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{"created":"2022-01-31T16:16:36.687894+00:00","id":"lit14203","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Wahle, Richard","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1: 310-319","fulltext":[{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Frage.\nVon\nEich. Wahle,\nPrivat-Docent a. d. Universit\u00e4t Wien.\nEs sei mir gestattet, ehe ich das Vorgesetzte Thema in Angriff nehme, einige einleitende Bemerkungen \u00fcber die Psychologie im allgemeinen voranzuschicken.\nDie Psychologie wird auch heutzutage noch von vielen Psychologen, trotz der Anerkennung einer gewissen Ber\u00fchrung dieser Wissenschaft mit der Physiologie, in einer unklaren Separation von letzterer gedacht. Der und jener glaubt z. B., dafs ein Teil eben und derselben psychophysischen Frage dem Psychologen, ein anderer Teil dem Physiologen zufalle. Ich will mich nicht beim Falschen aufhalten; die richtigen Verh\u00e4ltnisse zwischen diesen Wissenschaften scheinen mir folgende zu sein. Physiologie, im Sinne wissenschaftlicher Betrachtung in der Beschr\u00e4nkung auf Bewegungsvorg\u00e4nge an organisierter Materie, ist abgetrennt von Psychologie, als der Betrachtung von Bewufstseinsvorg\u00e4ngen. Physiologie, andererseits, im Sinne der wissenschaftlichen Betrachtung und Erkl\u00e4rung von Lebensvorg\u00e4ngen \u00fcberhaupt, schliefst Psychologie ein. Doch auf diese gewifs richtigen Distinktionen lege ich selbst gar keinen Wert. Sie sind gar nicht orientierend, denn sie sind zu abstrakt und verrathen gar nichts vom positiven Gang der Forschung. Wichtig ist nur die Darlegung der konkreten Beziehungen der beiden Wissensgebiete. Physiologie ist eine auf das Leben gerichtete Forschung, welche sich nur physikalischer Methoden (im weitesten Sinne) bedient; Psychologie aber \u2014 ihrem Wesen nach auf das Bewufstsein gerichtet \u2014 erh\u00e4lt von der psychischen Wahrnehmung zwar ihren Stoff, ist aber in der wissenschaftlichen Durcharbeitung desselben auf die physiologischen Operationen angewiesen.","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Frage.\n311\nDieser unserer Auffassung stellt die andere entgegen, welche die Methode, die Waffe, das Vehikel der Forschung f\u00fcr die Physiologie in der Physik, f\u00fcr die Psychologie aber in der inneren Wahrnehmung sieht und so zwischen beiden einen Trennungsgraben zieht. Auch wir k\u00f6nnen nat\u00fcrlich nicht bestreiten, dafs ja das Material der Psychologie im Bewufstsein liegt, aber dieses Bewufstwerden der Vorkommnisse ist ohnm\u00e4chtig f\u00fcr die Eruierung ihrer Gesetze. Worauf kommt es denn einer Wissenschaft an? Zuerst, zur Vorbereitung, sind die verschlungenen Ph\u00e4nomene derselben und deren Verlauf zu deskribieren, dann Zusammenhang und Ursachen zu ergr\u00fcnden. Letzteres kann aber die Psychologie nimmermehr dadurch erreichen, dafs sie die Ph\u00e4nomene selber nur bemerkt. Ersteres wiederum, was wohl durch Wahrnehmuug geschehen kann, w\u00e4re eine so leichte Aufgabe, dafs sie gar nicht der Bede wert w\u00e4re, wenn nicht die Psychologen \u2014 was ja dem Wesen der Wissenschaft ganz zuf\u00e4llig und fremd ist \u2014 durch die Sprache