweite, die zweite dann die dritte aus, und die Wahrnehmung der vollzogenen Bewegung ruft durch Simultanassociation jedesmal die entsprechende Vorstellung hervor. Wenn Vorstellung b fr\u00fcher auf Vorstellung a folgte, so wird in der Erinnerung jetzt also nicht b von a angeregt, wie es das Gesetz der successiven Association fordert, sondern a ruft die Bewegung A hervor, A l\u00f6st dann die Bewegung B aus, die fr\u00fcher ebenfalls nach A durch b hervor gerufen war, und erst B erweckt die Erinnerung an b ; inzwischen hat dann B schon C ausgel\u00f6st, das c mit sich zieht, und so ist der Ablauf der eingepr\u00e4gten Bewegungsreihenfolge der Anlafs f\u00fcr das successive Auftauchen der Vorstellungsreihe. Dafs aber aufeinanderfolgende Bewegungen sich in derselben Reihenfolge leicht wiederholen, wie wir es vom ersten Erlernen des Greifens und Gehens bis hinauf zur Ein\u00fcbung kompliziertester Technik wahrnehmen, das hat seinerseits nichts mit Vorstellungsassociationen zu thun, sondern beruht auf der schnellen Ausbildung von Reflexbahnen. Folgte einmal auf die Bewegung A die Bewegung B, so kann zwischen der centripetalen Erregung, die bei dem Vollzug der Bewegung A entsteht, und der gleichzeitigen centrifugalen Erregung, die zur Bewegung B f\u00fchrt, auf subkortikalen Bahnen Vermittelung eintreten, derart, dafs die Ausf\u00fchrung der Bewegung A k\u00fcnftig zum Signal f\u00fcr die reflektorische Ausl\u00f6sung von B wird.\nWelches von diesen beiden Hilfsmitteln, Simultaneit\u00e4t der benachbarten Glieder oder Ein\u00fcbung der begleitenden Bewegungen, im einzelnen Falle das hervorbringt, was gemeinhin","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Die Association successiver Vorstellungen.\n101\nals successive Association aufgefafst wird, l\u00e4fst sich leicht erkennen. Wo der erste Weg betreten war, da wird eine Umkehrung der Reihenfolge die Reproduktion kaum erschweren; wo dagegen die zweite Methode benutzt war, wird wie bei allen einge\u00fcbten Bewegungsreihenfolgen eine Umkehr unm\u00f6glich sein. In h\u00e4ufigen F\u00e4llen, z. B. beim Auswendiglernen gelesener Worte, werden beide Hilfsmittel sich erg\u00e4nzen, sowohl die Simultaneit\u00e4t der gesehenen Wortbilder als auch die Ein\u00fcbung der Sprachinnervationen wird hier die successive Association erm\u00f6glichen. Es erkl\u00e4rt sich daher auch, das Ebbinghaus in seinen bekannten Untersuchungen \u00fcber das Ged\u00e4chtnis eine nicht unwesentliche Ersparnis f\u00fcr die Lernzeit sinnloser Silbenreihen auch dann noch fand (S. 154), sobald er die Reihenfolge der fr\u00fcher erlernten Reihe direkt umkehrte. Dafs solche Ersparnis eintritt, resultiert eben daraus, dafs subjektive Simultaneit\u00e4t der benachbarten Glieder bei der Einpr\u00e4gung mitwirkte; dafs diese Ersparnis dagegen viel geringer ist als die beim Neulernen in der gleichen Reihenfolge, ergiebt sich daraus, dafs die Mithilfe der Bewegungsein\u00fcbung wegfiel. Auch dafs beim \u00dcberspringen einzelner Silben die Ersparnis an Lernzeit bedeutend abnimmt, ist aus der Ver\u00e4nderung der Bewegungsreihenfolge zu erkl\u00e4ren; dafs eine gewisse Ersparnis sich aber dennoch nachweisen l\u00e4fst (S. 145), d\u00fcrfte darauf beruhen, dafs unser Auge, schneller arbeitend als der Sprechapparat, auch die nicht unmittelbar sich ber\u00fchrenden Silben gleichzeitig \u00fcberblickt. H\u00e4tte Ebbinghaus die Silbenreihe verdeckt gehalten und stets nur jedesmal eine Silbe nach der andern aufgedeckt, so w\u00e4re das Ergebnis in diesem Punkt vielleicht ein anderes geworden.