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{"created":"2022-01-31T14:37:17.729344+00:00","id":"lit14333","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Gaule, Justus","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2: 31-52","fulltext":[{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Was ist unser Nervensystem und was geht darin vor ?\nVon\nJustus Gaule.\nIn den wissenschaftlichen Kreisen, an welche sich diese Zeitschrift wendet, giebt es gewifs niemand, welcher bezweifelt, dafs die Vorg\u00e4nge in nnserm Nervensystem dem Gesetze der Erhaltung der Kraft gehorchen. Das Interesse aber an einer Einordung dieser Vorg\u00e4nge hat abgenommen, seit Du Bois-Rkymond den ber\u00fchmten Ausspruch gethan, dafs die Empfindungen von Liebe und Hafs, von Lust und Unlust unerkl\u00e4rt sein w\u00fcrden, auch wenn die s\u00e4mtlichen Umlagerungen der Atome unserer Nerven bekannt und mathematisch berechenbar w\u00e4ren. Es ist kein Zweifel, dafs dieser Ausspruch die Definitionen, die wir gegenw\u00e4rtig von den Atomen einerseits, von den Empfindungen anderseits machen, genau wiedergiebt, und deshalb hat er auch grofsen Eindruck gemacht. Indessen die Atomistik in ihrer gegenw\u00e4rtigen Form ist ja noch nicht der Weisheit letzter Schlufs. Schon d\u00e4mmert die Erkenntnis, dafs es sich hier um Hilfsbegriffe handelt, welche eine grofse Vereinfachung des Denkens erm\u00f6glichen, so lange die gegenw\u00e4rtig getrennte Betrachtung der Erscheinungen vom chemischen, vom physikalischen und geometrischen Standpunkte aus aufrecht erhalten wird. Wenn es sich aber einmal darum handeln sollte, einen gemeinschaftlichen Hilfsbegriff zu schaffen, der den Forderungen aller dieser Wissenschaften gen\u00fcgt, so wird man die Definition desselben auch bedeutend erweitern m\u00fcssen.\nIndessen um diese Sorgen der Zukunft brauchen wir uns hier noch nicht den Kopf zu zerbrechen. F\u00fcr uns handelt es","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nJustus Gaule.\nsich um viel einfachere Dinge, um den Behex. Der Beflexvor-gang ist ohne Zweifel der f\u00fcr uns deutlichste Vorgang der Nerventh\u00e4tigkeit, er ist derjenige, welcher zuerst auftritt und an die einfachste Organisation gebunden ist. Er ist auch derjenige, von dem wir am meisten wissen. Jede Er\u00f6rterung des Nervensystems mufs daher davon ausgehen, vom morphologischen Gesichtspunkt die Beflexbahn, vom physiologischen den Beflexvorgang deutlich zu machen.\nIch beabsichtige im folgenden die Ansichten auseinanderzusetzen, welche ich mir \u00fcber beide gebildet. Was daran neu ist, verdankt wesentlich dem Umstand seine Entstehung, dafs ich die innere Beziehung zwischen beiden gesucht habe. Das scheint mir f\u00fcr die Entwickelung einer wirklichen Theorie unumg\u00e4nglich. F\u00fcr die Feststellung einiger Erscheinungen ist es nicht notwendig, sich um die innere Organisation des Nervensystems zu k\u00fcmmern, und ebenso kann man die morphologischen Details derselben beschreiben, ohne die Leistungen zu kennen. Aber wenn man fragt: \u201eWas ist das Nervensystem, was geht darin vor?\u201c (und in diesen Fragen res\u00fcmiert sich doch das Ziel unseres Wissens), da mufs man sich besinnen, dafs das Nervensystem Teil eines lebenden Wesens ist, dafs seine Funktion sein Leben ist, und dafs zwischen seiner Organisation und seiner Funktion der innigste Zusammenhang existieren mufs.\nIn Bezug auf die Form dieser Auseinandersetzung will ich keine andere B\u00fccksicht walten lassen, als die, meine Ansicht klar auseinanderzusetzen. Ich habe reichlich Gebrauch gemacht von dem grofsen Material von Beobachtungen, welches in der Litteratur vorliegt. Wollte ich das hier dokumentarisch begr\u00fcnden, so w\u00fcrde dieser Aufsatz zu einem Umfang anschwellen, der seine Deutlichkeit beintr\u00e4chtigen m\u00fcfste. Wenn ich trotzdem einen Autor anf\u00fchre, so geschieht es eher im Interesse der K\u00fcrze. Ich verweise dabei auf eine Auseinandersetzung, die bei ihm ausf\u00fchrlich gegeben wird und die ich nur fl\u00fcchtig ber\u00fchre. Man wird es nat\u00fcrlich finden, dafs dies am ehesten mit den dies Gebiet betreffenden Arbeiten geschieht, die unter meiner Leitung entstanden sind, also denen von Birge, Beevor, Canini, Frenkel, Laho\u00fcsse, Wlassak, Kodxs und meinen eigenen. An ihnen hat sich meine Ansicht am meisten entwickelt.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Was ist unser Nervensystem und was geht darin vor?\n33\nAllgemeine Betrachtung.\nVon allen Vorg\u00e4ngen im Nervensystem ist der Behex derjenige, von dem sich am leichtesten einsehen l\u00e4fst, dafs er dem Gesetz der Erhaltung der Kraft untergeordnet ist. Wir k\u00f6nnen leicht die Anwesenheit einer \u00e4ufseren Kraft konstatieren, welche, auf den Organismus wirkend, die Einleitung des Beflexes bildet, und wir konstatieren anderseits eine Kraftwirkung auf die Aufsenwelt als den Erfolg derselben.\nZwischen diesen beiden liegt die Kette der Vorg\u00e4nge im Organismus und erscheint uns wie eine Welle, die durch denselben hindurchl\u00e4uft.\nHier m\u00fcssen wir uns nun gleich vertraut machen mit der eigent\u00fcmlichen Form, welche unser Gesetz annimmt, wenn wir es auf lebende Wesen anwenden. Diese stellen selbst einen Komplex von Kr\u00e4ften dar, die sich aus den in ihnen stattfindenden Umsetzungen entwickeln. Durch die S\u00e4ttigung der Affinit\u00e4ten der in ihnen enthaltenen C und //-atome zum 0 werden Spannkr\u00e4fte in lebendige Kr\u00e4fte \u00fcbergef\u00fchrt, und diese erfahren nun mannigfache Verwendung. Teilweise zwar besteht diese darin, dafs zum Aufbau komplizierter Molek\u00fcle auch Spannkr\u00e4fte wieder festgelegt werden, aber es \u00fcberwiegt doch das Freiwerden, der Prozefs, aus dem das lebende Wesen die Kraft zu seinen Lebens\u00e4ufserungen bestreitet. Auf einem solchen Herd der Kraftentwickelung st\u00f6fst nun die \u00e4ufsere Kraft, welche auf die Oberfl\u00e4che des lebenden Wesens wirkt. Daraus folgt ohne weiteres, dafs sie nicht als solche fortwirkend im Innern desselben gedacht werden kann, sondern dafs das, was hier hinein sich fortpflanzt, eine Besultierende ist. Aber in der Konstruktion dieser Besultierenden liegt eine sehr grofse Schwierigkeit, weil ja der eine Faktor derselben, die aus der Natur des Lebens resultierenden Prozesse noch g\u00e4nzlich unbekannt sind. Und dieser Faktor ist der weit \u00fcberwiegende. Man hat das Verh\u00e4ltnis der \u00e4ufseren Kr\u00e4fte zu den inneren als das der Ausl\u00f6sung bezeichnet. Das Bild, welches man gew\u00f6hnlich gebraucht, ist das der Lunte oder des Funkens und der Pulvermine. Eine geringf\u00fcgige \u00e4ufsere Kraft, wie die in der Lunte oder dem Funken enthaltene, kann die gewaltigen, inneren Kr\u00e4fte des Pulvers entfesseln. Dieses Bild f\u00fchrt in einer Hinsicht zu einer nicht richtigen Auffassung. Die Kr\u00e4fte des Pulvers ruhen,\n3\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie