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{"created":"2022-01-31T12:31:04.842146+00:00","id":"lit14322","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Peretti","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1: 227-230","fulltext":[{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Id\u00fceraturiericht.\n227\nder dritte die Ursachen des Irreseins. Die Einteilung der Irreseinsformen, deren Beschreibung der vierte Abschnitt gewidmet ist, lehnt sich an v. Krafft-Ebing und an Mendel an, und wenn sich auch \u00fcber Einzelnes, wie die Auffassung der melancholischen Tobsucht, die Stellung der sekund\u00e4ren Paranoia Meinungsverschiedenheiten unter den Fachgenossen finden m\u00f6chten, so kann man doch der Gesamteinteilung zustimmen und man mufs anerkennen, dafs Verfasser dem Bestreben, knappe und klare Bilder zu zeichnen, vollauf gerecht geworden ist. Es werden folgende Formen aufgestellt: angeborene oder in fr\u00fchester Kindheit erworbene Entwickelungshemmungen des Gehirns (Idiotismus, Kretinismus, moralisches Irresein), Psychoneurosen (prim\u00e4rer Bl\u00f6dsinn, akute hallucina-torische Verworrenheit, Melancholie, Manie, Tobsucht, sekund\u00e4re Schw\u00e4chezust\u00e4nde, Paranoia, periodisches Irresein), Geisteskrankheiten, die mit centralen Neurosen (Epilepsie, Hysterie, Hypochondrie, Chorea) verbunden sind, Vergiftungspsychosen (alkoholistisches Irresein, Morphinismus, Irresein durch Bleivergiftung) und schliefslich organische Geisteskrankheiten (akutes Delirium, Irresein der Greise, Paralyse, luetisches Irresein, traumatisches Irresein nebst Rail-way-spine, Irresein bei der multiplen Sklerose und Irresein bei Neubildungen im Gehirn).\nJedem, der sich \u00fcber den jetzigen Stand der Irrenheilkunde informieren will, kann das klar geschriebene und gut ausgestattete Buch bestens empfohlen werden.\tPeretti (Bonn).\nTh. Meynert. Amentia, die Verwirrtheit. Jahrb\u00fccher f\u00fcr Psychiatrie, Bd. IX. 1890, S. 1-112.\nUnter dem Namen \u201eAmentia, die Verwirrtheit\u201c, schildert M. ein Krankheitsbild, in welchem sich der Mangel von Verbindung der Symptome untereinander, der Mangel von Verbindung der \u00e4ufseren \"Wahrnehmungen, ein in weit auseinanderliegenden Abstufungen g\u00e4nzlicher oder teilweiser Ausfall der Associationsleistung, der Koordination der Rindenbilder, der Gedankeng\u00e4nge geltend macht. Die Verwirrtheit, wie sie aus diesem Associationsmangel resultiert, wird am besten durch das Wort Amentia (Geistesmangel) ausgedr\u00fcckt und ist wohl zu unterscheiden von der Dementia, dem Bl\u00f6dsinn, bei welchem trotz des Mangels der Associationen das Bewufstsein weniger, als bei der Verwirrtheit getr\u00fcbt ist, und von der Bet\u00e4ubung, bei der die Wahrnehmungen herabgesetzt sind, w\u00e4hrend der Verwirrte die Wahrnehmungen hat, aber sie nicht versteht. Neben dem Zerfall der Associationsanordnung ist als weiteres Grundsympton der Verwirrtheit die Illusion anzuf\u00fchren, welche, da sich Ausdruck, Benennung und Wahrnehmung nicht mehr decken, eine tiefere kortikale St\u00f6rung, als die Hallucination bedingt und ihrer \u00c4hnlichkeit mit der Suggestion in der Hypnose wegen als unbegrenzte Selbsteinredung bezeichnet werden kann.\nEs ist hier nicht der Ort, die klinischen Auseinandersetzungen des Verfassers, welcher der Verwirrtheit eine Reihe von bisher bei verschiedenen anderen Formen beschriebenen Krankheitsbildern zuweist, bis in ihre Einzelheiten zu verfolgen, wenn schon f\u00fcr den Fachpsychiater der anregenden und zweifellos auch fruchtbringenden Gedanken viele","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nLitteraturbericht.