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{"created":"2022-01-31T16:17:13.213217+00:00","id":"lit14201","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lipps, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1: 252-299","fulltext":[{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\nVon\nTh. Lipps.\nI. Einleitung.\nAssociationen und Associationspsychologie.\nDie folgende Untersuchung will die Kausalit\u00e4t auf Association, das Kausalgesetz auf das Associationsgesetz zur\u00fcckf\u00fchren. Es ist kein neues Problem, uni das es sich dabei handelt. Man wird es darum begreiflich finden, wenn ich auch schon Gesagtes und Bekanntes ber\u00fchre oder wiederhole. Nicht Bekanntes, wohl aber schon Gesagtes werde ich zu wiederholen haben, insofern ich das Haupts\u00e4chlichste von dem, was ich hier Vorbringen will, seihst schon bei anderer Gelegenheit anzudeuten versucht habe.1\nEine allgemeine Bemerkung schicke ich voraus. Associationen sind jetzt Gegenstand gewohnheitsm\u00e4fsigen Mifstrauens. Dies Mifstrauen bitte ich f\u00fcr einen Augenblick ruhen zu lassen. Die ganze Richtung in der Psychologie, die man mit dem Namen der Associationspsychologie beehrt, hat mit Vorurteilen zu k\u00e4mpfen. Gewifs tragen daran Associationspsychologen ihren Teil der Schuld. Recht unzureichende, vielleicht kindliche Vorstellungen vom Wesen der Association und dem m\u00f6glichen Sinn der Associationspsychologie m\u00f6gen sich bei ihnen finden. Daf\u00fcr ist aber doch nicht ohne weiteres die Associationspsychologie als solche verantwortlich zu machen.\nSo liegt es durchaus nicht im Wesen der Associationspsychologie, dafs sie \u201edie Verkn\u00fcpfungen der Vorstellungen lediglich f\u00fcr mechanische Wirkungen ihrer Elemente h\u00e4lt\u201c. Zun\u00e4chst h\u00e4tte es einigen Wert zu erfahren, was f\u00fcr einen\n1 Vgl. meine \u201e Grunclthatsachen des Seelenlebens\u201c in den erkenntnistheoretischen Kapiteln.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n253\nBegriff man eigentlich in der Psychologie mit dem Worte \u201emechanisch\u201c verbindet, oder worin dies \u201emechanisch\u201c seinen Gegensatz hat. Aber auch abgesehen davon w\u00fcfste ich f\u00fcr mein Teil mit jenem Satze wenig anzufangen. Das einheitliche Wesen des Geistes oder der Seele \u2014 worin immer dieses Wesen, an sich betrachtet, bestehen mag \u2014 ist gewifs der letzte Grund und eigentliche Tr\u00e4ger alles seelischen Geschehens. Vorstellungen sind nicht selbst\u00e4ndige Wesen, die sich in der Seele als ihrem \u201epassiven Schauplatz\u201c nach ihren eigenen Gesetzen tummelten, sondern sie sind Th\u00e4tigkeiten, Erscheinungsweisen der Seele selbst. Sie sind, was sie sind, soviel wir irgend wissen, nur in dem einheitlichen Zusammenhang des seelischen Lebens. Sie sind nichts, blofsej Abstraktionen, wenn wir sie isolieren und aus diesem Zusammenhang herausreifsen. Dies hindert doch nicht, dafs die Psychologie diese Isolierung vollbringen, d. h. die Vorstellungen zun\u00e4chst f\u00fcr sich betrachten mufs. Sie darf auch und mufs den einzelnen Vorstellungen Kr\u00e4fte und Kraftwirkungen zuschreiben. Sie weifs darum doch, dafs diese Kr\u00e4fte und Kraftwirkungen nichts sind aufserhalb der Seele und ihres Zusammenhanges. Sie sind die Kraft und Th\u00e4tigkeit der Seele selbst, wie sie sich an einer bestimmten Stelle des seelischen Lebenszusammenhanges oder in einer bestimmten, n\u00e4mlich der durch die einzelnen Vorstellungen bezeichneten Richtung offenbart.\nMit dieser Notwendigkeit, in der Betrachtung zu isolieren, was in solcher Isolierung nicht existiert, steht die Psychologie ja auch nicht vereinzelt. Jeder Wissenschaft, die auf Erkenntnis der Wirklichkeit gerichtet ist, stellt sich zun\u00e4chst das Einzelne als solches dar, und jede sieht Kr\u00e4fte und Kraftwirkungen zun\u00e4chst an das Einzelne gebunden. Damit leugnet sie doch nicht, dafs das Einzelne nur als Moment in einem umfassenderen oder weniger umfassenden Zusammenhang das zu leisten pflegt, was es leistet. Und gewifs geh\u00f6rt dann jedesmal diesem Zusammenhang die Kraft oder Kraftwirkung in Wahrheit an. Er ist ihr wahrer \u201eTr\u00e4ger\u201c. Er ist zugleich, sofern er als Ganzes und nur als Ganzes ihr Tr\u00e4ger ist, mit R\u00fccksicht auf sie eine ungeteilte und unteilbare Einheit. Er ist im Vergleiche mit der Einzelerscheinung und der an sie gebundenen Kraft und Kraftwirkung sachlich das Fr\u00fchere und Erste. Aber so sehr er sachlich das Erste ist, so gewifs ist er wissenschaftlich nicht das Erste, sondern das Ziel. Die Wissenschaft sucht den\n17*","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nTh. Lipps.\nZusammenhang erst zu gewinnen, und sie gewinnt ihn gewifs nicht anders als auf Grund der Erkenntnis des Einzelnen und seiner Gesetzm\u00e4fsigkeit. In der Gesetzm\u00e4fsigkeit, der das Einzelne unterliegt, offenbart sich eben der Zusammenhang und die das Einzelne und seine Kraft tragende Einheit.\nSo kann auch keine Kede davon sein, dafs irgendwelche erst f\u00fcr sich existierende Vorstellungen aus eigener Macht associative Beziehungen kn\u00fcpften. So gewifs Vorstellungen, soweit n\u00e4mlich wir wissen, nur aus der Einheit des Geistes heraus enstehen, so gewifs stehen sie von vornherein unter den Bedingungen dieser Einheit. Und von dieser Einheit giebt eben die Association Zeugnis. Nicht Vorstellungen verkn\u00fcpfen sich und erzeugen die Einheit des Geistes, sondern die Einheit des Geistes, die der Grund ist ihres Daseins, stellt sich in ihrer Verkn\u00fcpfung dar. Die Association sagt gar nichts anderes, als dafs Vorstellungen nicht selbst\u00e4ndig existieren, sondern in ihrem Dasein bedingt sind, dafs sie sich verwirklichen auf Grund von Zusammenh\u00e4ngen, dafs sie in solchen Zusammenh\u00e4ngen ihre einheitlichen Tr\u00e4ger haben. Diese Zusammenh\u00e4nge oder ihre Elemente sind dann wiederum bedingt durch weitere Zusammenh\u00e4nge und haben darin ihre einheitlichen Tr\u00e4ger. So erscheint eben in der Thatsache der Association jedes Element des seelischen Lebens als Moment in weiteren und weiteren Einheiten und schliefslich in der alles umfassenden Einheit des Geistes oder der Pers\u00f6nlichkeit. Je unmittelbarer und enger ein seelisches Geschehen in den ganzen Zusammenhang des seelischen Lebens verflochten ist, um so unmittelbarer und vollst\u00e4ndiger beth\u00e4tigt sich in ihm das ganze Wesen des Geistes, seine allgemeine Natur oder seine individuelle Eigenart. Die Associationen sind der Ausdruck oder die unmittelbare Beth\u00e4tigung der Einheit des Geistes, also das volle Gegenteil eines \u201eMechanismus\u201c, zu dem sich der Geist passiv verhielte.\nAber freilich, es scheint schwer, dieser letzteren Vorstellungsweise zu entsagen. Ich lasse dahingestellt, wie weit Associationspsychologen an ihr h\u00e4ngen. Gewifs ist, dafs manche ihrer Gegner sich derselben schuldig machen. Immer wieder begegnen wir dem seltsamen Begriff eines Geistes, der sich zu seinen eigenen Th\u00e4tigkeiten passiv oder als unth\u00e4tiger Zuschauer verhielte. Man leugnet nicht, sondern behauptet die vorstellende \u201eTh\u00e4tigkeit\u201c der Seele. Zugleich findet man doch kein Arg","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n255\ndarin, die Seele in dem gesetzm\u00e4fsigen Zusammenhang und Nacheinander der Akte dieser Th\u00e4tigkeit passiv oder unth\u00e4tig sein zu lassen. Als ob in der Art des Zusammenhanges der Akte eines th\u00e4tigen \"Wesens nicht erst recht die einheitliche Natur des Wesens sich beth\u00e4tigen m\u00fcsse.\nH\u00e4lt man aber an jener sich selbst widersprechenden Vorstellung fest, dann mufs man am Ende sich gen\u00f6tigt sehen, den begangenen Fehler nachtr\u00e4glich wieder gut zu machen. Zu der \u201epassiven\u201c Th\u00e4tigkeit des Geistes gesellt sich eine \u201eSelbst-th\u00e4tigkeit\u201c, zu der man das Zutrauen hat, dafs sie nun endlich wirkliche Th\u00e4tigkeit sein werde. Verm\u00f6ge dieser Selbstth\u00e4tig-keit greift der Geist \u201eselbst\u201c \u2014 der ja sonst am Ende ganz \u00fcberfl\u00fcssig w\u00e4re \u2014 in den psychologischen Mechanismus wenigstens nachhelfend ein. Die Vorstellungen \u201everkn\u00fcpfen sich\u201c; der Geist verkn\u00fcpft sie durch seine \u201eKategorien\u201c noch einmal. Die Vorstellungsbewegung \u201el\u00e4uft ab\u201c; aber damit sie nicht allzusehr nach ihren \u201eeigenen\u201c Gesetzen ablaufe, bestellt ihr der Geist einen Aufseher, der, man weifs nicht recht wie weit, die Bewegung zu \u201ebeeinflussen\u201c oder zu \u201eregeln\u201c vermag. So entsteht eine gr\u00f6fsere oder geringere Anzahl von Kr\u00e4ften, Verm\u00f6gen, Formen, Funktionen, durch die man das geistige Leben verst\u00e4ndlich zu machen und zugleich die Ehre der Seele zu retten meint. Beides mit Unrecht. Jene zur Erkl\u00e4rung postulierten Faktoren erweisen sich bei genauerer Pr\u00fcfung als Namenwesen, die gar nichts erkl\u00e4ren, und der Ehre der Seele entspricht ohne Zweifel die Einheit und einheitliche Gesetzm\u00e4fsigkeit in h\u00f6herem Grade, als das Flickwerk und St\u00fcckwerk aus allerlei Faktoren, die sich wechselseitig ins Gehege geraten und ihre Gesetzm\u00e4fsigkeit korrigierend erg\u00e4nzen. \u2014 Diese Anschauung ist es, gegen welche die wahre Associationspsychologie mit allen Kr\u00e4ften angeht. Mit welchem Hechte, das soll hier an einem speciellen Punkte einleuchtend gemacht werden.\nII. Kritisches \u00fcber den Kausalbegriff.\nUnsere erste Frage lautet: Wessen sind wir uns bewufst, wenn wir uns eines urs\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisses zwischen irgend einem A und irgend einem B bewufst zu sein behaupten? Diese Frage hat zuerst Hume mit Bestimmtheit gestellt, ohne sie doch vollst\u00e4ndig zu beantworten. Sie mufs aber vollst\u00e4ndig","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nTh. Lipps.\nbeantwortbar sein. Es handelt sich ja um einen Inhalt des Bewufstseins.\nIn mancherlei Wendungen, wie sie schon der gemeine Sprachgebrauch an die Hand giebt, kann man jene Frage zu beantworten und das Wesen der Kausalit\u00e4t zu verdeutlichen meinen. Ursache sei das, \u201ewodurch\u201c ein Anderes zu st\u00e4nde komme, oder \u201eworaus\u201c es \u201ehervorgehe\u201c. Die Ursache \u201ebringe\u201c die Wirkung \u201ehervor\u201c oder \u201eerzeuge\u201c sie. Wirkung sei, wie es der Name sage, nicht einfach sich abspielendes, sondern \u201ebewirktes\u201c Geschehen; Kausalit\u00e4t sei \u201eTh\u00e4tigkeit\u201c, \u201eKraft\u00e4ufse-rung\u201c u. s. w.\nDiese Wendungen haben nicht alle den gleichen Sinn, aber sie sind alle gleich wenig zur Verdeutlichung der Verursachung geeignet. Das \u201eDurch\u201c, das \u201eHervorgehen\u201c, \u201eErzeugen\u201c sagt nichts \u00fcber das Wesen der Kausalit\u00e4t, sondern f\u00fcgt zu dem verursachten Vorg\u00e4nge ein anschauliches Moment, das sich bei ihm in speciellen F\u00e4llen findet, allgemein hinzu. Es liegt aber einmal in unserer Natur, dafs wir leicht das Anschauliche, dasjenige, was ein Bild giebt, f\u00fcr verst\u00e4ndlich, ja schliefslich f\u00fcr selbstverst\u00e4ndlich halten. Indem wir das Bild dann auch auf Anderes, zu dem es nicht pafst, \u00fcbertragen, meinen wir weiterhin auch dies Andere uns verst\u00e4ndlich gemacht zu haben.\nDas anschauliche Moment f\u00e4llt weg und ein noch verf\u00fchrerisches tritt an die Stelle, wenn wir die Ursache als das Bewirkende bezeichnen oder die Begriffe der Th\u00e4tigkeit und Kraft in den Kausalbegriff hineintragen. Eine Bewegung unseres K\u00f6rpers erscheint uns als von uns \u201ebewirkt\u201c oder als unser \u201eThun\u201c, wenn sie nicht nur geschieht, sondern in diesem Geschehen unser Wollen sich befriedigt. Das befriedigte Wollen, dieser Inhalt unseres Selbstgef\u00fchls, bildet den einzigen, \u00fcber das blofse thats\u00e4chliche Geschehen hinausgehenden, erfahrungs-gem\u00e4fsen Sinn der Worte Wirkung oder Th\u00e4tigkeit. In dieser \u201eWirkung\u201c oder \u201eTh\u00e4tigkeit\u201c steckt dann zugleich die \u201eKraft\u201c. Kraft \u2014 ich rede nicht von dem wissenschaftlichen, sondern von dem gemeinen Kraftbegriff \u2014 kennen wir nur als Inhalt unseres Kraftgef\u00fchls oder des Gef\u00fchls unserer bei einer Leistung aufgewandten Willensanstrengung. Kraft in der unbeseelten Weit ist ein blofses, wenn auch bei richtiger Verwendung vielleicht recht n\u00fctzliches Wort. Es liegt aber wiederum in unserer Natur die Neigung, solche Inhalte unseres Selbstgef\u00fchls auf die nicht-","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"-Zwr Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n257\nf\u00fchlenden Dingezu \u00fcbertragen. Nichts ist uns gel\u00e4ufiger als der Zusammenhang zwischen unserem Wollen und dem Geschehen an oder in uns. Und das Gel\u00e4ufige scheint uns begreiflich, keiner weiteren Erkl\u00e4rung bed\u00fcrftig. So meinen wir auch das Geschehen aufser uns zu begreifen, indem wir es in einen solchen Zusammenhang einf\u00fcgen.\nDie T\u00e4uschung liegt auf der Hand. Angenommen, wir h\u00e4tten zu der \u00dcbertragung ein Recht, so w\u00e4re von neuem f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis der Kausalit\u00e4t gar nichts gewonnen. Die Frage nach dem Wesen des urs\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisses w\u00e4re nicht beantwortet, sondern zur\u00fcckgeschoben. Wir w\u00fcrden nicht mehr fragen, worin besteht das \u201eBand\u201c zwischen Ursache und Wirkung? wohl aber, wie ist das Band beschaffen, das mit dem in den Dingen sitzenden Wollen oderStreben, der in ihnen wohnenden Kraft ihre Wirkung oder \u201eVerwirklichung\u201c verbindet.