II.","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nJustus Gaule\nbevor die Lunte mit demselben in Ber\u00fchrung kommt, die des lebenden Wesens sind aber schon in voller Entwickelung. Die ersteren werden daher wirklich ausgel\u00f6st, die letzteren werden ver\u00e4ndert. So lange man in der Physiologie sein Augenmerk nur auf bestimmte, experimentell hervorzurufende Erscheinungen richtete, erschien das Bild viel zutreffender, als jetzt, wo man den ganzen Lebensprozefs in den Bereich der Erkl\u00e4rung zu ziehen sucht. Namentlich f\u00fcr die im Verlauf dieser Abhandlung entwickelte Anschauung ist dieser Unterschied wichtig. In einer andern Hinsicht jedoch ist das Bild vollkommen zutreffend und sehr wertvoll. Die Summe der Kr\u00e4fte n\u00e4mlich, welche durch die Entz\u00fcndung des Pulvers entfesselt werden, sind tausend- oder milhonenmal gr\u00f6fser als die in der Lunte enthaltenen, sie stehen zu diesen in gar keinem quantitativen Verh\u00e4ltnis. Wenn man versuchen wollte, in der resultierenden Kraft denjenigen Faktor, der von der Lunte herr\u00fchrt, zu trennen von dem, der von dem Pulver herr\u00fchrt, w\u00fcrde man kein Ke-sultat erzielen, weil das erstere eben ganz verschwinden kann neben dem zweiten. Gienau so ist es bez\u00fcglich der \u00e4ufseren Kr\u00e4fte, welche auf die lebenden Wesen wirken, und der inneren Kr\u00e4fte, welche sie entfalten. Nur mufs man sich \u00fcberlegen, dafs es hier auch umgekehrt sein kann, dafs die inneren Kr\u00e4fte auch tausend- und millionenmal kleiner sein k\u00f6nnen. Das ist f\u00fcr eine Keihe von Erscheinungen, gerade beim Nervensystem, sehr wichtig sich vor Augen zu halten.\nWenn wir auf diese ausl\u00f6senden Kr\u00e4fte nun das G-esetz der Erhaltung der Kraft anwenden, so erfahren wir, dafs die ganze Differenz zwischen ihrer Wirkung und ihrer eigenen Gr\u00f6fse gedeckt wird durch die Spannkr\u00e4fte, und wir sehen ein, dafs in Bezug auf die lebenden Wesen, in welchen fortw\u00e4hrend sowohl Spannkr\u00e4fte in lebendige Kr\u00e4fte \u00fcbergef\u00fchrt werden, wie umgekehrt, die \u00e4ufseren Kr\u00e4fte sich notwendig ausl\u00f6send verhalten m\u00fcssen.\nZu einer Zeit, wo man von der \u00dcberf\u00fchrung von Spannkr\u00e4ften in lebendige Kr\u00e4fte noch keine klaren Begriffe hatte, konnte man die Kraftentwickelungen, welche die lebenden Wesen entfalteten unter dem Einflufs \u00e4ufserer Kr\u00e4fte, noch nicht auf ein solches Gesetz zur\u00fcckf\u00fchren; man betrachtete diesen Fall als etwas ganz Besonderes und f\u00fchrte f\u00fcr solche Wirkungen das Wort Heiz ein. Es ist bequem, dieses Wort","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Was ist unser Nervensystem und was geht darin vor?\n35\nbeizubehalten, weil es das doch immerhin komplizierte Verh\u00e4ltnis mit einem Schlage veranschaulicht, aber man mufs sich bewufst bleiben, dafs dies fr\u00fcher mystische Verh\u00e4ltnis in seinen Grundprinzipien jetzt vollkommen erkannt ist.\nWas ich bis hierhin auseinandersetze, ist nat\u00fcrlich keinem Physiologen etwas Neues. Es liegt mir aber daran, den Boden der allgemeinen Prinzipien, auf dem ich meine specielle Hypothese entwickele, ganz deutlich zu machen.\nOrganisation der Reflexbahn.\nJeder \u00e4ufsere Reiz wird unter normalen Verh\u00e4ltnissen aufgenommen an der K\u00f6rper Oberfl\u00e4che. F\u00fcr den einfachsten Fall, den wir behandeln wollen, denken wir uns dieselbe in der Beschaffenheit, wie sie sie da hat, wo keine besondere Differenzierung stattgefunden hat, also in ihrem bei weitem gr\u00f6fsten Teil. Sie besteht da aus mehreren Schichten verhornender Plattenepithelien, und die Kr\u00e4fte der Aufsenwelt, welche sich gegen die K\u00f6rperoberfl\u00e4che richten, werden zun\u00e4chst diese Epithelien treffen. Wo etwa besondere Epithelgebilde sich differenzieren, die mit den Nerven in Zusammenhang stehen, ist prinzipiell die Sache nicht anders. Nur die Conjunctiva corneae, wo die Nerven zwischen den Epithelien hindurch zur Oberfl\u00e4che dringen und nackt \u00fcber dieselbe hervorragen, bildet einen Ausnahmefall, der sich auch physiologisch unterscheidet und den ich deshalb hier zun\u00e4chst nicht behandle.\nDer Teleologe w\u00fcrde nun sagen, diese Epitheldecke ist zum Schutz der Nerven da, und damit w\u00fcrde er einen Teil des Zweckm\u00e4fsigen, das in dieser Einrichtung liegt, aber auch nur einen Teil, allerdings angegeben haben. Wir aber werden eine solche Betrachtungsweise ganz unber\u00fccksichtigt lassen, denn uns kommt es jetzt nicht darauf an, den Zweck der Einrichtungen einzusehen, sondern das wirklich Thats\u00e4chliche der Vorg\u00e4nge.\nDie Epithelzellen der Oberhaut haben ihren eigent\u00fcmlichen Lebensprozefs so gut wie alle \u00fcbrigen Zellen des Organismus. Derselbe giebt mit einer gewissen Beschr\u00e4nkung das Gesamtleben wieder, denn Entstehen, Wachsen, Ern\u00e4hren und Vergehen sind Stadien jeglichen Lebens. Aber f\u00fcr eine bestimmte Zellenart ist es charakterisiert durch einen f\u00fcr diese speeifischen\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nJustus Gaule.\nProzefs, der in dem Gresamtleben, dem Gesamthaushalt (\u00d6kus) nur einen kleinen Teilvorgang darstellt. Dieser Prozefs keifst f\u00fcr unsere Epitkelzellen Yerkornung. Im wesentlicken bestekt derselbe darin, dafs das urspr\u00fcngliche Protoplasma allm\u00e4hlich seine Eiweifsk\u00f6rper verkert, welche in ein gegen Peagentien sehr widerstandsf\u00e4higes Derivat, das Keratin \u00fcbergehen, das sich durch seinen Schwefelreichtum besonders auszeichnet. Die Fette dagegen sondern sich und bilden eine eigent\u00fcmliche Mischung, an der Cholesterin und Lecithin reichlich beteiligt sind, und die wir vorl\u00e4ufig El\u00ebidin nennen. Dieser Vorgang vollzieht sich nicht in einer einzigen Zelle, sondern es teilen sich in denselben alle Schichten des Epithels, so dafs in den untersten seine ersten Stadien, in den obersten seine letzten Stadien sich vollziehen, die bekanntlich mit der Abstofsung der vollkommen verhornten Sch\u00fcppchen enden.\nDas ist nur eine Einsicht in die \u00c4nderung der chemischen Substanzen, die das Epithel bilden: \u00fcber die Kraftentwickelung wissen wir noch nichts N\u00e4heres. Da aber jede chemische Umlagerung entweder zur Bindung oder zum Freiwerden von Spannkr\u00e4ften f\u00fchrt, so mufs auch ein Spiel der Kr\u00e4fte hiermit verkn\u00fcpft sein. Und wir schliefsen wohl nicht zu viel, wenn wir annehmen, dafs die Ortsver\u00e4nderungen der Substanzen innerhalb der Zelle, wie auch das Wandern der Zellen von der Basalmembran zur Oberfl\u00e4che bestritten wird von Kr\u00e4ften, die bei jenem Prozefs aus Spannkr\u00e4ften gewonnen werden.