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{"created":"2022-01-31T16:15:23.718151+00:00","id":"lit14196","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"D\u00f6ring, A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1: 161-186","fulltext":[{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\nVon\nA. D\u00f6ring.\nI.\nEs handelt sich hier um das Problem, diejenige Species der Gef\u00fchle, die als Lust aus dem Sch\u00f6nen und als Unlust aus dem H\u00e4fslichen jedem bekannt sind und im Einzelfalle instinktiv ziemlich richtig von anderen Gef\u00fchlen unterschieden werden, durch sichere Merkmale von den \u00fcbrigen koordinierten Species abzusondern und als eine selbst\u00e4ndige Gruppe innerhalb der Gef\u00fchlswelt aufzuweisen. Dafs ein neuer L\u00f6sungsversuch dieses Problems seine Berechtigung hat, bedarf f\u00fcr den, der mit den vorhandenen Begriffsbestimmungen des Sch\u00f6nen und H\u00e4fslichen vertraut ist, keiner Begr\u00fcndung.\nUm \u00fcberhaupt zu einer fruchtbaren \u00dcbersicht und Gruppierung der Gef\u00fchle zu gelangen, sind bekanntlich die den Gef\u00fchlen selbst anhaftenden Verschiedenheiten, wie St\u00e4rke, Dauer, Lust- und Unlustqualit\u00e4t nicht ausreichend. Es bedarf dazu vielmehr eines Zur\u00fcckgreifens auf die Gef\u00fchlsursachen. Freilich nicht auf die \u00e4ufseren Ursachen \u2014 das w\u00fcrde zu zoologischen, meteorologischen und wer weifs was sonst f\u00fcr Gef\u00fchlen f\u00fchren \u2014, sondern auf die inneren Ursachen der Gef\u00fchle. In Bezug auf diese ist der Begriff des Bed\u00fcrfnisses von fundamentaler Bedeutung.\nSchon der gew\u00f6hnliche Sprachgebrauch versteht unter Bed\u00fcrfnis nur im abgeleiteten Sinne ein Befriedigungsmittel, ein \u00e4ufseres affizierendes, im urspr\u00fcnglichen Sinne aber eine Beschaffenheit unsrer Organisation, verm\u00f6ge deren bestimmte Arten der Affektion Lust, ihr Ausbleiben oder das Eintreten solcher Affektionen, die zu den lustbringenden im Gegens\u00e4tze \u2022stehen, Unlust ausl\u00f6st. Nicht als ob uns die Bed\u00fcrfnisse nach","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nA. D\u00f6ring.\nihrer Beschaffenheit an sich unmittelbar vor Augen l\u00e4gen oder erkennbar w\u00e4ren; nur die durchg\u00e4ngige gegens\u00e4tzliche Koordination gewisser Gruppen von \u00e4ufseren Gef\u00fchlsursachen erm\u00f6glicht ihre Erschliefsung als des inneren Realgrundes bestimmter Gruppen von Gef\u00fchlen und damit eine brauchbare Einteilung der Gef\u00fchle. Indirekt n\u00e4mlich bilden die durch das Band dieser gegens\u00e4tzlichen Koordination zusammengehaltenen Gruppen der \u00e4ufseren Gef\u00fchlsursachen, direkt die ihnen entsprechenden Gruppen zusammengeh\u00f6riger Lust- und Unlustgef\u00fchle den Erkenntnisgrund bestimmter Bed\u00fcrfnisse als innerer Gef\u00fchlsursachen.\nNach diesem Verfahren der Erschliefsung sind wir in Stand gesetzt, die prim\u00e4ren oder Grundbed\u00fcrfnisse unsrer Organisation systematisch aufzustellen. Wir d\u00fcrfen wohl von vornherein erwarten, wenn wir nicht die noch unentwickelte oder in ihrer Entwickelung verk\u00fcmmerte, sondern die normal entwickelte Menschennatur als mafsgebend zu Grunde legen, unter diesen prim\u00e4ren Bed\u00fcrfnissen auch dasjenige anzutreffen, dem die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle entspringen. Die hervorragende Position der letzteren in der Gesamtheit des menschlichen Gef\u00fchlslebens verb\u00fcrgt uns dies. Unser Problem w\u00fcrde sich also auf die Frage zuspitzen: Welcher Gruppe der menschlichen Grundbed\u00fcrfnisse entspringen die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle?\nIch habe in meiner \u201ePhilosophische^ G\u00fcterlehre\u201c (1888) mit ausf\u00fchrlicher Begr\u00fcndung den Versuch gemacht, die Tafel der menschlichen Grundbed\u00fcrfnisse zu entwerfen. Hier soll ein abgek\u00fcrztes Verfahren platzgreifen. Insbesondere lasse ich die beiden dort von mir unterschiedenen grofsen Gruppen der Ausdrucksbed\u00fcrfnisse und des Bed\u00fcrfnisses der Normalit\u00e4t fremder Zust\u00e4nde, dem die Mitgef\u00fchle entsprechen, mit Bewufstsein bei Seite, obwohl allerdings beiden, und zwar ersteren durch den in ihnen wurzelnden Trieb zur Produktion des Sch\u00f6nen, letzteren wegen der aristotelischen Theorie vom Mitleid als der Quelle der Lust am Tragischen eine gewisse Beziehung zum \u00c4sthetischen beiwohnt.\nNach Absonderung dieser beiden Gruppen ergiebt sich f\u00fcr die \u00fcbrigbleibende Masse der auf die eigenen Zust\u00e4nde des Individuums bez\u00fcglichen Bed\u00fcrfnisse eine Vierteilung durch Kreuzung zweier Einteilungsprinzipien. Einesteils sind sie entweder k\u00f6rperliche oder seelische, d. h. die ihnen entspringenden","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Sie \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n163\nGef\u00fchle haften entweder unmittelbar an der Modifikation des k\u00f6rperlichen Zustandes, ohne dafs zu ihrem Zustandekommen ein vorg\u00e4ngiger Bewufstseinszustand erforderlich w\u00e4re, oder aber die ihnen entspringenden Gef\u00fchle haften als Gef\u00fchlston an Be-wufstseinszust\u00e4nden, d. h. an Vorstellungen, Strebungen oder auch an anderen Gef\u00fchlen, welcher letztere Punkt erst im weiteren Verlaufe deutlich werden kann.\nNach dem anderen Einteilungsprinzip beruhen die in Rede stehenden Grundbed\u00fcrfnisse entweder auf realen, inhaltlichen Erfordernissen unsrer Organisation, oder sie sind Punktionsbed\u00fcrfnisse, die im Gegens\u00e4tze gegen die inhaltlichen auch formale genannt werden k\u00f6nnen. Die Thats\u00e4chlichkeit dieser letzteren, f\u00fcr unsre Untersuchung besonders bedeutsamen Bed\u00fcrfnisgruppe rnufs nachdr\u00fccklich behauptet werden; es mufs behauptet werden, dafs die zun\u00e4chst im Dienste der inhaltlichen oder materialen Bed\u00fcrfnisbefriedigung fungierenden Organe, Anlagen, F\u00e4higkeiten daneben ein selbst\u00e4ndiges Punktionsbed\u00fcrfnis besitzen, das sich auch da, wo durch die Punktion einem materialen Bed\u00fcrfnis gen\u00fcgt und materiale Lust geschaffen wird, zugleich in rein formaler, wenngleich nicht deutlich unterscheidbarer Punktionslust manifestiert, dafs ferner diese Funktionslust auch da vorhanden ist, wo die materiale Wirkung der Affektion Unlust ist, oder wo ein materiales Interesse bei der Punktion nicht ins Spiel kommt. F\u00fcr den Fall der Nichtbefriedigung des Punktionsbed\u00fcrfnisses hat nat\u00fcrlich jene Lust in einer entsprechenden Unlust ihr Seitenst\u00fcck.\nDurch Kombination dieser beiden Einteilungsprinzipien erhalten wir zun\u00e4chst das Gebiet der materialen k\u00f6rperlichen Grundbed\u00fcrfnisse, das in die Bed\u00fcrfnisse der Normalit\u00e4t der K\u00f6rperreize und der Sinnesreize zerf\u00e4llt. Nur diejenige Lust und Unlust kommt hier in Betracht, die unmittelbar und ausschliefslich dem Reize entspringt. Im empirischen Seelenleben kommen diese Gef\u00fchle nur in Verbindung mit gleichzeitig entspringenden seelischen Gef\u00fchlen vor und k\u00f6nnen nur durch eine k\u00fcnstliche Abstraktion f\u00fcr die Perzeption isoliert werden.\nDie k\u00f6rperlichen Funktionsbed\u00fcrfnisse, die die zweite Gruppe bilden, machen sich nur insoweit gesondert geltend, als sie nicht schon durch die materialen Prozesse ihre Deckung","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nA. D\u00f6ring.\nfinden. Im letzteren Falle erzeugt ihre nebenher eintretende Befriedigung einen \u2014 nicht gesondert ins Bewufstsein tretenden \u2014 Zuschuls zur materialen Lustwirkung, zur materialen Unlustwirkung aber ein abschw\u00e4chendes Gegengewicht. Wird ihnen in Abwesenheit eines materialen Bed\u00fcrfnisses Gen\u00fcge geleistet oder nicht Gen\u00fcge geleistet, oder gar Hemmung bereitet, so entsteht rein formale k\u00f6rperliche Lust oder Unlust. Die formalen k\u00f6rperlichen Bed\u00fcrfnisse sind je nach der Art des Organs und seiner Funktionsweise Bed\u00fcrfnisse der Erregung oder der Beth\u00e4tigung.