verwirrt, vollkommen fiktive Kategorien geschaffen h\u00e4tten, die man jetzt aus dem Wege r\u00e4umen mufs. \u2014 An dieser Aufgabe habe ich in meinem Gehirn und Bewufstsein (Wien 1884, Holder) gearbeitet, mich bem\u00fcht, den Schein von separaten Bewufstseins-akten zu zerst\u00f6ren, das Wunder der Einheit des Bewufstseins aufzul\u00f6sen und alles Psychische als verschiedene Summen aufzuzeigen von extensiven Vorstellungen, wozu ich die wirklichen Objekte, die K\u00f6rperempfindungen und die Erinnerungsminiaturen rechne. Auch die folgende Analyse soll zeigen, welches der wahre psychische Bestand ist, der dem Namen \u201eFrage\u201c entspricht. Diese Analysen m\u00fcssen aber bald beendigt sein und was kann dann das innere Wahrnehmen ergr\u00fcnden? Nichts! Wir kennen die Formen der Ideenassociationen; man hat sie gewifs in einer halben Stunde Nachdenkens gefunden;1 aber was n\u00fctzt es uns, dafs wir wissen, die a-Vorstellung folgt der h-Vorstellung, weil ihre entsprechenden Objekte einmal zusammen wahrgenommen wurden, oder einander \u00e4hnlich sind \u2014 wenn wir doch nicht wissen, warum von der Unzahl der Vorstellungen, die in eben solchen Verh\u00e4ltnissen zu b stehen, gerade a erschien. Herbart hat einen genialen aber ganz unzul\u00e4nglichen Versuch gemacht, das zu erkl\u00e4ren, und dem blofsen\n1 Feineres, wichtiges Detail in Wahle : Uber Ideenassociationen. Viertel jahrsschr. f. wissensch. Phil, 1885, und H\u00f6ffding ib. 1890.","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nBich. W\u00e4hle.\ninneren Anschauen wird es niemals gelingen. F\u00fcr die Psychologie ist die innere Wahrnehmung die conditio sine qua non, aber sie ihr Forschungsmittel zu nennen, ist so l\u00e4cherlich, als wenn man den Gesichtssinn als Vehikel der Chemie bezeichnen w\u00fcrde. \u2014 \u201ePsychologie\u201c hat die klare Aufgabe der Eruierung der Gesetze des Psychischen; aber \u201ephychologisch\u201c ist keine Bezeichnung f\u00fcr irgend eine Methode; die innere Wahrnehmung k\u00f6nnte man allenfalls das rein psychologische Verfahren nennen, das aber nichts, als den zu durcharbeitenden Stoff liefert; die physiologischen Operationen jedoch sind ein Mittel der Psychologie. Alles, was sich auf das Sehen z. B. bezieht, geh\u00f6rt zur Psychologie, wird aber durch Physiologie, d. h. physiologisch angewandte Physik, eruiert. Ger\u00e4usche und T\u00f6ne werden vom inneren Wahrnehmen nat\u00fcrlich schon unterschieden, aber ohne physikalische Analysen ist der Unterschied kaum pr\u00e4cisierbar und f\u00fcr Auffindung von Gesetzen gar nicht fruktifizierbar. Es ist freilich reine innere Wahrnehmung, wenn wir merken: \u201ejetzt sp\u00fcre ich wieder eine neue Empfindung,\u201c1 aber das bleibt nichtig, ohne Bestimmung der Bedingungen des \u201ejetzt,\u201c \u2014 und diese werden geliefert nur durch physikalisch-physiologische Forschung. \u2014 Es ist eine Folge unserer Charakteristik, dafs man es unterlassen sollte, einen Namen \u201ePsychophysik\u201c zu gebrauchen; denn, was man darunter versteht, ist nichts, als Psychologie mit selbstverst\u00e4ndlichem, experimentierenden Betrieb. \u2014 Der Tendenz nach giebt es f\u00fcr das Bewufstsein nur die