\nIn diesen Vorgang nun greift die Kraft, welche die K\u00f6rperoberfl\u00e4che trifft, ein. Sie st\u00f6rt ihn, sie ver\u00e4ndert ihn. Die Produkte dieser Ver\u00e4nderung sind es, welche in dem Organismus weiter wirken, und der Weg, auf welchem sie dies thun, heifst Nerv. Unter den Produkten der Ver\u00e4nderung verstehe ich sowohl die Variation in dem Kr\u00e4ftewechsel, die eingetreten ist, wie die ver\u00e4nderten Substanzen, die gebildet sind, unter dem Einflufs des Reizes. Aber ich glaube nicht, dafs es notwendig ist, diese getrennt zu behandeln. Denn die Kr\u00e4fte sind eben solche, die aus Spannkr\u00e4ften frei geworden sind, sie sind also an die Ver\u00e4nderung der Substanz ganz innig gebunden. Wer dies eine deutet, deutet auch das andere.\nEs lohnt sich hier einen Ausblick zu thun auf den Fall, dafs wir es nicht mit der allgemeinen K\u00f6rperoberfl\u00e4che, sondern mit einem besonders differenzierten Teil derselben, mit einem","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Was ist unser Nervensystem und was geht darin vor?\n37\nSinnesorgan, zu tliun haben. Dann ist ein besonderes Epithel, das Sinnesepithel, welches die Grenzschicht bildet, und es ist nicht der allgemeine Verhornungsprozefs, sondern ein eigent\u00fcmlicher Lebensprozefs, welcher durch den Reiz getroffen und gest\u00f6rt wird. Dementsprechend werden auch die Produkte der Ver\u00e4nderung verschieden sein, d. h. jeder eigent\u00fcmliche Sinnesnerv wird von verschiedenen chemischen Substanzen getroffen, wenn das ihm zugeh\u00f6rige Epithel gereizt wird. Daraus erkl\u00e4rt sich das Gesetz der specifischen Sinnesenergie.\nAlso die Produkte der Ver\u00e4nderung der Epithelien sind die Erreger der Nerven. Aber wie ist diese Erregung aufzufassen? Um das zu verstehen, m\u00fcssen wir die Beziehungen der Nerven zum Epithel untersuchen. In der Regel stellen wir uns vor, dafs jeder Nerv, auch der sensible, an der Peripherie ende, und wir sprechen deshalb von den Beziehungen der Nerven zum Oberfl\u00e4chenepithel als den peripheren Nervenendigungen. Aber ist diese Auffassung wirklich mit dem vertr\u00e4glich, was wir schon jetzt \u00fcber die Entstehung der Nerven wissen? Verhalten sich nicht vielleicht der sensible und der motorische Nerv wie, in Bezug auf ihre Leitung, so auch bez\u00fcglich ihres Wachstumes gerade entgegengesetzt? Nach den Untersuchungen von Herrn His haben wir allen Grund, anzunehmen, dafs im Embryo die sensiblen Nerven nicht aus dem Centralorgan heraus, sondern in dasselbe hin ein wachsen. Nun steht dem allerdings die HENSENsche Hypothese gegen\u00fcber, wonach der Nerv einen Faden darstellt, der zwei urspr\u00fcnglich zusammengeh\u00f6rige Zellen der Peripherie und des Centralorgans verbindet, also der Rest eines ehemals direkten Zusammenhangs. Vielleicht brauchen wir f\u00fcr die Kl\u00e4rung unserer Anschauungen die Erledigung dieser embryonalen Kontroverse nicht abzuwarten. M\u00f6glich, dafs ein solcher Faden in einem fr\u00fchen Stadium der Entwickelung existiert, aber ein solcher Faden ist noch kein Nerv, es ist vielleicht der Leitfaden, an dem der eigentliche Nerv entlang w\u00e4chst. Und f\u00fcr die Art, wie dieses Wachstum geschieht, haben wir einen entscheidenden Anhalt an den Degenerationserscheinungen. Die sensiblen Nerven degenerieren in der Richtung nach dem Centrum. Die Degeneration ist aber ohne Zweifel eine Ern\u00e4hrungsst\u00f6rung. Die Nerven verlieren ihre Struktur, die ihnen eigent\u00fcmlichen Substanzen zerfallen, sie gehen in Fett und Bindegewebe \u00fcber,","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nJustus Gaule.\nschliefslich schwinden sie. Ein degenerierender Nerv ist wie die Pflanze, welche verdorrt, wenn sie von ihrer Wurzel getrennt ist. Der Schnitt, welcher den sensiblen Nerv zur Degeneration bringt, hat ihn abgetrennt von seinen Wurzeln, die im Oberfl\u00e4chenepithel liegen. Er hat die Blutgef\u00e4fse, welche den Nerven mit Blut versehen, nicht zerst\u00f6rt, und an Ern\u00e4hrungsstoffen fehlt es dem Nerven nicht. So besitzt ja auch die Pflanze noch ihre Bl\u00e4tter und ihr Chlorophyll, aber ohne die aus den Wurzeln stammenden Stoffe, k\u00f6nnen dieselben nicht mehr assimilieren.\nAlso Nervenwurzeln sind die Nervenenden. In den Epithelzellen oder zwischen denselben entsteht der Nerv. Der letztere Fall l\u00e4fst sich auf den ersteren zur\u00fcckf\u00fchren, wenn die Hypothese richtig ist, welche ich in einer Note zu der Arbeit des Herrn Feenkel aussprach, dafs n\u00e4mlich diese intercellul\u00e4ren Nerven die Zellen, in denen sie urspr\u00fcnglich auch entstanden sind, verloren haben, weil dieselben allm\u00e4hlich zur Oberfl\u00e4che wanderten und sich abstiefsen.\nWie ist diese Entstehung zu denken? Die Herren Canini und Feenkel haben diese Frage an den Epithelien des Froschlarvenschwanzes n\u00e4her studiert. Dort sondern sich die Substanzen, die f\u00fcr den Nerven bestimmt sind, in einer Form, in der sie leicht erkannt werden k\u00f6nnen. Sie bilden eigent\u00fcmliche Figuren, ausgezeichnet durch starke Lichtbrechung in der \u00fcberlebenden Zelle, durch charakteristische F\u00e4rbbarkeit im get\u00f6teten Objekt. Dieselben umfassen den Kern korb\u00e4hnlich, umwinden ihn mit zwei oder mehreren F\u00e4den und sitzen mit breiten F\u00fcfschen auf der Basalmembran des Epithels auf. Goldchlorid, Safranin und fast alle die F\u00e4rbmittel der Achsencylinder und der Terminalfasern der Nerven f\u00e4rben auch diese Figuren.\nMan hat die Zellen, welche diese Figuren beherbergen, auch in Beziehung gebracht zu den Sekretionszellen, und das ist in der That die einzige Deutung, welche derjenigen als Nervenenden (im seitherigen Sinne) ernsthaft entgegengestellt worden ist. Die \u00c4hnlichkeit liegt darin, dafs in den Sekretionszellen, gerade wie hier, ein stark lichtbrechendes Material in der N\u00e4he des Kernes (und unter Beteiligung desselben) sich aus dem Protoplasma sondert. Man wird aber sofort auch den Unterschied erfassen : in den Sekretionszellen fliefst dieses Material nach der Oberfl\u00e4che ab, hier dagegen gewinnt es","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Was ist unser Nervensystem und was geht darin vor?\n39\nF\u00fchlung mit der Basalmembran. Immerhin habe ich nichts dagegen, wenn man den Vorgang als eine Art Sekretion auf-fafst. Aber was hier secerniert wird, ist Nervensubstanz, genauer gesprochen das Ern\u00e4hrungsmaterial der Nerven. Es hat dieselben Eigenschaften, es steht mit dem Nerven in Zusammenhang; das alles ist in Caninis und Feenkels Arbeit gen\u00fcgend auseinandergesetzt. Es mochten vielleicht diese Figuren etwas verwunderlich sein, im alten Sinn als Nervenenden angesehen, in unserm Sinn als Nervenwurzeln erscheinen sie sehr nat\u00fcrlich. Und daran, dafs die Entstehung der Nerven mit einem Sekretionsvorgang \u00c4hnlichkeit haben sollte, wird sich der Kundige nicht stofsen. Weshalb sollten nicht zwei Vorg\u00e4nge, die in ihrer Bedeutung f\u00fcr den Organismus sehr verschieden sind, doch ein Element gemeinschaftlich haben, n\u00e4mlich das der Aussonderung aus dem Protoplasma? Insofern das ein Abscheiden, ein Secernieren ist, ist auch der Anfang der Nervenbildung eine Sekretion. Man mufs aber gleich festhalten, dieses Sekret wird nicht, wie die eigentlichen Sekrete, nach der Oberfl\u00e4che hin abgesondert, sondern gegen den Basalmembran selbst, es tritt durch diese, wie die Bilder des Herrn Caninis zeigen, in unz\u00e4hligen sehr feinen F\u00e4dchen hindurch und breitet sich unterhalb derselben aus.