\nDie dritte Gruppe, die der materialen seelischen Bed\u00fcrfnisse, umfafst prim\u00e4r (worauf sich ja unsere Untersuchung beschr\u00e4nkt) ausschliefslich Bed\u00fcrfnisse des Vorstellens, und zwar des Vorstellens mit der Nebenvorstellung des Vorhandenseins des Vorgestellten. Das Gef\u00fchl kann hier nicht in Betracht kommen, da es unter dem materialen Gesichtspunkte nur Folge und Symptom des vorhandenen Grades der Befriedigung der Vorstellungsbed\u00fcrfnisse ist, das Streben nicht, weil es erst sekund\u00e4r als Folge vorhandener Unlust oder unzureichender Lust in Aktion tritt. Die somit allein \u00fcbrigbleibenden Vorstellungsbed\u00fcrfnisse zerfallen wieder in zwei Gruppen; sie betreffen einesteils die Vorstellung des Vorhandenseins des zu unserm Wohlsein Erforderlichen, die Normalit\u00e4t unsres Schicksals, die \u00dcbereinstimmung der Welteinrichtung mit den Erfordernissen unsrer Organisation, sowohl im grofsen und ganzen, wie in den wechselnden Einzelf\u00e4llen der jedesmal vorliegenden Situation, andernteils als Selbstsch\u00e4tzungsbed\u00fcrfnis die Vorstellung des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins eines Wertes, einer Bedeutung unsrer Person.\nUneingeschr\u00e4nkt und universell hinsichtlich der Arten der seelischen Vorg\u00e4nge sind dagegen die Bed\u00fcrfnisse der vierten Gruppe, die seelischen Funktionsbed\u00fcrfnisse. Jede Erregung des Gef\u00fchls oder des Vorstellens, jede Beth\u00e4tigung der intellektuellen Aktivit\u00e4t oder des Strebens, mag sie aufserdem, im Sinne eines materialen Interesses verlaufend, einen materialen Lust- oder Unlustaffekt erzielen oder des materialen Impulses entbehren, ist rein als solche lustvoll, jede Nichtbefriedigung oder Hemmung des seelischen Besch\u00e4ftigungsbed\u00fcrfnisses rein als solche unlustvoll. Es entspringt hier z. B., wie ich a. a. 0. des N\u00e4heren nachgewiesen habe, ein dreifacher Begriff der","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n165\nLangeweile, als Gef\u00fchlsleere, intellektuelle Leere und Leere des Strebens. Ebenso habe ich a. a. 0. zu zeigen versucht, welche ungeheure Menge der menschlichen Bestrebungen dieser Bed\u00fcrfnisgruppe entspringt und wie grofs daher ihre Bedeutung f\u00fcr unser Wohlsein gesch\u00e4tzt werden mufs. Hier nun erh\u00e4lt die obige, anscheinend paradoxe, aber f\u00fcr unsre Untersuchung hochbedeutsame Behauptung von Gef\u00fchlen aus Gef\u00fchlen ihr volles Licht. Das durch irgend welche Verursachung entstehende Gef\u00fchl, sei es Lust oder Unlust, ist als seelische Funktion lust-voll. Wir haben also hier vom prim\u00e4ren Vorgang, dem Zustande des Lust- oder Unlustempfindens, einen sekund\u00e4ren, die Lust aus dem unmittelbaren Innewerden der Funktion als einem seelischen Bed\u00fcrfnis Gen\u00fcge leistend, zu unterscheiden. Bei der Lust werden diese beiden Elemente ununterscheidbar verschmelzen, bei der Unlust aber l\u00e4fst der Kontrast die sekund\u00e4re Funktionslust deutlich als etwas Verschiedenes hervortreten.\nIch unterlasse nun k\u00fcrzehalber den negativen Nachweis, dafs die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle weder aus den beiden Gruppen der k\u00f6rperlichen Bed\u00fcrfnisse, noch aus den materialen seelischen Bed\u00fcrfnissen entspringen, und behaupte kurzweg, dafs ihre Quelle in den seelischen Funktionsbed\u00fcrfnissen zu suchen ist. Dafs die seelischen Funktionen an sich lustvoll, ihr Ces-sieren oder ihre Hemmung an sich unlustvoll ist, haben wir gesehen. F\u00fcr die Verkn\u00fcpfung der Funktionslust wenigstens aus der Erregung von Gef\u00fchlen mit dem \u00e4sthetischen Gebiet besteht ferner eine alte Tradition, f\u00fcr die sich Namen wie Plato, Aristoteles, Descartes, Dubos, Kant, Schiller ins Feld f\u00fchren lassen. Vor allen ist hier Aristoteles als Gew\u00e4hrsmann zu nennen. Mit einseitiger Ausschliefslichkeit leitet er alle und jede Lust im Zusammenh\u00e4nge mit seinen metaphysischen Grundprinzipien \u00f4vvafu\u00e7 und \u00e8v\u00e9\u00e7ysia aus der ins Bewufstsein fallenden Beth\u00e4tigung einer Anlage ab (Eth. Nie. X. 4, 1174 b. 24, 33; VII. 14, 1153 b, 10 ff; Ehet. I. 11, 1369 b, 33), und somit steht seine ber\u00fchmte Lehre von der Katharsis als der von Lust begleiteten intensiven Erregung der tragischen Unlustgef\u00fchle im direkten Zusammenh\u00e4nge mit den letzten Prinzipien seiner Metaphysik. Die tragische Lust ist Lust aus einer Funktion, aus der Beth\u00e4tigung einer Anlage. Der alles Werden umspannende Begriff der Iv\u00e9Qysia bezeichnet die Verwirklichung des potentia Vorhandenen einesteils als Entwickelung, andernteils,","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nA. D\u00f6ring.\nwie in unserem Falle, als Beth\u00e4tigung, und letztere ist es, auf die Aristoteles nicht nur die \u00e4sthetische, sondern schlechthin alle und jede Lust zur\u00fcckf\u00fchrt. Eine vollbewufste, mit deutlicher Erkenntnis des Prinzips unternommene und das ganze Gebiet der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle umfassende Ableitung der letzteren aus dieser Bed\u00fcrfnisgruppe ist jedoch noch niemals auch nur entfernt versucht worden ; sie hat die Bew\u00e4hrung der Hypothese zu bilden.\nEhe jedoch zu dieser Bew\u00e4hrung \u00fcbergegangen werden kann, bedarf es noch bedeutender Einschr\u00e4nkungen des weiten Gebietes, ehe die Begion der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle abgegrenzt sein wird. Das Gebiet der seelischen Funktionslust ist schlechthin unbegrenzt ; es giebt keinen empirischen Gef\u00fchlsvorgang \u2014 die empirischen Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge d. h. die Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge, wie sie sich der unmittelbaren innern Erfahrung ohne k\u00fcnstliche Zergliederung darbieten, sind n\u00e4mlich s\u00e4mtlich Gef\u00fchlskomplexe von oft sehr vielfacher und unendlich mannigfaltiger Zusammensetzung \u2014 an dem sie nicht in irgend einem Mafse Anteil h\u00e4tte. Nun giebt es zwar eine Gruppe von Gef\u00fchlskomplexen, in der die aus dem Besch\u00e4ftigungsbed\u00fcrfnis entspringenden Gef\u00fchle als das eigentlich Charakteristische, Ausschlaggebende des betreffenden Komplexes deutlich im Vordergrund stehen, sei es, dafs das Besch\u00e4ftigende sich ungesucht darbietet, sei es, dafs das unbefriedigte Besch\u00e4ftigungsbed\u00fcrfnis ein Streben nach intellektueller, Willens- oder Gef\u00fchlsbesch\u00e4ftigung entfesselt hat. Doch zeigt ein sehr grofser Bruchteil der hierhergeh\u00f6rigen F\u00e4lle unbeschadet dieses in erster Linie mafsgebenden formalen Interesses ein sofortiges sekund\u00e4res Verflochtenwerden in materiale Interessen, eine Verunreinigung des formalen Gef\u00fchls durch materiale Beimischungen und Zus\u00e4tze. Es handle sich um ein Gespr\u00e4ch, eine Lekt\u00fcre, ein Studium, ein Spiel, eine Intrigue, ein Abenteuer; das urspr\u00fcnglich mafsgebende Interesse sei durchaus das der seelischen Besch\u00e4ftigung : sofort aber erzeugen tausend herzudringende materiale Interessen sekund\u00e4rer Art, das Gelingen oder Mifslingen, der Gewinn oder Verlust, der sinnliche Genufs, das Gef\u00f6rdertwerden durch verwandte, der Konflikt mit widerstreitenden Interessen, die Hebung oder Nieder-dr\u00fcckung des Selbstbewufstseins, das Streben nach Beschaffung der Mittel und Beseitigung der Hemmnisse solcher Besch\u00e4ftigungen, die Sorge um die M\u00f6glichkeit, der Schmerz um das","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n167\nEingetretensein ihres Verlustes u. s. w., ein sekund\u00e4res Verflochtenwerden in materiale Interessen und Bestrebungen, die diesen Teil der aus dem seelischen Besch\u00e4ftigungsbed\u00fcrfnisse entsprungenen Bestrebungen den von Haus aus materialen Bestrebungen ununterscheidbar naher\u00fcckt. Sie werden durch eine Art von Assimilation in die Sph\u00e4re des materialen Lebens hineingezogen und durch die Schlacken desselben verunreinigt. Demgegen\u00fcber mufs f\u00fcr die Sph\u00e4re der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle als erste Forderung die der Reinheit und Ausschliefslichkeit