\ndarin enthalten sind. Erw\u00e4hnt mag nur werden, dafs Verfasser 5 Formen der Amentia: 1. zusammengesetzte Verwirrtheit, 2. hallucinatorische oder illusorische Verwirrtheit durch die ganze Krankheitsdauer, 3. eine durch Angstgef\u00fchle deprimierte Verwirrtheit, 4. eine rasch durch manische Stimmung erregte Verwirrtheit und 5. eine rasch in Stupor \u00fcbergehende Verwirrtheit unterscheidet, dafs die typischeste Form, die hallucinatorische Verwirrtheit, das Anfangsstadium der zusammengesetzten Amentia ist, in eine manische Form meistens mit Erholung und in eine stupor\u00f6se Form oft bis zu g\u00e4nzlichem Aufh\u00f6ren psychischer \u00c4ufserungen \u00fcbergehen kann, dafs das Delirium acutum nicht als eine besondere Form von der Verwirrtheit, deren tiefsten Grad es vorstellt, abzuscheiden ist, dafs die periodische Verwirrtheit trotz mancher \u00c4hnlichkeiten nicht mit der Epilepsie zusammengeworfen werden darf, dafs das Fieberdelirium ebenfalls eine Form der Amentia ist, dafs das Delirium tremens eine Verwirrtheit bei Alkoholintoxikation und die Hundswut eine intensive Form akuter Amentia auf bacill\u00e4rer Grundlage darstellt.\nF\u00fcr den Psychologen sind von besonderm Interesse die Ausf\u00fchrungen des Verfassers \u00fcber den normalen und pathologischen Mechanismus der Hirnrindenfunktionen und es soll daher in folgendem versucht werden, den Gedankengang des Verfassers etwas ausf\u00fchrlicher darzulegen.\nDer anatomische Mechanismus des Vorderhirns besteht aus den Kindenzellen, welche die Sinneseindr\u00fccke aufbewahren, aus den Projektionssystemen, welche den Zellen die Eindr\u00fccke zuf\u00fchren und die Bewegungsimpulse von der Kinde zur Muskulatur leiten, und schliefslich aus den Associationssystemen, welche diese Eindr\u00fccke in eine, ihren Ablauf \u00fcberdauernde Verbindung im Bewufstsein bringen. Associiert werden sowohl alle Eindr\u00fccke, die im r\u00e4umlichen Nebeneinander zugleich einwirkten, wie z. B. gleichzeitige Geh\u00f6r- und Gesichtswahrnehmungen, als auch alle Eindr\u00fccke, die im zeitlichen Nebeneinander ein wirkten, wie z. B. nacheinander geh\u00f6rte und gemerkte Worte. Beim Kinde ist diese Associationsf\u00e4higkeit urspr\u00fcnglich noch in einem ungeordneten Zustande, die Verbindungen entstehen nach Zufall, doch tritt allm\u00e4hlich eine Anordnung der Associationen ein, indem sich von den Zufallsverbindungen nur diejenigen, welche der Gesetzm\u00e4fsigkeit in der Natur entsprechen, durch Wiederholung befestigen, w\u00e4hrend die nur einmal entstandenen und untauglichen Verbindungen wieder abklingen. Der ungeordnete Urzustand, die genetische Verwirrtheit, bestand so lange, als die Rindenverbindungen ihrer Intensit\u00e4t nach gleichwertig waren, die Ordnung in den Gedankeng\u00e4ngen beruht auf erworbener, gr\u00f6fserer Intensit\u00e4t der kortikalen Verbindungen.\nAlle Stellen der Kinde h\u00e4ngen durch die Association allseitig zusammen; jeder Associationsvorgang entsteht dadurch, dafs von irgend, einer Rindenstelle aus lebendige Kraft auf die bei dem Vorg\u00e4nge beteiligten Elemente \u00fcbertragen wird. Der Associationsvorgang wird begleitet von einer funktionellen Hyper\u00e4mie, und weil durch die Starrheit der Sch\u00e4delkapsel eine allgemeine fluxion\u00e4re Hirnschwellung ausgeschlossen ist, so kann ein Zustand, in welchem alle Associationen \u00fcber","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"latter a turberic h t.