\nDieser Sekretionsvorgang findet, wie ich gleichfalls mit Bezug auf die Abhandlung Caninis und Feenkels konstatiere, in den beiden unteren, haupts\u00e4chlich aber in der untersten Schicht des mehrschichtigen Plattenepithels statt. Er steht jedenfalls in Beziehung zu dem in den oberen Schichten stattfindenden Verhomungsprozefs, er ist gewissermafsen die Einleitung zu demselben. Jede St\u00f6rung des Verhornungsprozesses mufs auf ihn zur\u00fcckwirken, schon dadurch, dafs hierbei frei werdende Kr\u00e4fte und Stoffe sich nun in den untersten Schichten verteilen und auf den hier stattfindenden Sekretionsprozefs einwirken. Geben wir dem einmal den allgemeinsten Ausdruck. Jeder Reiz bewirkt eine Ver\u00e4nderung des die Nerven bildenden Sekretes.\nDie Nerven bildenden Zellen im Epithel stehen nicht unmittelbar im Zusammenhang mit den Nervenst\u00e4mmen. Zwischen beide schiebt sich ein das Gebiet des Plexus, welches Herr Canini f\u00fcr den Froschlarvenschwanz geschildert hat. In ihnen findet eine allgemeine netzartige Verbindung statt, aus der sich mit","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nJustus Gaule.\nimmer enger und enger zusammenschliefsenden Maschen st\u00e4rkere F\u00e4den und schliefslich die Nervenst\u00e4mme sondern. Die Plexus liegen parallel der Epitheloberfl\u00e4che unter derselben, oft sind sie in mehreren Schichten vorhanden, als prim\u00e4re, sekund\u00e4re, auch terti\u00e4re Plexus. Dann liegen die aus den einfachsten und gleichm\u00e4fsigsten F\u00e4den bestehenden der Oberfl\u00e4che am n\u00e4chsten.\nDie Einschiebung dieses Plexus betrachte ich als eine wesentliche St\u00fctze f\u00fcr meine Anschauung. Denn f\u00fcr diejenigen, welche sich den Nerven nach Art eines Signalsystems vorstellen und das periphere Ende als eine Art Knopf, auf welchen gedr\u00fcckt wird, wenn ein Reiz stattfindet, ist es Voraussetzung, dafs dieses Signal auf einem ganz isolierten Wege zum Centrum hingeleitet wird. Weshalb sollten sich dann aber all\u2019 die Bahnen kurz vor dem Ende verbinden und wieder und wieder vermischen ? Mir erkl\u00e4ren sich diese Plexus dagegen auf\u2019s allernat\u00fcrlichste, denn in ihnen wird aus dem Sekret der Zellen der Oberfl\u00e4che erst der eigentliche Nerv gebildet.1 Das durch die Poren der Basalmembran hindurchgedrungene Sekret fliefst unterhalb derselben in einem Netz von F\u00e4den zusammen. Es zeigt damit, dafs es schon eine gewisse morphologische Organisation besitzt. Indessen ist dieser erste Plexus (fr\u00fcherer Terminalplexus) noch zellenlos. Zellen treten erst in der n\u00e4chstunteren Lage auf.\nWoher stammen diese? Nun zum Teil von den schon vorhandenen. Denn dafs sie sich selbst\u00e4ndig vermehren, kann man daraus entnehmen, dafs sie in Gruppen zusammenliegen, in welchen die verschiedenen Entwickelungsstadien wahrgenommen werden. Woher aber stammen dann die ersten Zellen, diejenigen, welche den Anstofs zu dieser Entwickelung geben? Meines Erachtens auch aus dem Epithel. Es sind Zellen, welche nach der Schilderung des Herrn Kodis durch den Zerfall der Epithelzelle in perigene und endogene Zellen entstanden sind, von denen die eine immer nach unten wandert. Aber ich will da einer genaueren Untersuchung, die \u00fcber das,\n1 Man wird vielleicht hier bemerken, dafs meine Erkl\u00e4rung sich so gut wie jede andere mit der Thatsache einer lokalisierten Empfindung abfinden m\u00fcsse. Diese Thatsache ist bekanntlich nur richtig mit der Beschr\u00e4nkung der Empfindungskreise. F\u00fcr diese bringt meine Hypothese ein neues Moment bei. Ich kann das aber hier noch nicht auseinandersetzen.","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Was ist unser Nervensystem und was geht darin vor?\n41\nwas ich hier auseinandersetzen will, weit ausholen m\u00fcfste, nicht vorgreifen. Es treten hier also Zellen auf, die sich vermehren. Sie finden sich in den Knotenpunkten des Netzes, sie h\u00e4ngen mit demselben zusammen. Zwei M\u00f6glichkeiten sind hier denkbar. Entweder sie wandern aus, oder sie entstehen in demselben. Beides kann nicht geschehen, ohne dafs sie die Substanzen des Netzes in sich aufnehmen. Man kann sagen, sie ern\u00e4hren sich von denselben, sie wachsen und vermehren sich auf Kosten derselben. Es giebt eine noch zutreffendere Auffassung. W\u00e4re das Sekret, aus dem die Nerven entstehen, auf eine freie innere Oberfl\u00e4che ergossen worden, so w\u00fcrde es da wieder resorbiert werden, resorbiert von den Zellen, die diese Oberfl\u00e4che auskleiden. Das ist auch ein Ern\u00e4hrungsvorgang, denn diese Zellen nehmen das sie benetzende Sekret auch zun\u00e4chst auf, um sich zu ern\u00e4hren. Wir wissen aber von diesem Beispiel, dafs die Zellen hierbei viel mehr aufnehmen k\u00f6nnen, als sie zu ihrer Ern\u00e4hrung brauchen, und dafs sie dieses Material leicht wieder abgeben. Es ist mir wahrscheinlich, dafs dies die richtige Auffassung auch f\u00fcr die Kolle dieser Zellen der Nervenplexus ist, sie resorbieren das Sekret. In welcher Form aber scheiden sie es wieder aus? Da, wo in den tieferen Schichten des Plexus die Zellen in Gruppen zusammenliegen, finden wir die ersten Spuren der Wiederausscheidung ; ein sekund\u00e4res Sekret also gewissermafsen. Es sind kleine K\u00fcgelchen oder Tr\u00f6pfchen, die die bekannte Osmiums\u00e4ure-' reaktion und auch die \u00fcbrigen Keaktionen des Myelins geben, die ersten Anf\u00e4nge der Markscheide.\nHerr Lahousse hat Von dem Yorhof des Proschherzens die Abteilung des Plexus anschaulich geschildert, wie die Zellgruppen sich allm\u00e4hlich zu Str\u00e4ngen ausziehen und in dem Netz mehr und mehr die Myelink\u00fcgelchen abgelagert werden. Es bedeutet, dafs das Netz in Fasern \u00fcbergeht, in die markhaltigen Nervenfasern. So lange die Markscheide sich nicht ausbildet, bleiben die Nerven in dem netzartigen Zustand, der ihre Entstehung charakterisiert, wenn man will in einem embryonalen Zustand. Und in diesem verharren z. B. die Nerven, welche wir sympathische nennen, w\u00e4hrend des ganzen Lebens, d. h. zum gr\u00f6fsten Teil, denn auch sie bilden einzelne Fasern mit Markscheide aus.\nVerfolgen wir jetzt die Entwickelung dieser markhaltigen","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nJustus Gaule.