des formalen Interesses gelten. Die Objekte d\u00fcrfen keine andere Bedeutung f\u00fcr uns haben, als die, eine seelische Funktion auszul\u00f6sen. Hier haben wir den wahren Sinn und die zutreffende Begr\u00fcndung einer mit seltener Einstimmigkeit in der Sache, wenn auch in verschiedenen Ausdr\u00fccken, von den \u00c4sthetikern aufgestellten Grundforderung. Das Entspringen der Lust lediglich aus der seelischen Funktion (der als ihr Gegensatz die Unlust aus dem Brachliegen oder der Hemmung derselben gegen\u00fcbersteht), ist das, was Kant mit dem interesselosen Wohlgefallen meint, Schelling mit der \u00e4sthetischen Anschauung, Schopenhauer mit der willensfreien Betrachtung, von Hartmann mit der Bezeichnung der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle als \u201eScheingef\u00fchle\u201c. Nur sind diese Ausdr\u00fccke mehr oder minder unzul\u00e4nglich. Ein interesseloses Wohlgefallen ist, wenn unter Interesse alles und jedes verstanden wird, was einem Bed\u00fcrfnisse Gen\u00fcge leistet, also Lust (Wohlgefallen) erregt, eine contradictio in adjecto. Wir wissen ja nun wohl, dafs Kant nur an die materialen Bed\u00fcrfnisse denkt ; immerhin aber bleibt seine Bezeichnung eine lediglich negative; sie bezeichnet nur eine leere Stelle, f\u00fcr die hier eben durch Nachweis des zugeh\u00f6rigen Interesses die passende Ausf\u00fcllung gegeben werden soll. Der Ausdruck \u201eScheingef\u00fchle\u201c ist wenigstens sprachlich zu beanstanden ; ein Scheingef\u00fchl ist das Gegenteil eines wirklichen Gef\u00fchls; gemeint ist aber ein durch den blofsen Schein ausgel\u00f6stes Gef\u00fchl. An sich ist der Ausdruck \u201eSchein\u201c f\u00fcr die Quelle der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle, auf die auch Schiller mit den Worten: \u201eAn dem Scheine mag der Blick sich weiden\u201c hinweist, \u00fcberaus zutreffend ; das Affizierende ist, sei es durch einen Akt des Betrachtenden selbst, sei es durch die Vorschub leistende Vorarbeit des K\u00fcnstlers, der hier wirkt, wie ein guter Vorleser, dem aber doch wieder eine kongeniale Haltung des Geniefsenden entgegen-","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nA. D\u00f6ring.\nkommen mufs, ans der Sph\u00e4re der realen Dinge und Interessen herausgel\u00f6st, und seine ganze Wirkung beschr\u00e4nkt sich jetzt auf die Ausl\u00f6sung seelischer Punktionen und der aus diesen resultierenden Lust; das \u00e4sthetische Verh\u00e4ltnis zu den Objekten kann, wenn man den Ausdruck nur richtig deuten will, als ein unpers\u00f6nliches bezeichnet werden.\nWir m\u00fcfsten also der generellen Bestimmung: \u201e\u00c4sthetische Lust ist die Lust aus der Funktion eines seelischen Verm\u00f6gens, \u00e4sthetische Unlust die Unlust aus dem Brachliegen oder der Funktionshemmung eines solchen\u201c als erste Restriktion das Merkmal anf\u00fcgen: \u201evorausgesetzt, dafs diese formalen Gef\u00fchle durch keine materiale Beimischung gef\u00e4lscht oder verunreinigt werden.\u201c\nAn diesen Punkt kn\u00fcpft sich wohl die Erledigung der Frage an, warum die niederen Sinne keine \u00e4sthetischen Wirkungen vermitteln k\u00f6nnen. Ich m\u00f6chte diese Frage hier nur streifen. Die L\u00f6sung wird wohl darin bestehen, dafs bei den niederen Sinnen die Lust aus der seelischen Funktion zwar mit erregt, aber fast nie rein und unvermischt erhalten werden kann. Ganz zwar d\u00fcrfte diese M\u00f6glichkeit nicht abzuweisen sein. Das Erkennen und Vergleichen aromatischer D\u00fcfte und Geschm\u00e4cke z. B. kann rein als intellektuelle Funktion Vorkommen. Dagegen d\u00fcrfen die Associationen, auf die Fechner beim Sch\u00f6nen unter \u00dcbergehung der eigentlichen Natur desselben ein ungeb\u00fchrliches Gewicht legt, hier nicht herangezogen werden. Der Duft einer Orangenbl\u00fcte kann mich an Italien, der Geschmack einer Speise oder eines Getr\u00e4nkes an ein Fest, dem ich beigewohnt habe, erinnern, aber das sind rein zuf\u00e4llige von Individuum zu Individuum verschiedene Associationen, w\u00e4hrend doch dem Sch\u00f6nen der Charakter einer gewissen menschlichen Allgemeing\u00fcltigkeit zugeschrieben werden mufs.\nWir m\u00fcssen aber noch ein zweites einschr\u00e4nkendes Merkmal beif\u00fcgen. Das Objekt n\u00e4mlich, das, um mit Schiller zu reden, jeden Zeugen menschlicher Bed\u00fcrftigkeit ausgestofsen hat, und nun nur noch in einem einzig\u00e9n Sinne affizierend wirken soll, mufs, um nicht wirkungslos zu bleiben, eine erh\u00f6hte, gesteigerte Wirkungsf\u00e4higkeit erhalten. Das einem materialen Bed\u00fcrfnisse Gen\u00fcge Leistende schaffen wir uns, wenn es sich nicht von selbst einstellt, herbei, wir setzen es aus seinen Elementen, die wir aus allen Ecken zusammensuchen, zusammen","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n169\nund scheuen in dieser Beziehung keine M\u00fche. Auch schon das sekund\u00e4re materiale Interesse, das sich dem seelisch Besch\u00e4ftigenden verunreinigend beimischt, ist stark genug, um allerlei Schwierigkeiten der Perzeption zu \u00fcberwinden. Das rein und ausschliefslich seelisch Besch\u00e4ftigende aber mufs uns, um wirken zu k\u00f6nnen, als ein Fertiges und zugleich als ein anschauliches Einzelnes entgegentreten, es mufs anschaulich sein, sei es im Sinne der Perzeption durch Sinnesth\u00e4tigkeit, sei es als Objekt der durchs Wort vermittelten Phantasieanschauung. Hier rechtfertigt sich von unserm Prinzip aus eine zweite G-rundforderung, die von jeher an das \u00e4sthetisch Wirksame gestellt worden ist: die Forderung der Anschaulichkeit. Um hier nur ein Beispiel beizubringen: Warum verwandelt Schiller im Ringe des Polykrates die Vorg\u00e4nge zwischen diesem und Amasis, die bei Herodot durch brieflichen Austausch vermittelt sind, in einen unmittelbaren Verkehr von Person zu Person, warum r\u00fcckt er gleichzeitig die unerh\u00f6rten Gl\u00fccksf\u00e4lle in die gr\u00f6fste zeitliche N\u00e4he zusammen? Aus keinem anderen Grunde, als um die Vorg\u00e4nge phantasiem\u00e4fsig anschaulich zu machen, weil nur so die \u00e4sthetische Wirkung in gen\u00fcgender St\u00e4rke zu erzielen war.\nWir werden also zu der obigen Definition noch die weitere Restriktion hinzuf\u00fcgen m\u00fcssen, dafs die \u00e4sthetische Lust nur vom fertig dargebotenen anschaulichen Einzelnen ausgehen kann. Diese Bedingung ist nicht, wie die vorige, eine Bedingung der Reinheit und Unvermischtheit, sondern, die Reinheit und Unvermischtheit als Postulat vorausgesetzt, eine Bedingung f\u00fcr die M\u00f6glichkeit des Zustandekommens.\nn.\nSomit w\u00e4re denn der erste Teil unsrer Aufgabe gel\u00f6st ; wir haben f\u00fcr die Entstehungsbedingungen und damit f\u00fcr das Wesen, die unterscheidende Eigent\u00fcmlichkeit, der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle einen scharfen, bezeichnenden Ausdruck gefunden. Ob er der richtige ist, das mufs sich ergeben, wenn wir nunmehr versuchen, durch Explikation und weitere Einteilung des gewonnenen Begriffes seinen Inhalt klarzulegen und seine Leistungsf\u00e4higkeit zu erproben. Hierbei mufs sich ja heraus-stellen, ob alles \u00c4sthetische und nur das \u00c4sthetische in ihm Raum findet.","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nA. D\u00f6ring.\nEs wird sich empfehlen, bei diesem Gesch\u00e4fte vorab eine Zweiteilung vorzunehmen und zuerst ausschliefslich von der \u00e4sthetischen Lust und dem Sch\u00f6nen, nachher gesondert von der \u00e4sthetischen Unlust und dem H\u00e4fslichen zu handeln. Es soll also zun\u00e4chst ausschliefslich vom Sch\u00f6nen die Rede sein. F\u00fcr die Durchmusterung desselben k\u00f6nnen uns die bekannten Kategorien des empirischen Sch\u00f6nen, wie anh\u00e4ngendes und selbst\u00e4ndiges Sch\u00f6nes, Sch\u00f6nes der Wirklichkeit und Sch\u00f6nes der Kunst, keine Dienste leisten, weil das empirische Sch\u00f6ne das \u00e4sthetisch Lustvolle stets in einer gewissen Komplexit\u00e4t, als Zusammensein einer Mehrheit \u00e4sthetisch wirksamer Momente, darbietet.