\nDie \u00dcbertragung ist aber nicht nur unberechtigt, sondern sinnlos. Wie sie trotzdem geschehen kann, versteht man, wenn man zusieht, wie weit die Neigung zu solchen \u00dcbertragungen geht. Wir wissen oder sollten wissen \u2014 und der Erkenntnistheoretiker vor allem mufs es wissen \u2014, dafs wir best\u00e4ndig die Inhalte unseres Selbstgef\u00fchls in die Welt der Dinge hineintragen. Alle Sch\u00f6nheit und H\u00e4fslichkeit der Welt der Objekte, all unser positives und negatives Interesse an ihr ist durch solches Objektivieren unserer selbst oder Vermenschlichen der Aufsenwelt bedingt oder mitbedingt. \u00dcberall sehen und geniefsen wir uns selbst, wo wir nur die Dinge zu sehen und zu geniefsen meinen. Es ist eines der erkenntnistheoretisch wichtigsten Worte, das kein Erkenntnistheoretiker, sondern Goethe ausgesprochen hat: Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist. Darum ist es die Pflicht des Erkenntnistheoretikers, und fast seine erste Pflicht, ernstlich mit sich zu Rate zu gehen, ob er nicht f\u00fcr einen Erkenntnisfaktor, am Ende gar f\u00fcr einen ersten und urspr\u00fcnglichen Erkenntnisfaktor ausgiebt, was nur der vermenschlichenden Einbildungskraft sein Dasein verdankt, also durchaus nicht der wissenschaftlichen, sondern nur der \u00e4sthetischen Weltbetrachtnng angeh\u00f6rt. Die h\u00f6chste Stufe solcher Vermenschlichung wird durch die konkret pers\u00f6nlich gedachten Gebilde der Mythologie repr\u00e4sentiert. Diese sind aus unserer wissenschaftlichen Betrachtung der Welt verschwunden. Ebenso gut wie sie m\u00fcssen aber auch","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nTh. Lipps,\ndie unpers\u00f6nlichen Th\u00e4tigkeiten, die Aktivit\u00e4ten, die ihnen entsprechenden Passivit\u00e4ten, die Wirkungen, die Kr\u00e4fte u. s. w. aus unser Betrachtung der Wirklichkeit weichen. Ich sage: aus unserer Betrachtung, nicht aus unserer Sprache; denn die k\u00f6nnen wir nicht weniger anthropomorphistisch machen, als sie fast in jedem ihrer Worte ist. Man mufs aber den Kampf gegen diese zahmere, darum nicht minder unlogische Mythologie zu Ende f\u00fchren und ihre Ausgeburten bis in ihre letzten Schlupfwinkel verfolgen, Wer auf die grob menschlich gedachten Kr\u00e4fte, Strebungen und dergleichen verzichtet, aber doch schliefslich eine feinere Art der Vermenschlichung aufrecht erh\u00e4lt, steht auf einem Standpunkt der Naturbetrachtung, der mit jenem konkret mythologischen der Art nach v\u00f6llig identisch ist. Die Meinung, etwas den Inhalten des menschlichen Selbstgef\u00fchls noch so entfernt Analoges m\u00fcsse denDingen doch am Ende zugestanden werden, ist gar nichts anderes, als das Bekenntnis, dafs man sich nicht entschliefsen kann, mit seiner richtigen Einsicht v\u00f6llig Ernst zu machen. Der nach Abzug des spezifisch Menschlichen \u00fcbrig bleibende Rest des Menschlichen in den Dingen ist nur ein bei aller Bem\u00fchung des klaren Denkens' \u00fcbrig bleibender Rest von Unklarheit, ein St\u00fcck Dichtung an Stelle der Wahrheit, \u00e4sthetische Betrachtung an Stelle der Erkenntnis und Erkenntnistheorie.\nWir sind aber mit unserer Kritik noch nicht zu Ende. Noch ein Begriff bietet sich uns zur Verdeutlichung des Kausalbegriffes dar, n\u00e4mlich der Begriff des Gesetzes. Ein Geschehen verursacht ein anderes, d. h. sie folgen sich nach einem Gesetz. Aber was heilst dies? Das Gesetz ist zun\u00e4chst der Geltung fordernde und sich Geltung verschaffende Wille. Meint man das Gesetz in diesem Sinne ? Dann w\u00e4re von neuem die Frage nach dem Wesen der Kausalit\u00e4t nicht beantwortet, sondern zur\u00fcckgeschoben. Wir w\u00fcrden fragen, welches ist das kausale Band, das das Gesetz mit seiner Verwirklichung verbindet. In der That ist unser wissenschaftlicher Begriff des Naturgesetzes nicht so beschaffen. Das Gesetz ist die Abstraktion von einer bestimmten Art des Geschehens selbst, oder aber es ist das Gesetz unseres Denkens.\nWorin nun besteht die Art des Geschehens, von der das Gesetz eine Abstraktion sein k\u00f6nnte? Man sagt, sie bestehe in der Notwendigkeit des Geschehens. Das Band, das die Wirkung","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n259\nan die Ursache binde, sei das Band \u201erealer\u201c oder \u201eobjektiver\u201c Notwendigkeit. Jetzt besteht die Pflicht, den erfahrungsge-m\u00e4fsen Sinn des Wortes Notwendigkeit festzustellen. Die Erkenntnistheorie hat nicht das Hecht, ein solches Wort auch nur in den Mund zu nehmen, ehe sie dieser Pflicht gen\u00fcgt hat. Das Ergebnis ist, dafs wir eine neue Art von Anthropomorphismus entdecken. Nicht die Ursache, sondern die Wirkung ist jetzt das Vermenschlichte. Die kraftbegabte, strebende, th\u00e4tige Ursache zusammen mit der notwendigen Wirkung, darin schliefst sich das System von Anthropomorphismen konsequent in sich zusammen.\nZwei Menschen sehen denselben dritten sehr krank. Der eine sagt: er wird sterben; der andere: er mufs sterben. Was macht den Unterschied jenes Sterbens und dieses Sterben-m\u00fcssens? Was unterscheidet \u00fcberhaupt das thats\u00e4chliche Geschehen von dem notwendigen? Wenn es dasselbe Geschehen ist, ganz gewifs nichts. Jene Beiden wollen denn auch nicht einen objektiv verschiedenen Vorgang ank\u00fcndigen. Der Unterschied besteht ausschliefslich darin, dafs der eine sich bescheidet, ihn anzuk\u00fcndigen, w\u00e4hrend der andere zugleich andeutet, dafs er Gr\u00fcnde habe, die ihn n\u00f6tigen, an den Vorgang zu glauben.\nWie der Inhalt des Begriffes der Th\u00e4tigkeit, des Strebens, der Kraft, so finden wir auch, was den Sinn des Wortes Notwendigkeit ausmacht, nur in uns. Keine Zergliederung irgend eines wahrgenommenen oder gedachten Objektes l\u00e4sft uns etwas entdecken, das den Namen der Notwendigkeit oder des M\u00fcssens tragen k\u00f6nnte. Nur als Inhalt unseres Erlebens kommt Notwendigkeit f\u00fcr uns vor. Das Erfahrungsobjekt, das wir mit dem Worte meinen und einzig meinen k\u00f6nnen, ist uns gegeben, wenn wir wollen, und dies Wollen in seiner Verwirklichung gehindert ist. Notwendigkeit ist Inhalt des dem Kraftgef\u00fchl als Gegenst\u00fcck entsprechenden Zwangsgef\u00fchls. So wenig wie den Inhalt des Kraftgef\u00fchls k\u00f6nnen wir den Inhalt des Zwangsgef\u00fchls in nicht lebende Wesen verlegen wollen.\nLiegt also in der kausalen Beziehung Notwendigkeit, dann kann sie weder in der Wirkung, noch in der Ursache, sondern nur in uns liegen, die wir beide denken. Auf ein A folgt ein B notwendig, dies heifst, wir m\u00fcssen es in Gedanken darauf folgen lassen; A n\u00f6tigt uns, es folgen zu lassen. Nicht das irgendwo in der Welt wirkliche A, sondern das A als Inhalt","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nTh. Lipps.\nmeines Bewufstseins. Auch diese N\u00f6tigung ist eine \u201eobjektive\u201c, aber nicht in dem Sinne, dafs das N\u00f6tigen oder Gen\u00f6tigtsein in den Objekten A und B als eine zu ihnen geh\u00f6rige Bestimmung vork\u00e4me, sondern insofern ich durch den Vollzug der Vorstellung des Objektes A oder das Bewufstsein seiner Wirklichkeit zur Hinf\u00fcgung des B oder zum Gedanken seiner Wirklichkeit gen\u00f6tigt bin.\nIII. Grund und Ursache.\nIst damit die kausale Beziehung ersch\u00f6pfend bezeichnet ? \u2014 Ein Dokument, das ich aufgefunden habe, n\u00f6tigt mich zur Annahme eines historischen Faktums. Auch diese N\u00f6tigung ist eine objektive im eben bezeichneten Sinne. Darum nennen wir doch das Dokument nicht Ursache des historischen Faktums. Es ist nur sein Erkenntnisgrund. Auch Ursachen sind freilich Erkenntnisgr\u00fcnde. Das Bewufstsein, die Ursache sei gegeben, n\u00f6tigt mich immer, auch an die Folge zu glauben. Aber ebenso sicher gilt nicht das Umgekehrte. Erkenntnisgr\u00fcnde sind nicht ohne weiteres Ursachen.\nAber sie sind es, wenn wir eine n\u00e4here Bestimmung hinzuf\u00fcgen. Das Dokument n\u00f6tigt mich, an die Thatsache zu glauben. Aber das Dasein des Dokumentes ist nicht die Voraussetzung, unter der allein ich an die Thatsache glauben darf. Angenommen, ich w\u00fcfste nichts von dem Dokument, h\u00e4tte wohl gar Grund, zu glauben, es gebe nichts dergleichen, so w\u00e4re ich doch um deswillen nicht gen\u00f6tigt, die Thatsache zu leugnen. Das Dokument ist vielleicht erst sehr sp\u00e4t entstanden, hat also lange Zeit nicht existiert, darum bestand doch die Thatsache schon, mufste also auch schon anerkannt werden.\nDagegen ist, wenn A und B sich wie Ursache und Wirkung verhalten, die Annahme des A sowohl Grund der Annahme des B, als auch in jedem einzelnen Falle, in dem das kausale Verh\u00e4ltnis obwaltet, notwendige Voraussetzung oder Bedingung derselben. Anders ausgedr\u00fcckt: nicht nur die Bejahung des A n\u00f6tigt mich zur Bejahung, sondern auch die Verneinung des A n\u00f6tigt mich zur Verneinung des B. Nicht ein einfaches, sondern ein doppeltes Band der Notwendigkeit besteht zwischen Ursache und Wirkung. Man hat das Gesetz des zureichenden Grundes in dem Satze formuliert: mit dem Grund sei die Folge gegeben. Dies ist kein Gesetz, sondern eine Definition des Grundes. Die","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n261\nihr entsprechende Definition der Ursache w\u00fcrde lauten : Ursache ist der Grund, mit dem die Folge zugleich gegeben und aufgehoben ist. Die Folge heifst dann Wirkung.\nOder leugnet jemand, dafs es sich so verh\u00e4lt? Soviel ich sehe, sind mit dem Gesagten die Bedingungen, unter denen wir etwas als Ursache bezeichnen, vollst\u00e4ndig angegeben. Es gibt in keinem Falle ein anderes Kriterium der Anwendbarkeit des Ursachbegriffs. Was in einem gegebenen Falle, wo etwas geschieht oder ist, auch fehlen k\u00f6nnte, ohne dafs das Geschehen oder der Thatbestand unterbliebe, also verneint werden m\u00fcfste, ist nicht Ursache. Und umgekehrt: Was zwar Grund ist f\u00fcr die Annahme eines Geschehens oder eines Thatbestandes, aber nicht Ursache desselben, das k\u00f6nnen wir immer verneinen, ohne damit zugleich zur Verneinung des Geschehens oder Thatbestandes gen\u00f6tigt zu sein.\nDamit ist auch schon gesagt, warum niemals das Sp\u00e4tere \u201eUrsache\u201c des Fr\u00fcheren sein kann, so sehr es sein Erkenntnisgrund sein mag. In dem Augenblick, wo das fr\u00fchere Ereignis stattfindet, ist das sp\u00e4tere noch nicht da; wir k\u00f6nnen also das letztere nicht nur, sondern m\u00fcssen es verneinen, w\u00e4hrend wir das erstere schon bejahen m\u00fcssen. Das fr\u00fchere Ereignis kann nicht nur, sondern mufs unabh\u00e4ngig von der Bejahung des sp\u00e4teren bejaht werden. Das sp\u00e4tere Ereignis ist nicht Grund f\u00fcr die Bejahung des fr\u00fcheren in dem besonderen Sinne, dafs erst dann, wenn es in \u00dcbereinstimmung mit der Erfahrung bejaht werden kann, die Bejahung des fr\u00fcheren stattfinden darf, es ist mit einem Worte nicht notwendige Voraussetzung der Bejahung des fr\u00fcheren.\nIch f\u00fcge einige weitere Bemerkungen hinzu. Die Ursache des Verhaltens eines chemischen Elementes, etwa des Sauerstoffs, zu anderen chemischen Elementen liegt, so sagen wir vielleicht, in der Natur des Elementes. Die Verhaltungsweisen sind Wirkungen der eigenartigen Natur des Sauerstoffs. Aber wenn ich die Verhaltungsweisen in Gedanken aufhebe, also annehme, sie fehlen bei einem K\u00f6rper, mufs ich dann dem K\u00f6rper nicht auch die Sauerstoffnatur abstreiten, also von dem K\u00f6rper sagen, er sei nicht Sauerstoff? Und wenn dem so ist, erscheinen dann nicht unserer Begriffsbestimmung zufolge die Verhaltungsweisen des Sauerstoffs als Ursachen der Sauerstoffnatur?\nIch mache mir diesen Einwand, um \u00e4hnlichen Einw\u00e4nden","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nTh. Lipps.\nzu begegnen und darauf aufmerksam zu macken, dafs es sick kier um genaue Begriffe kandelt. Zun\u00e4chst ist die Natur des Sauerstoffs nickt die Ursacke seiner Verhaltungsweisen, sondern lediglick eine Teilursacke derselben. Der Sauerstoff verh\u00e4lt sick zum Wasserstoff so, wie er es thut, immer nur, wenn er zum Wasserstoff in bestimmte Beziehung tritt, er verhielte sich zu ihm gar nicht, wenn es keinen Wasserstoff g\u00e4be. Trotzdem bliebe der Sauerstoff Sauerstoff. Wir bejahen also die Natur des Sauerstoffs auch unter der Voraussetzung, dafs ein bestimmtes Verhalten zu Wasserstoff und ebenso zu den sonstigen Elementen nickt stattfindet, wir bejahen sie selbst unter der Voraussetzung, dafs gar kein derartiges Verhalten stattfinden k\u00f6nnte. Also sind die Verkaltungsweisen des Sauerstoffs nach unserer Begriffsbestimmung in keiner Weise die Ursache, auch nicht die Teilursache der Sauerstoffnatur. Nur wenn die F\u00e4higkeit zu den Verhaltungsweisen bei einem K\u00f6rper verneint werden mufs, dann m\u00fcssen wir dem fraglichen K\u00f6rper auch die Sauerstoffnatur abstreiten. Die F\u00e4higkeit zu jenen Verhaltungsweisen ist eben ein Teil der \u201eNatur\u201c des Sauerstoffs.\n\u00c4hnliches w\u00e4re gegen einen \u00e4hnlichen Einwand zu erwidern. Das Atomgewicht des Sauerstoffs l\u00e4fst uns den Sauerstoff als solchen erkennen, veranlafst uns also, auch die sonstigen Eigenschaften des Sauerstoffs als vorhanden anzunehmen. Umgekehrt w\u00fcrden wir, wenn das bestimmte Atomgewicht fehlte, an diese sonstigen Eigenschaften nicht glauben. Wiederum k\u00f6nnte man daraus folgern, dafs f\u00fcr uns das Atomgewicht Ursache jener sonstigen Eigenschaften sein m\u00fcsse. Aber auch das Atomgewicht ist eine Verhaltungsweise, n\u00e4mlich eine Weise des Verhaltens zur Erde, die nicht stattf\u00e4nde, wenn die Erde nicht die Erde w\u00e4re, oder \u00fcberhaupt nicht w\u00e4re. Trotzdem blieben die sonstigen Eigenschaften des Sauerstoffs bestehen. Also ist das Atomge-gewicht f\u00fcr uns nicht Ursache derselben. Oder w\u00e4ren mit der Aufhebung des Verhaltens zur Erde, wie es in dem Atomgewicht ausgesprochen liegt, die Eigenschaften mit aufgehoben, dann w\u00e4re f\u00fcr jedermann dies Verhalten zur Erde Ursache oder Teilursache der Eigenschaften.\nAllgemein gesprochen: Wir schliefsen von Wirkungen A eines Dinges auf das Dasein oder die Natur dieses Dinges, und auf andere Wirkungen JB desselben Dinges. Dabei setzt immer die Wirkung A aufser dem Dinge anderweitige Umst\u00e4nde vor-","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n263\naus, unter denen sie geschieht, wir m\u00fcssen also A in Gedanken verneinen, wenn wir die Umst\u00e4nde in Gedanken aufheben. Damit ist aber niemals das Dasein oder die Natur des Dinges bezw. die unter anderen Umst\u00e4nden sich vollziehende Wirkung mit aufgehoben. Oder ist dies der Fall, dann gestehen wir ebendamit zu, dafs die \u201eWirkung\u201c A Mitursache ist des Dinges oder seiner Beschaffenheit, bezw. dafs sie Mitursache ist der Wirkung B. Im letzteren Falle stehen A und B im Verh\u00e4ltnis der Wechselwirkung; jedes ist Ursache oder Mitursache des anderen.\nSo ist die Wahrnehmung der Farbe eines Dinges, die f\u00fcr das gemeine Bewufstsein Wirkung ist der dem Dinge anhaftenden Farbe, vielmehr Mitursache derselben: erst in unserem Wahrnehmen kommt die Farbe zu st\u00e4nde. So ist, wenn zwei Atome zu einem Molek\u00fcl sich verbinden, jedesmal der relative Ort des einen Wirkung und zugleich Mitursache des relativen Ortes des anderen.\nNoch ein anderes m\u00f6gliches Mifsverst\u00e4ndnis schliefse ich aus. \u201eDie Einf\u00fchrung einer gewissen Dosis Arsenik in den lebenden menschlichen K\u00f6rper ist Todesursache; aber auch, wenn ein Mensch sich nicht mit Arsenik vergiftet, stirbt er. Die Aufhebung der Ursache hebt also die Wirkung nicht auf\u201c. \u2014 Hier liegt wiederum eine Ungenauigkeit des Ausdrucks vor. Nicht ohne Bedacht habe ich gesagt, die Aufhebung der Ursache n\u00f6tige uns, in jedem gegebenen Falle auch die Wirkung aufzuheben. Wirkung des Giftes ist nun in jedem gegebenen Falle nicht der Tod, sondern ein bestimmter, vor allem zu bestimmter Zeit eintretender Tod. Angenommen, in einem bestimmten Falle w\u00e4re der Tod ebenso und in derselben Weise eingetreten, auch wenn das Gift gefehlt h\u00e4tte, dann k\u00f6nnte nach jedermanns Meinung das Gift nicht als Ursache des Todes bezeichnet werden.\nSo d\u00fcrfen wir dabei bleiben, unsere Begriffsbestimmung der Ursache f\u00fcr zutreffend und vollst\u00e4ndig zu halten. Sie schliefst vollkommen genau die Bedingungen in sich, unter denen wir von einem urs\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisse sprechen. Wird man nicht daraus schliefsen m\u00fcssen, dafs sie auch den vollst\u00e4ndigen Sinn des Kausalbegriffes in sich schliefse? Was ist denn am Ende der Sinn eines Begriffes anders, als der Inbegriff der Bedingungen, unter denen wir ihn anwenden?","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nTh. Lipps.