Bewufstseinswissenschaft, d. h. die Psychologie; diese aber mufs sich, nachdem sie die zu erkl\u00e4renden Ph\u00e4nomene nett herausgestellt hat, zur Erkl\u00e4rung anderer Methoden, als des blofsen Anschauens bedienen und zwar in hervorragendster Weise der physiologisch-physikalischen. Ich sage \u201ein hervorragender Weise,\u201c; denn es ist im allgemeinen gar nicht abzusehen, auf welchen Wegen man zur Entdeckung von psychischen Gesetzen kommen kann. Vielleicht erschliessen sich durch Hypnose und Suggestion Gesetze des Ged\u00e4chtnisses.\n1 Ich habe in \u201eGehirn und Bewufstsein\u201c und \u201e\u00dcber Intensit\u00e4t und \u00c4hnlichkeit\u201c ( Vierteljahrsschr. f. wissensch. Phil.. 1890) zu zeigen gesucht, dafs es nicht gleiche Qualit\u00e4t bei verschiedenen Intensit\u00e4ten, sondern nur wechselnde Qualit\u00e4ten gebe und dafs somit alle sogenannten psychophysischen Mafsbestimmungen eine andere, genauere Terminologie erhalten m\u00fcfsten.","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Frage.\n313\nVielleicht hilft uns die Einf\u00fchrung einer Hypothese oder eines Begriffes. Nur um ein Beispiel zu geben, f\u00fchre ich eine Idee an, im psychologischen Baisonnement, f\u00fcr einzelne Vorstellungen \u2014 besonders f\u00fcr diejenigen des Kindesalters, zur Zeit ihrer ersten Acquirierung \u2014 ihre physiologischePotenz einzusetzen, das heifst, ihre H\u00e4ufigkeit des Auftretens und ihre Wirkungsst\u00e4rke, ihre Macht, Bewegungen zu erzeugen. Biese h\u00e4ngt z. B. ab von der relativen Leere des Bewufstseins im Momente des Eintrittes der Vorstellung. Bas Bild eines widerlichen Tieres, das uns aus dem Schlafe nachts erweckt, kann bis weit in den Tag hinein, ja f\u00fcr Jahre von m\u00e4chtigster Wirkung sein. Oder man denke an das Kr\u00e4ftigwerden eines Klanges im Zustande der Hypnose.1 Kurz, \u00fcber die Methoden sage man lieber nichts; nur das bleibt sicher, dafs es ohne physikalisch-physiologische Operationen so gut wie keine Psychologie giebt, denn was ohne diese geschehen ist, z. B. hier von mir geschehen soll, ist lediglich vorbereitende Arbeit.\nBie Psychologie hat \u2014 der Idee nach \u2014 einen allgemeinen Teil, welcher die Gesetze der geistigen Successionen im allgemeinen darlegt. Bann hat sie specielle Teile, welche die Gesetze besonderer Punktionen z.B. die Gesetze der Leidenschaften, des Charakters \u2014 einzelner und V\u00f6lker \u2014, der Talente etc. darlegen sollen. Alles, was bisher hierin geschehen ist, hat den Wert, den ein guter Roman besitzt. Man kann ja alle Eigent\u00fcmlichkeiten analysierend auf gewisse Associationsreihen zur\u00fcckf\u00fchren \u2014 aber das ist wenig mehr, als vorbereitende Arbeit f\u00fcr die kommende Zeit der Erkl\u00e4rung. Ein Fundamentalunterschied der Menschen offenbart sich bei den Kindern; die einen sind bedr\u00fcckt durch Eindr\u00fccke, scheu, die anderen ergreifen sie offen ; die einen werden gr\u00fcbelnd, theoretisch, sentimental, auf sich gestellt, oft eitel etc., die anderen licht, praktisch, naiv, schlicht, gesellig etc. Wieviel liefse sich da reden und wie vage w\u00e4re das Gerede \u2014 ehe die Physiologie diese eventuellen Fundamentalunterschiede wissenschaftlich