\nDie dargestellte theoretische Auffassung st\u00fctzt sich auf Gr\u00fcnde der verschiedensten Art. Ich habe fr\u00fcher, in meinen Studien \u00fcber willk\u00fcrliche Vorstellungsverbindung, vornehmlich darauf hingewiesen, dafs schon das Bed\u00fcrfnis psychophysischen Verst\u00e4ndnisses unsere Theorie rechtfertigen w\u00fcrde; es mufs psychophysisch durchaus unverst\u00e4ndlich bleiben, wie zwei aufeinanderfolgende Gehirnerregungen eine Disposition zur\u00fccklassen sollen, der zufolge die Erneuerung der einen Erregung auch die andre hervorruft. Bei simultaner Erregung zweier Ganglienkomplexe k\u00f6nnen wir uns vorstellen, dafs die Erregung auf die verbindende Leitungsbahn \u00fcbergeht ; mit der funktionellen","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nH. M\u00fcnsterberg.\nDisposition der Granglien, einem erneuten Erregungsanstofs leichter zu folgen, w\u00fcrde dann auch eine Disposition des Leitungsweges \u00fcbrig bleiben, die Erregung der einen Endstation als Bahn des geringsten Widerstandes auf die andere Endstation zu \u00fcbertragen. Bei zeitlich succedierenden Vorstellungen ist dagegen psychophysischer Veranschauli\u00e7hung jeder Anhalt entzogen. Wie sollen wir uns es vorstellen, dafs die Erregung einer Ganglie mit der einer andern sich verbindet, wenn die eine zu funktionieren aufgeh\u00f6rt hat, sobald die andre anf\u00e4ngt, von einer physiologischen Wechselwirkung beider Erregungen mittelst ihrer Verbindungsbahn also nicht die Rede sein kann. \u201eUnsere Aufmerksamkeit wandert gleichsam vom Blitzeindruck zum Donner; vom optischen Centrum zum akustischen wandert aber gar nichts ; keine Leitungsbahn wird einge\u00fcbt, und es bleibt r\u00e4tselhaft, wie etwa die erneute Erregung des optischen Centralapparates nun auf physischem Wege diejenige Erregung des akustischen Apparates hervorrufen soll, deren psychische Begleiterscheinung die Vorstellung des Donners ist.\u201c\nEntscheidender aber als theoretische Erw\u00e4gung erscheinen mir die Resultate von Experimenten, die ich in meinem Laboratorium ausgef\u00fchrt und \u00fcber die ich hier in K\u00fcrze berichten m\u00f6chte. Sie waren zugespitzt auf die Frage, ob die Association successiver Vorstellungen auch dort noch m\u00f6glich ist, wo sowohl die Ein\u00fcbung begleitender Bewegungen als auch die simultane Auffassung benachbarter Glieder durch die Versuchsbedingungen ausgeschlossen ist. Bei den Versuchen, die i\u00e7h w\u00e4hrend der letzten zwei Jahre unter Assistenz verschiedener Studenten in jedem Semester wiederholte, fungierte ich selbst stets als Versuchsperson. Die einfache Vorrichtung war folgende. Um eine schwarze Wandtafel war ein schwarzes, 2 dem breites Band ohne Ende horizontal befestigt. Dasselbe konnte auf- und abgeschoben worden, so dafs eine Zeile auf der Tafel ges\u00e7hrieben und dann bedeckt werden konnte. In diesem Bande war ein Fenster von der Gr\u00f6fse eines \u25a1dem. Wurde nun eine Zeile einzelner, voneinander abstehender Buchstaben aufgeschrieben und das Band langsam weitergeschoben, so erschien ein Buchstabe nach dem andern in dem Fenster ; niemals aber war mehr als einer sichtbar. Bei allen unseren","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Die Association successiver Vorstellungen.