\n229\nder Schwelle des Bewufstseins d. h. alle mitwirkenden Elemente auf einer zul\u00e4nglichen Nutritionsh\u00f6he st\u00e4nden, nicht Vorkommen, eine allgemeiner Schlaf ist denkbar, stets aber nur ein partielles Wachen (Fechnbr). Gegenstand unserer Aufmerksamkeit ist nur der Teil der Associationsbildungen, der \u00fcber der Schwelle des Bewufstseins steht, w\u00e4hrend die \u00dcberzahl derselben gleichzeitig im partiellen Schlaf liegt, ohne dafs aber deshalb f\u00fcr letztere die Intensit\u00e4t der Erregung gleich Null w\u00e4re, denn ein Zuwachs an Intensit\u00e4t hebt sie \u00fcber die Schwelle.\nDiese Intensit\u00e4tsunterschiede wird man als Unterschiede in der H\u00f6he der Ern\u00e4hrung und die Associationsverbindungen als mit einem chemisch-synthetischen Prozesse (daher Abnahme der Phosphorausscheidung w\u00e4hrend geistiger Arbeit, Wood, Mendel) und mit einer Schwellung der Elemente durch molekulare Attraktion (Virchow) verbunden auffassen m\u00fcssen. Es erkl\u00e4rt sich dann auch, dafs die nichterregten Elemente, denen von den erregten die nutritive Gewebsfl\u00fcssigkeit entzogen wird, in ihren Funktionen gehemmt werden.\nJe intensiver die Funktionsh\u00f6he in irgend welchen Verbindungen ansteigt, um so tiefer und verbreiteter ist der anderweitige partielle Schlaf, und ein intensiv, z. B. mit der L\u00f6sung einer verwickelten mathematischen Gleichung besch\u00e4ftigter Mensch nimmt alles, was um ihn herum vorgeht, mit sehr verminderter Intensit\u00e4t auf. F\u00fcr gew\u00f6hnlich sind im jeweiligen Denkvorgange Haupt- und Nebenassociationen zu unterscheiden; so wird der bewufste Denkprozefs von unter der Schwelle des Bewufstseins ablaufenden Nebenvorstellungen begleitet, welche aber doch die Intensit\u00e4t haben, Bewegungsvorg\u00e4nge, n\u00e4mlich die Mimik, auszul\u00f6sen, und auch die Beime, Assonanzen, \u00dcbertragungen und \u00c4hnlichkeiten von Klang und Sinn, die bei jedem Worte leicht in das Bewufstsein treten, sind solche Nebenassociationen. In dem geordneten Gedankengange treten die Nebenassociationen zur\u00fcck, derselbe hat ein Bindenbild als Ziel und gelangt zu diesem Ziel durch Hilfsvorstellungen (Angriffsvorstellungen). Zwischen den Bindenherden der Angriffsvorstellungen und der Zielvorstellung verlaufen Associationsb\u00fcndel mit zweiseitiger Leitungsrichtung, in deren Verlauf sowohl von den Herden des Ziels, als von denen des Angriffs aus funktionelle Attraktion sich geltend macht, und diejenigen Associationsb\u00fcndel, innerhalb deren beim Denkakt zwei Kraftquellen, die der Ziel- und die der Angriffs vor Stellung, aufeinander gleichsam zielen, erlangen lebendige Kraft zur Erhebung \u00fcber die Bewufstseinsschwelle immer von zwei ideal einheitlichen Bindengebieten her, die Nebenassociationen aber nur von einem dieser beiden Gebiete, dem der Ziel- oder dem der Angriffsvorstellung aus.\nDieser geordnete Gedankengang ist nun bei der Verwirrtheit nicht m\u00f6glich; der Inanitionszustand der Hirnrinde l\u00e4fst Bindenbilder von der St\u00e4rke, dafs sie sich im Ablaufe einer langen und verwickelten \u00dcberlegung noch im Bewufstsein befinden, nicht zu, und die Nebenvorstellungen werden deshalb nicht gehemmt, der Verwirrte reiht Beime, Assonanzen und Wortaufz\u00e4hlungen aneinander. Diese Inanition der Hirnzellen und Bahnen kommt zum Teil durch \u00dcberm\u00fcdung zu st\u00e4nde,","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nLitteraturbericht.