fundiert h\u00e4tte. Von den Sprachen,\n1 Wenn ich hier gew\u00f6hnlichen Schlaf und Hypnose zusammenstelle, so geschieht es nicht, weil sie mir sonst sehr \u00e4hnlich erscheinen. Der Schlaf ist ein Zustand der Erm\u00fcdung des ganzen K\u00f6rpers, im Zustande seiner chemischen Ver\u00e4nderung, Hypnose eine partielle Ruhe an einer Stelle eines arbeitskr\u00e4ftigen K\u00f6rpers; Schlaf ist Ohnmacht, Hypnose eigentlich m\u00e4chtige Koncentrierung.","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nBich. Wahle.\nSitten und Ideen der V\u00f6lker kann die Psychologie nichts lernen; im Gregenteil all dies bildet Teile der Psychologie, welche erst, nachdem wir eine wissenschaftliche allgemeine Psychologie haben werden, mit guten Aussichten in Angriff zu nehmen sind. Von den verschiedenen sprachlichen Formen des Urteiles z. B. werden wir f\u00fcr die Erkenntnis der Urteilsfunktion nichts lernen, sondern die Kenntnis des Urteilens k\u00f6nnte uns \u00fcber die Gr\u00fcnde der Auswahl verschiedener Ausdrucksweisen belehren.\nSomit haben wir das Verh\u00e4ltnis der Psychologie zu Physiologie bestimmt ausgesprochen und auch die dereinstige Struktur der psychischen \"Wissenschaft angedeutet und wollen nur noch davor warnen, dafs man, bei dem Sprechen \u00fcber die \"Wissenschaften, nicht diese mit den zuf\u00e4llig ihnen an verschiedenen Fakult\u00e4ten gewidmeten Lehrkanzeln verwechsle. \u2014 L\u00e4nger will ich meinem Hauptthema nicht fern bleiben; es ist die Frage, welches ist das psychische Vorkommnis oder die Summe von Vorkommnissen, die man \u201eeine Frage\u201c nennt? Sowie der Physiologe nicht mit dem vulg\u00e4ren Begriff der Haut z. B. und der Chemiker nicht mit der vulg\u00e4ren Vorstellung des \"Wassers rechnet, sondern alle auf die letzten ihnen erreichbaren Elemente eingehen, so darf sich der Psychologe nicht fr\u00fcher beruhigen, als bis er die einzige Aufgabe, die durch einfaches Achthaben \u00fcberhaupt gel\u00f6st werden kann, vollendet hat, n\u00e4mlich bis er zu Ende analysiert hat. \u2014 Die Sprache mit ihrer praktischen Tendenz thut gerade das Entgegengesetzte von dem, was die Psychologie \u2014 die vorbereitend deskriptive \u2014 thun soll. Die Sprache sucht so vieles als m\u00f6glich, z. B. alle Eigenschaften eines organisierten Dinges, mit einem Worte zusammenzufassen. Wie viele;! vorgestellte Summanden bedeutet \u201eMensch,\u201c \u201eStaat,\u201c \u201emusikalisch\u201c etc.! Kein Mensch vielleicht denkt bei einem Worte dasselbe, wie ein anderer Mensch. Wir kommen nur zusammen in den \u00e4ufseren Dingen und Handlungen und in den terminologisch pr\u00e4zisierten Wissenschaften, sonst aber in Poesie, dem gew\u00f6hnlichen Reden, den Mitteilungen der Gef\u00fchle etc. versteht eigentlich keiner den anderen.\nHume lehrte am nachhaltigsten, dafs man das wahre Substrat der sprachlichen Ausdr\u00fccke suchen m\u00fcsse, indem er fragte, was man unter \u201eUrsache\u201c verstehe, wenn er auch eine","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Frage.