\n103\nVersuchen wurde von dem Assistenten das Band nun so vorw\u00e4rts bewegt, dafs jeder Buchstabe genau 1 Sekunde sichtbar blieb ; ein Metronom gab die entsprechende Zeit an. Benutzt wurden alle Buchstaben des Alphabets, die Buchstabenreihen jedoch so gebildet, dafs nirgends sich Worte lesen liefsen. Der Assistent, der gleichzeitig protokollierte, schrieb die Buchstaben an, ohne dafs ich hinsah. Mein Platz war o m vor der Tafel ; erst sobald die Reihe verdeckt und nur der erste Buchstabe durch die quadratische \u00d6ffnung sichtbar wurde, erhielt ich ein Zeichen, zur Tafel aufzubli\u00e7ken. Meine Aufgabe war jetzt, die sich hintereinander darbietenden Buchstaben, gleichviel mit welchen subjektiven Hilfsmitteln, im Ged\u00e4chtnis zu behalten und nach der Bedeckung des letzten Buchstabens die Reihe aufzusagen.\nWir begannen mit vier Buchstaben, nahmen dann f\u00fcnf und schritten mit je zehn Reihen so weit fort, bis die Grenze meiner Aufnahmef\u00e4higkeit erreicht war. Es ergab sich, dafs ich Reihen von 7 oder weniger Buchstaben ausnahmslos richtig wiedergab und bei 8 Buchstaben in zehn Reihen durchschnittlich 2 bis 3 Fehler machte, d. h. 2 bis 3 von den gegebenen 80 Buchstaben durch falsche ersetzte; bei neungliedrigen Reihen wurde schliefslich ein Drittel der Reihen irgendwie fehlerhaft, aei es, dafs ich falsche Buchstaben einschob, sei es, dafs ich einen Teil der Reihe \u00fcberhaupt vergafs. Zehngliedrige Reihen ergaben sich als das Maximum der Leistungsf\u00e4higkeit. Ein Hinausschieben dieser Grenze durch \u00dcbung konnte ich nicht bemerken; dagegen machte sich innerhalb jeder Versuchsstunde bald Erm\u00fcdung geltend, die Versuche wurden deshalb in stets wechselnder Reihenfolge angestellt und, wie gesagt, jedes Semester wiederholt. \u00dcbersehe ich nun die Gesamtheit der protokollierten Fehler, so tritt das eine deutlich hervor, dafs die Ge-d\u00e4chtnisirrt\u00fcmer si\u00e7h fast ausnahmslos auf den Inhalt der Vorstellungen, nicht auf ihre Reihenfolge beziehen. Es schl\u00fcpft also wohl einmal ein falscher Buchstabe mit unter, fast niemals aber \u2014 nur 3% der Fehler \u2014 werden auch in den l\u00e4ngsten Reihen die Buchstaben in ihren Stellungen vertauscht. Die Buchstaben, die ich nicht \u00fcberhaupt vergessen hatte, tauchen somit fast stets an der richtigen Stelle auf, die Association ist also eine vollkommene.\nGanz anders sieht es nun in der zweiten Gruppe aus,","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nH. M\u00fcnsterberg.\num derenwillen die Untersuelimig eigentlich angestellt wurde. Bei der ersten Gruppe waren alle geistigen Kr\u00e4fte der Ge-d\u00e4chtnisaufgabe untergeordnet; es konnte also jeder Buchstabe sowohl willk\u00fcrlich im Bewufstsein festgehalten werden, wenn er an der Tafel schon verdeckt war, als auch innerlich nachgesprochen werden. Beides war in der zweiten Gruppe ausgeschlossen, insofern die Darbietung der Buchstabenreihe zwar in gleicher Weise vor sich ging, die ganze Aufmerksamkeit aber einer anderen geistigen Th\u00e4tigkeit, dem lauten Kopfrechnen, zugewandt wurde. Die Buchstaben konnten mithin weder nachgesprochen noch willk\u00fcrlich festgehalten werden, sie wurden lediglich, einer nach dem anderen, wahrgenommen. Die Rechenaufgaben wechselten; meistens wurde mir von dem Assistenten gleichzeitig mit dem Signal, den ersten Buchstaben zu betrachten, eine beliebige Zahl genannt, und ich mufste nun laut 7 und wieder 7 so lange hinzuaddieren, bis der letzte Buchstabe vorbei war. Zuweilen mufste ich auch eine gegebene Zahl fortdauernd mit 2 multiplizieren oder eine gr\u00f6fsere Zahl quadrieren. In jedem Falle n\u00f6tigte mich die Aufgabe, meine Gedanken auf die Zahl zu konzentrieren und ohne Pause laut zu sprechen. W\u00e4hrend ich rechnete, waren die Augen nat\u00fcrlich auf die Tafel gerichtet.