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{"created":"2022-01-31T16:21:34.881046+00:00","id":"lit14234","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Strong","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1: 503-505","fulltext":[{"file":"p0503.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n503\nDarstellungen des Gesamtbaues sind im Berichtsjahre zwei erschienen, eine italienische von Mingazzini und eine deutsche vom Referenten unter dem Titel: \u201eZw\u00f6lf Vorlesungen \u00fcber den Bau der nerv\u00f6sen Centralorgane\u201c (Leipzig, 1889).\nH. H. Donaldson. Anatomical Observations on the Brain and Sense-organs of the blind deaf-mute, Laura Bridgman. (1. Mitteilung.) Amer. Journal of Psychology, Okt. 1890.\nDas Gehirn der bekannten blinden Taubstummen, Laura Bridgman, wurde im neurologischen Laboratorium der Clark Universit\u00e4t in Worcester, U. S. A., einer sorgf\u00e4ltigen Untersuchung unterworfen, deren Ergebnisse Professor Donaldson jetzt mitteilt.\nL. B. wurde am 21. Dezember 1829 in Hanover, New Hampshire, geboren. Ihre Eltern waren gesund, aber beide etwas nerv\u00f6s. Als kleines Kind war sie schw\u00e4chlich und litt an Kr\u00e4mpfen, doch besserte sich ihre Gesundheit mit dem zwanzigsten Monat, und sie zeigte sich th\u00e4tig und verst\u00e4ndig. Nachdem sie einige Worte sprechen und einen oder zwei Buchstaben kennen gelernt hatte , erkrankte sie mit ihren beiden Schwestern als sie zwei Jahre alt war, am Scharlachfieber. Die Schwestern starben, und L. wurde so krank, dafs beide Augen und beide Ohren in Eiterung gerieten und auch Geruch und Geschmack beeintr\u00e4chtigt wurden. Das Gesicht des linken Auges wurde g\u00e4nzlich zerst\u00f6rt; mit dem rechten hatte sie einige Empfindung f\u00fcr sehr grofse helle Gegenst\u00e4nde bis zu ihrem achten Jahr, wo sie ganz blind wurde. Da die Sprache mit dem Geh\u00f6r verloren gegangen war, wurde sie zu Hause durch willk\u00fcrliche Ber\u00fchrungszeichen erzogen und lernte N\u00e4hen, Stricken u. s. w., bis sie am 4. Oktober 1837 in die Perkins Institution f\u00fcr Blinde zu Boston \u00fcbergef\u00fchrt wurde. Hier wurde sie bis zu ihrem zwanzigsten Jahre durch Dr. S. G. Howe, den damaligen Direktor der Anstalt, erzogen und zwar auf folgende Weise: der Name eines gew\u00f6hnlichen Gegenstandes wurde in erhabenen Buchstaben auf den Gegenstand geklebt, und sie lernte Namen und Gegenstand miteinander associieren; dann lernte sie den Namen aus einzelnen Buchstaben bilden; endlich lernte sie nach langer Zeit die Buchstaben selbst. Als sie zum erstenmal erkannte, dafs das Zeichen f\u00fcr einen Gegenstand aus einzelnen Buchstaben gebildet werden konnte, ging ihr die Bedeutung dessen, was sie that, pl\u00f6tzlich auf; von nun an mufste sie im Lernen zur\u00fcckgehalten werden, damit ihre Gesundheit nicht gef\u00e4hrdet w\u00fcrde.\nZur Zeit, wo sie in die Perkins Institution kam, fehlte ihr der Geruchssinn ganz; doch konnte sie sp\u00e4ter durch den Geruch die Richtung der K\u00fcche erkennen. Durch Geschmack konnte sie anfangs Sauer besser unterscheiden als S\u00fcfs und Bitter. Ihr Tast- und Ber\u00fchrungssinn war selbst f\u00fcr eine Blinde sehr scharf ; auch war sie f\u00fcr Ersch\u00fctterungen sehr empfindlich. So weit man entdecken konnte, tr\u00e4umte sie nicht in Gesichts- oder Geh\u00f6rsvorstellungen. Sie hatte \u00fcber f\u00fcnfzig Laute, mit welchen fie Bekannte zu bezeichnen pflegte. \u00dcbrigens war sie aufser-ordentlich reinlich, ordnungsliebend und gesittet.","page":503},{"file":"p0504.txt","language":"de","ocr_de":"504\nLitteraturbericht.