\nDie kausale Beziehung ist eine doppelte Beziehung der Notwendigkeit in unserem Denken. Ist man zu der \u00dcberzeugung gelangt, so erhebt sich die Frage : Giebt es einen allgemeineren und umfassenderen psychologischen Thatbestand, zu dessen Eigenart es geh\u00f6rt, Beziehungen der Notwendigkeit in sich zu enthalten. Giebt es einen solchen, so besteht die Pflicht, wenigstens den Versuch zu machen, ob sich die kausale Beziehung daraus ableiten lasse. Kein noch so starkes Vorurteil kann von dieser Pflicht entbinden. In der That liegt ein solcher Thatbestand vor in der Association.\nIV. Erkennen und Urteilen.\nEhe wir den Versuch machen aus der Thatsache der Association Kausalbegriff und Kausalgesetz abzuleiten, scheinen einige allgemeinere Begriffsbestimmungen am Platze. Soweit die dabei angewandte Terminologie dem sonstigen Sprachge-brauche nicht entspricht, bitte ich sie mir zugute zu halten. Ich will durch Terminologien nichts beweisen, sondern nur meine Meinung fixieren.\nErkenntnis wird man allgemein zu definieren haben als Einordnung von Erfahrungen in einen widerspruchslosen und gesetzm\u00e4\u00dfigen Zusammenhang der Erfahrungen. Dabei verstehe ich unter \u201eErfahrungen\u201c alles irgendwie im Bewufstsein Gegebene, und unter der Gesetzm\u00e4fsigkeit die objektive Notwendigkeit im oben als allein berechtigt bezeichneten Sinne des Wortes. \u2014 Das Denken ist die Th\u00e4tigkeit der Einordnung und Zusammenordnung, auch die blofs versuchsweise und mifs-lingende.\nGenauer sind zwei Arten der Erkenntnis wohl zu unterscheiden. Ich w\u00fcrde sie mit Hume, obgleich nicht ganz und gar aus Humes Gr\u00fcnden, als analytische und synthetische Erkenntnis bezeichnen k\u00f6nnen, wenn es nicht seit Kant \u00fcblich w\u00e4re, als \u201eanalytisch\u201c eine Erkenntnisart zu bezeichnen, die im Grunde so synthetisch ist, wie die \u201esynthetische\u201c, nur dafs sie einem besonderen Gebiet der synthetischen Erkenntnis zugeh\u00f6rt. K\u00f6rper sind ausgedehnt ; dies KANTsche Beispiel einer analytischen Erkenntnis sagt, dafs die Ausgedehntheit im Begriff des K\u00f6rpers liegt, d. h. dafs das Wort K\u00f6rper etwas Ausgedehntes bezeichnet, oder dafs die Menschen, die das Wort K\u00f6rper gebrauchen, damit etwas Ausgedehntes meinen. Diese","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n265\nEinsicht aber ist eine synthetische Erkenntnis. Sie ist genauer eine psychologische Erfahrungserkenntnis. \u2014 Ich halte die K.AXTsche Unterscheidung nicht nur f\u00fcr allzuwenig tiefgehend und darum prinzipiell verwerflich, sondern auch f\u00fcr bedenklich in ihren Konsequenzen. Trotzdem mufs mich die R\u00fccksicht auf Kants Sprachgebrauch abhalten hier dem H\u00fcMEschen zu folgen. Ich will darum im Folgenden statt von analytischer und synthetischer Erkenntnis im HuMEschen Sinne, Heber von formaler und materialer Erkenntnis sprechen.\nDer grunds\u00e4tzliche Unterschied zwischen beiden Erkenntnisarten besteht darin, dafs die eine, die formale, keinerlei, weder positive noch negative Beziehung zur objektiven d. h. von meinem Bewufstsein unabh\u00e4ngigen Wirklichkeit in sich schliefst, w\u00e4hrend in der anderen, der materialen, diese Beziehung jederzeit enthalten liegt. Jener ersteren Art ist beispielsweise die geometrische Erkenntnis. Die Einsicht, das Dreieck habe eine Winkelsumme = 2 JR, besteht in dem Bewufstsein, dafs mit der geradlinigen Eigur, Dreieck genannt, ganz abgesehen davon, ob sie nur dem Bewufstsein oder auch der Welt aufser-halb des Bewufstseins angeh\u00f6re, jene Winkelsumme notwendig gegeben sei. Ich kann das Dreieck gar nicht vorstellen, geschweige f\u00fcr objektiv wirklich halten, ohne jene Winkelsumme.\nDie andere Art f\u00e4llt zusammen mit der Sacherkenntnis oder Erfahrungserkenntnis im engeren Sinne des Wortes. Von ihr gilt das eben Gesagte nicht. Wenn ich von einem bestimmten mir bekannten Menschen weifs, dafs er blondhaarig ist, so heifst dies keineswegs, dafs die blofse Vorstellung dieses Menschen unvollziehbar werde, wenn ich die blonde Haarfarbe durch eine andere zn ersetzen versuche. Der Versuch, die Vorstellung oder das Bild der Menschen in allem zu belassen, wie es ist, und nur statt der blonden Haarfarbe die schwarze zu setzen, gelingt, so gewifs der Versuch eine ebene geradlinige Eigur vorzustellen, die drei Ecken h\u00e4tte, damit aber eine Winkelsumme \u00ab5 2 R verb\u00e4nde, mifslingt. Nur die Erkenntnis der ersteren Art ist Bewufstsein der \u201eunbedingten\u201c Vorstellungsnotwendigkeit; bei der anderen ist die Erf\u00fcllung einer Bedingung vorausgesetzt.\nIch kann den blondhaarigen Menschen schwarzhaarig v o r-stellen d. h. jene Vorstellung, als solche, in diese ver-","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nTh. Lipps.\nwandeln. Aber ich kann nicht den bestimmten wirklichen Menschen schwarzhaarig vorstellen, d. h. ich kann nicht die Vorstellungsver\u00e4nderung vollziehen und dabei das Bewufstsein haben, das Vorgestellte sei auch nach dieser Ver\u00e4nderung noch jener bestimmte wirkliche Mensch. Vielmehr weifs ich, dafs mit der Verwandlung der Blondhaarigkeit in die Schwarzhaarigkeit zugleich das Bild des Menschen aufgeh\u00f6rt hat, Bild jenes wirklichen Menschen zu sein, und ein blofses Phantasiebild geworden ist. Soll es dies nicht werden, soll das Be-wulstsein der objektiven Wirklichkeit des Vorgestellten bestehen bleiben, dann, aber auch nur dann mufs ich bei der Vorstellung der Blondhaarigkeit bleiben.\nDie Erfahrungserkenntnis ist das Bewufstsein der Notwendigkeit einen Bewufstseinsinkalt in einen Zusammenhang von Bewufstseinsinhalten einzuordnen, unter der Voraussetzung, dafs jenem Zusammenhang von Bewufstseinsinhalten objektive Wirklichkeit zukommt, oder k\u00fcrzer gesagt: sie ist die objektiv notwendige Einordnung eines vorgestellten Inhaltes in einen Zusammenhang objektiver Wirklichkeit. Jene \u201eVoraussetzung\u201c ist es, die die Erfahrungserkenntnis oder materiale Erkenntnis von der blofs formalen unterscheidet. In dem speziellen Falle, von dem wir redeten, ist der \u201eZusammenhang objektiver Wirklichkeit\u201c bezeichnet durch den bestimmten wirklichen Menschen.\nWenn ich ein Dreieck vorstelle, so mufs ich es als begabt mit der Winkelsumme =2 R vorstellen. Die Vorstellung des Dreiecks, abgesehen von der Winkelsumme, zwingt mich zum Vollzug der Vorstellung der bestimmten Winkelsumme. Wenn ich einen Menschen nicht blofs vorstelle, sondern in dem Vorstellungsinhalt zugleich einen mir bekannten wirklichen Menschen sehe, dann mufs ich die bestimmte, an ihm wahrgenommene Haarfarbe mitvorstellen. Nicht die Vorstellung, sondern das Bewufstsein der objektiven Wirklichkeit des Vorgestellten zwingt mich in diesem Falle zur Hinzuf\u00fcgung der bestimmten Haarfarbe. Was mich zum Vollzug einer Vorstellung zwingt, ist f\u00fcr mich Grund derselben; der Grund ist ein objektiver, wenn mich ein gegebenes Objekt zwingt, zu ihm einen anderen Vorstellungsinhalt hinzuzuf\u00fcgen. Der objektive Grund ist der logische oder Erkenntnisgrund. Also ist der Unterschied der beiden Arten der Erkenntnis ein Unter-","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n267\nschied der objektiven, logischen oder Erkenntnisgr\u00fcnde. Alle Erkenntnis ist objektiv begr\u00fcndetes Vorstellen bezw. Verbinden von Vorstellungen. Bei der lediglich formalen Erkenntnis besteht der objektive Grund im Dasein eines Bewufstseinsinhaltes, bei der materialen oder Erfahrungserkenntnis im engeren Sinne bestellt er im Bewufstsein der objektiven Wirklichkeit eines Bewufstseinsinhaltes.\nDie materiale oder Erfahrungserkenntnis ist Natur- oder psychologische Erkenntnis. Es ist eine der gef\u00e4hrlichsten erkenntnistheoretischen Illusionen, dafs es materiale, insbesondere Naturerkenntnis geben k\u00f6nne, ohne den Gedanken einer vom Bewufstsein unabh\u00e4ngigen Wirklichkeit. Jede Beschreibung einer solchen Erkenntnis bewegt sich in einem Widerspruch mit sich selbst.\nEs ist aber das Bewufstsein der objektiven Wirklichkeit, wie es nach dem Gesagten bei der materialen Erkenntnis vorausgesetzt ist, selbst Erkenntnis und materiale Erkenntnis. So ist das bei der Erkenntnis der Blondhaarigkeit des bestimmten Menschen vorausgesetzte Bewufstsein der objektiven Wirklichkeit des vorgestellten Individuums auch ein Akt materialer Erkenntnis. Darnach haben wir innerhalb der materialen Erkenntnis wiederum zwei Arten, oder besser zwei Stufen zu unterscheiden: ich weifs, dafs A B ist; und ich weifs, dafs A ist. Diese Erkenntnis ist die Voraussetzung jener, d. h. ich mufs mit dem A das B verbinden, nur unter der Voraussetzung, dafs A als der Welt der objektiven Wirklichkeit zugeh\u00f6rig gedacht wird. Thue ich dies nicht, sondern betrachte A als blofse Vorstellung, so kann ich statt des B ebensowohl jedes beliebige won-B mit A verbinden. Wir wollen die blofse Erkenntnis, dafs etwas objektiv wirklich ist, also das einfache Bewufstsein der vom Bewufstsein unabh\u00e4ngigen Existenz primitive Erkenntnis nennen. Der Name rechtfertigt sich eben daraus, dafs solche Erkenntnisse bei jeder sonstigen materialen Erkenntnis vorausgesetzt sind. Was der primitiven Erkenntnis auf dem Gebiete der blofs formalen Erkenntnis entspricht, ist nicht wiederum Erkenntnis, sondern das blofse Dasein von Vorstellungen. Die Erkenntnis von der Gr\u00f6fse der Winkelsumme des Dreiecks setzt lediglich das Dasein von Dreiecken in der Vorstellung voraus.\nDas Urteil ist der einzelne Akt der \u2014 wirklichen oder ver-\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie.\n18","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nTh. Lipps.\nmeintlichen, objektiv oder nur subjektiv g\u00fctigen \u2014 Erkenntnis. Es giebt also, abgesehen von den formalen Urteilen, primitive und nichtprimitive materiale Urteile. Primitive Urteile vollziehen wir jedesmal in der Wahrnehmung. Jedes Wahrnehmungsurteil, d. h. jedes Bewufstsein, dafs Wahrgenommenes objektiv wirklich ist, l\u00e4fst sich schliefslich sogar in ebensoviele primitive Urteile aufl\u00f6sen, als es unterscheidbare Bestandteile enth\u00e4lt. Die primitiven Urteile sind f\u00fcr sich betrachtet beziehungslose, die anderen k\u00f6nnen im Gegensatz zu ihnen Beziehungsurteile heifsen. Formale Urteile sind immer Beziehungsurteile.\nStatt \u201ebeziehungslose\u201c k\u00f6nnen wir auch sagen \u201eunbestimmte\u201c Urteile. Die primitiven Urteile sind unbestimmte, sofern sie einem Bewufstseinsinhalte nur \u00fcberhaupt objektive Wirklichkeit zuschreiben. Dagegen sind die Beziehungsurteile bestimmte, sofern sie einen Vorstellungsinhalt in einen bestimmten Vorstellungszusammenhang bezw. einen bestimmten Zusammenhang objektiver Wirklichkeit einordnen. Auch die primitiven Urteile ordnen ein, aber nur in den Zusammenhang objektiver Wirklichkeit \u00fcberhaupt, also in der denkbar allgemeinsten Weise.\nDie Beziehung, die in den Beziehungsurteilen stattfindet, ist die Beziehung zwischen \u201eSubjekt\u201c und \u201ePr\u00e4dikat\u201c. Dabei verstehe ich unter Subjekt und Pr\u00e4dikat das logische Subjekt und Pr\u00e4dikat, das mit dem sprachlichen in keiner Weise \u00fcbereinzustimmen braucht. Logisches Pr\u00e4dikat mufs aber ohne Zweifel der Bewufstseinsinhalt heifsen, in dessen Einf\u00fcgung in einen Vorstellungszusammenhang oder Zusammenhang objektiver Wirklichkeit die Absicht oder Leistung des Urteils besteht, logisches Subjekt dasjenige, was dabei \u201ezu Grunde liegt\u201c oder vorausgesetzt ist, was sich zur Aufnahme oder Einf\u00fcgung des Pr\u00e4dikates darbietet und sie fordert, also der Vorstellungszusammenhang oder Zusammenhang objektiver Wirklichkeit selbst, bezw. die Stelle des Zusammenhanges, an welcher das Pr\u00e4dikat eingef\u00fcgt wird und eingef\u00fcgt werden mufs.\nEs erhellt, dafs nach dieser Passung von Subjekt und Pr\u00e4dikat das Subjekt der Grund des Pr\u00e4dikates ist. Ihre Beziehung ist die Beziehung zwischen Grund und Folge. Ich sehe nicht, wie man das logische Subjekt und Pr\u00e4dikat anders bestimmen will.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n269\nSo ist in dem Urteil, das dem Dreieck die Winkelsumme = 2 R zuschreibt, das Dreieck \u2014 abgesehen von dieser Winkel-summe Subjekt und Grund des Pr\u00e4dikates. Nicht minder f\u00e4llt bei dem Urteile \u201eGold ist gelb\u201c Subjekt und Grund des Pr\u00e4dikates zusammen. Vielleicht fragt man, ob wir denn, wenn wir die Einheit von Eigenschaften, die \u2014 von der gelben Farbe abgesehen das Gold ausmacht, irgendwo wirklich denken, jederzeit die gelbe Farbe hinzuf\u00fcgen m\u00fcssen, auch dann, wenn wir annehmen, dafs es Nacht sei, oder kein menschliches Auge von dem Golde affiziert werde. Darauf antworte ich, dafs ebendarum, weil dies nicht der Fall ist, der Satz, dafs Gold gelb sei, nicht als der richtige Ausdruck f\u00fcr das ihm zu Grunde liegende Urteil gelten k\u00f6nne. Nicht vom Golde \u00fcberhaupt, sondern vom Golde, das beleuchtet und von einem Auge gesehen wird, meinen wir, dafs es gelb sei. Nicht das Gold \u00fcberhaupt ist also das logische Subjekt des Urteils, sondern das beleuchtete und wahrgenommene Gold. Und genau dieses Gold ist auch der Grund des Pr\u00e4dikates, das Pr\u00e4dikat seine Folge. Es handelt sich uns hier eben nicht um den sprachlichen Ausdruck des Urteils, sondern um das Urteil. Wir haben es zu thun mit der Psychologie der Erkenntnis, nicht mit der Psychologie der Sprache.\nIn dem erw\u00e4hnten Falle ist das Subjekt des Urteils unvollst\u00e4ndig ausgesprochen. Es kann aber freilich auch unvollst\u00e4ndig gedacht sein. Dann wird auch der Grund des Pr\u00e4dikates nicht vollst\u00e4ndig in ihm enthalten sein. Wenn ich von einem Menschen nur weifs, dafs er krank war, ohne zugleich zu wissen, wann er es war, dann gen\u00fcgt gewifs das Subjekt des Urteils \u2014 der der objektiv wirklichen Welt an-geh\u00f6rige bestimmte Mensch \u2014 nicht, um mich zur Hinzuf\u00fcgung des Pr\u00e4dikates \u2014 der Krankheit \u2014 zu n\u00f6tigen. Aber war der Mensch wirklich nur zu einer bestimmten Zeit krank, so ist eben nur der Mensch in der bestimmten Zeit das wirkliche Subjekt des Urteils.\nBei den materialen Urteilen, sagte ich, sei der Grund des Pr\u00e4dikates, oder wie wir jetzt ebensogut sagen k\u00f6nnen, das Subjekt des Urteils, ein als objektiv wirklich gedachter Vorstellungsinhalt bezw. Zusammenhang von Vorstellungsinhalten. Wir sahen dann, dafs jenes Bewufstsein der objektiven Wirklichkeit selbst ein materiales Urteil sei. Andererseits wird auch\n18*","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nTh. Lipps.