\nWir m\u00fcssen uns f\u00fcr die Aufl\u00f6sung des \u00e4sthetisch Lustvollen in seine schlechthin einfachen Elemente nach anderen Einteilungsprinzipien Umsehen. Da bietet sich denn zun\u00e4chst von der gewonnenen prinzipiellen Bestimmung des Sch\u00f6nen als des eine seelische Funktion Ausl\u00f6senden aus die Dreiteilung nach den Arten der seelischen Funktionen. Es kann sich um die Sollicitation einer intellektuellen Funktion, eines Gef\u00fchls oder eines Aktes des Strebens handeln. Hinsichtlich des Gef\u00fchls ist hierbei an das bereits Bemerkte zu erinnern, dafs auch die erregte Unlust qua Erregung sekund\u00e4r lustvoll ist. Wir d\u00fcrfen hinzuf\u00fcgen, dafs das Bedenken, die prim\u00e4re Unlust m\u00fcsse doch diese sekund\u00e4re Funktionslust unterdr\u00fccken und ersticken, auf dem \u00e4sthetischen Gebiete infolge der \u00dcberf\u00fchrung aus der Sph\u00e4re des Materiellen und Realen in die des Scheines und des Unpers\u00f6nlichen ohne Bedeutung ist. F\u00fcr die \u00e4sthetische Betrachtung ist nicht nur das Kunsterzeugnis, sondern auch die Wirklichkeit nur ein Schein, ein illusorisches Bild, wenngleich in beiden F\u00e4llen der Schein ein wahrer, d. h. die echte Wirklichkeit der Dinge widerspiegelnder sein mufs. Nur wo die Unterscheidung von Schein und Wirklichkeit nicht vollzogen wird und die Illusion eine totale ist, wird die Unlust die sekund\u00e4re Lust \u00fcberw\u00e4ltigen. Es soll ja im Westen der Vereinigten Staaten Vorkommen, dafs nach dem Theaterb\u00f6sewicht mit Revolvern geschossen wird, und ein kleines M\u00e4dchen rief bei einer Auff\u00fchrung des Schneewittchen mit lauter Stimme, dafs es durch das ganze Theater schallte: \u201eSchneewittchen lafs die b\u00f6se Stiefmutter nicht hinein!\u201c\nDieser Dreiteilung nach den Arten der seelischen Funk-","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n171\ntionen ist aber eine andere Einteilung \u00fcberzuordnen, die auf der Art und Weise beruht, in der das \u00e4sthetisch Wirksame verm\u00f6ge seiner Beschaffenheit die seelische Sollicitation ausl\u00f6st. Diese Ausl\u00f6sung kann n\u00e4mlich stattfinden entweder sympathisch, d. h. durch unmittelbare \u00dcbertragung der im Objekt wirklich oder anscheinend sich ausdr\u00fcckenden seelischen Zust\u00e4nde, oder durch blofse Perzeption, indem die Beschaffenheit des Objekts eine solche ist, dafs sie seelische Zust\u00e4nde zwar nicht ausdr\u00fcckt, aber ausl\u00f6st. Aufserdem ist noch ein dritter Fall m\u00f6glich, indem das Objekt in erster Linie durch seine Beschaffenheit geeignet ist, seelische Funktionen auszul\u00f6sen, aufserdem aber auch solche ausdr\u00fcckt.\nInnerhalb der ersten G-ruppe, der des sympathisch Wirksamen, werden wir also zun\u00e4chst die Untereinteilung nach den drei Arten der seelischen Funktionen zur Anwendung bringen. Es kann jedoch hier noch eine vierte Untergruppe statuiert werden, die F\u00e4lle umfassend, in denen das Objekt ohne bestimmte Differenzierung der seelischen Zust\u00e4nde mehr nur als \u00fcberhaupt beseelt gilt und in diesem mehr unbestimmten Sinne sympatisch affizierend wirkt.\nInnerhalb jeder der so entstehenden vier Untergruppen des sympatisch Wirksamen aber wird wieder nach dem Gesichtspunkte, ob der seelische Zustand im Objekte wirklich vorhanden ist oder nur durch ein unbewufstes Hineintragen in das Objekt hineinverlegt, demselben geliehen wird, um alsdann r\u00fcckwirkend zum Subjekte zur\u00fcckzukehren, eine doppelte Weise des Wirkens zu unterscheiden sein. Im ersteren Falle wirkt das Objekt sympathisch durch die Symptome der wirklich in ihm vorhandenen seelischen Zust\u00e4nde, es wirkt symptomatisch, im zweiten finden sich an ihm Symptome, die in der \u00e4sthetischen Betrachtung unwillk\u00fcrlich, obgleich ohne reale Berechtigung, nach der Analogie wirklicher Symptome des Seelischen gedeutet werden und daher seelisch affizierend r\u00fcck-wirken; es wirkt analogisch-symptomatisch.\nBetrachten wir denn nach diesen beiden zuletzt aufgestellten Gesichtspunkten zun\u00e4chst den Fall der Beseeltheit im allgemeinen. S y mpt omatis ch-symp athis ch wirkt das wirklich Beseelte, indem seine ganze Erscheinungsweise die Beseeltheit widerspiegelt. Insbesondere ist es die Physiognomie, die auch ohne dafs die Symptome bestimmter einzelner seelischer\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie.\t12","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nA. D\u00f6ring.\nVorg\u00e4nge in ihr unterschieden werden, in diesem Sinne sympathisch affizierend wirkt. Auch die h\u00f6here Tierwelt, die Welt der S\u00e4ugetiere, vorab der Hund, der seelenvolle Gef\u00e4hrte des Menschen, hat an dieser physiognomischen Ausdrucksf\u00e4higheit Anteil. Aber auch abgesehen von diesem besonderen Agens vermitteln uns unz\u00e4hlige Eindr\u00fccke des Gesichts und Geh\u00f6rs das Bild der Beseeltheit am Menschen und an der gesamtem Tierwelt.\nAnalogisch-symptomatisch empfangen wir den sympathischen Eindruck der Beseeltheit zun\u00e4chst da, wo die that-s\u00e4chlich nur mechanisch wirkenden Kr\u00e4fte sich verstecken und f\u00fcr eine nicht wissenschaftlich analysierende Betrachtung der Eindruck des von innen heraus sich Beth\u00e4tigenden und Entwickelnden, eines seelischen Prinzips, entsteht. So vorab bei der Pflanzenwelt. Der \u00e4lteren Naturbetrachtung erschien sogar wissenschaftlich und realiter die gesamte Natur von den Gestirnen abw\u00e4rts beseelt; die \u00e4sthetische Betrachtungsweise bleibt, ohne viel zu gr\u00fcbeln oder die Grenzlinie zwischen dem blofs Analogischen und dem realiter Symptomatischen scharf zu ziehen, dieser Betrachtungsweise mit Vorliebe treu. Aber diese analogisch-symptomatische Wirkung einer blofs geliehenen Beseeltheit erstreckt sich auch auf Gebiete, wo das Bewufst-sein ihrer Irrealit\u00e4t gleichzeitig vollkommen vorhanden ist. Wir reden von der Physiognomie einer Landschaft; von einzelnen Objekten geh\u00f6rt hierher insbesondere der Fall, wo ihre Formen einen Anklang nicht sowohl an die Ausdrucksformen bestimmter einzelner wechselnder seelischer Zust\u00e4nde als an die typischen Erscheinungsformen des Seelischen \u00fcberhaupt zeigen, ferner die rastlose Beweglichkeit des fliefsenden oder an das Gestade anschlagenden Wassers. Ebenso wird jede andauernde lebhafte, doch nicht in einer besonderen Richtung scharf charakterisierte Bewegung, wie das Wogen des Kornes, das Zittern des Laubes im Winde, den allgemeinen Eindruck der Beseeltheit hervorrufen. Schon Home bezeichnet treffend die sympathische Wirkungsweise des Bewegten, indem er sagt, durch einen sich bewegenden K\u00f6rper werde die Seele selbst in eine \u00e4hnliche Bewegung versetzt ; man habe das Gef\u00fchl, als ob die Seele fortgef\u00fchrt werde.\nDieselbe Zweiteilung gilt f\u00fcr die Ausdrucksformen der besonderen Arten seelischer Zixst\u00e4nde, zu denen wir jetzt","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n173\n\u00fcbergelien. Die intellektuellen Funktionen sollicitieren symptomatisch, wenn sie in Miene und Geb\u00e4rde ihren Ausdruck finden. Dieser Ausdruck ist ein habitueller im Antlitz und gesamten Habitus des Denkers und Forschers, des Geistvollen, Feinen, Witzigen u. s. w., ein momentaner z. B. im sinnenden Ausdruck, in der Gesamthaltung des angestrengt Denkenden u. dgl. Analogisch-sympto matisch d\u00fcrften den intellektuellen Habitus ausl\u00f6sen einfache grofse Felslandschaften, die Unendlichkeit der Meeresfl\u00e4che oder des Sternenhimmels.