\n315\nungen\u00fcgende Antwort gab. Das ganze psychische Inventar kann man nicht ohne weiteres aufnehmen, \u2014 wie Leute, die mit dem Empirismus flunkern, vorgeben. Die Wegweiser f\u00fcr die Analyse und f\u00fcr die v\u00f6llige Aufnahme der psychischen Landschaft werden anfangs die sprachlichen Kategorien sein und so wenden wir uns zur \u201eFrage\u201c. Der Laie wird zun\u00e4chst meinen: eine Frage ist eben eine Frage; er ist nat\u00fcrlich gegen das Aufgest\u00f6rtwerden aus seinem ruhigen, leichten Gebrauch der Worte; deshalb wenden sich an ihn mit Gl\u00fcck jene Psychologen, welche die Seele mit m\u00f6glichst vielen irreduciblen Akten ausgestattet sein lassen, den \u201eWillen\u201c und das \u201e\u00c4hnlichfinden\u201c etc. als lauter \u201eLetztes\u201c, \u201eEigenartiges\u201c bezeichnen. Bald wird aber der Laie einsehen, dafs vor allem der sprachliche Ausdruck f\u00fcr die Frage nicht wesentlich ist; denn es wird wohl auch der Stumme in seinem Geiste fragen. Er wird dann vielleicht glauben, diese wortlose Frage ist ein \u201eWissenwollen\u201c und das Wollen ist ihm wahrscheinlich ein Letztes. Wir haben aber gezeigt1, dafs Wollen nur ein Ausdruck ist f\u00fcr eine bestimmte Art von Reihen, gebildet aus kommenden und gehenden Vorstellungen, Aktionsvorstellungen etc.; wir wollen das nicht verfolgen und haben es nur angef\u00fchrt, um zu zeigen, dafs man solche Analysen nicht in sicherem, geraden Fortschritte unternehmen kann, sondern immer wieder auf neue Analysie-rungsaufgaben st\u00f6fst. Nur wenn man schon viel \u00dcbung erlangt hat im Aufl\u00f6sen dieser wie aus lauter einzelnen F\u00e4den gebildeten Fragen-Kn\u00e4uel, kann man eine Darstellung geben, die hier hoffentlich f\u00fcr ganz einfach und simpel gehalten werden wird, welche \u00fcbrigens leider, der Natur der Sache nach, eine etwas gewundene Schreibweise mit sich bringt.\nDer psychische Zustand der Frage, welcher sich die mannigfachsten sprachlichen und sonstigen \u00c4ufserungen verschaffen kann, besteht in dem \u201ew\u00e4hrend einer Unentschiedenheit Sichbereithalten f\u00fcr eine Wahrnehmung der Entscheidung\u201c.\nDoch dieser Satz, wie er Resultat einer Analyse ist, bedarf noch weiterer Eins\u00e4tze elementaren psychischen Materiales in seine Ausdr\u00fccke. (Wir wollen dies zuerst, wie im Kampfe mit einem entgegengesetzt Gesinnten geben, dann aber einfach die\n1 Zeitschrift f\u00fcr Philosophie und phil. Kritik, Bd. 92., und \u201eGehirn und Bewufstsein\u201c.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie.\n21","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nBich. Wahle.\nThatsachen zusammenstellen.) Zuerst : was heilst Unentschiedenheit, was ist das psychische Substrat f\u00fcr diesen Namen? Man k\u00f6nnte glauben, dafs \u201eUnentschiedenheit\u201c bereits das \u201eBed\u00fcrfnis der Entscheidung\u201c voraussetze, dafs dieses aber identisch sei mit einer \u201eFrage\u201c und dafs wir also fehlerhafterweise das zu Erkl\u00e4rende in die Erkl\u00e4rung aufgenommen h\u00e4tten. Aber dem gegen\u00fcber halte man fest, dals \u201eUnentschiedenheit\u201c ja allerdings einen Teil der \u201eFrage\u201c selbst bildet, dafs es aber selbst schon etwas Zusammengesetztes ist, was wir jetzt eben darlegen wollen.