\ndas Pr\u00e4dikat dadurch, dafs es in einen Zusammenhang objektiver Wirklichkeit eingeordnet wird, zu etwas objektiv Wirklichem. Auch dies Bewufstsein objektiver Wirklichkeit ist f\u00fcr sich betrachtet ein materiales Urteil. Sonach k\u00f6nnen wir das materiale Beziehungsurteil auch als eine Beziehung von Urteilen bezeichnen. Die Beziehung ist die von Grund und Folge. Dies giebt sich sprachlich darin zu erkennen, dafs wir statt zu sagen: Gold ist gelb, auch sagen k\u00f6nnen: Wenn etwas oder: Wenn irgendwo Gold ist, ist es gelb. Der einfache Satz ist zu einer konditionalen Satzverbindung geworden. Dagegen ist das primitive Urteil als solches jederzeit ein einfaches Urteil.\nV. Association und Erinnerungsurteil.\nWir haben im Vorstehenden verschiedene Urteilsarten unterschieden. In diesem und dem folgenden Abschnitt besch\u00e4ftigt uns ausschliefslich das materiale Beziehungsurteil. Und zwar zun\u00e4chst das einfache Erinnerungsurteil.\nIch habe gestern an einem bestimmten Orte und zu einer bestimmten Zeit einen Thatbestand wahrgenommen. Den Ort und den Zeitpunkt, bezw. was den Ort und Zeitpunkt f\u00fcr mein Bewufstsein bestimmt, wollen wir U, den Thatbestand T nennen. Dies TJ-T nun kann in meiner Erinnerung wiederkehren. Ich erinnere mich, dafs an dem bestimmten Ort und zu der bestimmten Zeit T stattfand. Diese Erinnerung besteht nicht in der blofsen Wiederkehr der Vorstellungen U und T. Vielmehr ist mit diesen Vorstellungen zugleich das Bewufstsein ihrer objektiven Wirklichkeit verbunden. Es ist damit verbunden, weil es in der Wahrnehmung damit sich verband.\nSo ist \u00fcberhaupt unser Beproducieren nicht ein blofses Reproduzieren von Vorstellungen, sondern zugleich eine Reproduktion ihres logischen oder Erkenntniswertes. Angenommen, ich habe gestern ein Ereignis nicht erlebt, sondern nur vorgestellt, gedacht, meiner Einbildungskraft vergegenw\u00e4rtigt. Ich sah etwa nicht an einer bestimmten Stelle und zu einer bestimmten Zeit Regen niederfallen, sondern ich stellte mir nur vor, dafs er falle. Auch dieses Phantasieerlebnisses kann ich mich erinnern. Dabei sind die reproduzierten Vorstellungen genau dieselben, oder k\u00f6nnen genau dieselben sein, als ob das Erlebnis ein wirkliches gewesen w\u00e4re. Aber die Erinnerung","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n271\nli\u00e2t dennoch in beiden F\u00e4llen einen ganz verschiedenen Inhalt. Das Phantasieerlebnis ist auch f\u00fcr meine Erinnerung ein Phantasieerlebnis, die erlebte Wirklichkeit auch f\u00fcr meine Erinnerung Wirklichkeit. \u2014 Ich lasse hier dahingestellt, wie sich dieser Unterschied genauer bestimme. Ich stelle nur fest, dafs er besteht.\nFassen wir nun die Erinnerung an das wirklich Erlebte n\u00e4her ins Auge. Wir finden dann im Akte der Erinnerung ein Moment, das bei dem Erlebnis selbst fehlte.\nZur Wahrnehmung des \u00fc oder der dasselbe konstituierenden Umst\u00e4nde gesellte sich, als ich U-T erlebte, die Wahrnehmung desT; mit dem Gedanken der objektiven Wirklichkeit des U, oder dem Urteil, dafs U sei, verband sich der Gedanke der objektiven Wirklichkeit des T, oder das Urteil, dafs T sei. Aber dies letztere Urteil verband sich mit jenem ersteren nur that-s\u00e4chlich, nicht notwendig. Beide Urteile zwar waren notwendig, aber ihre Verbindung war es nicht. Ich hatte nicht das Be-wufstsein, weil ich U \u201ebejahte\u201c, auch F \u201ebejahen\u201c zu m\u00fcssen, d. h. ich war mir nicht bewufst, in den objektiv wirklichen Zusammenhang des \u00fc das T einf\u00fcgen zu m\u00fcssen, weil es eben dieser Zusammenhang objektiver Wirklichkeit sei. Mein Be-wufstsein, dafs T sei, war nicht durch das Bewufstsein, dafs U sei, \u201eobjektiv begr\u00fcndet\u201c. Ich bejahte das T, weil ich es wahrnahm. Aber ich w\u00fcrde es auf das Geheifs der Wahrnehmung haben bejahen m\u00fcssen, auch abgesehen von der vorangehenden oder gleichzeitigen Bejahung des U. Ich h\u00e4tte es bejahen m\u00fcssen, auch wenn ich U nicht wahrgenommen, also gar keine Gelegenheit gehabt h\u00e4tte das U zu bejahen. Ich h\u00e4tte andrerseits, nachdem ich U bejaht hatte, oder w\u00e4hrend ich dies that, durch die Wahrnehmung ebensowohl gen\u00f6tigt werden k\u00f6nnen, statt des T ein non-T zu bejahen, und keine aus der Bejahung des U entspringende Notwendigkeit der Bejahung des T w\u00fcrde gegen diese, auf der Wahrnehmung beruhende Notwendigkeit der Bejahung des non-T Einsprache erhoben haben.\nJetzt dagegen, in der Erinnerung, besteht jene Beziehung der Notwendigkeit zwischen der Bejahung des \u00fc und der Bejahung des T. Ich mufs eben jenem U\u2014 sofern ich es als das von mir erlebte wirkliche U denke \u2014 das T hinzuf\u00fcgen, dagegen jedes non-T von ihm abweisen. Indem ich in den Ort und","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nTh. Lipps.\nZeitpunkt oder mit einem Worte in die Stelle des objektiv wirklichen Weltverlaufs, in der ich ehemals den Regen beobachtete, mich zur\u00fcckversetze, bin ich gen\u00f6tigt eben an dieser Stelle den Regen wiederum zu bejahen. Wohl kann ich in der Vorstellung das Gegenteil, den heiteren Himmel, an die Stelle setzen, aber ich kann dies Gegenteil nicht f\u00fcr eine an jener Stelle des Weltverlaufs stattfindende objektiv wirkliche That-sache halten. Oder was dasselbe sagt, ich kann es vorstellen, aber nicht so, dafs ich das Bewufstsein habe, auch mein durch den Vollzug dieser Vorstellung modifizierter Vorstellungszusammenhang entspreche noch der objektiven Wirklichkeit. Der Vollzug der Vorstellung erscheint als mein willk\u00fcrliches und der Forderung des Zusammenhanges der objektiven Wirklichkeit, insbesondere des Ortes und der Zeit, worin ich den Regen beobachtete, widersprechendes Thun. \u2014\u2022 Und es ist zun\u00e4chst nur dieser raumzeitliche Zusammenhang oder diese Stelle des Weltverlaufs, die mich n\u00f6tigt den Regen einzuf\u00fcgen, und hindert, den Sonnenschein an die Stelle zu setzen. Ersetzte ich den Ort durch einen anderen, oder die Zeit durch eine andere, so schw\u00e4nde die objektive N\u00f6tigung.\nWoher nun diese N\u00f6tigung? Darauf wird jeder antworten: aus der zwischen U und T in der ehemaligen Wahrnehmung gekn\u00fcpften Association. Oder verweigert man die Antwort?\nDann weifs ich nicht, was \u00fcberhaupt man noch unter Association verstehen will. Associationen sind nicht etwas an sich Bekanntes; nie hat jemand eine Association als solche gesehen. Wir kennen nur ihre Ursachen und ihre Wirkungen: gleichzeitige Bewufstseinsinhalte erscheinen in der Folge aneinander gebunden, d. h. die Wiederkehr des einen n\u00f6tigt zum Wiedervollzug des anderen. Genau darum aber handelt es sich hier. Gewisse Wahrnehmungsinhalte, die als solche zugleich f\u00fcr objektiv wirklich genommen wurden, waren gleichzeitig gegeben; eben sie erscheinen jetzt aneinander gebunden; und sie w\u00fcrden nicht aneinander gebunden erscheinen, wenn sie nicht gleichzeitig gegeben gewesen w\u00e4ren. Da diese Bindung auf Grund der Wahrnehmung entstand, so konnte sie nicht schon bestehen, als die Wahrnehmung stattfand. Das Band der N\u00f6tigung mufste im Akt der Wahrnehmung selbst noch fehlen.\nIch brauche nicht zu sagen, dafs die Association, von der","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n273\nich hier rede, nicht die Association \u00fcberhaupt ist. Es giebt eine Associationsart, die auf \u00c4hnlichkeit oder Verwandtschaft beruht. Aber nicht diese, sondern nur die Association auf Grund des gleichzeitigen Gegebenseins von Bewufstseinsinhalten, oder k\u00fcrzer, nur die Erfahrungsassociation kommt hier f\u00fcr uns in Frage.\nNur von dieser Erfahrungsassociation kann ja auch gesagt werden, sie erweise sich darin, dafs die Wiederkehr eines Be-wufstseinsinhaltes zum Wiedervollzug eines bestimmten anderen n\u00f6tige. Einem Bewufstseinsinhalt A \u00e4hnlich oder verwandt sind jederzeit viele Bewufstseinsinhalte B\\, Bi etc., so dafs A an Stelle eines Bi ebensowohl ein Bi, B3 etc. reproduzieren k\u00f6nnte. Vollends ist keine Bede davon, dafs wir auf Grund der \u00c4hnlichkeitsassociation dem A, weil es dieses bestimmte A ist, ein bestimmtes itnd zugleich zu A in bestimmtem zeitlichen bezw. raumzeitlichen Verh\u00e4ltnis stehendes B mit Ausschlufs aller anderen B zuordnen m\u00fcfsten. Die \u00c4hnlichkeitsassociation begr\u00fcndet keinerlei objektive N\u00f6tigung.\nAber auch, dafs die Erfahrungsassociation einem U ein T hinzuzuf\u00fcgen \u201en\u00f6tige\u201c oder \u201ezwinge\u201c, ist nicht so zu verstehen, als m\u00fcfse sich zu dem wiedergekehrten U das T jedesmal unweigerlich gesellen. Nur dies ist damit gesagt, dafs dann, wenn \u00fcberhaupt die Beproduktion von U aus die Bichtung einschl\u00e4gt, der das T angeh\u00f6rt, das T dem U sich an- oder einzigen m\u00fcsse, dafs also kein derselben Bichtung angeh\u00f6riges, mit T unvertr\u00e4gliches non-T an seine Stelle treten k\u00f6nne, ohne dafs das U dagegen Widerspruch erhebe. Ich habe schon oben versucht, diesen Sinn der \u201eobjektiven N\u00f6tigung\u201c deutlich heraustreten zu lassen. Ich lege aber darauf, um Mifsverst\u00e4nd-nissen vorzubeugen, hier noch besonders Gewicht.\nIch sah etwa an einer bestimmten Stelle und in einem bestimmten Zeitpunkte einen Menschen, der trug sch\u00f6ne Kleider, hatte eine wohllautende Stimme, einen stolzen Gang und dergleichen. Alle diese Dinge sind jetzt f\u00fcr mich mit dem Bilde des Menschen auf Grund der Erfahrung verkn\u00fcpft. Aber durch diese Verkn\u00fcpfung ist ganz und gar nichts dar\u00fcber ausgemacht, ob sich dann, wenn ich mir den Menschen, samt Ort und Zeit, worin ich ihn sah, wiederum vergegenw\u00e4rtige, meine Gedanken der Kleidung oder dem Gang oder der Stimme oder einem sonstigen Thatbestande, den ich an ihm oder in raumzeitlichem","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nTh. Lipps.\nZusammenhang mit ihm wahrnahm, zuwenden. Nur dies liegt in der Thatsache der Association eingeschlossen, dafs ich, wenn etwa mein Gedankengang die Richtung auf die Stimme nimmt, dem Menschen nur die wohllautende und nicht eine andere, \u00fcbelklingende Stimme zuschreiben kann.\nFreilich k\u00f6nnte mir jemand sagen, der in Rede stehende Mensch habe eine kr\u00e4hende Stimme gehabt, und mich dadurch veranlassen, versuchsweise die entsprechende Vorstellung zu vollziehen. Es k\u00f6nnte ebensowohl mein eigener Vorstellungsverlauf f\u00fcr einen Augenblick einen solchen Gedanken in mir auf kommen lassen. Sobald aber das Bild des Menschen, wie ich es in der Erfahrung gewonnen habe, einschliefslich des Bewufstseins, dasselbe repr\u00e4sentiere jenen wirklichen Menschen, sich mir wiederum darstellte und die Verkn\u00fcpfung zwischen ihm und der wohllautenden Stimme Kraft gew\u00e4nne, m\u00fcfste jeder solche Gedanken weichen. \u2014 Lassen wir einstweilen dahingestellt, wie weit sonst die n\u00f6tigende Kraft der Associationen geht oder aus welchen Gr\u00fcnden sie in vielen F\u00e4llen keine zwingende ist. In dem hier in Rede stehenden Falle hat jedenfalls die Association durchaus \u201ezwingende\u201c Kraft.\nWir k\u00f6nnen nun aber, was die Association in unserem Falle bewirkt, auch noch mit anderen Worten bezeichnen. Ich habe bereits den Akt der Erinnerung U-T den materialen Beziehungsurteilen zugeordnet. Dies Beziehungsurteil U-T ist eben durch die Association zu st\u00e4nde gekommen. Innerhalb desselben ist U, n\u00e4mlich die damit bezeichnete Stelle im Zusammenh\u00e4nge der objektiven Wirklichkeit, Grund des T, nicht subjektiver, sondern objektiver, logischer oder Erkenntnisgrund. Es w\u00e4re \u00fcberfl\u00fcssig, zu sagen: zureichender oder zwingender Grund, da ein nicht zureichender oder nicht zwingender Grund in Wahrheit nicht Grund ist, obgleich er Teilgrund sein mag. Die Einf\u00fcgung des T in jene Stelle der objektiv wirklichen Welt oder die Bejahung des T an U ist die Folge des Grundes. U ist ebendamit zugleich logisches Subjekt, T logisches Pr\u00e4dikat des Urteils U-T oder der Association, die dem Urteil zu Grunde liegt. Sie sind zu allem dem geworden durch die erfahrungsgem\u00e4fse Association.\nVI. Die Association und das allgemeine Urteil.\nDer Akt der Erinnerung oder das Erinnerungsurteil, womit wir es bisher zu thun hatten, war ein Einzelurteil. Es war dies,","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n275\nweil in ihm der Grund oder das Subjekt des Pr\u00e4dikates T individuell bestimmt waren. U bezeichnete eine r\u00e4umlich und zeitlich bestimmte Stelle des allgemeinen Zusammenhanges der objektiv wirklichen Welt. Diese individuelle oder raumzeitliche Bestimmtheit haben wir uns jetzt zun\u00e4chst n\u00e4her anzusehen.\nDas Pr\u00e4dikat T des Urteils U-T war an einen bestimmten Zeitpunkt und an einen bestimmten Ort gekn\u00fcpft. Aber kein Zeitpunkt als solcher ist f\u00fcr mein Bewufstsein ein bestimmter, von anderen unterschiedener; ebenso kein Ort im Raume. Der Zeitpunkt, in dem ein Geschehen stattfindet, wird f\u00fcr mich dieser. oder jener, das Geschehen wird f\u00fcr mein Bewufstsein zu einem in diesem oder jenem Zeitpunkte stattfindenden lediglich dadurch, dafs es in bestimmten zeitlichen Verh\u00e4ltnissen zu bestimmten anderen Vorg\u00e4ngen, Thatbest\u00e4nden, kurz, Objekten meines Be-wufstseins steht. Ebenso ist der Ort im Raum, an dem sich ein Gegenstand befindet, f\u00fcr mein Bewufstsein einzig bestimmt und bestimmbar durch die r\u00e4umlichen Beziehungen des Gegenstandes zu bestimmten anderen Gegenst\u00e4nden. Regen wurde von mir wahrgenommen in einem bestimmten Zeitpunkt und Ort, das heilst: er wurde wahrgenommen als stattfindend nach, gleichzeitig mit oder vor bestimmten anderen, zugleich in bestimmten r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen zu ihm stehenden Wahrnehmungsinhalten. Die Bestimmtheit des Zeitpunktes und r\u00e4umlichen Ortes bestand zun\u00e4chst in der Bestimmtheit der unmittelbaren raumzeitlichen Umgebung. Diese Umgebung war wiederum zeitlich und r\u00e4umlich bestimmt. Aber auch diese zeitliche und r\u00e4umliche Bestimmtheit konnte f\u00fcr mein Bewufstsein in nichts anderem bestehen, als in der Einordnung in eine weitere zeitliche und r\u00e4umliche Umgebung von bestimmter Beschaffenheit u. s. w. So stellt sich jede Bestimmtheit oder Verschiedenheit der Zeitpunkte oder r\u00e4umlichen Orte f\u00fcr unsere Wahrnehmung oder Vorstellung dar als eine sachliche Verschiedenheit, d. h. eine Verschiedenheit dessen, was in immer weiteren und weiteren Kreisen den Zeitpunkt oder r\u00e4umlichen Ort zeitlich lind r\u00e4umlich umgiebt. Ein Gegenstand ver\u00e4ndert seinen Ort, d. h. er wechselt seine n\u00e4here oder entferntere Umgebung. Die Ortsver\u00e4nderung eines Gegenstandes, die von der gesamten n\u00e4heren oder entfernteren Umgebung, soweit sie Gegenstand unserer Wahrnehmung ist, mitgemacht w\u00fcrde, so dafs nirgends ein Teil der Umgebung aus","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nTh. Lipps.\nseiner relativen Lage zu jenem Gregenstande Heraustr\u00e4te und ein anderer an seiner Stelle m dieser relativen Lage siclitbar w\u00fcrde, existierte f\u00fcr unsere Wahrnehmung nicht. So kann es \u00fcberhaupt f\u00fcr unsere Wahrnehmung keine Verschiedenheit von Orten geben, die nicht darin best\u00e4nde, dafs Gleiches in verschiedener oder Verschiedenes in gleicher Beziehung zu den Orten oder dem, was in den Orten sich befindet, wahrgenommen wird. Und das Gleiche gilt von der Zeit.