\nDas Gef\u00fchl \u00fcbertr\u00e4gt sich symptomatisch durch die unendliche F\u00fclle der Ausdrucksformen, in denen sowohl die habituellen Stimmungen, als die ganze Skala der wechselnden aktuellen Gef\u00fchlszust\u00e4nde sich auspr\u00e4gt. Beider analogisch -symptomatischen Form der Gef\u00fchls\u00fcbertragung zeigt schon der Sprachgebrauch, wie gel\u00e4ufig dem allgemeinen Bewufstsein diese Form der Gef\u00fchlssollicitation ist. Wir reden von einer d\u00fcstern Gewitterstimmung, von lachenden Fluren, von einem munter h\u00fcpfenden B\u00e4chlein u. dgl. Ferner aber darf wohl behauptet werden, dafs die Welt der T\u00f6ne, auch abgesehen von ihrem Auftreten als symptomatisches Ausdrucksmittel der Gef\u00fchle, eine analogische Wirkung aufs Gef\u00fchl besitzt und dafs eben auf dieser Wirkung ihre Verwendung zum symptomatischen Ausdruck des Gef\u00fchlslebens nicht nur in der eigentlichen Musik, sondern schon im Gesang der V\u00f6gel, im Jodler und Juchzer des Gebirgsbewohners ihren Ursprung nimmt. Die Tonh\u00f6he, die Klangfarbe und die Mannigfaltigkeit der Tonfolgen haben olfenbar analogische Beziehungen zum Gef\u00fchlsleben. Der tiefe Ton entspricht mehr der Unlust, der hohe der Lust, die Klangfarbe bildet ein Analogon zu den mannigfachsten Gef\u00fchlsschattierungen. Die Tonst\u00e4rke entspricht vornehmlich der Intensit\u00e4t des Gef\u00fchls, bezeichnet aber vielfach auch qualitative Unterschiede, Freude, Trauer, Gedr\u00fccktheit u. dgl. Auch beim Rhythmus und seinen Modifikationen durch die verschiedene Gr\u00f6fse der Zeiteinheit (Andante, Presto u. s. w., accelerando, ritardando), sowie beim staccato und seinem Gegenteil scheint die analogisch-symptomatische Beziehung zum Gef\u00fchl unzweifelhaft, ich begn\u00fcge mich jedoch hier mit dem blofsen Hinweis. Von den Farben haben unzweifelhaft Schwarz und Weifs, sowie die Helligkeitsstufen der bunten Farben eine Analogie zu den Qualit\u00e4ten des Gef\u00fchls ; unter Umst\u00e4nden wohl\n12*","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nA. D\u00f6ring.\nauch die S\u00e4ttigungsstufen, obgleich diese in erster Linie wohl den Intensit\u00e4tsgraden korrespondieren. Inwieweit die Qualit\u00e4t der bunten Farben nach Abzug dieser beiden so bedeutsamen Faktoren eine hierher geh\u00f6rige Bedeutung hat, ist deshalb schwer zu bestimmen, weil die Farbe nach Abzug des Hellig-keits- und S\u00e4ttigungsgrades ein nicht existierendes Abstraktum ist und namentlich die Helligkeitsstufe den Gesamtcharakter einer Farbe total ver\u00e4ndert (z. B. Purpur, Ziegelrot, Posa, ein ganz helles oder sehr dunkles Violett, Gr\u00fcn, Blau), doch f\u00e4llt ceteris paribus unzweifelhaft auch die reine Qualit\u00e4t der Farbe in dem in Rede stehenden Sinne ins Gewicht.\nF\u00fcr die symptomatische Form der sympathischen Ausl\u00f6sung des Strebens bedarf es besonderer Nachweise nicht, da es sich hier um die wohlbekannten Ausdrucksmittel in Mienen und Geb\u00e4rden handelt. Jedes kr\u00e4ftig ausgedr\u00fcckte Streben wirkt sympathisch sollicitierend und dadurch lustvoll. Analogisch-sympathisch wirkt ebenso zun\u00e4chst jede energische, in einer bestimmten Richtung oder auf ein bestimmtes Ziel zu vorschreitende Bewegung: die m\u00e4chtig ausgreifenden Teile einer arbeitenden Maschine, der majest\u00e4tisch dahinrollende Strom, die gegen einen Felsen anst\u00fcrmende Brandung, die Rakete, der Springbrunnen, der begierig und unaufhaltsam abw\u00e4rts st\u00fcrzende Wasserfall. Ferner aber auch Unbewegtes: der dr\u00e4uende Fels, der g\u00e4hnende Abgrund.\nDie zweite Hauptmasse umfafst diejenigen Objekte, die nicht selbst in irgend einem Sinne seelische Zust\u00e4nde aus-dr\u00fccken, sondern nur durch ihre Beschaffenheit an sich geeignet sind, solche auszul\u00f6sen.\nHier scheint nun zun\u00e4chst der Fall der Ausl\u00f6sung eines Strebens ausgeschlossen werden zu m\u00fcssen. Was auf meinen seelischen Zustand ausschliefslich in dem Sinne einwirkt, dafs es ein Begehren wachruft, h\u00f6rt damit auf \u00e4sthetisches Objekt zu sein. Das auf ein Objekt gerichtete Streben in mir ist der Erhebung in die Sph\u00e4re des unpers\u00f6nlichen Scheines unf\u00e4hig. Wohl kann ein Objekt, das Begierden (Sinnlichkeit, Habsucht u. s. w.) wachruft, unter einem andern Gesichtspunkte, dem einer intellektuellen oder Gef\u00fchlssollicitation, ein \u00e4sthetisches Objekt werden, das ist aber nur durch Beiseiteschiebung, Eliminierung, Unterdr\u00fcckung der Begierde m\u00f6glich. Es bleiben also hier nur zwei Unterabteilungen.","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n175\nEin sehr umfassendes Gebiet ist hier das des intellektuell Sollicitierenden. Zu den intellektuellen Funktionen geh\u00f6rt zun\u00e4chst die passive, blofs erregungsm\u00e4fsige, aber allen weiteren seelischen Funktionen, nicht nur den intellektuellen zur Voraussetzung dienende Grundfunktion der Perzeption, des Bewufstwerdens. Wir m\u00fcssen nach unserer Voraussetzung auch dieser Grundfunktion eine \u00e4sthetische Lust zugesellen, und damit erweitert sich das Gebiet der \u00e4sthetischen Lust zur vollen Universalit\u00e4t im Bereiche des bewufsten Seelenlebens. Jedes Bewufstwerden ist von Lust begleitet. Freilich ist diese \u00e4sthetische Lust aus der blofsen Perzeption von schw\u00e4chster Intensit\u00e4t und wird nur f\u00fcr aufsergew\u00f6hnlich \u00e4sthetisch empf\u00e4ngliche Naturen \u00fcberhaupt bemerkbar werden. Ein Specimen solcher erh\u00f6hter \u00e4sthetischer Sensibilit\u00e4t, die fast \u00e4sthetische Hyper\u00e4sthesie genannt werden k\u00f6nnte, bietet das Gedicht in Leopold Schefers Laienbrevier:\nMit Ehrfurcht gr\u00fcfse jedes Menschenhaupt,\nDas in der Sonne dir entgegenwandelt.\nDer Dichter verlangt im weiteren Verlaufe, dafs auch die Rose gegr\u00fcfst werde und weiterhin (ich citiere nach dem Ged\u00e4chtnis): \u201eUnd wenn du willst, so gr\u00fcfse auch den Stein,\u201c wof\u00fcr als Grund angegeben wird: \u201eDenn er ist.\u201c Hier haben wir offenbar kein anderes, als das bis zur h\u00f6chsten Sensibilit\u00e4t gesteigerte \u00e4sthetische Interesse am esse-percipi, am blofsen Affiziertwerden des Bewufstseins durch das im \u00fcbrigen v\u00f6llig indifferente Objekt.\nVon den F\u00e4llen, wo das Objekt durch seine blofse Beschaffenheit eine aktive intellektuelle Funktion (intellektuelle Beth\u00e4tigung) herausfordert, nenne ich zun\u00e4chst diejenige Gruppe, wo die Perzeption eine unvollst\u00e4ndige, zur Erg\u00e4nzung anregende ist. In diesem Sinne erzeugen intellektuelle Beth\u00e4ti-gungslust z. B. das Fragment, der Torso, der zertr\u00fcmmerte Gegenstand, die fragmentarische und zweideutige Bezeichnung des Objekts im R\u00e4tsel. Hierher geh\u00f6rt ferner das Interesse an einem vor uns sich abspinnenden Vorg\u00e4nge oder Bericht, an einem gesch\u00fcrzten Knoten, soweit es ein blofs intellektuelles ist; die erg\u00e4nzende Phantasie, als der hier in Funktion tretende intellektuelle Faktor, wird gleichsam zur Mitarbeit an dem sich entwickelnden Vorg\u00e4nge wachgerufen.","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nA. D\u00f6ring.\nIn aufserordentlich mannigfaltiger Weise k\u00f6nnen Objekte die intellektuelle Funktion des Vergleichens anregen. Ich kann vergleichen ein Objekt mit einem andern, oder das Objekt mit mir oder mit einem anschaulichen Typus, einer Norm, die bereits ausgebildet in mir vorhanden ist. Ich kann quantitativ nach extensiver oder intensiver Gr\u00f6l'se vergleichen (die extensive kann wieder kontinuierliche, Raum- oder Zeitgr\u00f6fse, andrerseits diskrete oder Zahlgr\u00f6fse sein) ; ich kann qualitativ nach diesen oder jenen qualitativen Bez\u00fcgen vergleichen; ich kann universell nach der Gesamtheit der quantitativen und qualitativen Merkmale vergleichen. Selbstverst\u00e4ndlich kann die Funktion des Vergleichens ihren Charakter als lustvoll nur dann bis zu Ende aufrecht erhalten, wenn sie nicht resultatlos in der Schwebe bleibt, sondern zu einem formulierbaren Abschlufs gelangt. Das Verh\u00e4ltnis, das sich zwischen dem Verglichenen in der von der vergleichenden Th\u00e4tigkeit eingeschlagenen Richtung herausstellt, mufs ein gewisses Mafs von Deutlichkeit und Bestimmtheit haben. Dagegen ist es, wenigstens soweit nur die Lustwirkung der vergleichenden Funktion in Betracht kommt, gleichgiltig, ob das Resultat Gleichheit, vorwiegende \u00c4hnlichkeit, vorwiegende Un\u00e4hnlichkeit oder Kontrast ist, wenn nur ein gewisser Abschlufs erzielt wird. Einige besondere F\u00e4lle sind bei der Vergleichung mit mir selbst die Vorstellung der eigenen \u00dcberlegenheit oder der \u00dcberlegenheit des Objekts, bei der extensiven Vergleichung mit dem Typus oder mit mir selbst die Vorstellung der abnormen Gr\u00f6fse oder Kleinheit (der Riese, Zwerg, das Kind), bei der universellen Vergleichung mit dem Typus die Vorstellung der Normalit\u00e4t oder \u00dcbereinstimmung mit dem Typus oder Ideal, die der partiellen Eigenartigkeit als Abweichung vom Typus oder das Charakteristische, die der v\u00f6lligen Abnormit\u00e4t u. s. w.