\n\u201eUnentschiedenheit\u201c ist eine \u201eUnsicherheit\u201c, \u201eeine Flucht von Vorstellungen, welche Gegens\u00e4tze enthalten\u201c. Nun wird man sagen, ein blofses Vielerlei von Vorstellungen ist als solches ein rechtm\u00e4fsiges historisches Faktum; wieso gilt es als unbefriedigende Unsicherheit? Diese kommt dadurch hinein, dafs eine Vorstellung, durch gleich zu bezeichnende Umst\u00e4nde, als die interessierende Zielvorstellung fungiert, im Verh\u00e4ltnis zu welcher die anderen als feindliche gelten. Wir werden mit einem Worte die Negierung, das \u201enicht\u201c psychisch aufzuzeigen haben; denn sic, ja und non, nein, giebt eben \u201eUnsicherheit\u201c. Jene Vorstellungen, welche sich positiv anstatt der \u201einteressanten\u201c einstellen, sind, in Bezug auf sie, das \u201enicht\u201c. Es giebt nicht psychisch ein aktuelles \u201enicht\u201c, sondern \u201enicht\u201c bedeutet nur \u201eein anderes\u201c. \u2014 Wodurch wird nun das \u201eInteresse\u201c konstituiert? Man wird sagen, durch \u201eBed\u00fcrfnis\u201c und dies wird man wie einen \u201eWunsch\u201c f\u00fcr etwas halten, was prim\u00e4r, irreducibel, nicht durch Vorstellungen ausdr\u00fcckbar ist. Das ist aber unrichtig. Ein kleines Beispiel wird das zeigen. Ein Kind versp\u00fcrt Hunger, eine extensive Leibesempfindung, es schreit; es erh\u00e4lt Nahrung, man bringt sie oder es greift darnach, und das Hungergef\u00fchl verschwindet, angenehme Empfindungen treten auf. Nach einigen solchen Successionen oder wahrscheinlich schon nach einer einzigen, ist diese Reihe asso-ciiert. Wenn das Kind nun Hunger versp\u00fcrt, reiht sich weiter daran z. B. \u201eVorstellung der Nahrung und Darnach-greifen\u201c, oder \u201eSchreien und Vorstellen des Zubringens derselben\u201c; \u2014 und will man noch mehr, um einen Wunsch bei dem Kinde zu statuieren? Wir sehen also hiemit, wie \u201eBed\u00fcrfnis\u201c durch eine Reihe von Vorstellungen, darunter Aktionsvorstellungen gebildet wird. Ein solches Bed\u00fcrfnis ist auch etwas, was man ein \u201eInteresse","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Frage.\n317\nan etwas\u201c nennt. Doch kann \u201eInteresse\u201c auch durch andere Verh\u00e4ltnisse gebildet werden. Jedes Objekt, auf welches hin wir unsere Ichth\u00e4tigkeit, also das Hindrehen des Kopfes, das Hingreifen etc., gerichtet wissen, ist ein \u201einteressantes Objekt\u201c, oder, wie wir sagen wollen, ein \u201eZielobjekt\u201c, ein \u201epointiertes\u201c. Ebenso ist jede Vorstellung, auf welche rekurriert wird, eine \u201epointierte\u201c. Nun k\u00f6nnen wir unsere Analyse des \u201enicht\u201c ab-schliefsen: was anders ist, als das Pointierte, \u2014 was z. B., w\u00e4hrend ein Kaum fixiert ist, an diesen nur angrenzt, oder was seine eben fixierte Form ver\u00e4ndert, oder was statt des Dienlichen (die Nahrung z. B.) eintritt \u2014 heilst, in Erinnerung an das Pointierte, dessen \u201enicht\u201c. \u2014 Jetzt k\u00f6nnen wir einfach sagen, was \u201eUnsicherheit\u201c und \u201eSchwanken\u201c ist; es ist der Wechsel von pointierter, interessirender und negativer Vorstellung. Holen wir unser Kinderbeispiel wieder hervor, so wird der Hunger, Vorstellung der Nahrung, Heranbringen derselben, Forttragen derselben, Wiederbringen etc. ein \u201eSchwanken\u201c des Geisteszustandes des Kindes konstituieren.