\ndenn w\u00e4hrend Wiederholung und Ausdauer die Rindenbilder verst\u00e4rkt, schw\u00e4cht \u00dcberb\u00fcrdung dieselben.\n\u201eDie Verwirrtheit ist eine Herabsetzung des elementaren Ern\u00e4hrungs-Ph\u00e4nomens der geweblichen Attraktion im kortikalen Organe, welche die Association in weitgreifendem Zusammenh\u00e4nge, die h\u00f6her koordinierte Association in verschiedenem Grade beeintr\u00e4chtigt, so dafs das Gewebsplasma einerseits nicht mit f\u00fcr geordnete Gedankeng\u00e4nge gen\u00fcgender Intensit\u00e4t chemisch angezogen wird, damit diese \u00fcber der Schwelle des Bewufstseins sich halten, und andererseits nicht durch diese Anziehung in grofsen Zusammenh\u00e4ngen den all\u00f6rtlich vorhandenen Nebenleitungen nach allen Richtungen entzogen wird, welche der Zusammenhang aller Rindenstellen untereinander in der anatomischen Einrichtung dar bietet, innerhalb deren aber die Gewebsattraktion eine Anordnung gestaltet.\u201cJ\nDie Verwirrtheit ist also ein Ausfallssymptom; das Auftreten von Hallucinationen spricht aber daf\u00fcr, dafs gleichzeitig mit dem Herabsinken der kortikalen Leistung die subkortikalen Sinnescentren Reizerscheinungen darbieten. M. erkl\u00e4rt dies aus den anatomischen Verh\u00e4ltnissen der Blutgef\u00e4fsbahnen.\tPeretti (Bonn).\nTh. Kirchhoff. Grundrifs einer Geschichte der deutschen Irrenpflege.\n192 S. Berlin 1890, Hirschwald. Preis M. 5.\u2014.\nUnter diesem bescheidenen Titel bringt uns der Verfasser eine ganze F\u00fclle an interessanten und lehrreichen Thatsachen, wobei er den Begriff der Irrenpflege im weitesten Sinne auffafst und ihn auf das Hexen- und D\u00e4monenwesen ausdehnt.\nDas Buch gewinnt dadurch weit \u00fcber den Kreis der Fachgenossen hinaus an Wert, und die Untersuchungen des Verfassers \u00fcber Einflufs und Ausbreitung des Hexenwesens, sowie \u00fcber die Stellung verschiedener grofser M\u00e4nner jener dunkeln Zeit zu diesen traurigen Verirrungen Paracelsus, Weter, Platter, Luther u. a. m.) haben ein allgemeines Interesse.\nSelbst ein so gewaltiger Geist, wie Luther, steht unter dem Banne des Aberglaubens seiner Zeit, und da man den Teufel \u00fcberall vermutete, hatte man auch die Befriedigung, ihn oft zu finden.\nIhm und seinen Zeitgenossen einen Vorwurf daraus zu machen, dafs sie Kinder ihrer Zeit gewesen, w\u00e4re aber so th\u00f6richt wie unvorsichtig. Wir wissen zwar, dafs bis in die neuere Zeit hinein dogmatische Erscheinungen und insbesondere der Teufelsglauben eine eigentliche Irrenpflege unm\u00f6glich machten, was wir aber nicht wissen, oder in unserer raschlebigen Zeit wieder vergessen haben, das ist, dafs uns von diesen mittelalterlichen Anschauungen nur ein winzig kleiner Zwischenraum trennt, ja mehr noch, dafs sie bis auf den heutigen Tag ihre Anh\u00e4nger und Verteidiger finden.\nHeixroth und seine Schule (1818) n\u00e4herte sich wieder der Teufelstheorie, oder hatte sich vielmehr nie davon entfernt, G\u00f6rres findet in seiner vielbewunderten \u201echristlichen Mystik\u201c (1842) den Ursprung aller Krankheiten in der S\u00fcnde, und endlich hatte Vilmar (1856) den traurigen Mut,","page":230}],"identifier":"lit14322","issued":"1890","language":"de","pages":"227-230","startpages":"227","title":"Th. Meynert: Amentia, die Verwirrtheit. Jahrb\u00fccher f\u00fcr Psychiatrie, Bd. IX. 1890, S. 1-112","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:31:04.842151+00:00"}