\nIch sage damit nichts, als was unter dem Namen der Relativit\u00e4t aller Raum- und Zeitbestimmungen jedermann gel\u00e4ufig ist.\nIm gegenw\u00e4rtigen Zusammenhang nun handelt es sich uns aber nicht darum, welche raumzeitliche Umgebung den Zeitpunkt und r\u00e4umlichen Ort eines Thatbestandes f\u00fcr unser Bewufstsein \u00fcberhaupt bestimmt und von anderen unterscheidet. Nur dies kommt f\u00fcr uns hier in Betracht, welche raumzeitliche Umgebung den Zeitpunkt und r\u00e4umlichen Ort des T f\u00fcr mein Bewufstsein bestimmte und von anderen unterschied, als ich die Wahrnehmung des Tvollzog, welche raumzeitliche Umgebung also, oder welche begleitenden Umst\u00e4nde mit meiner Wahrnehmung des T in meinem Bewufstsein zusammentrafen. Nur mit diesen konnte die Wahrnehmung des T in unmittelbare Association treten. Nur diese k\u00f6nnen dann auch bei der Reproduktion oder Erinnerung das unmittelbar Reproduzierende oder das die Erinnerung unmittelbar Bestimmende sein.\nIn meinem Bewufstsein Zusammentreffen konnten aber mit der Wahrnehmung des T nur die gleichzeitigen und unmittelbar vorangehenden Umst\u00e4nde, weiterhin auch die unmittelbar folgenden. Dabei schliefse ich in die \u201eUmst\u00e4nde\u201c zugleich ein die mitwahrgenommenen r\u00e4umlichen Beziehungen derselben untereinander und zu dem T; nicht minder ihre zeitlichen Beziehungen untereinander und zu T. Durch diese zeitlich unmittelbar benachbarten Umst\u00e4nde und nur durch sie war dem Tin der Wahrnehmung unmittelbar seine zeitr\u00e4umliche Stelle angewiesen. Die zeitlich unmittelbare Umgebung des T, soweit sie mitwahrgenommen wurde, machte f\u00fcr die Wahrnehmung des T das Jetzt und Hier des T aus. Diese unmittelbare Umgebung also und sonst nichts konnte mit der Wahrnehmung des T in unmittelbare Association treten. Auch die weitere Umgebung verkn\u00fcpfte sich damit, aber nur","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n277\nsofern sie sich mit der n\u00e4heren Umgebung verkn\u00fcpfte. Sie konnte dann in der Erinnerung die n\u00e4here Umgebung reproduzieren. Aber erst diese n\u00e4here Umgebung konnte T reproduzieren, also der unmittelbare und eigentliche Grund der Reproduktion des T oder das zur Bejahung des T unmittelbar und eigentlich N\u00f6tigende sein.\nWiederum aber haben in dieser zeitlich unmittelbaren Umgebung die der Wahrnehmung des T nachfolgenden Elemente f\u00fcr uns keine Bedeutung. Welche Umst\u00e4nde auch immer nachgefolgt sein m\u00f6gen, die gleichzeitigen und vorangehenden Umst\u00e4nde waren nun einmal vorher da, und T z\u00f6gerte nicht mit ihnen in Association zu treten ; es wartete damit nicht, bis auch die nachfolgenden Umst\u00e4nde sich eingestellt h\u00e4tten. Entsprechend erweist sich auch das Erinnerungsurteil als unabh\u00e4ngig von dem, was dem T folgte. Es gen\u00fcgt, dafs ich dem Gange meines Erlebens in Gedanken folge bis zu dem Punkte, wo mir T begegnete, und die Bejahung des T erweist sich mir an eben diesem Punkte meines Erlebens als notwendig, und es thut nichts zur Sache, ob ich dann auch noch des Folgenden mich erinnere. Jene Notwendigkeit, das T dem Komplex der vorangehenden und gleichzeitigen Umst\u00e4nde einzuf\u00fcgen, wird dadurch weder st\u00e4rker noch schw\u00e4cher.\nDafs es so ist, liegt aber \u00fcberhaupt in der Natur der Association und Reproduktion. Die Reproduktion ist nicht Wiederkehr des Verkn\u00fcpften \u00fcberhaupt, sondern Wiederkehr in gleicher Ordnung. In der Folge, in der die Wahrnehmungen sich aneinander reihten, kehren sie auch in der Erinnerung wieder. Was sich an eine Wahrnehmung anf\u00fcgte, oder zu ihr hinzutrat, das f\u00fcgt sich auch in der Erinnerung an die reproduzierte Wahrnehmung an oder tritt zu ihr hinzu. Jede Reproduktion in ver\u00e4nderter oder umgekehrter Ordnung mufs ihren besonderen Grund haben, d. h. es mufs die Association irgendwie zugleich in umgekehrter Ordnung sich gekn\u00fcpft haben. Sie ist von Hause aus in doppelter Richtung \u2014- von A nach B und zugleich von B nach A \u2014- gekn\u00fcpft, insoweit die Elemente \u2014 A und B \u25a0\u2014 gleichzeitig gegeben waren.\nMit Vorstehendem sind wir um einen wesentlichen Schritt weitergekommen. Das Erinnerungsurteil U- T erschien als ein Einzelurteil, weil das Subjekt U individuell bestimmt war. Jetzt hat sich uns aus dem Einzelurteil sozusagen als sein eigent-","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nTh- Tipps.\nliclier Kern ein allgemeines Urteil herausgel\u00f6st. Sein Pr\u00e4dikat ist gleichfalls T, sein Subjekt aber ist von jenem U dadurch unterschieden, dafs ihm die individuelle Bestimmtheit fehlt. Subjekt dieses Urteils ist der Ingrifif und zeitr\u00e4umliche Zusammenhang der bei der Wahrnehmung des T mitwahrge-nommenen, dem T unmittelbar vorangehenden und gleichzeitigen Umst\u00e4nde. Er ist in vollem Sinne Subjekt dieses T, sofern er der zureichende und gen\u00fcgende Grund der Bejahung des T ist. Er ist nur unmittelbares oder n\u00e4chstes Subjekt. Aber nur das unmittelbare oder n\u00e4chste Subjekt kommt f\u00fcr uns hier in Frage. Wollen wir auch dies neue aus dem Erinnerungsurteile U-T herausgel\u00f6ste Urteil noch mit U-T bezeichnen, so m\u00fcssen wir unter U jetzt ausschliefslich den Zusammenhang der wahrgenommenen, dem T unmittelbar vorangehenden und gleichzeitigen Umst\u00e4nde verstehen.\nAngenommen, dieses selbe U kehre an einer anderen zeitlichen und r\u00e4umlichen Stelle des Weltverlaufs wieder, so kann ich nicht umhin in gleichem zeitr\u00e4umlichen Zusammenhang mit ihm dasselbe T wieder zu bejahen. Ich sage: dasselbe U. Man k\u00f6nnte einwenden, diese Identit\u00e4t sei lediglich qualitative, nicht numerische Identit\u00e4t. In der That k\u00f6nnen numerisch identische Umst\u00e4nde nicht wiederkehren. Aber von der numerischen Verschiedenheit der Umst\u00e4nde findet sich eben in der Vorstellung der Umst\u00e4nde nichts, die Vorstellung U und ihre associative Beziehung zu T ist durchaus eine und dieselbe, gleichg\u00fcltig in wie vielen numerisch verschiedenen F\u00e4llen das U in der objektiven Welt verwirklicht erscheinen mag. Die eine und selbe Vorstellung U und Association U-T umfafst oder repr\u00e4sentiert in gleicherweise alle gleichartigen wirklichen oder als wirklich gedachten U. Indem die Association des U mit T sich kn\u00fcpfte, kn\u00fcpfte sie sich unweigerlich f\u00fcr alle m\u00f6glichen U; das Urteil U-T kann darum nicht bestehen, ohne zugleich den Wert eines allgemeinen zu haben.\nDamit ist nicht gesagt, dafs das allgemeine Urteil U-T nun auch gleich als solches objektive Giltigkeit habe. Es besteht zun\u00e4chst nur f\u00fcr mich, der ich T unter den vorangehenden und begleitenden Umst\u00e4nden U wahrgenommen habe.\nUnd selbst dies ist zu viel gesagt. Anderweitige Erfahrungen k\u00f6nnen mich zwingen, das allgemeine Urteil wieder aufzuheben, ja das Urteil kommt vielleicht, weil ihm bereits anderweitige","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n279\nErfahrungen im Wege stehen, gar nicht zu st\u00e4nde. Aber mit solchen anderweitigen Erfahrungen habe ich es hier einstweilen nicht zu thun. Ich rede hier nur von dem, was in der auf Grund der Wahrnehmung des U und T von mir gekn\u00fcpften Association TJ-T als solcher f\u00fcr mich enthalten liegt.\nIm Obigen ist eine psychische Thatsache bezeichnet, die alle Allgemeinheit von Urteilen bedingt. Dafs eine und dieselbe Vorstellung oder Vorstellungsverbindung beliebig und schliefslich unendlich viele Objekte und Zusammenh\u00e4nge von Objekten, dafs etwa eine und dieselbe Vorstellung eines Tones von bestimmter St\u00e4rke, H\u00f6he und Klangfarbe, obgleich als Vorstellung eine und dieselbe, dennoch Vorstellung dieses und zugleich jenes Tones von der bestimmten St\u00e4rke, H\u00f6he und Klangfarbe ist, das ist eine wahre \u201eErkenntnisbedingung\u201c, soweit Erkenntnis in allgemeinen Urteilen besteht. Eine Vorstellung oder allgemeiner ein Bewufstseinsinhalt kann aber viele Objekte repr\u00e4sentieren, weil es gleiche Objekte, oder wenigstens \u00fcberall Gleiches in Objekten giebt und weil diese Gleichheit nicht dadurch aufgehoben wird, dafs die Objekte verschiedenen Zeitpunkten oder r\u00e4umlichen Orten angeh\u00f6ren. Darnach k\u00f6nnen wir auch die Gleichheit der Zeitpunkt und r\u00e4umlichen Orte oder die Homogeneit\u00e4t von Zeit und Kaum als eine der Bedingungen bezeichnen, unter denen allgemeine Erkenntnis m\u00f6glich ist.\nJedes in der Erfahrung gewonnene Einzelurteil, ich rede hier immer noch speziell von Beziehungsurteilen, ist ohne weiteres ein allgemeines. Dies ist so, weil Associationen immer in derselben Weise wirken. Und dafs es so ist, ist nur eine Tautologie; ich brauche nicht zu wiederholen, dafs wir von Associationen nichts kennen, als ihre Wirkungen. Das einzig nicht Tautologische ist, dafs es Associationen giebt, die viele Zusammenh\u00e4nge von Objekten zugleich repr\u00e4sentieren. Diesen Tb atbestand kann man als Gesetz des zureichenden Grundes mit R\u00fccksicht auf die materialen Beziehungsurteile aussprechen: Die begleitenden und vorangehenden Umst\u00e4nde, unter denen ein Thatbestand wahrgenommen wurde, treten mit diesem in associative Beziehung, d. h. sie werden in der Folge zu zureichenden Gr\u00fcnden f\u00fcr den Thatbestand.\nVII. Associationen und objektiv giltige Gr\u00fcnde.\nDas eben Gesagte bedarf einer Erg\u00e4nzung. Es scheint, als habe ich mich dadurch mit der Erfahrung in schreienden Wider-","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nTh. Lipps.\nsprach gesetzt. Man sagt mir: Was unter gewissen, von mir beobachteten begleitenden und vorangehenden Umst\u00e4nden stattfand, kann recht wohl unter denselben Umst\u00e4nden unterbleiben. Es kann unterbleiben, ohne dafs ich mich wundere, geschweige dafs ich darin einen Widerspruch sehe. Associationen haben keine gleichm\u00e4fsig zwingende Wirkung. Es giebt kein Gesetz der Association im eigentlichen und strengen Sinne des Wortes. So leugnet man schliefslich alle psychologische Gesetzm\u00e4fsigkeit, ohne zu sehen, dafs man damit auch alle Gesetzm\u00e4fsigkeit der Dinge leugnet.\nAber ist man denn je auf den Einfall gekommen, das Fallgesetz zu leugnen, weil es vorkommt, dafs K\u00f6rper nicht fallen, sondern steigen? Leugnet man das Gesetz der Beharrung, weil auf der Erde kein geworfener K\u00f6rper in gleicher Richtung und mit gleicher Geschwindigkeit weitergeht oder weiterzugehen \u201estrebt\u201c, sondern jeder K\u00f6rper von vornherein \u201ebestrebt\u201c ist, sich der Erde zu n\u00e4hern, also seine Richtung und seine Geschwindigkeit zu \u00e4ndern. Hier ist man sich des Sinnes des \u201eGesetzes\u201c wohl bewufst. Nur der sich selbst \u00fcberlassene K\u00f6rper beharrt in seiner Richtung und Geschwindigkeit, oder \u201estrebt\u201c darin zu beharren. So wird man auch nur von der sich selbst \u00fcberlassenen Association verlangen d\u00fcrfen, dafs sie ihre Richtung beibeh\u00e4lt. Man wird, allgemeiner gesagt, keine psychische Gesetzm\u00e4fsigkeit fordern d\u00fcrfen, die allem dem widerstreitet, was man sonst unter Gesetzm\u00e4fsigkeit versteht.\nDie richtig verstandene Gesetzm\u00e4fsigkeit der Association ist aufser Zweifel. Ich frage zun\u00e4chst: Haben nicht Associationen bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger zwingende Kraft? Dies mufs uns veranlassen, statt Behauptungen auszusprechen, die Bedingungen zu untersuchen, unter denen dergleichen stattfindet. Wir finden, Associationen, die bei dem wissenschaftlich Gebildeten, dem Erfahrenen und Weitsichtigen keine zwingende Kraft mehr haben, ihn also nicht mehr zu allgemeinen Urteilen und Voraussagungen verleiten, haben diese Kraft und \u00fcben die entsprechende Wirkung beim Ungebildeten, Unerfahrenen, Beschr\u00e4nkten. Auch bei jenem kn\u00fcpfen sich die Associationen; aber er \u201e\u00fcberl\u00e4fst\u201c sich ihnen nicht mehr, oder die Associationen sind bei ihm nicht mehr sich selbst \u201e\u00fcberlassen\u201c. Anderweitige Erfahrungen und erfahrungsgem\u00e4fse Associationen treten ihnen entgegen. Also haben doch Associationen an sich","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n281\nn\u00f6tigende Kraft. Die n\u00f6tigende Kraft mnfs, wenn sie nicht mehr da sein soll, aufgehoben werden. \u2014 Dafs Associationen wirken in dem Mafse, als man sich ihnen \u201e\u00fcberl\u00e4fst\u201c oder sie sich \u201e\u00fcberlassen\u201c sind, sagt alles. Eine ganz und gar sich \u00fcberlassene Association, also eine Association in einem Geiste, der im \u00fcbrigen aller Erfahrung baar w\u00e4re, m\u00fcfste durchaus zwingende Kraft haben.\nDies giebt aber auch im Grunde jeder zu. Jeder wenigstens, der das Kausalgesetz zugiebt. Angenommen, ich h\u00e4tte alle gleichzeitigen und vorangehenden Umst\u00e4nde eines Thatbestandes festgestellt, es l\u00e4ge also der ganze gleichzeitige und vorangehende Weltzustand mir deutlich vor Augen. M\u00fcfste ich dann nicht annehmen, dafs bei Wiederkehr eben dieses Weltzustandes derselbe Thatbestand von neuem sich einstellte? W\u00fcrde es nicht dem \u201eKausalgesetze\u201c widersprechen, wenn in dem zweiten Falle der Thatbestand ein anderer w\u00e4re?\nUnd angenommen, ich h\u00e4tte nicht alle Umst\u00e4nde festgestellt. Ich w\u00fcfste aber einstweilen nichts von der Existenz anderer als der festgestellten Umst\u00e4nde. Sie existierten in Wirklichkeit, aber nicht f\u00fcr mich. Oder ich w\u00fcfste von ihnen, ver-stattete ihnen aber f\u00fcr einen Augenblick auf mein Denken keinerlei Einflufs. Dann w\u00e4re es f\u00fcr mein Denken ebenso gut, als ob sie nicht existierten. Die festgestellten Umst\u00e4nde waren f\u00fcr mein Denken alle Umst\u00e4nde. Ich m\u00fcfste also wiederum annehmen, dafs die Wiederkehr der Umst\u00e4nde mit der Wiederkehr des Thatbestandes verbunden sei. Darnach tr\u00e4gt einzig mein Wissen, es gebe noch andere Umst\u00e4nde, und die Wirksamkeit dieses Wissens die Schuld, wenn ich die Annahme nicht machen mufs. Abgesehen davon, also an sich h\u00e4tte die Association auch hier zwingende Kraft.\nIch appelliere noch bestimmter an das \u201eKausalgesetz\u201c. Jede Ver\u00e4nderung eines Thatbestandes fordert ihre Ursache. Sie fordert genauer als Ursache eine Ver\u00e4nderung, auf die sie unmittelbar folgt, also eine Ver\u00e4nderung innerhalb des Komplexes der gleichzeitigen und vorangehenden Umst\u00e4nde. Nun betrachte man diese verursachende Ver\u00e4nderung als nicht geschehen. Es bleiben dann die unver\u00e4nderten Umst\u00e4nde. Unter Voraussetzung derselben ist die Ver\u00e4nderung des Thatbestandes undenkbar; ich mufs sie also in Gedanken aufheben, d. h. den unver\u00e4nderten Thatbestand in Gedanken fortbestehen lassen. Mit einem","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nTh. Lipps.