\nZur Funktion der Vergleichung geh\u00f6rt auch die Lust aus der Erkennung des k\u00fcnstlerischen Abbildes im Verh\u00e4ltnis zum Original, in der f\u00fcr die rohe Kunstbetrachtung des grofsen Haufens, falls nicht noch ein materiales Interesse am Dargestellten hinzutritt, meist die ganze \u00e4sthetische Wirkung des Kunstwerks aufgeht. Es ist ein seltsames Mifsgeschick, dafs Aristoteles durch eine, wenigstens in unserem verst\u00fcmmelten Texte der Poetik, ohne Einschr\u00e4nkung dastehende Betonung gerade dieser intellektuellen Lustwirkung der Kunst fast der","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n177\nganzen nachfolgenden \u00c4sthetik und Kunst\u00fcbung die ungl\u00fcckliche Vorstellung eingeimpft hat, als ob diese Lust aus der Nachahmung des Wirklichen die ganze Bedeutung der Kunst ersch\u00f6pfe. Im Gegens\u00e4tze zu dieser scheinbaren Einseitigkeit in der Formulierung des Kunstzieles aber zeigt Aristoteles schon durch seine Theorie der Gef\u00fchlssollicitation durch das Tragische, dafs er umfassendere und h\u00f6here Gesichtspunkte f\u00fcr die \u00e4sthetische Lustwirkung besitzt.\nAuch das Verh\u00e4ltnis der Teile des Objekts zu einander fordert die Funktion des Vergleichens heraus. Hier ist, soweit nur die Funktion des Vergleichens in Betracht kommt, das Resultat gleichg\u00fcltig, wenn nur \u00fcberhaupt ein Resultat m\u00f6glich ist.\nNun kommt aber, wo es sich um ein einheitliches Objekt oder doch um eine als Einheit vorstellbare Mehrheit handelt, aufser der Tendenz zum Vergleichen noch eine andere intellektuelle Funktion in Betracht. Der Verstand hat das Verm\u00f6gen und zugleich das Streben, eine sich darbietende Mannigfaltigkeit zur Einheit zusammenzufassen. Weder das absolut Einf\u00f6rmige, d. h. der Mannigfaltigkeit Entbehrende, noch das in rein disparater Mannigfaltigkeit Auseinanderfallende bietet diesem Verm\u00f6gen Gelegenheit zur Beth\u00e4tigung. Einheit in der Mannigfaltigkeit hat vielfach geradezu f\u00fcr die das Wesen des Sch\u00f6nen ersch\u00f6pfende Formel gegolten; jedenfalls beruht auf der Anregung der intellektuellen Einheitsfunktion durch ein Mannigfaltiges in vielen F\u00e4llen die \u00e4sthetische Lust. Auf ihm beruht z. B. das Wohlgef\u00e4llige der Symmetrie. Es gibt eine Symmetrie der Dimensionen, ferner eine numerische Symmetrie der Teile in Verbindung mit Symmetrie der Anordnung. Im letzteren Falle findet die Einheitsbeziehung ihren Ausdruck im Vorhandensein eines Mittelpunktes, von dem aus die Anordnung bestimmt wird. Beispiele: die symmetrische Anordnung von Fenstern, Baugliedern, Dekorationen an einem Geb\u00e4ude, die quirlf\u00f6rmige Anordnung der Zweige eines Baumes. Unter Umst\u00e4nden kann die Symmetrie auch mifsf\u00e4llig wirken, indem bei v\u00f6lliger \u00dcbersichtlichkeit das Moment der Einheit gegen das der Mannigfaltigkeit zu sehr in den Vordergrund tritt und so Einf\u00f6rmigkeit und unzureichende Besch\u00e4ftigung der intellektuellen Einheitsfunktion entsteht.\nVom Gesichtspunkte der Einheit in der Mannigfaltigkeit aus scheinen auch die Resultate der FECHNERschen Experimente","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nA. D\u00f6ring.\nmit dem goldenen Schnitt und anderen linearen Verh\u00e4ltnissen ihre Erkl\u00e4rung zu finden. Den geringsten Beifall fanden bei seinen Beurteilem einesteils die einer instinktiven Verh\u00e4ltnisbestimmung am wenigsten zug\u00e4nglichen komplizierteren L\u00e4ngenverh\u00e4ltnisse, andernteils die v\u00f6llige Gleichheit, wie bei den Seiten des Quadrats. Eine ausschliefsliche Bevorzugung gerade des goldenen Schnittes als solchen hat sich ebenfalls nicht ergeben. Vielmehr verteilt sich die Bevorzugung auf die Gesamtheit der dem Verh\u00e4ltnis von 2:3 sich ann\u00e4hernden Verh\u00e4ltnisse, Das Verh\u00e4ltnis von 2:3 ist aber doch wohl der einfachste Ausdruck der Einheit im Mannigfaltigen auf dem Gebiete der L\u00e4ngendimension.\nWohlgef\u00e4llig ist ferner ein Objekt, das der intellektuellen Funktion der kausalen Erkl\u00e4rung, der Verkn\u00fcpfung von Ursache und Wirkung, Beth\u00e4tigung gew\u00e4hrt. Hier sind drei F\u00e4lle m\u00f6glich. Es k\u00f6nnen Ursache und Wirkung gegeben sein (der Blitz zerschmettert einen Baum, der zerst\u00f6rende Anprall eines stark bewegten Gegenstandes); es kann nur die Wirkung gegeben sein, die Ursache wird hinzugedacht (Gletscherschliffe, vom Wasser gegrabene Rinnsale im Wege, die H\u00f6hlung unter der Dachtraufe, die Porosit\u00e4t feuerfl\u00fcssig gewesener Mineralien, die Spuren der Gesch\u00fctzwirkung) ; es kann endlich nur die Ursache in der Wahrnehmung gegeben sein, w\u00e4hrend die Wirkung erst abgewartet oder erforscht werden mufs, in Gedanken aber anticipiert wird (das Schiefsen nach der Scheibe, der ferne Blitz oder das Aufblitzen eines Schusses, wo die Geh\u00f6rwirkung erwartet wird).\nVon entschiedener Lustwirkung ist die Ausl\u00f6sung der Verkn\u00fcpfung von Mittel und Zweck, die anschaulich hervortretende Zweckm\u00e4fsigkeit. Hierauf beruht zu einem wesentlichen Teile die Sch\u00f6nheit des h\u00f6heren tierischen Organismus und die (von Schopenhauer bestrittene) Berechtigung der Bezeichnung des sch\u00f6nen Geschlechts. Der Naturzweck des Weibes ist einesteils einheitlicher, als der des Mannes, andernteils f\u00fcr die instinktive Erkenntnis mit in die Augen springender Deutlichkeit markiert. Im Sinne des Eindruckes bewufster Zweck-th\u00e4tigkeit wirkt ferner schon der Eindruck des freien Schaltens menschlicher Willk\u00fcr in der Gestaltung eines Objekts (z. B. eines Geb\u00e4udes) auch auf Kosten der Symmetrie und selbst wenn wir dabei einen Zweck nur vermuten, wohlgef\u00e4llig.","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n179\nAuf der Vorstellung der Zwecfem\u00e4fsigkeit beruht auch die Wohlgef\u00e4lligkeit der Pr oportioniertheit. In einem zusammengesetzten Ganzen, das einer Mehrheit von Zwecken dienen soll, kann der einzelne Teil nur dasjenige Gr\u00f6fsenmafs beanspruchen, das der verh\u00e4ltnism\u00e4fsigen Bedeutung seiner Funktion entspricht. In diesem Sinne erscheint ein wagerechter, ziemlich weit vorspringender M\u00fctzenschirm und der R\u00fcssel des Elefanten wohlgef\u00e4llig, eine Riesennase, \u00fcberm\u00e4fsig lange Arme oder Beine, \u00fcbergro\u00dfe H\u00e4nde oder F\u00fcfse, Ohren etc. mifsfallig. Der Hals und die Beine der Giraffe erscheinen uns nur deshalb unproportioniert, weil wir die gewohnten, nicht die uns fremden Lebensbedingungen des Tieres als Mafsstab anlegen. \u2014\nGef\u00fchle werden ausgel\u00f6st von solchen nicht selbst Gef\u00fchle ausdr\u00fcckenden Objekten, die als bestimmend f\u00fcr das Wohl und Wehe f\u00fchlender Wesen, insbesondere des Menschen, als Schicksalsm\u00e4chte, oder doch als Attribute und Werkzeuge einer Schicksalsmacht aufgefafst werden. Hierher geh\u00f6rt in erster Linie die waltende Matur in ihren mannigfachen Gestaltungen, sofern sie nach ihrer Bedeutung f\u00fcr das menschliche Wohl und Wehe ins Auge gefafst wird, bis herab zum Stillleben; ferner die pers\u00f6nliche Schicksalsmacht, im Grofsen als Gottheit, Heros, geschichtliche Gr\u00f6fse, aber auch in bescheidnerem Umfange als ausgepr\u00e4gte Pers\u00f6nlichkeit \u00fcberhaupt, wie sie uns z. B. das Portr\u00e4t vor Augen stellt. Andern-teils Embleme und Vorg\u00e4nge aller Art, die an Schicksalsver-h\u00e4ltnisse erinnern, wie Waffen, das Grab, der Leichenzug u. s. w.