\nIm Jahre 1878 wurde sie durch Professor G. Stanley Hall untersucht, der sie f\u00fcr vollst\u00e4ndig blind und taub erkl\u00e4rte. Durch den Ersch\u00fctterungssinn konnte sie die Fufstapfen und bisweilen auch die Stimme ihrer Bekannten erkennen; sie sagte, dafs sie \u201edurch ihre F\u00fcfse\u201c h\u00f6rte. Durch den Geruch konnte sie jetzt einige st\u00e4rker duftende Blumen erkennen, aber k\u00f6lnisches Wasser, Ammoniak und Zwiebeln nur, wenn dieselben sehr stark waren. Jetzt war sie f\u00fcr Bitter und Sauer am wenigsten und f\u00fcr S\u00fcfs und Salzig am meisten empfindlich. Ihr Ber\u00fchrungssinn, mit den Zirkelspitzen gemessen, zeigte sich zwei- bis dreimal so fein als normal. Als Erwachsene war sie 1,596 m. hoch und wog inklusive Kleidung 44,45 Kilo. Sie starb in der Perkins Institution, wo sie beinahe ihr ganzes Leben zugebracht hatte, am 24. Mai 1889 an einer Lungenentz\u00fcndung.\nDas Gehirn wurde zuerst in M\u00fcLLERscher Fl\u00fcssigkeit, dann in doppeltchromsaurem Kali geh\u00e4rtet. Sein Volumen ohne Pia war, nach der H\u00e4rtung, 1383 ccm; also vor der H\u00e4rtung etwa 1178 ccm. Sein Gewicht ohne Pia war, nach der H\u00e4rtung, 1389 g; also vor der H\u00e4rtung etwa 1204 g, oder etwas unter der von Schwalbe angegebenen Durchschnittszahl f\u00fcr das weibliche Gehirn, 1245 g. Nach linearen Messungen erschien das Gehirn ausgesprochen brachycephal.\nDie NN. glossopharyngeus, acusticus und abducens waren etwas verk\u00fcmmert und alle Hirnnerven waren klein. Die striae acusticae traten besonders klar hervor. Das hintere Paar der corpora quadrigemina war etwas klein, aber wohlgerundet, und die brachia traten klar hervor; dagegen war das vordere Paar, und besonders das linke corpus, stark gegen die Mittellinie abgeplattet, und die brachia waren nicht zu sehen. Das rechte pulvinar war leider besch\u00e4digt, aber das linke war erhalten, und erschien verk\u00fcmmert und wenig gew\u00f6lbt. Die commissurae media und posterior waren gut entwickelt, aber die commissura anterior war leider nicht erhalten. Die glandula pinealis zeigte sich unverh\u00e4ltnism\u00e4fsig vergr\u00f6fsert, wahrscheinlich weil der Druck der umgebenden Teile beseitigt war. Das infundibulum war aufserordentlich verl\u00e4ngert, und der tractus opticus sehr verk\u00fcmmert. Das corpus callosum war in jeder Beziehung gut entwickelt.\nDie Gesamtgestalt der Hemisph\u00e4ren war normal, nur waren sie nach hinten etwas abgeplattet. Der Schl\u00e4fenlappen war verh\u00e4ltnism\u00e4fsig klein, seine Spitze d\u00fcnn, und die Entfernung von dieser bis zur Spitze des Frontallappens daher ungew\u00f6hnlich grofs. Die Windungen waren im allgemeinen grofs und lagen weit voneinander getrennt, besonders im Frontal- und Parietallappen, nur im Hinterhauptslappen lagen sie eng aneinander. Die typische Anordnung derselben liefs sich leicht erkennen, und die beiden Hemisph\u00e4ren waren ziemlich symmetrisch markiert. Die L\u00e4nge der fissura Sylvii, von den rami anteriores bis zum ramus posterior ascendens gemessen, war 52 mm f\u00fcr die rechte und 53 mm f\u00fcr die linke Hemisph\u00e4re, also weniger als Eberstallers Durchschnittszahl f\u00fcr das weibliche Gehirn, 56,5 mm.