\nDas Ergebnis ist folgendes: Die Grenze der Leistungsf\u00e4higkeit, die vorher bei zehngliedrigen Reihen lag, ist hier schon bei siebengliedrigen anzusetzen. Von je 7 Buchstaben waren mir meist 1 oder 2, zuweilen auch mehr ganz entfallen. Bei 6 Buchstaben ist dagegen durchschnittlich nur in jeder dritten Reihe ein falscher Buchstabe, in zwei drittel der Reihen sind alle 6 Buchstaben korrekt reproduziert ; bei 5 und 4 Gliedern sind nur ganz ausnahmsweise falsche Buchstaben hineingekommen. Auf 10 Reihen von 5 Buchstaben kommt ein einziger falscher.\nDagegen ist nun \u2014 und darin scheint mir das Bedeutsame der Resultate zu liegen \u2014 das Ergebnis der Reproduktion ein durchaus ung\u00fcnstiges, sobald die Reihenfolge der Buchstaben beachtet wird. Von 100 viergliedrigen Reihen ist zwar nur bei 6 Reihen ein falscher Buchstabe untergelaufen, aber bei 52 Reihen ist die reproduzierte Reihenfolge der Buchstaben eine falsche. Von 100 f\u00fcnfgliedrigen Reihen ist, wie gesagt, in jeder zehnten Reihe ein falscher Buchstabe, falsche Reihenfolge dagegen bei 64 Reihen, und","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Die Association successiver Vorstellungen.\n105\nbei den sechsgliedrigen Reihen ist die richtige Reihenfolge schon geradezu eine Ausnahme, 83 Reihen werden in falscher Ordnung wiedergegeben. Als Beispiel f\u00fchre ich hier an : statt l g h t: h gl t\\ statt m i p c : mp i c; statt c p i s e : p s i c e ; statt s mb d v p : s d ni v b p. Ein besonderer Typus der falschen Anordnung l\u00e4fst sich nicht herausfinden ; auffallend ist nur, dafs h\u00e4ufig die reproduzierte Reihe mit dem vorletzten Buchstaben begonnen wird und dafs fast immer der letzte Buchstabe an seinem richtigen Platze bleibt.\nWir stehen somit vor dem Ergebnis, dafs in der ersten Gruppe zwar Ged\u00e4chtnist\u00e4uschungen bez\u00fcglich einzelner Buchstaben Vorkommen, die Reihenfolge der richtig behaltenen Buchstaben aber fast ausnahmslos unver\u00e4ndert bleibt, dafs dagegen in der zweiten Gruppe die falschen Buchstaben ganz zur\u00fccktreten hinter den falsch gestellten; war in der ersten Gruppe kaum 1 % der Reihen falsch geordnet, so sind es hier 52\u201483 %. Wie k\u00f6nnen wir das erkl\u00e4ren? Liegt der Grund darin, dafs wir das erste Mal die Aufmerksamkeit den Buchstaben zuwenden, w\u00e4hrend die Aufmerksamkeit in der zweiten Gruppe durch das Rechnen abgelenkt ist? Keinenfalls. Die gr\u00f6fsere oder geringere Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung der einzelnen Buchstaben kann doch nur bewirken, dafs uns die Eindr\u00fccke mehr oder weniger fest im Ged\u00e4chtnis haften. Nun ist diese Verschiedenheit der Aufmerksamkeitsintensit\u00e4t bei unseren Zahlen ja deutlich konstatierbar; konnten bei konzentrierter Aufmerksamkeit 8 und 9 Buchstaben noch ziemlich zuverl\u00e4ssig behalten werden, so wollen bei abgelenkter Aufmerksamkeit nicht mehr als 6 im Ged\u00e4chtnis bleiben, und w\u00e4hrend in der ersten Gruppe bei 4, 5, 6 Buchstaben niemals ein Fehler vorkam, werden in der zweiten Gruppe nicht selten Irrt\u00fcmer begangen. Ber\u00fccksichtigen wir nun aber, dafs in 100 viergliedrigen Reihen trotz der vielen Vertauschungsfehler doch 394 von 400 und in 100 f\u00fcnfgliedrigen 489 von 500 Buchstaben richtig behalten wurden, so ist doch evident, dafs die Ablenkung der Aufmerksamkeit nicht der eigentliche Grund f\u00fcr die Reproduktionsst\u00f6rung sein kann. Die verminderte Aufmerksamkeit reicht noch v\u00f6llig aus, um jeden Buchstaben isoliert dem Ged\u00e4chtnis einzupr\u00e4gen, sonst w\u00fcrden mehr falsche Buchstaben unterlaufen, und dennoch wird die Mehrzahl der Reihen in falscher Reihenfolge reproduziert.","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nH. M\u00fcnsterberg.