\nFasern weiter. An der Stelle, wo sie pus dem Netz hervorgeht, liegen die Zellen dichter, bilden einen Zellenstrang, der sich mit dem ausgeschiedenen Mark belegt. Die Ausscheidung des Marks ist der Grund f\u00fcr die Sonderung, die Isolierung, sie ist auch der Grund, weshalb diese Faser sich allm\u00e4hlich senkrecht zu dem Netz stellt. Das will ich versuchen zu erkl\u00e4ren:\nDie Nervenfaser stellen wir uns, seit Ranviebs Entdeckungen, vor als eine Kette von Schn\u00fcrgliedern, die durch eine Kittsubstanz miteinander in Verbindung sind, und von denen jedes einer Zelle entspricht. Ranviee hatte indes angenommen, dafs der Aehsencylinder an dieser Gliederung nicht teiln\u00e4hme, sondern als ein ries'ger Fortsatz einer Ganglienzelle durch diese ganze Zellkette hindurchgesteckt sei. Dementgegen hat Ekgel-maxn nachgewiesen, namentlich auf Grund des Absterbens des Achsencylinders von Schn\u00fcrglied zu Schn\u00fcrglied bei der Degeneration, dafs der Aehsencylinder unterbrochen sei, dafs er auch aus einzelnen, dem Schn\u00fcrglied entsprechenden St\u00fccken bestehe. Ferner hat K\u00fchne unsere Anschauung durch die wichtige Entdeckung bereichert, dafs in der anscheinend homogenen Markscheide das Neurokeratinnetz steckt, welches sichtbar wird, wenn man die fetthaltigen Substanzen des Myelins unter hohem Druck extrahiert. Dieses Netz gleicht durchaus der netzartigen Struktur des Plexus, aus welcher der Nerv entstand.\nDenken wir uns das Mark weg, also den Nerven bestehend aus dem Aehsencylinder, dem Neurokeratinger\u00fcst und dem mit dem letzteren in Zusammenhang stehenden Kern. Dann wird es deutlich, dafs die Nervenfaser einem Teil des Netzes, aus dem sie entstanden ist, gleicht. Der Aehsencylinder hierbei entspricht dem Sekret der Nervenwurzel. Er teilt mit demselben die Reaktion gegen Gold, sowie die meisten F\u00e4rbungen, wie ich oben schon hervorhob.\nRings um dieses Sekret, dasselbe cylinderartig einh\u00fcllend, f\u00e4nde sich das Netz der resorbierenden Zellen, welche jetzt in einer langgestreckten Kette angeordnet sind. Man wird nun fragen: Wenn dieses Verh\u00e4ltnis sich soweit fortsetzt, wird da auch der Aehsencylinder etwa von dem Keratinnetz der Markscheide resorbiert? Und wenn dies geschieht, warum verschwindet er nicht? Ja, er wird auch resorbiert, und er verschwindet nicht, weil er fortw\u00e4hrend wieder ausgeschieden wird. Das ist eine neue Th\u00e4tigkeit, der wir seither im Nerven","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Was ist unser Nervensystem und was geht darin vor?\n43\nnoch nicht begegnet sind, denn an der Peripherie findet ja die Ausscheidung durch die noch nicht zum Nerven geh\u00f6rigen Epithelien der Oberfl\u00e4che statt. Hier aber geschieht sie im Nerven, wo stecken da die Elemente, welche das Epithel vertreten?\nOffenbar mufs die Ausscheidung ebenso wie die Resorption auf der ganzen Ber\u00fchrungslinie stattfinden zwischen dem Achsencylinder und der Markscheide. W\u00e4re sie diskontinuierlich, dann m\u00fcfste ja an einer Stelle der Achsencylinder schwinden, an einer andern anschwellen, und das ist nicht der Pall. Das secernierende Element mufs also in der Markscheide ebenso fein verteilt sein, wie das resorbierende. Wenn das letztere gebildet wird durch die Neurokeratinf\u00e4den, so mufs das erstere dargestellt werden durch das Mark.\nEiner solchen Rolle des Marks mufs auch eine gewisse Gliederung entsprechen. Und diese findet sich in den sogenannten Markstulpen oder Marktrichtern. Sie gleichen nicht blofs ineinandergesteckten Trichtern, sondern auch Bechern, und ihre \u00c4hnlichkeit mit den Becherzellen des Epithels ist auffallend.\nIn ihnen ist aber auch die Ursache zu suchen, weshalb bei der Entstehung der Faser aus dem Plexus diese sich allm\u00e4hlich senkrecht zu jenem stellt, denn diese Becherglieder stehen auf dem Netz, aus dem sie hervorgehen, senkrecht wie die Epithelzellen auf ihrer Basalmembran. Indem der Becher seinen Inhalt in der Richtung seiner L\u00e4ngsachse entleert, zwingt es das resorbierende Netz, demselben zu folgen. Das aber wird die Veranlassung sein, dafs hier aufs neue Mark und damit ein neuer Becher entsteht, welcher auf dem ersten Becher, d. h. zum Teil in dessen H\u00f6hlung darin steht. Es ist leicht einzusehen, wie auf diese Weise die Markscheide der Nerven aus einer Reihe auf- und zum Teil ineinandergestellter Becher besteht, durch deren H\u00f6hlung der Achsencylinder hindurchl\u00e4uft. Diese, wie soll ich sagen, Pseudo(?)epithelien, finden sich zu der Ger\u00fcstzelle, welche ja das ganze Schn\u00fcrglied bildet, in einer \u00e4hnlichen Lage, wie die Zellen eines Dr\u00fcsenschlauchs oder einer Dr\u00fcsenbeere zu den Korbzellen der membrana propria, d. h. eine gr\u00f6fsere Anzahl der ersteren wird von einer der letzteren um-fafst. Die doppelte Gliederung des Nerven durch die Einschn\u00fcrungen und durch die Einst\u00fclpungen wird hierdurch sehr verst\u00e4ndlich.","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nJustus Gaule.\nDer Prozefs, welcher an der Nerven Wurzel ein einseitiger war, indem dem Nerven das Material von dem Epithel der Oberfl\u00e4che zuflofs, ist durch das Auftreten dieses Elementes der Markbecher zu einem vollkommenen Kreisprozefs geworden. Dadurch kann der Nerv sich abschliefsen und der in ihm sich abspielende Vorgang sich isolieren. Nur der fortw\u00e4hrend von der Peripherie aus den Wurzeln nachstr\u00f6mende Zuflufs und der ebenso stattfindende Abflufs am Centrum verbinden ihn direkt mit den \u00fcbrigen Teilen.\nAber ist der Achsencylinder wirklich als ein str\u00f6mendes Sekret aufzufassen? Ich glaube das eigentlich nicht. Unsere Zellsekrete sind im allgemeinen organisiert, und entweder schwimmen die morphologischen Bestandteile ganz gesondert in der Fl\u00fcssigkeit, wie bei dem kompliziertesten Sekret, dem der Geschlechtsdr\u00fcsen, oder es findet sich eine Art \u00dcbergangs-zustand, wobei dieselben bald sich l\u00f6sen, bald auch wieder sich ausscheiden, wie z. B. im Pankreassekret. \u00c4hnlich mufs es auch im Achsencylinder sein, denn die wechselnden Bilder, welche der Achsencylinder darbietet, wie sie von K\u00fchne und seinen Sch\u00fclern, von Kupfer u. a. beschrieben sind, entsprechen dem am meisten. In der L\u00e4ngs- und Querstreifung des Achsen-cylinders unter dem Einflufs des Silbers, in der fibrill\u00e4ren und dann wieder soliden Bildung unter dem Einflufs des Osmiums kann ich nichts entdecken, was der Annahme widerspr\u00e4che, er bestehe aus morphologischen Elementen, gequollen und halb gel\u00f6st in einer Fl\u00fcssigkeit, welche so beschaffen ist, dafs eine geringe Ver\u00e4nderung ihrer Zusammensetzung gen\u00fcgt, um sie ganz zu l\u00f6sen oder ganz auszuscheiden.\nDiese Elemente k\u00f6nnen nun nicht frei hindurchstr\u00f6men durch den Nerven, denn darin hindert sie ja die fortw\u00e4hrende Resorption und Wiederausscheidung, die sie mit der Markscheide eben in die innigste Verbindung setzt, wohl aber wird dadurch, dafs jeder Becher in seine H\u00f6hlung ausscheidet, im allgemeinen eine Vorw\u00e4rtsbewegung bewirkt.