\nWorte : die Annahme gleicher Umst\u00e4nde zwingt mich, Gleiches zu bejahen. \u2014 Dies ist genau, was ich sage. Nat\u00fcrlich k\u00f6nnen mich nur solche Umst\u00e4nde zwingen, die ich beobachtet habe, die also mit dem Thatbestand in Association getreten sind. Dafs einmal gekn\u00fcpfte Associationen zwingend wirken, solange nur eben diese Associationen wirken und nicht anderweitige Erfahrungen hinzutreten, die diese zwingende Wirkung aufheben, dieser Satz steht so fest, wie das Kausalgesetz. Es ist so aus keinem anderen Grunde, als weil in jenem Satz eben das richtig verstandene Kausalgesetz enthalten liegt.\nUnter welchen Bedingungen k\u00f6nnen aber anderweitige Erfahrungen die zwingende Wirkung einer Association aufheben? Gewifs nicht, wenn sie mit der Association inhaltlich gar nichts zu thun haben. Auch nicht, wenn sie die Association best\u00e4tigen. Der Association U-T, die sich jetzt in mir kn\u00fcpft, kann die zwingende Kraft nur fehlen, wenn ich irgendwelche Erfahrung gemacht habe, in der sich an U oder eines der Elemente, aus denen U besteht, statt des T ein non-T f\u00fcgte. Aus dieser Erfahrung ist eine Gegenassociation entstanden, d. h. eine Association, deren Wirkung mit der Wirkung der Association U-T in Widerspruch tritt. Nur solche Gegenassociationen k\u00f6nnen die zwingende Kraft einer Association zerst\u00f6ren.\nIch habe jetzt eben eine rote Kose gesehen. In Folge der Wahrnehmung hat sich mit der Gestalt der Kose die rote Farbe verkn\u00fcpft. Die Gestalt der Kose hatte etwas Individuelles, aber auch etwas der Gattung Gemeinsames. Sofern die Association der Gestalt mit der roten Farbe die Association dieses \u201eGemeinsamen\u201c mit der roten Farbe in sich schliefst, gilt die Association als solche f\u00fcr jede Kose, die ich in Zukunft wahrnehmen werde. Ich m\u00fcfste, wenn diese Association f\u00fcr sich wirken k\u00f6nnte, von jeder Kose erwarten, dafs sie dieselbe rote Farbe zeige. Vorausgesetzt w\u00e4re nur in jedem einzelnen Falle, dafs die Association \u00fcberhaupt wirkte, d. h. dafs jede neue Rose verm\u00f6ge der \u00dcbereinstimmung ihrer Gestalt mit der Gestalt der jetzt gesehenen Kose diese reproduzierte. Dem mitreproduzierten Gemeinsamen m\u00fcfste ich, wenn nichts w\u00e4re, das daran hinderte, die rote Farbe wiederum anf\u00fcgen.\nAber es giebt eben solche hindernde Momente. Die Association der Kose mit der roten Farbe ist und wirkt thats\u00e4chlich nicht mehr f\u00fcr sich. Ich habe auch schon andersfarbige Kosen","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n283\ngesehen. Aueli das gen\u00fcgt, dafs Blumen, die nicht Bosen waren, aber mit Bosen etwas wahrnehmbar Gemeinsames hatten, andere Farben zeigten. Oder ich weifs, andere Bosen wachsen auf anderem Boden, in anderer Umgebung, in anderem Licht, erfahren andere Pflege, oder sind sonst irgendwie von der jetzt eben gesehenen verschieden. Und auch an diese unterscheidenden Momente haben sich erfahrungsgem\u00e4fs andere Farben gekn\u00fcpft. So stehen der einen Association nicht eine, sondern unz\u00e4hlige Gegenassociationen gegen\u00fcber. Kein Wunder, wenn die Association nicht mehr wirkt, was sie, blofs sich selbst \u00fcberlassen, wirken w\u00fcrde.\nIn \u00e4hnlicher Weise finden die meisten Associationen, die wir kn\u00fcpfen, ihre Gegenassociationen schon vor. Sie sind schon, indem sie geboren werden, nicht mehr f\u00fcr sich oder sich selbst \u00fcberlassen, k\u00f6nnen also nicht mehr die in ihrer Natur liegende Wirkung vollbringen. Nicht an ihnen, sondern nur an den jungfr\u00e4ulichen, noch von Gegenassociationen freien, k\u00f6nnen wir diese Wirkung erproben.\nAber es scheint fast, als k\u00f6nne es nach dem eben Gesagten f\u00fcr uns gar keine solchen \u201ejungfr\u00e4ulichen\u201c Associationen mehr geben. Dann w\u00e4re unser Versuch, die Kausalit\u00e4t auf Association zur\u00fcckzuf\u00fchren, hinf\u00e4llig. Die kausalen Associationen, d. h. diejenigen associativen Beziehungen, die wir als urs\u00e4chliche bezeichnen, k\u00f6nnen ja gewifs nur unter den \u201ejungfr\u00e4ulichen\u201c gesucht werden. Denn giebt es eine Erfahrung, die mit einem A ein non-B verbunden zeigt, so kann nach jedermanns Meinung A nicht Ursache des JB sein, wenn es auch seine Teilursache sein mag.\nNun hat auch die rote Farbe der Bose, von der wir vorhin sprachen, ihre Ursache. Sie besteht \u2014 wenn wir von Licht und Auge, ohne die es gar keine Farbe g\u00e4be, absehen \u2014 allgemein gesagt \u2014 in der Konstitution der Bose. Die Association zwischen dieser \u201eKonstitution\u201c und der roten Farbe m\u00fcfste also eine in ihrer zwingenden Wirkung durch keine Gegenassociation gest\u00f6rte sein. Und doch scheinen, nach Obigem, solche Gegenassociationen nicht fehlen zu k\u00f6nnen. Auch die Konstitution unserer Bose, so gut wie ihre Gestalt, hat ja etwas allen Bosen Gemeinsames. Und dieses \u201eGemeinsame\u201c hat sich in der Erfahrung oft genug mit anderen Farben verkn\u00fcpft. Ich bin also auch bei der in Bede stehenden Bose gen\u00f6tigt, diesem\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie.\t19","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nTh. Lipps.\n\u201eGemeinsamen\u201c andere Farben hinzuzuf\u00fcgen, oder ich bin gen\u00f6tigt, sie zu der Konstitution der Kose hinzuzufugen, sofern diese Konstitution jenes Gemeinsame in sich schliefst. Eben damit ist aber die \u201ezwingende Kraft\u201c, d. h. die ausschliefsliche Wirkung der Association zwischen jener Konstitution und der roten Farbe aufgehoben.\nIndessen dieser scheinbare Widerspruch l\u00f6st sich, wenn wir eine n\u00e4here Bestimmung des Wesens der Association, die schon bei Besprechung des Erinnerungsurteils vorausgesetzt war, nunmehr ausdr\u00fccklich hervorheben. Das Subjekt U einer Association U-T l\u00e4fst sich jederzeit in mehrere Elemente A, B, C zerlegen, es ist eine Einheit oder ein Zusammenhang der A, B, C. Indem die Association U-T in der Wahrnehmung sich kn\u00fcpft, kn\u00fcpfen sich auch unweigerlich die Teilassociationen A-T, B-T, C-T. Und diese Teilassociationen sind, solange es f\u00fcr sie keinerlei Gegenassociationen giebt, zwingend, wie jede Association. Haben sie aber ihre zwingende Kraft verloren, dann ist damit nicht auch die zwingende Kraft der ganzen Association U-T dahin. Diese Association wirkt als Ganzes, als eine Association eigener Art. Ihre Wirkung setzt sich nicht zusammen aus der Wirkung der Teilassociationen, sondern ist davon v\u00f6llig unabh\u00e4ngig.\nSo vergegenw\u00e4rtigt uns ein Wort das Bild eines Gegenstandes mit Ausschlufs anderer, obgleich die Vokale und Konsonanten, aus denen das Wort besteht, f\u00fcr sich gar nichts dergleichen thun. So erinnert uns ein Haus an seine Bewohner, oder das, was wir in dem Hause erlebt haben, w\u00e4hrend die einzelnen Steine oder farbigen Fl\u00e4chen, aus denen es f\u00fcr unsere Wahrnehmung besteht, jeder Stein oder jede Fl\u00e4che f\u00fcr sich betrachtet, uns eher an alles andere erinnern w\u00fcrden. In eben derselben Weise nun kann mir auch die Konstitution der jetzt eben wahrgenommenen Rose als Ganzes die Vorstellung der roten Farbe ausschliefslieh aufn\u00f6tigen, obgleich das, was diese Konstitution mit der Konstitution anderer Kosen gemein hat, diese Ausschliefslichkeit der N\u00f6tigung l\u00e4ngst hat aufgeben m\u00fcssen. \u2014 Dafs Associationen als Ganzes eine von der Wirkung der Teilassociationen unabh\u00e4ngige Wirkung \u00fcben, das ist wiederum eine der Grundthatsachen des Erkennens, oder eine letzte Erkenntnisbedingung.\nDie Konstitution der Kose war die Ursache der roten","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n285\nFarbe. So sind alle urs\u00e4chlichen Beziehungen Associationen, die als Ganzes zwingend wirken und diese zwingende Wirkung behaupten, trotzdem ihre Teilassociationen sie im Widerstreit mit Gegenassociationen verloren haben.\nSolche Associationen aber m\u00fcssen in unserem Denken gewonnen werden. Auch \u201eUrsachen\u201c werden ja von uns gewonnen. Wie gewinnen wir jene Associationen? Die Beantwortung der Frage ergiebt sich aus der Beantwortung der anderen: Wie k\u00f6nnen Gegenassociationen sich wechselseitig ihre zwingende Kraft rauben?\nWenn einer Association U-T eine Association U-non-T gegen\u00fcbertritt, ist dann die Association U-T gar nicht mehr vorhanden? Und wenn sie noch vorhanden ist, kann sie es dann ohne weiteres unterlassen, zu \u201ezwingen\u201c? In der That unterl\u00e4fst sie es nicht ohne weiteres. Kur dafs die Gegenassociation es ebensowenig unterl\u00e4fst. Und dafs Gegenassociationen sich bilden, dies zu verhindern liegt eben nicht in der Natur der Association.\nDie Association U-T zwingt, mit einem Uein T, die Association U-non-T zwingt, mit demselben U ein non-T zu verbinden. Ich mufs im Zusammenhang mit U das T annehmen und abweisen, bejahen und verneinen. Damit befinde ich mich im Zustande des logischen Widerspruchs. Dafs jede Association als solche zwingt, dies bedingt den Widerspruch.\nDieser Widerspruch nun mufs aufgehoben werden. Man wird nicht fragen, warum er aufgehoben werden m\u00fcsse, oder ob man sich nicht auch bei ihm beruhigen k\u00f6nne. Der Widerspruch ist eben dasjenige, bei dem man sich, n\u00e4mlich denkend, nicht beruhigen kann. Vielleicht gelingt es mir, den einen der beiden erfahrungsgem\u00e4fsen Zusammenh\u00e4nge \u00fcber dem anderen zu vergessen. Dann freilich kann ich mich dem anderen ungest\u00f6rt \u00fcberlassen. Aber das Denken besteht nicht darin, dafs ich eine Erfahrung \u00fcber der anderen vergesse, sondern dafs ich beide vereinige, d. h. zugleich in mir vollziehe. Und dies ist in unserem Fall unm\u00f6glich. In dieser Denkunm\u00f6glichkeit besteht der Widerspruch.\nWas w\u00fcrde denn auch aus dem Kausalgesetz, wenn wir bei jenem Widerspruch beharren k\u00f6nnten. Jeder Ver\u00e4nderung m\u00fcssen wir eine Ursache zugestehen. Gewifs \u201em\u00fcfsten\u201c wir nicht, wenn nicht das Gegenteil unm\u00f6glich w\u00e4re, wenn nicht","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nTh. IApps.\nder Gedanke der ursachlosen Ver\u00e4nderung irgendwie in uns auf Widerspruch stiefse. Nur dafs man, so lange man das Kausalgesetz nur behauptet und nicht sagt, worin es besteht, auch diesen Widerspruch oder diese Denkunm\u00f6glichkeit nur behauptet und es unterl\u00e4fst, zu sagen, worin sie bestehe.\nMan h\u00e4tte aber leicht den Sitz des Widerspruches entdecken k\u00f6nnen. Ich legte schon oben darauf Gewicht, dafs die vom Kausalgesetz geforderte Ursache der Ver\u00e4nderung eines Thatbestandes T in einer Ver\u00e4nderung in den das T begleitenden und ihm vorangehenden Umst\u00e4nden \u00fc bestehe. Ich sohlofs daraus, dafs nicht nur f\u00fcr uns, sondern f\u00fcr jeden, der das Kausalgesetz anerkenne, unter v\u00f6llig gleichbleibenden Umst\u00e4nden U der unver\u00e4nderte Fortbestand des T gefordert sei. Damit ist der Sitz des Widerspruches bezeichnet. Eine Ver\u00e4nderung des T, also ein \u00dcbergang von T in non- T, wenn nicht zugleich ein \u00dcbergang von U in non-U stattf\u00e4nde, w\u00fcrde dieser Forderung widersprechen. Und warum besteht die Forderung? Warum mufs ich dabei bleiben, dem mit sich identischen U das sich selbst gleichbleibende T hinzuzuf\u00fcgen? Wie gleichfalls schon oben gesagt, nur darum, weil die Erfahrung mit dem U nun einmal das T verkn\u00fcpft hat. Also ist der Widerspruch ein solcher zwischen der Vorstellungsverbindung U-non-T einerseits und der erfahrungsgem\u00e4fsen Verkn\u00fcpfung, oder der Association U-T andererseits. Es verh\u00e4lt sich mit andern Worten wiederum f\u00fcr jeden, der das Kausalgesetz gelten l\u00e4fst, genau so, wie wir sagen.\nDamit ist auch schon gesagt, worin die Aufhebung des Widerspruches besteht. In der Annahme einer Ver\u00e4nderung des U n\u00e4mlich. Unter gleichen Umst\u00e4nden U m\u00fcssen wir Gleiches annehmen. Also m\u00fcssen wir die Umst\u00e4nde ungleich denken, wenn wir auf Grund der Erfahrung Ungleiches \u2014 zuerst ein T, dann ein non- T \u2014 anzunehmen gen\u00f6tigt sind. Wir m\u00fcssen annehmen, neben der wahrgenommenen Gleichheit des U bestehe eine, obgleich nicht wahrgenommene Ungleichheit, es sei also mit U das eine Mal ein nichtwalirgenommenes Element a, das andere Mal ein Element non-a verbunden gewesen. Weitere Erfahrung entscheidet dann, worin das a und non-a besteht.\nWir nannten das U Grund oder Subjekt des T. Gleiche Gr\u00fcnde haben gleiche Folgen, gleiche Subjekte gleiche Pr\u00e4-","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n287\ndikate. Sind also Folgen oder Pr\u00e4dikate ungleich, so m\u00fcssen auch die Gr\u00fcnde oder Subjekte ungleich gedacht werden.\nDurch jene Korrektur oder Erg\u00e4nzung sind nun die U-T und U-non-T denkbar gemacht; der Widerspruch zwischen ihnenist gel\u00f6st. Er ist gel\u00f6st dadurch, dafs die urspr\u00fcnglichen Associationen U-T und U-non-T als \u201eTeilassociationen\u201c aufgenommen sind in die durch a und non-a erg\u00e4nzten Associationen U-Tund U-non-T. Diese letzteren haben jetzt die zwingende Kraft, die von Hause aus allen Associationen eignet. Die urspr\u00fcnglichen haben sie nur, sofern sie die Erg\u00e4nzung erfahren haben. Sie haben sie, aber nicht mehr als solche. Wir haben ja oben gesehen, dafs Associationen als Ganzes zwingende Kraft haben k\u00f6nnen, auch wenn die Teilassociationen als solche sie nicht mehr haben. Der Widerspruch der urspr\u00fcnglichen Associationen besteht nicht mehr, d. h. er kann nicht mehr aktiv werden, weil ich in meinem Denken von dem TJ-T und U-non-T sofort zu der Erg\u00e4nzung mich zur\u00fcckwenden und die \u201eerg\u00e4nzten\u201c U als solche, also als Ganzes betrachten und in mir wirken lassen kann. Als Ganzes sind sie verschieden, fordern also nicht mehr die Hinzuf\u00fcgung des Gleichen. Und ich kann jene Denkbewegung nicht nur vollziehen, sondern ich bin eben durch den Widerspruch der zwischen dem TJ-T und U-non-T, abgesehen von der Erg\u00e4nzung besteht, dazu gen\u00f6tigt. Der Widerspruch selbst ist die treibende Kraft. So sind \u00fcberhaupt Widerspr\u00fcche zwischen Associationen die treibenden Kr\u00e4fte in unserem Denken, soweit dasselbe \u00fcber die unmittelbare Wirkung der Associationen hinausgeht. Diese unmittelbare und jene mittelbare Wirkung der Associationen macht das Denken aus und l\u00e4fst die Erkenntnis entstehen. Ich rede auch hier speziell von der materialen Erkenntnis, obgleich sich die Behauptung auf alle Erkenntnis ausdehnen l\u00e4fst.\nJetzt erst ist auch die Frage, wie Associationen, die wir jetzt kn\u00fcpfen, von vornherein ohne zwingende Wirkung sein k\u00f6nnen, vollst\u00e4ndig beantwortet. Ich meinte oben, sie seien eben nicht mehr \u201ef\u00fcr sich\u201c, d. h. sie h\u00e4tten ihre Gegenassociationen bereits gefunden. Jetzt m\u00fcssen wir hinzuf\u00fcgen, dafs sie auch in anderem Sinne nicht mehr \u201ef\u00fcr sich\u201c sind; in dem Sinne n\u00e4mlich, dafs sie und ihre Gegenassociationen verschiedenartige Erg\u00e4nzungen gefunden haben, oder dafs sie von uns aut Grund der Erfahrung als Teilassociationen in verschiedenartige","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nTh. Lipps.