\nEs bleibt mithin nur eine Erkl\u00e4rung \u00fcbrig. Die zweite Gruppe unterschied sich von der ersten ja nicht nur durch die Ablenkung der Aufmerksamkeit, sondern auch dadurch, dafs unser Sprachapparat v\u00f6llig in Beschlag genommen war, die Buchstaben also nicht nachgesprochen werden konnten, und zweitens dadurch, dafs infolge der Besch\u00e4ftigung mit der Bechenaufgabe wir nicht willk\u00fcrlich den einen Buchstaben innerlich festhalten konnten, wenn uns der n\u00e4chste sich darbot. Sowohl simultane Association, wie Ein\u00fcbung von Bewegungsreihen fielen dadurch fort, und da in der Ablenkung der Aufmerksamkeit der direkte Grund f\u00fcr die Verschiedenheit der Ergebnisse, wie wir sahen, nicht liegen kann, so bleibt uns nur \u00fcbrig, den Grund in jenen zwei Faktoren zu suchen; in allen \u00fcbrigen Punkten sind die Bedingungen ja in beiden Gruppen identisch. K\u00f6nnen wir simultane Associationen zwischen benachbarten Gliedern bilden und begleitende Bewegungen in bestimmter Reihenfolge ein\u00fcben, so bilden sich mithin auch zwischen successiv gebotenen Eindr\u00fccken feste Associationen; bei unseren Versuchen zum Ausdruck gebracht durch die richtige Buchstabenreihenfolge in den reproduzierten Reihen. K\u00f6nnen wir aber beides nicht, so nimmt unser Bewufstsein die succedierenden Eindr\u00fccke zwar nicht minder in sich auf und kann jede Vorstellung auch sp\u00e4ter wieder aus dem Ged\u00e4chtnis hervorrufen, jede einzelne aber bleibt isoliert, zu einer Association derart, dafs eine die andere erweckt, kommt es nicht; unsere Versuche zeigen es, wie die Buchstaben dann zwar richtig behalten, aber v\u00f6llig durcheinander gew\u00fcrfelt werden. Nicht ein Buchstabe erweckt hier den andern, sondern die mit den Buchstaben simultan associ-ierten Nebeneindr\u00fccke rufen bald den, bald jenen Buchstaben regellos ins Ged\u00e4chtnis zur\u00fcck. So war denn auch das Tempo der Reproduktion bei der zweiten Gruppe meist langsamer als in der ersten ; ich mufste erst allm\u00e4hlich einen Buchstaben nach dem andern hervorsuchen. In der ersten Gruppe erlebte ich dagegen nicht selten das Umgekehrte ; ich hatte nach der Bedeckung des letzten Buchstabens den Eindruck, als wenn ich die ganze Reihe vergessen h\u00e4tte, bis die richtigen Buchstaben dann von selbst auf die Lippen traten, einer stets den andern mit sich ziehend. Dafs ein solcher Endeffekt den Schein hervorruft, als wenn es sich wirklich um Association successiver Vorstei-","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Die Association successiver Vorstellungen.\n107\nlungen handelt, ist nicht zu bestreiten; prinzipiell mufs aber daran festgehalten werden, dafs es eine successive Association nicht giebt, sonst h\u00e4tten in unserer zweiten Yersuchsgruppe die Fehler durch Vertauschung einzelner Glieder nicht 50 bis 80 mal so h\u00e4ufig sein d\u00fcrfen als in der ersten Gruppe. Wenn Vorstellungen ohne begleitende Bewegungen wirklich successiv, nicht simultan ins Bewufstsein treten, so werden sie isoliert und nicht associiert ins Ged\u00e4chtnis aufgenommen.","page":107}],"identifier":"lit14191","issued":"1890","language":"de","pages":"99-107","startpages":"99","title":"Die Association successiver Vorstellungen","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:11:53.569187+00:00"}