\nMan mufs sich dabei nicht vorstellen, dafs dieser Vorgang ein plumper und langsamer sein m\u00fcsse, zu plump und zu langsam, um der Nerventh\u00e4tigkeit zu Grunde zu liegen. Von dieser habe ich noch gar nicht gesprochen, ich habe bis jetzt blofs die ruhigen und stetigen Vorg\u00e4nge der Bildung, des Wachstums und der Ern\u00e4hrung betrachtet. Aber auch f\u00fcr diese stelle ich","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Was ist unser Nervensystem und iras geht darin vor?\n45\nmir vor, dafs, wenn der Nerv einmal ansgebildet ist, die chemischen Beziehungen zwischen Markscheide und Achsen-cylinder derart sind, dafs ein sich sehr rasch vollziehender Prozefs die Aufnahme, die Umwandlung und die Wiederaus-scheidung besorgt. Die Ber\u00fchrung ist ja \u00fcberall die denkbar innigste.\nBegleiten wir nun den sensiblen Nerven zu seinem centralen Ende. Dasselbe ist kompliziert durch die Einschiebung des Spinalganglions. Man hat fr\u00fcher geglaubt, die Endigung der sensiblen Nerven sei gewissermafsen eine doppelte. Von einer eigentlichen Endigung in den Spinalganglien kann jedoch nicht die Rede sein. Nach den Z\u00e4hlungen von Holl und von Birge ist die Zahl der Fasern, welche in das Spinalganglion hineintreten, ebensogrofs wie die, die herauskommen. Wohl aber werden die Fasern durch Ganglienzellen unterbrochen. Ranvier hat uns das so erkl\u00e4rt, dafs die Ganglienzelle scheinbar mit einem Fortsatz seitlich an der Nervenfaser ansitzt. Dieser Fortsatz ist in Wahrheit doppelt, er besteht aus einer einlaufenden und einer auslaufenden Faser. Sind solche Ganglienzellen in den Verlauf aller sensiblen Fasern eingeschaltet? Nach den vorliegenden Z\u00e4hlungen ist die Zahl der in den Spinalganglien vorhandenen Zellen kleiner als die Zahl der durchtretenden Fasern. Nach Z\u00e4hlungen von Freud beim Petromyzon betr\u00e4gt sie etwa die H\u00e4lfte. Da jede Zelle blofs mit einer Faser in Verbindung tritt, so m\u00fcssen also eine Anzahl Fasern einfach an den Zellen vorbeiziehen. Ich will in dieser Abhandlung nur die letzteren in den Kreis meiner Betrachtung ziehen. Es ist mir hier nur darum zu thun, die einfachste Bahn, die direkte Reflexbahn zu er\u00f6rtern. Und von jenen Fasern, welche eine vorl\u00e4ufige Unterbrechung erleiden, d\u00fcrfen wir, was auch die uns noch unbekannte Bedeutung derselben sein mag, doch wohl annehmen, dafs sie komplizierter sind als die anderen.\nTreten nun unsere Fasern im R\u00fcckenmark mit Ganglienzellen in direkte Verbindung? Fr\u00fcher hielt man das f\u00fcr unumg\u00e4nglich, und man stellte sich eine centrale sensible Ganglienzelle mit Achsencylinderfortsatz vor, ganz nach Analogie der motorischen. Die Protoplasmaforts\u00e4tze sollten sich dann die Hand reichen. Der Beweis stand immer auf schwachen F\u00fcfsen, denn die Zellen, die man als sensible ansprechen k\u00f6nnte, sind in den Hinterh\u00f6rnern d\u00fcnn ges\u00e4t, entsprechen an Zahl weder den Fasern","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nJustus Gauk.\nnoch den motorischen Zellen und haben auch ein anderes Aussehen als die letzteren. Jetzt hat Herr Golgi ihn ganz zerst\u00f6rt, indem er gezeigt hat, dafs sie keinen Achsencylinderfort-satz besitzen.\nF\u00fcr unsere Anschauung stellt sich die Sache \u00fcberhaupt ganz anders. Wir werden f\u00fcr die sensiblen Fasern keine Analogie mit den motorischen suchen, weil die motorischen im Centralorgan anfangen, die sensiblen aber enden. Das bedingt eine ganz andere Stell.uug zu den Zellen.\nHerr Beevor hat in der Arbeit \u00fcber das Kleinhirn eine Schilderung von der Verbindung von Nervenfasern mit den Elementen des Centralorgans entworfen, welche auch hier pafst. Die Masse der Zellen, welche die graue Substanz enth\u00e4lt und welche sie im embryonalen Zustand, bei niederen Tieren und dann auch im Kleinhirn ganz dicht anf\u00fcllen, sind Neuroglia-zellen. Diese Zellen sind nun , wie Herr Beevor auseinandersetzt, von derselben Natur, wie die Zellen der Markscheide der Nerven.\nSobald ein Nerv in die graue Substanz eintritt, werden die eigenen Zellen der Markscheide zahlreicher, das Gef\u00fcge lockerer. Die Zellen der Markscheide dr\u00e4ngen sich zwischen die Zellen der Neuroglia, ihr Netz verbindet sich mit denselben, sie verschwinden als selbst\u00e4ndige Fasern. Mit anderen Worten, der Nerv l\u00f6st sich wieder in einem Plexus auf, der nur viel dichter, enger zusammengedr\u00e4ngt ist als der periphere, aus dem er entstand. Was wird aus dem Achsencylinder ? Ja, dieses Sekret liegt nun nicht mehr fest susammengehalten in eng geschlossener E\u00f6hre, er verteilt sich jetzt in den Maschen des Plexus, in den der Nerv \u00fcbergeht. Die Folge davon ist, dafs viele resorbierende Zellen mit demselben in Ber\u00fchrung kommen und es aufnehmen k\u00f6nnen, um so mehr, je m\u00e4chtiger es abgesondert wird.\nIn dem Netz der Neuroglia liegen aber auch die m\u00e4chtigen motorischen Ganglienzellen, welche ihre Forts\u00e4tze weit ausstrecken. Diese Forts\u00e4tze haben, wie Herr Golgi j\u00fcngst zeigte, keinen direkten Zusammenhang. Die Idee, dafs sie den entsprechenden Forts\u00e4tzen der sensiblen Zellen die Hand reichen m\u00fcfsten, ist aufgegeben. Schon Herr Beevor hatte aber f\u00fcr das Kleinhirn darauf aufmerksam gemacht, dafs man einen direkten Zusammenhang der Forts\u00e4tze der dort vorhandenen","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Was ist unser Nervensystem und was geht darin vor?\n47\nPuKKiNJEschen Zellen mit irgend welchen nerv\u00f6sen Elementen nicht nachweisen k\u00f6nne. Wenn Herr Golgi weiter meint, diese Forts\u00e4tze besorgen die Ern\u00e4hrung der Zellen, so stimme ich auch dem zu, aber sie besorgen nicht nur das, denn das, was sie den Zellen zuf\u00fchren, das bezieht sich auch auf ihre Funktion. Sie saugen eben jenes Sekret ein, welches der ankommende, sensible Nerv in das allgemeine Netz ergossen, und f\u00fchren es ihren Zellen zu.\nDamit beginnt hier ein neues System, denn nun werden die Stoffe, welche seither centripetal von Zelle zu Zelle ihren Weg zum R\u00fcckenmark gefunden haben, in umgekehrter Richtung ihren Weg zur Peripherie finden. Oder vielmehr nicht dieselben Stoffe, denn es ist klar, dafs sie bei dieser Umkehrung eine wichtige Ver\u00e4nderung erfahren m\u00fcssen. In diesem neuen System interessiert vor allem das Anfangsglied, die motorische Ganglienzelle. Wenn wir dieses begriffen haben, m\u00f6gen wir das \u00dcbrige des motorischen Nerven leicht in die bereits gewonnenen Anschauungen einordnen.