\nDie dritte Hauptmasse des \u00e4sthetisch Wirksamen wurde durch diejenigen Objekte gebildet, die zugleich durch ihre Beschaffenheit und sympathisch seelische Funktionen ausl\u00f6sen. Ein solches Zusammensein ist nur dadurch m\u00f6glich, dafs das Objekt nicht selbst eine Schicksalsmacht, sondern ein von der Schicksalsmacht im guten oder schlimmen Sinne Affiziertes, in einer Schicksals l\u00e4ge Befindliches ist und zugleich dieser Affi-ziertheit den entsprechenden Ausdruck verleiht. Es wirkt so sowohl durch seine zust\u00e4ndliche Beschaffenheit, die Schicksalslage, als auch sympathisch durch den hinzutretenden Ausdruck. Durch Beides, die Schicksalslage wie den Gef\u00fchlsreflex derselben, werden aber von den drei Arten der seelischen Funktionen endg\u00fcltig nur die Gef\u00fchle ausgel\u00f6st, es fehlen daher in diesem dritten Hauptteil die beiden andern psychologischen","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nA. D\u00f6ring.\nSubdivisionen. Dagegen tritt hier wieder eine der Unterscheidung des Symptomatischen und Analogisch - Symptomatischen entsprechende Zweiteilung hervor. Die sich sympathisch ausdr\u00fcckende Schicksalslage kann entweder eine wirkliche, d. h. f\u00fchlenden Wesen anhaftende, oder eine nur durch leihende Hineintragung analogisch vorgestellte sein. In ersterer Hinsicht ergiebt sich hier nach der Seite der gl\u00fccklichen Schicksalslage das Idyllische, nach der Seite der ungl\u00fccklichen sowohl das Komische, wie das Tragische, in letzterer diejenige Besonderheit des Landschaftlichen, bei der nicht f\u00fchlende Naturobjekte als von segensreichen oder sch\u00e4digenden Kr\u00e4ften affiziert und dieser Affiziertheit auch den entsprechenden Ausdruck verleihend analogisch aufgefafst werden.\nNach der an die Spitze dieses Abschnitts gestellten Zweiteilung bleiben jetzt noch die \u00e4sthetischen Unlustgef\u00fchle und ihr Korrelat, das H\u00e4fsliche, zu betrachten. Wir k\u00f6nnen uns hier k\u00fcrzer fassen.\nDas n\u00e4chste und unmittelbarste Gegenst\u00fcck des Sch\u00f6nen ist das \u00e4sthetisch Gleichg\u00fcltige, das nach unsern Voraussetzungen mit dem keine seelischen Funktionen Ausl\u00f6senden und daher auch keine \u00e4sthetische Lust Erzeugenden zusammenf\u00e4llt. Ein absolut \u00e4sthetisch Gleichg\u00fcltiges giebt es nach den vorhergehenden Ausf\u00fchrungen nicht, soweit wenigstens noch irgend eine Perzeption stattfindet. Ann\u00e4herung an das absolut \u00e4sthetisch Gleichg\u00fcltige findet da statt, wo die Anregung zu seehschen Funktionen, ja zur elementarsten Funktion der Perzeption, auf ein Minimum reduziert ist. Es ist das \u00d6de, Finstre, Stille, absolut Einf\u00f6rmige. Kelativ \u00e4sthetisch gleichg\u00fcltig w\u00e4re das, das f\u00fcr die einzelnen, bestimmten, besonderen seelischen Funktionen keinen Ertrag liefert; es gliedert und vermannig-faltigt sich nach demselben Schema, nach dem wir das Sch\u00f6ne abgehandelt haben.\nDamit das \u00e4sthetisch Gleichg\u00fcltige zum H\u00e4fslichen werde, d. h. \u00e4sthetisehe Unlust erzeuge, mufs das Regesein des Funktionsbed\u00fcrfnisses und die berechtigte Erwartung einer seelichen Sollicitation als Vorbedingung hinzutreten. Die Unlust des H\u00e4fslichen ist die Unlust der Entt\u00e4uschung des Funktionsbed\u00fcrfnisses und der berechtigten Funktionserwartung. Es giebt hiernach auch kein absolut H\u00e4fsfiches, sondern nur Ann\u00e4herung an dasselbe. Arten des relativ H\u00e4fslichen giebt","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n181\nes so viele, wie es Arten des Sch\u00f6nen giebt. Jedes relativ H\u00e4fsliche, d. h. in der gerade erwarteten Richtung die Erwartung T\u00e4uschende, mag in anderen Beziehungen sch\u00f6n sein, das wird ihm aber ebensowenig zu gute geschrieben, wie es dem in einer bestimmten, gerade an dieser Stelle zu erwartenden Richtung Sch\u00f6nen Abbruch thut, dafs es in anderen Beziehungen kein Sch\u00f6nes ist. Und das mit Recht, sofern die Ausl\u00f6sung gerade derjenigen seelichen Funktion ausbleibt, deren Eintreten wir zu erwarten berechtigt waren. In diesem Sinne ist z. B. das erscheinende Zweckwidrige oder das blofs Unsymmetrische immer h\u00e4fslich. Doch kann man wegen der Unm\u00f6glichkeit eines absolut H\u00e4fslichen sagen, dafs sich in gewissem Sinne das Paradoxon bewahrheitet : Sch\u00f6n ist h\u00e4fslich, h\u00e4fslich sch\u00f6n. Ja man k\u00f6nnte in der Paradoxie noch ein St\u00fcck weiter gehen und behaupten, dais ja das relativ H\u00e4fsliche, indem es gerade durch sein Zur\u00fcckbleiben hinter bestimmten Erwartungen doch auch wieder intellektuelle Funktionen ausl\u00f6st, eben dadurch auch wieder die aus diesen seelischen Funktionen entspringende \u00e4sthetische Lust erzeuge, und dafs sich somit das scherzhafte Oxymoron bew\u00e4hre, es k\u00f6nne etwas durch seine H\u00e4fslichkeit sch\u00f6n sein. Vielleicht beruht auf diesem Zusammenh\u00e4nge teilweise die Verwendung des H\u00e4fslichen in der Kunst, welche Verwendung freilich andernteils in der Kontrastwirkung ihre Begr\u00fcndung findet, die das H\u00e4fsliche als aufgehobenes Moment im Sch\u00f6nen \u00fcbt.\nDie einzelnen Arten des H\u00e4fslichen entsprechen den einzelnen Kategorien des Sch\u00f6nen und sind daraus mit Leichtigkeit abzuleiten; es bedarf also f\u00fcr unseren Zweck, so interessant auch die Durchf\u00fchrung der Gliederung des H\u00e4fslichen an sich sein mag, einer besonderen Detaillierung nicht.\nZum Schl\u00fcsse dieses Abschnittes stelle ich die etwas komplizierte Einteilung des \u00e4sthetisch Wirksamen ihren Grundz\u00fcgen nach in einer \u00dcbersichtstafel zusammen.\nDas \u00e4sthetisch Lustvolle.\nA. Das sympathisch Wirkende.\nI. Allgemein seelische Sollicitation:\n1.\tsymptomatisch,\n2.\tanalogisch-symptomatisch.","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nA.\tD\u00f6ring.\nII.\tIntellektuelle Sollicitation:\n1.\tsymptomatisch,\n2.\tanalogisch-symptomatisch.\nIII.\tGef\u00fchlssollicitation:\n1.\tsymptomatisch,\n2.\tanalogisch-symptomatisch.\nIV.\tSollicitation des Strebens:\n1.\tsymptomatisch,\n2.\tanalogisch-symptomatisch.\nB.\tDas nur durch die Beschaffenheit des Objekts Wirkende.\nI. Intellektuelle Sollicitation.\nII. G-ef\u00fchlssollicitation.\nC.\tDas durch die Beschaffenheit des Objekts und sympathisch Wirkende.\nGef\u00fchlssollicitation\n1.\tdurch reales Vorhandensein beider Faktoren,\n2.\tanalogisch.\nDas \u00e4sthetisch Gleichg\u00fcltige und Unlustvolle.\nEinteilung nach denselben Kategorien.\nIII.\nWir haben somit in allerdings nur fl\u00fcchtigen Schritten und ohne Anspruch auf Vollst\u00e4ndigkeit das Gebiet des \u00e4sthetisch Wirksamen durchmessen. Wenn auch nach Lage der Sache der vollst\u00e4ndig ersch\u00f6pfende Beweis des Zutreffens unsrer Definition damit nicht erbracht ist, so d\u00fcrfte doch ein starker und nachhaltiger Eindruck von der pr\u00e4rogativen Berechtigung der aufgestellten Hypothese erzielt worden sein. Es er\u00fcbrigt noch, zwei Gesichtspunkte, die f\u00fcr die vollst\u00e4ndige Durchf\u00fchrung einer \u00c4sthetik vom Prinzip der Sollicitation aus von besonderer Bedeutung sind, wenigstens fl\u00fcchtig anzudeuten.\nErstens entsteht die Frage, wie sich unter der Herrschaft dieses Prinzips die Grenzbestimmung des selbst\u00e4ndigen Sch\u00f6nen, speziell des bedeutsamsten Hauptteils desselben, der eigentlichen Kunst, gegen das anh\u00e4ngende Sch\u00f6ne gestaltet. Diese Grenzbestimmung ist ja im Prinzip durch den Gegensatz des Anh\u00e4ngenden und Selbst\u00e4ndigen gegeben. Das anh\u00e4ngende Sch\u00f6ne ist das Sch\u00f6ne an einem Objekt, das \u2014 auch f\u00fcr die \u00e4sthetische Betrachtung \u2014 nicht v\u00f6llig im \u00e4sthetischen Zwecke, der Ausl\u00f6sung seelischer Punktionen, aufgeht, sondern die noch","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n183\nanderweitige Bedeutung seines Daseins auch der unpers\u00f6nlichen Intuition unabweisbar aufdr\u00e4ngt. So beim Bauwerk und den verzierten und k\u00fcnstlerisch gestalteten Ger\u00e4ten des Kunsthandwerks. Es mufs jedoch eine wichtige Konsequenz aus dieser prinzipiellen Bestimmung noch ausdr\u00fccklich hervorgehoben werden. Es ist n\u00e4mlich, was freilich f\u00fcr jetzt nicht weiter ausgef\u00fchrt werden kann, nur bei dem das Gef\u00fchl Sollicitie-renden, nicht auch bei dem die beiden \u00fcbrigen Seelenverm\u00f6gen Anregenden, die M\u00f6glichkeit vorhanden, restlos als dem \u00e4sthetischen Zwecke dienend, also als selbst\u00e4ndig Sch\u00f6nes, aufzutreten. Daraus folgt, dafs das selbst\u00e4ndige Sch\u00f6ne und speziell die eigentliche Kunst nur im Gebiete des das Gef\u00fchl Sollicitierenden gefunden werden kann. Ein Kunstwerk ist ein Erzeugnis menschlicher Th\u00e4tigkeit, das keinem anderen Zwecke dient, als Gef\u00fchle zu erregen.