\nIm Frontallappen gingen der sulcus frontalis inferior und der sulcus fronto-marginalis ineinander \u00fcber, desgleichen auch der sulcus fronto-","page":504},{"file":"p0505.txt","language":"de","ocr_de":"Litter at urbericht.\n505\nmarginalis und der ramus anterior horizontalis fissurae Sylvii. Von dem gyrus frontalis inferior war die pars triangularis am besten entwickelt, und besser links als rechts; die pars basilaris war links viel weniger entwickelt und besonders in ihren ventralen Teilen verk\u00fcmmert; die pars ascendens war links durchweg verk\u00fcmmert; und diese beiden partes waren nicht nur kleiner, sondern lagen auch tiefer als die umgebenden Windungen, so dafs der gyrus centralis \u00fcber der pars basilaris ein leichtes operculum bildete. Die insula war rechts 46 qmm, links sogar 128 qmm, oder beinahe dreimal so viel, blofsgelegt. Diese Verh\u00e4ltnisse entsprechen im wesentlichen den Abweichungen, die von B\u00fcdinger und Zuckerkandl als charakteristisch f\u00fcr Taubstumme beschrieben worden sind.\nDer Hinterhauptslappen war auf der rechten Seite kleiner als auf der linken. Der sulcus parieto-occipitalis kam auf der dorsalen Fl\u00e4che der rechten Hemisph\u00e4re nicht zum Vorschein, obgleich er links gut entwickelt war. Der rechte cuneus war viel weniger entwickelt als der linke. Die Verk\u00fcmmerung des rechten Hinterhauptslappens erkl\u00e4rt sich aus der Thatsache, dafs L. seit ihrem zweiten Jahre im linken Auge vollst\u00e4ndig blind war, w\u00e4hrend sie im rechten einige Lichtempfindung behielt bis zu ihrem achten Jahre, genug jedenfalls, um die Entwickelung der linksseitigen Centren fortfahren zu lassen.\nDie Centren f\u00fcr Finger- und Daumenbewegungen waren auf der linken Seite ziemlich gut entwickelt, auf der rechten aber nicht so gut sonst war nichts Ungew\u00f6hnliches zu bemerken.\nDonaldson machte den Versuch, den Gesamtfl\u00e4cheninhalt des Gehirns zu bestimmen, indem er zuerst die freie Fl\u00e4che mafs, dann die L\u00e4nge der Furchen und die durchschnittliche Tiefe derselben bestimmte und die n\u00f6tigen Berechnungen anstellte. Er fand:\nLinks :\tEechts :\nInsula.................... 1760. qmm ........... 2026.5 qmm\nFrontallappen............. 27624.5 \u201e\t...... 29584.\t\u201e\nHinterhauptslappen........\t3824.5 \u201e\t...... 3604.8\t\u201e\n\u00dcbrige Teile.............. 51056.7 \u201e\t...... 47452.\t\u201e\n84265.7 qmm\t82667.3 qmm\nDie linke insula erscheint hiernach viel weniger entwickelt als die rechte ; der linke Frontallappen ist viel kleiner als der rechte, was haupts\u00e4chlich der Verk\u00fcmmerung des gyrus frontalis inferior zuzuschreiben ist. Hingegen ist der rechte Hinterhauptslappen viel unentwickelter als der linke.\nDieser ersten Mitteilung ist eine ausf\u00fchrliche Bibliographie beigef\u00fcgt.\tStrong (Worcester, U. S. A.)\nW. Jerusalem. Laura Bridgman. Erziehung einer Taubstumm-Blinden.\nEine psychologische Studie. Wien. 1890. A. PichlersWitwe & Sohn.\n8\u00b0. 76 S.\nMit eingehender Benutzung der \u00fcber L. B. vorliegenden Litteratur wird eine ausf\u00fchrliche Biographie dieses seltsamen, von der Natur so grausam behandelten M\u00e4dchens gegeben und besonders die Methode des","page":505}],"identifier":"lit14234","issued":"1890","language":"de","pages":"503-505","startpages":"503","title":"H. H. Donaldson: Anatomical Observations on the Brain and Senseorgans of the blind deaf-mute, Laura Bridgman: 1. Mitteilung. Amer. Journal of Psychology, Okt. 1890","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:21:34.881052+00:00"}