\nOffenbar entspricht die motorische Ganglienzelle dem ganzen Ursprungsgebiet des sensiblen Nerven aus dem Oberfl\u00e4chenepithel, und zwar in Bezug auf ihre secernierenden Eigenschaften. Es ist wahrscheinlich, dafs ihre Gr\u00f6fse damit zusammenh\u00e4ngt, denn an diese wird doch eine m\u00e4chtige Sekretion gebunden sein. Achsen-cylinderfortsatz, ein Teil des Kerns und wahrscheinlich das Kernk\u00f6rperchen (Plasmosoma), das ja auch bei den Ganglienzellen so stark entwickelt ist, dienen dieser sekretorischen Funktion. Die Protoplasmaforts\u00e4tze und ein anderer Teil des Kerns dagegen nehmen das Material f\u00fcr diese Sekretion auf, sie entsprechen den resorbierenden Elementen, den Netzzellen des peripheren Plexus, dem Neurokeratinger\u00fcst der Markscheide, den Neuro-gliazellen des Centralorgans. So sind hier zwei Zellen zu einer verschmolzen. Im Grunde ist das ja im Verlauf der Nerven auch der Fall, wenn wir die Markstulpen wenigstens als Repr\u00e4sentanten von Zellen gelten lassen wollen. In der motorischen Ganglienzelle erreicht aber das sekretorische Element eine gr\u00f6fsere Bedeutung als im Verlauf der Nerven, weil es das Oberfl\u00e4chenepithel repr\u00e4sentiert, und das bedeutet, dafs es nicht blofs, wie in dem geschilderten Kreisprozefs, ein nerv\u00f6ses Material wieder ausscheiden kann, sondern dafs es auch wie das Oberfl\u00e4chenepithel ein solches selbst\u00e4ndig bilden kann..","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nJustus Gaule.\nWir d\u00fcrften uns also zwei F\u00e4lle als m\u00f6glich denken, einmal, die Protoplasmaforts\u00e4tze nehmen das in die Maschen der Neuroglia ergossene Sekret eines sensiblen Nerven auf, dann haben wir den einfachen Reflex oder die Ganglienzelle secerniert selbst\u00e4ndig, wie ein Oberfl\u00e4chenepithel nerv\u00f6ses Material, dann haben wir die spontane Erregung.\nIn beiden F\u00e4llen wird das betreffende Sekret durch den Achsencylinderfortsatz dem motorischen Nerven zugef\u00fchrt und wandert in diesem durch einen Kreisprozefs, wie wir ihn bereits kennen, der Peripherie zu, d. h. dem Muskel, in den es ergossen wird.\nNat\u00fcrlich habe ich hier alles \u00fcbergangen was die Verh\u00e4ltnisse im R\u00fcckenmark kompliziert. Denn die in jenes weite Netz ergossenen Sekrete werden nicht allein von den motorischen Ganglienzellen aufgenommen, sie k\u00f6nnen auch aufgenommen werden von andern Zellen und so die Veranlassung geben zu der Bildung der im R\u00fcckenmark auf- und absteigenden Bahnen. Vielleicht stehen damit die in den Hinterh\u00f6rnern sich findenden sogen, sensiblen Zellen in Beziehung. Aber auch der Centralkanal spielt eine Rolle in dem Verh\u00e4ltnis der Resorption und Sekretion, und in der Umgebung der motorischen Zellen finden sich interessante Bildungen der Neuroglia. Man wird auch fragen, ob das Blut einen Einflufs hat auf diesen Vorgang und ob es das Material liefert f\u00fcr die selbst\u00e4ndige Sekretion der Ganglienzellen. Aber das alles w\u00fcrde uns hier zu weit f\u00fchren, da ich zufrieden bin, wenn ich nur die Vorstellung von dem einfachsten Zusammenhang erweckt habe.\nDagegen d\u00fcrfen wir uns jetzt einmal mit dem Verh\u00e4ltnis von Ruhe und Th\u00e4tigkeit besch\u00e4ftigen. Das wandernde Sekret hat ganz bestimmte chemische Eigenschaften und \u00fcbt ganz bestimmte Affinit\u00e4ten aus. So m\u00fcssen wir uns wohl vorstellen, dafs f\u00fcr die Auswahl derjenigen Zellen, in die es \u00fcbergeht, nicht blofs deren Lage, sondern auch die chemische Affinit\u00e4t mafsgebend ist. Dieser besonderen Natur des Sekretes ist es auch zuzuschreiben, dafs, wie ich in meiner j\u00fcngsten Z\u00e4hlung gezeigt habe, jeder sensiblen Faser eine bestimmte Anzahl von Bahnen der weifsen Substanz entspricht. Die M\u00f6glichkeit des \u00dcbergangs in verschiedene Bahnen ist durch die chemische Natur des Sekrets ebenso determiniert, wie z. B. die Zahl der Isomerien in einem aromatischen K\u00f6rper. So wird auf dem","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Was ist unser Nervensystem und was geht darin vor?\n49\nganzen Weg dieses Sekret eigenartige chemische Wirkungen aus\u00fcben und in dem Gesamthaushalt wird es eine bestimmte holle spielen.\nInwiefern wird nun ein Beiz, der die K\u00f6rperoberfl\u00e4che trifft, diese Verh\u00e4ltnisse beeinflussen. Davon sind wir ja ausgegangen, und haben bereits gesehen, dafs dieser Reiz in die Entstehung des Sekretes eingreift. Wir sind dar\u00fcber einig geworden, dafs die gereizten Epithelien andere chemische Substanzen produzieren wie die ruhenden, weil die St\u00f6rung des Lebensprozesses darauf hinaus laufen mufs, dafs der \u00dcbergang von Spannkr\u00e4ften in lebendige Kr\u00e4fte sich \u00e4ndert und weil die \u00c4nderung des Vorrats von Spannkr\u00e4ften eine Ver\u00e4nderung der chemischen Zusammensetzung bedeutet: Es ist also ein Sekret von anderer chemischer Zusammensetzung, das dem Nerv zu-fliefst und das in ihm weiter wandert. Den Zustand in den er dadurch ger\u00e4t nennen wir Erregung. Das Wesen desselben besteht also in einer Ver\u00e4nderung des Stoffaustausches zwischen Achsencylinder und Markscheide. Sehr wahrscheinlich ist das Weiterwandern des ver\u00e4nderten Sekretes ein rascheres als des normalen, indem es um so rascher jedesmal wieder ausgeschieden wird. Im Centralorgan angekommen, wird es seine Ver\u00e4nderung wohl auch dadurch zur Geltung bringen, dafs es andere Affinit\u00e4ten \u00e4ufsert, also auch andere Wege einschlagen kann. Wird es von den motorischen Zellen aufgenommen, so wird es seine Ver\u00e4nderung auch in diesen geltend machen und, dem Muskel zugef\u00fchrt, veranlafst es in ihm die Umlagerung der anisotropen und isotropen Substanz, die die Verk\u00fcrzung herbeif\u00fchrt.\nIch will noch etwas andeuten, denn die ausf\u00fchrlichere Auseinandersetzung des Reflex vor g anges behalte ich mir noch vor. Hier handelt es sich um seine Bahn. Nicht jede \u00e4ufsere Kraft wird den Lebensprozefs der Epithelien in gleicher Weise st\u00f6ren, der Druck z. B. vielleicht anders als die Temperatur. Dann wird also auch die Beschaffenheit des Sekretes die Art der St\u00f6rung verraten, und, in dem Centralorgan angelangt, wird jede Variation auch bestimmend sein f\u00fcr die Zellen, welche es aufnehmen, also f\u00fcr die Bahnen, die es einschl\u00e4gt. Und endlich, die Zusammensetzung der verschiedenen Zellen unserer Oberfl\u00e4che k\u00f6nnte etwas verschieden sein, es k\u00f6nnte sich jede von ihrer Nachbarin um ein kleines durch die Anordnung ihrer Atome unterscheiden. Wenn aber die Zelle verschieden ist,\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie II.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nJustus Gaule.\nwarum nicht auch ihr Sekret. Und wenn das der Fall ist, w\u00e4re da nicht die Gruppierung der Atome in demselben das pr\u00e4gnanteste Lokalzeichen, das dem Centralorgan zugef\u00fchrt werden k\u00f6nnte?\nIch weifs nicht, ob mir andere die Erl\u00f6sung nachf\u00fchlen k\u00f6nnen, welche darin liegt, sich ein Nervensystem vorzustellen, das wirklich mit dem Organismus lebt. Nicht einen Aufbau von R\u00f6hren, Dr\u00e4hten oder F\u00e4den, der nur so in den Organismus hineingesteckt ist und an dem sich gewisse Erscheinungen abspielen, der aber zu dem Lebensprozefs nicht in den mindesten Beziehungen steht. Was lebt, das ist nicht eine Maschine, die von aufsen her gebaut wird, sondern etwas, das sich selbst baut, und das, was uns als Funktion erscheint, ist nichts weiter als ein Teil dieses sich selbst Bauens.