\n\u201eweitere\u201c, d. h. in ihren Subjekten verschiedenartig erg\u00e4nzte Associationen aufgenommen worden sind. Weil diese erg\u00e4nzten oder \u201eweiteren\u201c Associationen hinsichtlich ihrer Subjekte verschiedenartige sind, darum besteht zwischen ihnen kein Widerspruch mehr.\nSo bin ich nicht mehr gezwungen, alle Rosen in meinen Gedanken mit der Farbe der jetzt eben wahrgenommenen auszustatten, es schliefst also das Bewufstsein, es gebe auch andersgef\u00e4rbte Rosen, f\u00fcr mich keinen Widerspruch mehr in sich, weil es f\u00fcr mich Rosen schlechtweg, als diese isolirten Be-wufstseinsinhalte, gar nicht mehr giebt, sondern nur Rosen von dieser oder jener inneren und \u00e4ufseren Beschaffenheit, wie sie in den Namen, die ihnen der Botaniker oder G\u00e4rtner giebt, ausgesprochen hegt, aufserdem Rosen in dieser oder jener Umgebung, Rosen unter dieser oder jener Pflege u. s. w. In gleicher Weise verschwindet \u00fcberall der Widerspruch, es verstummt die Frage: wie ist es m\u00f6glich, dafs dies A, dasB war, jetzt nicht mehr B ist? \u2014 in dem Mafse, als ich gelernt habe, Erfahrungsinhalte in weitere und weitere und damit zugleich immer mehr sich differenzierende Zusammenh\u00e4nge einzuordnen und in diesen Zusammenh\u00e4ngen mir zu vergegenw\u00e4rtigen. Immer ist es eben der Widerspruch, der mich zu solcher Einordnung bringt, also seine Aufhebung selbst m\u00f6glich macht.\nMit dem Gesagten ist doch nicht behauptet, dafs die erg\u00e4nzten Associationen, insbesondere die Association U-T nicht wiederum mit Erfahrungen in Widerspruch geraten k\u00f6nnen. Geschieht dies, dann wiederholt sich der Prozefs der Erg\u00e4nzung. Er kann sich wiederholen, solange die Gefahr des Widerspruches besteht. Besteht sie nicht mehr, so ist die Association U-T eine endgiltige oder objektiv g\u00fctige, es ist das in ihr repr\u00e4sentirte allgemeine Urte\u00fc ein endgiltiges oder objektiv g\u00fctiges geworden.\nGenauer ist es der Grund des T, oder das Subjekt der Association oder des allgemeinen Urteils, das die Erg\u00e4nzung erf\u00e4hrt. Der Grund war ein subjektiv g\u00fctiger, das Subjekt ein subjektiv g\u00fctiges. Jetzt ist der objektiv g\u00fctige Grund des T oder das objektiv g\u00fctige Subjekt in dem Urteile, dessen Pr\u00e4dikat T ist, gefunden. Im Kampfe der Erfahrungen und Erfahrungsassociationen um das Dasein in meinem Geiste werden solche objektiv g\u00fctigen Gr\u00fcnde oder Subjekte erzeugt.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n289\nSie sind objektiv g\u00fctige, weil sie durch, den Kampf hindurch-gegangen sind, und darum den Kampf, d. h. die Gefahr der Wideraufhebung durch den Widerspruch mit der Erfahrung nicht mehr zu f\u00fcrchten haben.\nVIII. Das Kausalgesetz.\nDafs gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben, diese \u00dcberzeugung w\u00e4re vom Kausalbegriff g\u00e4nzlich unabh\u00e4ngig, wenn Objekte f\u00fcr uns dadurch zu Ursachen und Wirkungen w\u00fcrden, dafs wir ein \u201eobjektives\u201c kausales \u201eBand\u201c oder \u201ereales\u201c Band der Notwendigkeit zwischen ihnen gekn\u00fcpft d\u00e4chten. Dafs ein solches Band einmal an ein A ein B festkn\u00fcpfte, daraus folgte ja keineswegs, dafs es in gleicher Weise mit jedem anderen A dasselbe B verkn\u00fcpfen m\u00fcfste. Vielmehr m\u00fcfste es ein eigenes Gesetz geben, das diese Gleichm\u00e4fsigkeit der Verkn\u00fcpfung verb\u00fcrgte. Wir h\u00e4tten aber sogar, wenn wir bedenken, dafs auch schon jene erste Anwendung des Kausalbegriffs nicht willk\u00fcrlich von uns geschieht, neben dem Kausalbegriff zwei selbst\u00e4ndige Kausalgesetze anzuerkennen: das eine das sagt, dafs wir unter bestimmten Umst\u00e4nden das kausale Band vorhanden denken m\u00fcssen, und das andere, das uns n\u00f6tigt, wenn wir einmal unter diesen Umst\u00e4nden den Gedanken vollzogen haben, ihn unter gleichen Umst\u00e4nden immer wieder zu vollziehen. \u2022\u2014 In der That ein merkw\u00fcrdiger Reichtum des menschlichen Geistes, merkw\u00fcrdig vor allem wegen seiner Nutzlosigkeit. Denn von diesen drei psychologischen Thatbest\u00e4nden w\u00e4ren zwei, n\u00e4mlich der Kausalbegriff und jenes erste Kausalgesetz f\u00fcr\u2019s Denken vollkommen \u00fcberfl\u00fcssig.\nAber, so entgegnet man uns, wenn ein B notwendig an ein A gekn\u00fcpft ist, mufs es dann nicht jeder Zeit an das A gekn\u00fcpft sein? Hier spielt man mit Worten, und es ist merkw\u00fcrdig, wie selbst einsichtige Erkenntnis-Psychologen sich von diesem Spiel t\u00e4uschen lassen. Was heilst denn das: B ist an A \u201enotwendig\u201c gekn\u00fcpft? Soll damit in der That nur gesagt sein, dafs in einem gegebenen Falle jenes angebliche \u201ereale\u201c Band der Notwendigkeit zwischen A und B bestehe? Dann bleibt es dabei, dafs das Dasein dieses realen Bandes an einer Stelle der Wirklichkeit nicht ohne weiteres sein Dasein an anderen Stellen der Wirklichkeit in sich schliefst. In Wahrheit hat man aber etwas Anderes im Sinn. Ohne es selbst zu wissen, schiebt","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nTh. Tipps.\nman jenem realen Bande der Notwendigkeit ein ideelles, jener in den Objekten gedachten Notwendigkeit die Notwendigkeit des Denkens unter. Erst hat man das reale Band f\u00fcr unerl\u00e4sslich erkl\u00e4rt, jetzt, wo es f\u00fcr das Denken nutzbar werden soll, wirft man es \u2014 mit vollem Rechte \u2014\u2022 weg und ersetzt es durch etwas vollkommen Anderes, n\u00e4mlich das Band der Notwendigkeit zwischen Denkakten. Und nun allerdings gilt jene obige Behauptung. N\u00f6tigt mich in einem Falle ein A, ein B mit ihm verbunden zu denken, so liegt darin f\u00fcr mich die N\u00f6tigung, mit jedem A dasselbe B verbunden zu denken. So gewifs das reale Band der Notwendigkeit, das an ein A ein B bindet, nicht ohne weiteres alle A umfafste, so gewifs um-fafst das Band der Notwendigkeit, das an die Annahme, dafs A sei, die Annahme, dafs B sei, bindet, alle A der Welt. Dies letztere ist so, weil, wie wir gesehen haben, die eine und selbe Vorstellung des A und B alle A und B zumal repr\u00e4sentiert. \u2014 So schl\u00e4gt auch hier der mythologische Kausalbegriff gegen seinen Willen in den wahren, psychologischen Kausalbegriff um.\nDiesen wahren Kausalbegriflf haben wir nun nicht mehr zu er\u00f6rtern. Ebenso ist f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis des Gesetzes der Kausalit\u00e4t das Wesentlichste bereits gethan. Dafs Ver\u00e4nderungen Ursachen haben, pflegt man zun\u00e4chst als Sinn des Gesetzes zu bezeichnen. Auch diese specielle Formulierung des Kausalgesetzes wurde oben schon in Betracht gezogen. Freilich hatten wir es zun\u00e4chst nicht mit der Ver\u00e4nderung, sondern mit dem Anderssein \u00fcberhaupt zu thun. Aber davon ist eben die Ver\u00e4nderung ein Specialfall: Mit U ist in einem Falle T, in einem anderen non-T verbunden; oder mit U ist in diesem Momente T, im n\u00e4chsten non-T verbunden. So gut wie das erstere, so gut schliefst das letztere, solange U sich selbst gleich gedacht wird, einen Widerspruch in sich. Wir m\u00fcssen dem U des einen Momentes T, und demselben U, sofern wir es im folgenden Momente wirklich denken, non-T hinzuf\u00fcgen. Diesem Widerspruch k\u00f6nnen wir nur entgehen, indem wir die beiden Momente des U, d. h. da Momente an sich nicht verschieden sind, das, was in den beiden Momenten zu U hinzutritt, verschieden denken. Wir entgehen mit anderen Worten dem Widerspruch, indem wir annehmen, es habe an \u00fc eine Ver\u00e4nderung stattgefunden.","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n291\nGehen wir aber hierauf etwas n\u00e4her ein. Die Ver\u00e4nderung an U, die die Erfahrung zun\u00e4chst aufweist, heifse v1} das U mit der Ver\u00e4nderung Uv1. Statt non-T sagen wir von jetzt an, um es als ein bestimmtes non-T zu bezeichnen: 7j. Dafs an Stelle des T im zweiten der beiden aufeinanderfolgenden Momente Tl getreten ist, dafs also die Ver\u00e4nderung TT1 stattgefunden hat, dies ist denkbar geworden durch das Bewufstsein, auch U sei ein anderes geworden, oder kurz durch das Bewufstsein der Wirklichkeit des Ui\\ an Stelle des blofsen U. Indem ich Uv1 denke und von diesem Uv1 als Ganzem zu TT1 \u00fcbergehe, schwindet der Widerspruch. Mit dem Vollzug dieser relativ neuen Gedankenverbindung ist aber eine relativ neue Association entstanden, n\u00e4mlich eben die Association TJv^-TT^ Innerhalb derselben ist Uv1 der zureichende Grund des Tl\\.\nIn diesem Uvi ist nun zugleich f\u00fcr mein Bewufstsein die Ursache des TTt oder der Ver\u00e4nderung des Tenthalten. U mufste ja zu Uv1 erg\u00e4nzt werden, wenn die Ver\u00e4nderung TTl an U oder in bestimmtem zeitlichen bezw. zeitr\u00e4umlichen Zusammenhang mit U denkbar sein sollte. Der Gedanke, zum ehemaligen U sei hinzugetreten, ist die Bedingung oder Voraussetzung der M\u00f6glichkeit, d. h. der widerspruchslosen Denkbarkeit des TT. Wir brauchen nur diesen Gedanken wieder r\u00fcckg\u00e4ngig zu machen, und der Gedanke, die Ver\u00e4nderung TT1 habe stattgefunden, wird so unvollziehbar, wie er es urspr\u00fcnglich war. Dies aber ist, wie wir gesehen haben, das Kennzeichen der Ursache: Ursache eines Thatbestandes ist der Bewufstseinsinhalt, dessen Bejahung uns zwingt, den Thatbestand anzunehmen, und den wir in einem gegebenen Falle nicht verneinen k\u00f6nnen, ohne dafs auch der Thatbestand f\u00fcr uns undenkbar wird.\nDamit sind wir indessen noch nicht zu Ende. Auch hier braucht, was Grund ist, sich nicht als solcher zu bew\u00e4hren. Uvt braucht sich nicht als objektiv g\u00fctiger Grund des TTi zu erweisen. Dann enth\u00e4lt es auch nicht die objektiv g\u00fctige oder wirkliche Ursache der Ver\u00e4nderung in sich. Der Widerspruch, dem wir durch Entdeckung des Uv1 entgingen, kann von neuem auftreten. Er thut dies, sobald in der Erfahrung an einem U die Ver\u00e4nderung i\\ bemerkt wird, ohne dafs ein mit dem U verbundenes T in Tt \u00fcbergeht, oder positiv ausgedr\u00fcckt, sobald ich es erlebe, dafs U sich in der bestimmten Weise ver\u00e4ndert und T bleibt, oder zu T2 wird. Geschieht","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nTh. Lippis.\ndies, so nrnfs ich nach einer neuen Ver\u00e4nderung an U suchen, also eine neue Erg\u00e4nzung der Association vollziehen oder in der Erfahrung sich vollziehen lassen. Die neue Association heifse Uv1vi-TT1. Angenommen, dieselbe erweist sich in weiterer Erfahrung als objektiv g\u00fctige Association, oder was dasselbe sagt, Uvxv2 behauptet sich widerspruchslos als Grund f\u00fcr die Bejahung des TTXX dann ist in Uvxv2 zugleich die wirkliche Ursache der Ver\u00e4nderung des T in Tx eingeschlossen.\nSie ist darin eingeschlossen oder enthalten. Damit will ich sagen, dafs nicht das ganze \u00fcvxv2 die Ursache zu sein, d. h. dafs nicht jedes Element des Uvxv2 sich als objektiv g\u00fctige Bedingung des TTX zu erweisen braucht. Welche Elemente solche Bedingungen sind, welche Elemente also zur Ursache des TTX in Wahrheit hinzugeh\u00f6ren, davon mufs ich mich noch besonders \u00fcberzeugen. Ich thue dies, indem ich zusehe, welche Elemente des Uvxv2, bezw. welche Komplexe von solchen Elementen bei gleichbleibenden \u00fcbrigen Elementen thats\u00e4chlich, d. h. nach Aussage der Erfahrung, wegfallen k\u00f6nnen, ohne dafs die Ver\u00e4nderung TTX unterbleibt. Nach unserer obigen Voraussetzung kann \u00ab2, n\u00e4mlich das ganze v2, nicht wegfallen. Dagegen k\u00f6nnte vx und k\u00f6nnten Elemente des U und des v2 wegfallen und doch die Ver\u00e4nderung stattlinden. Indem ich dergleichen erlebe, entstehen engere Associationen, d. h. Associationen, in denen der zureichende Grund der Ver\u00e4nderung auf weniger Elemente sich reduziert. Bin ich endlich bei einer erfahrungsgem\u00e4fsen Verkn\u00fcpfung zwischen einem Uv und der Ver\u00e4nderung TTX angelangt, die so beschaffen ist, dafs die Wegnahme oder Ver\u00e4nderung jedes Elementes des Uv bei gleichbleibenden \u00fcbrigen Elementen das TTX erfahrungsgem\u00e4fs auf-heben w\u00fcrde, dann habe ich die Ursache des TTX. Uv ist die Ursache. Die associative Beziehung zwischen jenem Uv und der Ver\u00e4nderung TTX ist die kausale Beziehung zwischen den beiden.\nHiermit ist die R\u00fcckf\u00fchrung des Kausalgesetzes auf das Associationsgesetz vollzogen. Dafs, wenn Bewufstseinsinhalte zu Bewufstseinsinhalten sich hinzuf\u00fcgen, zwischen ihnen Associationen entstehen, die an sich zwingend wirken und beliebig viele Verkn\u00fcpfungen von Objekten repr\u00e4sentieren k\u00f6nnen; dafs der Widerspruch der Associationen zur erg\u00e4nzenden Umgestaltung der Associationen n\u00f6tigt; dafs endlich Associationen in","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n293\nder Erfahrung sich verengern, d. h. eine Reduktion der Elemente, in denen ihr Subjekt besteht, erfahren k\u00f6nnen: das sind die Thatsachen, die das Kausalgesetz konstituieren.\nIX. \u00dcber die Anwendung des Kausalbegriffs.\nEs beschr\u00e4nkt sich aber dies associative Kausalgesetz keineswegs darauf, f\u00fcr Ver\u00e4nderungen Ursachen zu fordern. Die Ver\u00e4nderung, sagte ich, sei ein Spezialfall des Andersseins. So ist auch die Forderung, dafs eine Ver\u00e4nderung ihre Ursache haben m\u00fcsse, nur ein Specialfall der Forderung, dafs das Anderssein seine Ursache, oder wenn man lieber will, seinen Realgrund habe. Da schliefslich alles, was ist, anders ist als Anderes, so m\u00fcssen wir allem, was ist, seine Ursache oder seinen Realgrund zugestehen. Immer ist Ursache oder Realgrund eines Thatbestandes der Inbegriff oder zeitliche bezw. raumzeitliche Zusammenhang derjenigen Elemente der Wirklichkeit, mit denen der Thatbestand auf Grund der Erfahrung und der in der Erfahrung gekn\u00fcpften Association verbunden werden mufs, und von denen kein Element wegfallen kann, ohne dafs nach Aussage der Erfahrung der Thatbestand selbst verneint werden mufs.\nJedes Werden ist eine Ver\u00e4nderung, wenn nicht des Werdenden, so doch des gesamten Wirklichkeitsbestandes, in den es durch sein Werden eintritt. Jedes Werden fordert also ein vorangehendes Geschehen als Ursache oder Teilursache. Gibt es f\u00fcr etwas, das jetzt ist, keine Ursache seines Werdens, so ist es nicht geworden, sondern war schon. Dafs es war, ist dann eine Bedingung oder Teilursache seines Daseins. Das Nichtgewordene ist insofern Ursache seiner selbst oder \u201ecausa sui\u201c. Mag sich die gew\u00f6hnliche Anschauung gegen diesen Begriff str\u00e4uben, logisch ist er so berechtigt, wie der Begriff der verursachenden Ver\u00e4nderung.\nDamit ist schon angedeutet, dafs uns die Bezeichnung eines Verursachenden als \u201eUrsache\u201c nicht unter allen Umst\u00e4nden gleich gel\u00e4ufig ist.\nAndere Namen, wie \u201eTr\u00e4ger\u201c, \u201eSubstrate\u201c, \u201eSubstanzen\u201c, treten in gewissen F\u00e4llen an die Stelle. Man spricht auch wohl einfach von einer \u201eSumme von Bedingungen\u201c. Oder man bezeichnet gewisse Teilursachen oder Elemente des Realgrundes speziell als Ursachen oder Tr\u00e4ger dessen was geschieht, 6der ist,","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nTh. Lipps.