\nWas heilst nun \u201eEntscheidung\u201c? Die Menschen sind sich eines h\u00f6chst einfachen und tiefgreifenden Unterschiedes in ihren Vorstellungen bewufst. Die einen sind verschwommen, blafs, klein, zerrissen, inkomplet, die Phantasie- und Erinnerungsvorstellungen \u2014 ich nannte sie Miniaturen \u2014; die anderen haben jenen Habitus, den man eben \u201eWirklichkeit\u201c nennt. Das vorgestellte Empfangen des Briefes ist etwas anderes, als das wirkliche leuchtende Papier, das feste Greifen nach demselben; die Wehmut, deren Eintritt ich erst bef\u00fcrchte, etwas anderes, als die wirkliche Wehmut.\n\u201eEntscheidung\u201c wird nun geboten durch etwas, was den Habitus der \u201eWirklichkeit\u201c tr\u00e4gt, oder bleibende, stabile Konsequenzen nach sich zieht; wie z. B. wenn einer bei sich \u00fcberlegt, ob er an Gott oder sein Talent glauben soll oder nicht und hierauf einer Annahme entsprechend sich weiter geriert.\nJetzt erst halte ich es f\u00fcr angemessen, darauf aufmerksam zu machen, dafs \u201epointiert\u201c nicht soviel bedeutet, wie \u201ewirklich\u201c. Wenn ich z. B. nach Hause gehen will, um zu schlafen, so ist mein Haus, das jetzt meine Schritte zu sich lenkt und mein Bett in der Phantasie en miniature, die pointierte Vorstellung, aber noch nicht das \u201eWirkliche\u201c.\nEine besondere Erl\u00e4uterung des Begriffes \u201esich bereit halten\n21*","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nMich. Wahle.\nzur Wahrnehmung der Wirklichkeit\u201c ist hier kaum n\u00f6tig. Man mufs die Augen \u00f6ffnen, hinblicken, hingreifen, hingehen etc., um ein Wissen zu erreichen. In den Kreis dieser Erscheinungen geh\u00f6rt auch das Stutzen, Aufschauen, Lauern; auch die entsprechenden Stellungen und Empfindungen der Tiere, die gewifs ebenfalls die \u201eFrage\u201c haben.\nDie \u201eEntscheidung\u201c mufs eine \u00dcbereinstimmung einer \u201eWirklichkeit\u201c mit einer Phantasievorstellung enthalten. Wie wir selbst hervorgehoben haben, kann Wirklichkeit (abnorme F\u00e4lle ausgenommen) der Phantasie nicht gleichen; es handelt sich hier also um gr\u00f6fstm\u00f6gliche stellvertretende \u00c4hnlichkeit der Form. \u00dcber die Korrespondenz des Psychischen, das en miniature auftritt, mit dem Wirklichen m\u00fcfste man nat\u00fcrlich noch ex professo handeln.\nNun geben wir in ununterbrochenem Zuge das psychische Schema der Frage: Eine pointierte Vorstellung, Wechsel derselben mit ihren negativen Vorstellungen, d. h. Wechsel mit anderen an die pointierte Vorstellung sich anschliefsenden Vorstellungen, Bereithalten f\u00fcr eine Wahrnehmung einer Wirklichkeit, welche auf die pointierte Vorstellung pafst und dem Wechsel in der Phantasie ein Ende macht.\nEin Beispiel! Das Bild: \u201eWird das Boot die Landspitze umsegeln?\u201c Seem\u00e4nner stehen am Strande. Sie haben das Phantasiebild, Miniaturbild das Schiffes hier und dort, nah und fern der Landspitze, also immer von der Landspitze aus gemessen ; sie lugen aus und wissen, es wird eine Wahrnehmung des Wirklichen, korrespondent dem Vorgestellten, eintreten, worauf ihre Miniaturbilder verschwinden werden.