\nVon diesem Gesichtspunkt habe ich hier die Grundelemente des Nervensystems auseinanderzusetzen versucht. Ich erwarte, dafs ich viel mifsverstanden werde. In meinem eigenen Gedankengang vertieft, habe ich zun\u00e4chst nur ausgesprochen, was mir in dessen Verfolgung aufstiefs. Anderen stehen andere Erscheinungen n\u00e4her, und ich bin gern bereit, mich dar\u00fcber auseinanderzusetzen und auch zu erg\u00e4nzen. Nur in einer Beziehung bitte ich mir nicht unn\u00f6tige Schwierigkeiten zu bereiten, n\u00e4mlich in Bezug auf die Bezeichnungen, die ich w\u00e4hle. Ich bin mir ganz gut bewufst, dafs nicht die Nervenw'urzel und noch weniger der Achsencylinder ein eigentliches Sekret ist, dafs die Bezeichnung Resorption und Sekretion f\u00fcr das Verh\u00e4ltnis zwischen Achsencylinder und Markscheide viel zu plump ist. Diese Ausdr\u00fccke bezeichnen Vorg\u00e4nge, die denen im Nerven unter allen bekannten am n\u00e4chsten stehen und die mit ihnen prinzipiell viel Gemeinschaftliches haben, die aber doch nicht mit ihnen identisch sind. Wollte man genau sein, so m\u00fcfste man eben eigene Ausdr\u00fccke erfinden, aber dann w\u00fcrde man noch weniger verstanden.\nWas unsere Kenntnisse von den physiologischen Eigenschaften des Nerven betrifft, von seiner Leitungsgeschwindigkeit, Reizbarkeit, seinem elektrischen Verhalten, so sehe ich nicht, dafs dieselben f\u00fcr diese Auffassung Schwierigkeiten darb\u00f6ten. Den einzigen Widerspruch erwarte ich von den Experimenten \u00fcber die Unerm\u00fcdbarkeit der Nerven. Denn wenn der Nerv, es ist hier der motorische gemeint, etwa Stoffe an den","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Was ist unser Nervensystem und was geht darin vor?\n51\nMuskel abg\u00e4be, die in diesem die Kontraktion ausl\u00f6sten, so m\u00fcfste er sieb doch ersch\u00f6pfen. Daher hat man aus diesen Experimenten bereits die Hypothese abgeleitet, dafs die Nervenleitung ein rein physikalischer Vorgang, wie etwa die Schallleitung sei. Aber dazu sind diese Experimente doch nicht ausgedehnt genug. Was will es denn heifsen, wenn der Nerv nach ein paar tausend Reizen immer noch im st\u00e4nde ist, auf den Muskel zu wirken? Wie langsam ersch\u00f6pft sich denn ein Gramm Moschus ? Kann das nicht millionenmal die Nasenschleimhaut reizen, und man wird kaum eine Abnahme der Wirkung bemerken. Und doch m\u00fcssen in diesem Fall ganz unzweifelhaft Teile des Moschus in unsere Nasenh\u00f6hlen \u00fcbergehen, um einen Reiz auszu\u00fcben. Die ausl\u00f6senden Kr\u00e4fte k\u00f6nnen eben unendlich klein sein.\nNeben Widerspruch m\u00f6chte ich aber auch Zustimmung erwarten. Vielleicht am meisten von den Pathologen. Ich habe bereits erw\u00e4hnt, dafs der Zusammenhang zwischen Degenerationsrichtung und Funktionsrichtung durch meine Hypothese sich erkl\u00e4rt. Aber die Pathologen haben bemerkt, dafs die Degeneration sich nicht auf den Nerv beschr\u00e4nkt. Auch die Muskeln degenerieren sekund\u00e4r, wenn der Nerv durchschnitten wird, oder wenn die motorischen Ganglienzellen im R\u00fcckenmark zu Grunde gehen. Nun freilich, es wird ihnen eben der Strom von Stoffen abgeschnitten, die sie sonst von den Epithelien erhalten. Wenn die Masse derselben auch nicht bedeutend ist, vielleicht verschwindet gegen das, was der Muskel aus dem Blut bezieht, so ist daf\u00fcr ihre ferment\u00e4hnliche Wirksamkeit um so gr\u00f6fser. Die Assimilierbarkeit des \u00fcbrigen Materials wird wahrscheinlich durch sie bedingt. Die Pathologen haben indessen noch mehr gesehen. Sie haben beobachtet, dafs bei gewissen Erkrankungen oder Unterbrechungen der Nerven Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen in weit entlegenen Organen auf-treten. Das beruht darauf, dafs, wie ich schon \u00f6fters auseinandersetzte, der ganze Organismus einen Haushalt, einen \u00d6kus bildet, in dem jede Atomgruppe ihren bestimmten Platz, ihre bestimmte Wirkung hat. Wenn in diesem Haushalt die Stoffe, welche die Nerven dem Centralorgan zuf\u00fchren, dem Ganzen vorenthalten werden, so mufs sich dieser Defekt durch den ver\u00e4nderten Chemismus an einer anderen Stelle ausgleichen. Solche Beobachtungen sind aufserordentlich wertvoll, weil sie\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nJustus Gaule.\nein Licht, nicht wie man f\u00e4lschlich gemeint hat, auf die anatomischen, sondern auf die unser Leben viel inniger begr\u00fcndenden chemischen Zusammenh\u00e4nge im Organismus werfen.\nSo werden wir auch endlich die trophischen Eigenschaften der Nerven verstehen. Alle Nerven sind in meinem Sinne trophisch, die centrifugalen, weil sie fermentartige Stoffe zuf\u00fchren, die centripetalen, weil sie sie abf\u00fchren.\nWenn ein sensibler Nerv erkrankt oder unterbrochen wird, so ist es, wie wenn durch die Unterbindung des Ausf\u00fchrungsgangs die Fermente in einer Dr\u00fcse zur\u00fcckgestaut werden. Es m\u00fcssen Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen in dem Gebiete, das er versorgt, eintreten. Auch hier haben die Pathologen also ganz recht beobachtet, sie haben nur den Fehler gemacht, dafs sie nach besonderen Fasern suchten und dafs sie sich diese stets centrifugalleitend dachten.\nEndlich m\u00f6chte ich betonen, er\u00f6ffnet sich uns allen noch eine merkw\u00fcrdige Aussicht. Wenn die Funktion nicht blofs an dem Nerv und seinen Zellen abschwingt, wenn sie auf der Aufnahme und Ausscheidung von chemischen Substanzen beruht, warum sollen wir denn das nicht eines Tages entdecken?\nWarum soll uns nicht einmal bei der Anwendung geschickter Eeagentien die Nervenzelle ihre ver\u00e4nderte chemische Zusammensetzung und durch ihre ver\u00e4nderte Zusammensetzung verraten, dafs sie funktioniert hat, vielleicht sogar wie sie funktioniert hat. Herr Beevor hat schon auf eine Verschiedenheit des Aussehens von Ganglienzellen aufmerksam gemacht, welches er auf die Funktion im Leben zur\u00fcckf\u00fchrte, und die Herren Donaldson und Hodge haben gezeigt, dafs man ein solches Aussehen auch experimentell erzeugen kann. Herr Bechterew hat in einer Arbeit, die er nicht vollenden konnte, und die deshalb noch nicht ver\u00f6ffentlicht ist, die merkw\u00fcrdigsten Ver\u00e4nderungen der Zellen des R\u00fcckenmarks im Strychnintetanus gefunden.\nVielleicht gelingt es uns doch einmal, all die mikroskopischen Bilder auf die chemischen Substanzen, all die chemischen Substanzen auf die funktionellen Ver\u00e4nderungen zu deuten, und wir lesen dann wie in einem Buche die Schicksale des Lebens. Freilich m\u00fcssen wir da erst eine Forderung erf\u00fcllen, auf die ich in meiner Abhandlung \u00fcber die Zahlen im R\u00fcckenmark aufmerksam machte, n\u00e4mlich erkennen, welche Ver\u00e4nderungen der Tod und unsere Reagentien hervorbringen.","page":52}],"identifier":"lit14333","issued":"1891","language":"de","pages":"31-52","startpages":"31","title":"Was ist unser Nervensystem und was geht darin vor?","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:37:17.729350+00:00"}