\nund l\u00e4dst andere als \u201eHeize\u201c, \u201eAnst\u00f6fse\u201c, \u201eVeranlassungen\u201c, \u201eblofse\u201c Bedingungen zu ihnen hinzutreten. Endlich belegt man auch das Kausalverh\u00e4ltnis selbst mit verschiedenen Namen. Vor allem meint man, neben die Kausalit\u00e4t ein Verh\u00e4ltnis der \u201eIn-h\u00e4renz\u201c stellen zu m\u00fcssen. Diese Namen und Namenunterscheidungen k\u00f6nnen nicht nur unsch\u00e4dlich sein, sondern auch ihre guten Dienste leisten. Vorausgesetzt ist nur das deutliche Bewufstsein, dafs die verschiedenen Namen keine Verschiedenheit der kausalen Beziehung oder des \u201erealen Zusammenhanges\u201c in der Welt bezeichnen, sondern einer und derselben, vom Associationsgesetz beherrschten Art des\u2019Zusammenhanges unserer Gedanken zum Ausdruck dienen. Fehlt dies Bewufstsein, so ist die Verschiedenheit der Namen nicht unsch\u00e4dlich, sondern im h\u00f6chsten Mafse irre f\u00fchrend.\nZun\u00e4chst ist ja gewifs, dafs die Verschiedenheit der Namen mit dem oben im zweiten Abschnitt besprochenen Bestreben der Veranschaulichung und Vermenschlichung eng zusammenh\u00e4ngt. Dafs aus einer Ver\u00e4nderung eine andere Ver\u00e4nderung \u201ehervorgehe\u201c, h\u00e4lt man f\u00fcr eine sinnvolle Wendung; darum scheut man sich nicht, jene Ver\u00e4nderung als Ursache dieser Ver\u00e4nderung zu bezeichnen. Dagegen h\u00e4tte es f\u00fcr niemand Sinn zu sagen, die Bewegung eines K\u00f6rpers gehe aus diesem K\u00f6rper, oder gar, ein Ding gehe aus sich selbst hervor. Man ersetzt darum dort die Ursache durch den zugleich anschaulichen und an menschliches Thun erinnernden \u201eTr\u00e4ger\u201c, und begn\u00fcgt sich hier, etwa von einer \u201eBedingung\u201c des Daseins zu sprechen.\nAlles dies k\u00f6nnte man nun wohl hingehen lassen, solange keine Gefahr besteht, dafs die Erkenntnis dadurch verf\u00e4lscht werde. Aber diese Gefahr liegt nahe. Umfassende philosophische Theorien, ja ganze Weltanschauungen liefern den Beweis.\nEine Gefahr besteht darin, dafs man aus dem einheitlichen Zusammenhang von Elementen der Wirklichkeit, der nur als solcher, d. h. als Ganzes oder als Einheit ein Sein oder Geschehen verursacht oder begr\u00fcndet, einzelne besonders anschauliche oder sich aufdr\u00e4ngende Elemente herausgreift, und nicht nur speziell als Ursachen oder Tr\u00e4ger bezeichnet, sondern arich meint, man besitze in ihnen in Wahrheit das Verursachende oder Tragende, kurz den wirklichen Realgrund des","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n295\nSeins oder Geschehens. Ver\u00e4nderungen oder Vorg\u00e4nge, \u201eKr\u00e4fte\u201c und Dinge, die nur als Momente in umfassenderen einheitlichen Zusammenh\u00e4ngen, schliefslich vielleicht als Momente der Welteinheit etwas wirken oder tragen, werden f\u00fcr sich als Ursachen und Tr\u00e4ger genommen. Die Einheit der Seele wie die der Welt wird auf solche W eise zerrissen in eine Menge selbst\u00e4ndiger Kr\u00e4fte, Tr\u00e4ger, Substanzen, die doch an sich zu nichts kr\u00e4ftig sind, nichts zu tragen, nicht zu subsistieren verm\u00f6chten. Die falsche Associationspsychologie unterliegt dieser Gefahr ebenso wie ihre oben bezeichnete Gegnerin, die doch grunds\u00e4tzlich auf dem gleichen Boden steht. Und dasselbe gilt von einer gewissen Art der Naturbetrachtung, die Miene macht, aus selbst\u00e4ndigen Atomen und Atomkr\u00e4ften die Welt sich zusammensetzen zu lassen.\nVielleicht unterl\u00e4fst man es, unselbst\u00e4ndige Teilursachen oder Elemente des Realgrundes f\u00fcr selbst\u00e4ndige Ursachen und Realgr\u00fcnde zu nehmen, fingiert aber zwischen Teilursachen oder Elementen des Realgrundes eine Rangordnung, unterscheidet zwischen wesentlicheren und unwesentlicheren Faktoren, solchen die mehr, und solchen, die weniger zur Wirkung \u201ebeitragen\u201c. Auch diese Unterscheidung entbehrt jeder logischen Berechtigung. Eine Bedingung irgend welchen Geschehens mag uns inhaltlich noch so nichtsbedeutend erscheinen, als Bedingung, also hinsichtlich ihres kausalen Wertes, steht sie mit allen anderen Bedingungen v\u00f6llig auf derselben Stufe. Sie ist wie alle anderen absolut wesentlich, oder sie ist nicht wirklich Bedingung des Geschehens. Auf ihr beruht das ganze Geschehen, so gut wie auf jeder der anderen. In Wahrheit beruht es auf keiner der Bedingungen als solcher, sondern auf ihrer Einheit. Keine der Bedingungen \u201etr\u00e4gt\u201c zum Geschehen irgend etwas \u201ebei\u201c, die Einheit derselben nur macht, dafs das Geschehen sich vollzieht. Eben dadurch erweist sie sich als reale, von der Summe der Elemente verschiedene Einheit. Jede reale Einheit ist solche urs\u00e4chliche Einheit, oder Einheit der Verursachung.\nMit der Vorstellung der Rangverschiedenheit verbindet sich aber von selbst die Vorstellung einer qualitativen Verschiedenheit der kausalen Beziehung. Der Dualist etwa bezeichnet die immaterielle Seele als das Empfindende, als den Tr\u00e4ger oder die eigentliche Ursache der Empfindung, der materielle Vorgang,","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nTh. Lipps.\nder hinzukommen mufs, wenn die Empfindung entstehen soll, ist ihm \u201enur\u201c der die Empfindung \u201eausl\u00f6sende Reiz\u201c. Ich frage : was will diese Verschiedenheit der Namen? Gi-ewifs soll sie eine Verschiedenheit des kausalen Verh\u00e4ltnisses, oder der Art, wie die Seele und der materielle Vorgang zur Erzeugung der Empfindung \u201ebeitr\u00e4gt\u201c, andeuten. Aber diese Verschiedenheit ist eine reine Illusion. Niemand hat eine Vorstellung von der kausalen Beziehung zwischen der Seele und der Empfindung und eine inhaltlich anders geartete Vorstellung von der kausalen Beziehung zwischen dem materiellen Vorgang und der Empfindung. Die \u201eInh\u00e4renz\u201c der Empfindung in der Seele ist, abgesehen von unberechtigten anschaulich r\u00e4umlichen Vorstellungen, ein blofses Wort, ohne jeden \u00fcber die \u00fcberall gleiche Kausalit\u00e4t hinausgehenden Sinn. Und es verh\u00e4lt sich nicht anders mit dem \u201eausl\u00f6senden Reiz\u201c? Nichts weifs der Dualist oder kann er zu wissen glauben, als dafs die Empfindung nicht w\u00e4re ohne die Seele und ebenso nicht w\u00e4re ohne den materiellen Vorgang. Sie ist, weil beides ist und beides in bestimmter Beziehung steht; oder besser: sie ist, weil die Einheit der beiden ist, die die Beziehung der beiden zugleich in sich schliefst. \u2014 Dann kann aber mit demselben Recht oder Unrecht, wie die Seele, auch der materielle Vorgang beanspruchen, Tr\u00e4ger oder eigentliche Ursache der Empfindung zu heifsen. Der Dualist steht unweigerlich mit dem einen Fufse im Materialismus.\nEbenso unlogisch ist jede Hineintragung der Begriffe der Aktivit\u00e4t und Passivit\u00e4t, Rezeptivit\u00e4t und Spontaneit\u00e4t in den Kausalbegriff. Hier ist der Anthropomorphismus auf seiner vollen H\u00f6he.\nX. Schlufsbemerkung.\nIch breche damit die Untersuchung ab, mit dem vollen Bewufstsein, nur einen Teil desjenigen gesagt zu haben, was \u00fcber den Gegenstand zu sagen w\u00e4re. Vielleicht, dafs mir Einw\u00fcrfe oder Angriffe zu sp\u00e4terer Erg\u00e4nzung Gelegenheit geben.\nAuch dessen bin ich mir wohl bewufst, dafs ich mich auf ein besonderes Gebiet der Anwendung des Kausalgesetzes beschr\u00e4nkt habe. Ich redete nur von der kausalen Verkn\u00fcpfung solcher Bewufstseinsinhalte, die von uns bereits als der Welt der objektiven Wirklichkeit zugeh\u00f6rig erkannt sind. Dies Bewufstsein der objektiven Wirklichkeit setzte ich als bestehend","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n297\nvoraus. Ich war dazu berechtigt, insofern es dergleichen ohne Zweifel giebt. Aber die Erkenntnis dieser Wirklichkeit, wie nicht minder die Erkenntnis der subj ekti ven Wirklichkeit, oder Wirklichkeit als Inhalt \u201emeines Bewufstseins\u201c, beruht selbst schon auf der Wirkung des Kausalgesetzes in mir. Man wird die Frage stellen, wiefern auch dabei das Kausalgesetz mit dem Associationsgesetz Zusammenfalle, wiefern also auch das Bewufstsein, es sei etwas unabh\u00e4ngig vom Bewufstsein, oder es sei im Bewufstsein, aus erfahrungsgem\u00e4fser Association entspringe. Den Versuch der Beantwortung dieser Frage, oder nach einem fr\u00fcheren Ausdruck, die B\u00fcckf\u00fchrung solcher \u201eprimitiven\u201c Erkenntnis auf das associative Geschehen behalte ich mir f\u00fcr eine sp\u00e4tere Gelegenheit ausdr\u00fccklich vor.\nDagegen will ich es nicht unterlassen, der gegenw\u00e4rtigen Untersuchung dadurch eine Art Abschlufs zu geben, dafs ich noch einmal zu dem Philosophen zur\u00fcckkehre, von dem ich bei der Kritik des Kausalbegriffes ausgegangen bin.\nHumes Leistung und sein Fehler, beides ist aus dem Vorstehenden deutlich. Dafs der kausale Zusammenhang ein Zusammenhang ist unserer Gedanken, nicht ein Zusammenhang des Gedachten, dafs die Notwendigkeit, die diesen Zusammenhang auszeichnet in der psychologischen N\u00f6tigung besteht, mit einer Thatsache eine andere zu verbinden, dafs diese N\u00f6tigung in der Association ihren Grund hat, das ist Humes Entdeckung und diese Entdeckung ist eine der wichtigsten in der Geschichte der Philosophie. Dafs die Welt f\u00fcr uns zu einer gesetzm\u00e4fsigen wird, indem wir sie der Gesetzm\u00e4fsigkeit unseres Geistes unterwerfen, dieser anthropocentrische Erkenntnisstandpunkt war damit entschieden.\nNur darin bestand Humes Fehler, dafs er die volle Bedeutung des Associationsgesetzes nicht erkannte und dafs er eben darum nicht sah, welche associativen Beziehungen mit der urs\u00e4chlichen Beziehung ohne weiteres identisch sind. Dem daraus sich ergebenden Mangel sollte das Gewohnheitsprinzip abhelfen. Nicht das Associationsprinzip, sondern dies, das Associationsprinzip seiner Kraft beraubende Gewohnheitsprinzip hinderte, dafs Hume die Antwort, n\u00e4mlich die wahre Antwort auf die Frage gab, wie allgemeine uud notwendige Erfahrungsurteile m\u00f6glich seien.\nDas Gewohnheitsprinzip fordert zuviel und zu wenig. Keine","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nTh. Lipps.\nWiederholung einer Erfahrung kann die Association, die aus ihr entstand, zwingender machen, als sie von vornherein ist. Der Naturforscher, der einen Versuch unter gewissen, genau beobachteten Umst\u00e4nden ein einziges Mal gemacht und dabei einen bestimmten Erfolg erzielt hat, erwartet von einer unter genau denselben Umst\u00e4nden angestellten Wiederholung genau desselben Versuches mit Sicherheit genau denselben Erfolg, wenn er annehmen kann, jene von ihm beobachteten Umst\u00e4nde seien die einzigen f\u00fcr den Erfolg in Betracht kommenden, d. h. es seien keine Umst\u00e4nde von ihm unbeobachtet gebheben, deren Anderssein ihn auf Grund bereits gekn\u00fcpfter Associationen n\u00f6tigen w\u00fcrde, einen anderen Erfolg anzunehmen. Er erwartet von einer Wiederholung nicht mit Sicherheit denselben Erfolg, wenn diese Voraussetzung nicht erf\u00fcllt ist. Mag er aber den Erfolg mit Sicherheit erwarten oder nicht, in jedem Falle wird weder die Sicherheit gr\u00f6fser, noch die Unsicherheit geringer, wenn er den Versuch thats\u00e4chlich zum zweitenmale und unter genau den gleichen Umst\u00e4nden anstellt und dabei den gleichen Erfolg erzielt. Nur solche F\u00e4lle k\u00f6nnen \u00fcberhaupt seine Erkenntnis f\u00f6rdern, in denen der Erfolg unter gleichen Umst\u00e4nden nicht eintritt, weil diese F\u00e4lle ihn n\u00f6tigen, eine neue und widerstandsf\u00e4higere Association zu bilden. Und andererseits helfen ihm die F\u00e4lle, in denen der Erfolg unter teilweise anderen Umst\u00e4nden eintritt, weil sie ihn veranlassen, gewisse Umst\u00e4nde oder n\u00e4here Bestimmungen von Umst\u00e4nden aus der Association auszuscheiden, also die Association, nach dem oben gebrauchten Ausdruck, zu \u201everengern\u201c. Es helfen ihm mit einem Worte die Wiederholungen seiner Erfahrung, die keine blofsen Wiederholungen sind, und weil sie es nicht sind. Das Gewohnheitsprinzip fordert zu viel, insofern es die Wiederholungen fordert; und es fordert zu wenig, insofern es die Bedeutung der Erfahrungen verkennt, die mit gleichartig wiederkehrenden Momenten neue Momente verbinden.\nWas Hume entging, so k\u00f6nnen wir auch sagen, das ist das Wesen der Induktion. Unsere Ableitung des Kausalgesetzes war zugleich eine Beschreibung des induktiven Verfahrens. Und darin liegt der eigentliche Beweis ihrer Berechtigung. Wir begannen mit der Analyse des Kausalbegriffs. Solche Analyse ist an sich niemals einwurfsfrei. Die Synthese mufs hinzutreten und sie best\u00e4tigen. Diese Synthese nun wird in","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t.\n299\nunserem Fall jedesmal vollzogen, wenn jemand auf dem Wege der Induktion \u2014 und einen anderen giebt es nicht \u2014 aus einzelnen Erfahrungen allgemeine Erkenntnisse gewinnt. Das induktive A\u2019 erfahren schafft die allgemeinen Erkenntnisse, indem es f\u00fcr unser Bewufstsein die Ursachen schafft. Geht bei solcher Schaffung einer Ursache in den Ursachbegriff nichts ein, als was jene Analyse in ihm hat erkennen lassen, so ist die Probe auf die Dichtigkeit der Analyse gemacht. Diese Voraussetzung trifft aber zu. Wer Induktion treibt, beobachtet die Umst\u00e4nde, unter denen ein Thatbestand stattfindet. Er \u00fcberl\u00e4fst sich der dadurch gekn\u00fcpften Association mit gr\u00f6fserer oder geringerer Sicherheit, je nachdem schon vorher gewonnene anderweitige Erfahrungen und erfahrungsgem\u00e4fse Verkn\u00fcpfungen ihn dies erlauben, oder \u2014 weil sie Gegenassociationen in sich schliefsen \u2014 ihn daran verhindern, d. h. er gr\u00fcndet auf seine Beobachtung eine mehr oder weniger sichere Hypothese. Er l\u00e4fst sich seine Association umwandeln oder erg\u00e4nzen durch neue Erfahrungen, die mit jener Association oder Hypothese in Widerspruch geraten, und f\u00e4hrt darin fort, bis er solchen Widerspruch nicht mehr zu f\u00fcrchten hat. Er l\u00e4fst sich endlich durch Erfahrungen, in denen der zu erkl\u00e4rende Thatbestand stattfand, ohne dafs doch alle in jener endgiltig erg\u00e4nzten Association enthaltenen Umst\u00e4nde zugegen waren, diese erg\u00e4nzte Association reduzieren oder \u201everengern\u201c, d. h. von unn\u00f6tigen Elementen s\u00e4ubern. Er hat schliefslich eine Association, die Stich h\u00e4lt und nichts \u00dcberfl\u00fcssiges mehr in sich enth\u00e4lt. Und nun spricht er ohne weiteres von Ursache und urs\u00e4chlicher Beziehung. \u25a0\u2014 Wer ihm das Recht dazu einr\u00e4umt, erkennt zugleich das Recht unserer Theorie der Kausalit\u00e4t an.\nGA\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie.","page":299}],"identifier":"lit14201","issued":"1890","language":"de","pages":"252-299","startpages":"252","title":"Zur Psychologie der Kausalit\u00e4t","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:17:13.213223+00:00"}