\nEin solches Aggregat von Vorstellungen, welches eben eine eigenartige Konstellation hat, heifst eine Frage; aber von eigenartigen Akten und Bewufstseinsweisen ist nichts zu beobachten.\nEs kann weiter verschiedene Arten von Fragen geben; z. B. die Frage: was wird \u00fcberhaupt geschehen? bedeutet die Erwartung, das Bereitsein f\u00fcr eine Wahrnehmung, welche dem Nichts-Geschehen ein Ende machen wird, der Vorstellung von \u201eetwas\u201c entspricht. (Das Abstrakte m\u00fcfste besonders behandelt werden.) Neugierig zum Fenster hinaussehen ist eine an die Gasse gerichtete Frage. - - Einen an nerv\u00f6ser Spannung sehr reichen Zustand giebt es, in welchem n\u00e4mlich, obzwar die Frage schon entschieden ist, die geistigen Vorg\u00e4nge wie vor","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Frage.\n319\nder Entscheidung immer wiederkehren, die immer wieder behobene Unsicherheit nachzittert.\nEin Urteil ist oft nichts anderes, als ein Name f\u00fcr eine Thatsa\u00e7he oder ein Ereignis, sei es einem wirklichen oder einem in der Phantasie, Erinnerung nachgebildeten, z. B. es regnet oder es regnete. Es enth\u00e4lt psychisch gar nichts anderes, als blofse Vorstellungen; nur enth\u00e4lt es oft die Vorstellungen des betreffenden Wahrnehmens des Gegenstandes auch noch. \u2014 Von nennenswerter Wichtigkeit sind meist nur solche Urteile, welche auf einen Zustand der Unsicherheit folgen. Die Psychologie der Frage steht demnach im innigsten Konnex mit der des Urteilens und der der Aufmerksamkeit. Letztere bildet ja nur ein schon behandeltes Element der Frage, und es bliebe eigentlich noch \u00fcbrig, die Operation und die Arten des Auf-merkens im Detail darzulegen. Das soll aber hier nicht mehr geschehen. Das Wichtigste f\u00fcr die Analyse ist \u201edas Interesse\u201c, die \u201ePointierung\u201c einer Vorstellung, welche, ohne ein aparter psychischer Akt zu sein, wie wir gesehen haben, durch Schmerzen oder Freuden, durch ihre Verwendung als Mittel etc., durch Richtung des Blickes oder des Ergreifens... zu einer uns occu-pierenden wird.\nDurch die Aktionen wird von Kindheit an in das Gewoge einzelner Vorstellung Richtung, quasi Polarisation gebracht. Bemerkenswert ist es f\u00fcr meine Methode, dafs so viele sogenannte psychische Funktionen ineinander \u00fcberzufliefsen scheinen. Das ist auch thats\u00e4chlich der Fall und stellt sich bei der Gruppierung der verschiedenen Schemata deutlich heraus. So ist z. B. der Zustand beim Wollen ganz verwandt dem der Frage.\nIch werde im Anschlufs an mein \u201e Gehirn und Bewu\u00dftsein\u201c die wirklichen psychischen Thatsachen f\u00fcr alle Begriffe geben und aus einer solchen vollst\u00e4ndigen Aufz\u00e4hlung ergiebt sich ein System von psychischen Gruppen, mit wechselseitigen \u00dcberg\u00e4ngen, welches, mit seinem \u00dcberstreifen der gew\u00f6hnlichen psychologischen Abteilungen, f\u00fcr die physiologische Erkl\u00e4rung und auch f\u00fcr Psychiatrie von einiger Brauchbarkeit sein d\u00fcrfte.","page":319}],"identifier":"lit14203","issued":"1890","language":"de","pages":"310-319","startpages":"310","title":"Zur Psychologie der Frage","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:16:36.687899+00:00"}