\nDaraus ergiebt sich ferner auch die Grundeinteilung des selbst\u00e4ndigen Sch\u00f6nen. Wir fanden die Gef\u00fchlssollicitation in jedem der drei Hauptgebiete. Das Gef\u00fchl konnte sympathisch erregt werden und zwar sowohl symptomatisch, wie analogisch-symptomatisch: hier haben wir das lyrische Sch\u00f6ne. Das Gef\u00fchl konnte durch die blolse Beschaffenheit der Objekte sollicitiert werden, sofern diese Schicksalsm\u00e4chte darstellten oder an solche erinnerten; hier haben wir das plastische Sch\u00f6ne. Es konnte endlich sollicitiert werden durch Objekte, die eine Schicksalslage samt dem entsprechenden Gef\u00fchlsausdruck darstellten: hier haben wir das episch-dramatische Sch\u00f6ne.\nEs mufs bei dieser Dreiteilung jedoch dem Mifsverst\u00e4ndnis entgegengetreten werden, als sollte mit derselben ein Zusammenfallen dieser drei Arten des selbst\u00e4ndigen Sch\u00f6nen mit der Lyrik, der bildenden Kunst und der episch-dramatischen Poesie behauptet werden. Wo bliebe da die Musik? Und wie enge w\u00e4re damit das Gebiet der bildenden Kunst begrenzt! Die Sache verh\u00e4lt sich so : die lyrsiche Kunst umfafst allerdings die gesamte Lyrik, aufserdem aber auch den gr\u00f6fsten Teil der Musik, soweit diese rein und ausschliefslich sympathisch wirkt, womit nicht ausgeschlossen ist, dafs es nicht auch eine episch-dramatische und vielleicht sogar eine plastische Musik gibt, endlich auch Elemente der bildenden Kunst, n\u00e4mlich einen Teil der Landschaft. Die bildenden K\u00fcnste k\u00f6nnen nicht nur plastisch, sondern auch lyrisch und episch-dramatisch auftreten ; die episch-","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nA. D\u00f6ring.\ndramatische Kunst umfafst aufser Epos und Drama auch Bestandteile der bildenden Kunst und der Musik. Jene Benennung der drei Hauptarten ist also nur eine Benennung a potiori und nach der charakteristischen Art der \u00e4sthetischen Wirkung, der sympathischen, objektiven und objektiv-sympathischen. \u2014\nDer andere Punkt ist folgender. Man kann gegen meine Bestimmung des \u00e4sthetisch Wirksamen den Vorwurf erheben, sie entw\u00fcrdige das Sch\u00f6ne und die Kunst, indem sie ihr eine so gleichgiltige Aufgabe, wie die blofse Besch\u00e4ftigung der seelischen Verm\u00f6gen, also die Vertreibung der Langeweile, zuweise. Ich k\u00f6nnte darauf erwidern: Ist etwa die Befriedigung eines menschlichen Grundbed\u00fcrfnisses eine gleichgiltige Aufgabe? Ist vielleicht die blofse Naturnachahmung oder die Auffassung und Nachbildung der in der Wirklichkeit realisierten \u201eIdeen\u201c oder die Flucht aus der gemeinen Wirklichkeit in eine Welt der Ideale \u2014 um nur einige der bekanntesten Theorien \u00fcber den Zweck der Kunst anzuf\u00fchren \u2014 eine wichtigere und w\u00fcrdigere Aufgabe? Die Verteidigung meiner Auffassung des Sch\u00f6nen kann aber doch noch auf eine wirksamere Weise gef\u00fchrt werden. Es tritt n\u00e4mlich hier der Begriff\u201c des Stils erg\u00e4nzend ein. Dieser Begriff ist nach meiner Auffassung von so fundamentaler Bedeutung f\u00fcr die \u00c4sthetik, dafs ihm geradezu neben dem ersten Hauptteil, der von den \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen oder vom Sch\u00f6nen handelt, ein zweiter koordinierter und ebenb\u00fcrtiger Teil der \u00c4sthetik gewidmet werden mufs.\nDer Begriff des Stils ist noch nicht hinl\u00e4nglich fixiert. Der Gegensatz der idealisierenden und der realistischen, auf Naturwahrheit ausgehenden Kunst hat nur indirekt durch die Affinit\u00e4t des einen oder andern seiner Glieder zum einen oder andern Stil mit diesem Begriffe zu thun. Vergegenw\u00e4rtigen wir uns die historische Aufeinanderfolge der Stilarten in der antiken sowohl wie in der christlichen Welt, denken wir daran, dafs es ebenso wie f\u00fcr ganze Zeitalter auch f\u00fcr Nationen und Individuen Stilunterschiede und Stilgegens\u00e4tze gibt, so mufs schon daraus erhellen, dafs das Wesen des Stils nicht in den kleinen \u00c4ufserlichkeiten und Einzelheiten, die an der Oberfl\u00e4che die Stilarten kenntlich machen, aufgeht, sondern dafs der Stil mit den tiefsten Bez\u00fcgen und Wandlungen des Kulturlebens zusammenh\u00e4ngt. Meiner \u00dcberzeugung nach, zu deren Begr\u00fcndung hier nicht mehr der Raum ist, beruht das innerste Ge-","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n185\nheimnis des Stils auf der Stellung des oder der Produzierenden zu den G\u00fctern des Lebens, auf dem Werturteil, das sie f\u00e4llen, auf dem Gl\u00fcckseligkeitsideal, dem sie anh\u00e4ngen. Daraus entspringen aucb die wahren und wesentlichen Stilunterschiede, die in den historischen, nationalen und individuellen Unterschieden nur ihre mehr oder minder deutlichen Beflexe finden. Es gibt nach dem wahren Wesen des Stils einen hedonistischen Stil, der auf der ausschliefslichen Sch\u00e4tzung des sinnlich Angenehmen beruht (Rokoko), einen universaleud\u00e4monistischen Stil mit dem Motto: ,Nihil humani a me alienum puto\u2018 und mit zahlreichen Abarten, je nachdem besondere Arten von Lebensg\u00fctern oder \u201eIdealen\u201c (dies Wort im Sinne des ScHiLLERschen Gedichts \u201eDie Ideale\u201c genommen) eine stark bevorzugte Sch\u00e4tzung empfangen (Renaissance und Barock als Ausdruck vorwiegender Sch\u00e4tzung edlerer G\u00fcter und Freuden), einen transcendenten Stil, der das Gl\u00fcck erst in einer jenseitigen besseren Welt erwartet (das Nazarenertum), einen pessimistischen, weltschmerzlichen Stil, der die Lehre predigt, dafs es \u00fcberhaupt keine G\u00fcter gibt (hierher geh\u00f6rt grofsenteils der heutige extreme \u201eRealismus\u201c); es giebt endlich, oder k\u00f6nnte doch geben, einen exklusiveud\u00e4monistischen Stil, der in einem einzigen summum bonum die wahre L\u00f6sung der Gl\u00fcckseligkeitsfrage findet, mit so mancherlei Abarten, als es Bestimmungen des summum bonum geben kann. (F\u00fcr das genauere Verst\u00e4ndnis mehrerer der hier gebrauchten Termini mufs ich auch hier wieder auf meine \u201ePhilosophische G\u00fcterlehre\u201c verweisen.)\nNach diesen Voraussetzungen gibt der Stil die eigentliche Beichte und Konfession des K\u00fcnstlers: le style c\u2019est Fhomme; nach ihnen ist es der Stil, verm\u00f6ge dessen die Kunst \u201eder Spiegel und die abgek\u00fcrzte Chronik des Zeitalters\u201c ist; nach ihnen kann durch den Stil der K\u00fcnstler Prediger und Prophet, nicht einer besseren Moral, was nicht Sache der Kunst ist, aber einer berechtigteren G\u00fctersch\u00e4tzung werden, im Sinne der Forderung des Aristoteles, dafs die Kunst So d m g %uCqeiv, Sodolc yth\u00fcv xul [m\u00f6sTv, d. h. richtig sch\u00e4tzen lehren solle, und im Sinne der SchillERschen Mahnung an die K\u00fcnstler:\nDer Menschheit W\u00fcrde ist in eure Hand gegeben,\nBewahret sie!\nSie sinkt mit euch, mit euch wird sie sich heben!","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nA. D\u00f6ring.\nDarin also liegt die wahre Rechtfertigung des Sch\u00f6nen und der Kunst: die Wirkung auf die seelischen Verm\u00f6gen ist nur das universell wirksame Hilfsmittel und Vehikel, dadurch die fundamentale Stellung des Menschen zu den G\u00fctern des Lebens und so indirekt allerdings auch die Richtung ihres Strebens bestimmt wird. Wo hhi keine Philosophie und keine Predigt dringt, da ist die Kunst am Werke, depra vierend und erniedrigend oder erhebend und veredelnd.","page":186}],"identifier":"lit14196","issued":"1890","language":"de","pages":"161-186","startpages":"161","title":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:15:23.718157+00:00"}