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{"created":"2022-01-31T16:13:49.936402+00:00","id":"lit14374","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Sommer, Robert","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2: 143-163","fulltext":[{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Sprache.\nVon\nDr. Robert Sommer,\nAssistenzarzt der psychiatrischen Klinik zu W\u00fcrzburg.\nIn dem Mittelgebiete, auf welchem sieb in neuerer Zeit nach langer Trennung Psychologie und medizinische Beobachtung zu gemeinsamer Th\u00e4tigkeit zusammengefunden haben, ist besonders die Gruppe der aphasischen St\u00f6rungen von beiden Seiten unter scharfe Beleuchtung genommen worden.\nIn den Ver\u00f6ffentlichungen \u00fcber Kranke mit derartigen St\u00f6rungen wurde in den letzten Jahren mit Recht ein grofses Gewicht gelegt auf die Abhandlung von Herrn Professor Grashey in M\u00fcnchen, welche dieser im Anfang des Jahres 1885 als damaliger Vorstand der \"W\u00fcrzburger psychiatrischen Klinik im Archiv f\u00fcr Psychiatrie (Bd. 16, S. 654ff) unter dem Titel: \u201e \u00dcber Aphasie und ihre Beziehungen zur Wahrnehmung\u201c ver\u00f6ffentlicht hat.\nDer dort behandelte Kranke, welcher nach einer Kopfverletzung die von Herrn Grashey beschriebenen St\u00f6rungen der Sprache zeigte, ist z. Z. in W\u00fcrzburg als Brauknecht th\u00e4tig und war mir in meiner Stellung als Arzt an der W\u00fcrzburger-psychiatrischen Klinik erreichbar. Es bot sich mir also Gelegenheit, f\u00fcnf Jahre nach den Feststellungen Grasheys eine erneute Aufnahme des geistigen Zustandes jenes Kranken zu machen.\nDer Mann heifst Voit, ist jetzt 32 Jahre alt und abgesehen von den nachher zu beschreibenden St\u00f6rungen k\u00f6rperlich wieder ganz gesund; er arbeitet wieder in seinem Beruf als Brauknecht wie vor seinem Unfall, hat auch keine Entsch\u00e4digung aus der Unfallversicherung bekommen aus dem prinzipiellen Grunde, weil er nicht \u201eim Betrieb\u201c verletzt wurde, so dafs er nicht das mindeste Interesse daran hat, seinen abnormen Zustand zu \u00fcbertreiben.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie II.\n10","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nRobert Sommer.\nBei seiner Umgebung gilt er wieder f\u00fcr ziemlich normal, da er seine Abnormit\u00e4ten, wie nachher im Einzelnen zu schildern ist, sehr geschickt zu verbergen weifs, was ihm um so leichter wird, als bei seinem Gesch\u00e4ft das Sprechen keine Rolle spielt.\nHerr Professor Grashey gelangte bei der Untersuchung des Mannes zu zwei S\u00e4tzen von allgemein psychologischer Natur, welche hier nochmal in den Vordergrund gestellt werden m\u00fcssen, w\u00e4hrend eine grofse Menge rein medizinischer Einzelbeobachtungen nicht in den Bereich des hier Mitzuteilenden geh\u00f6rt.\nWenn schon bei einer rein medizinischen Darstellung des Falles Herrn Grasheys Schrift verm\u00f6ge ihrer einschneidenden Bestimmungen am passendsten zum Ausgangspunkt gemacht werden k\u00f6nnte, so ist diese Zur\u00fcckbeziehung hier, wo sich Grasheys psychologische S\u00e4tze in den Vordergrund dr\u00e4ngen, geradezu notwendig.\nIch mufs diese Notwendigkeit deshalb betonen, um den Anschein einer Polemik zu vermeiden, selbst wenn sich bei der Nachuntersuchung einige Unvertr\u00e4glichkeiten herausstellen sollten.\nDer erste der beiden S\u00e4tze lautet (Archiv f\u00fcr Psychiatrie Band XVI. 1885, S. 684): \u201eHiermit glaube ich bewiesen zu haben, dafs es eine Aphasie giebt, welche weder auf Funktionsunf\u00e4higkeit der Centren noch auf Leitungsunf\u00e4higkeit der Verbindungsbahnen beruht, sondern lediglich auf Verminderung der Dauer der Sinneseindr\u00fccke und dadurch bedingter St\u00f6rung der Wahrnehmung und der Association.\u201c\nDer zweite psychologisch wichtige Satz findet sich bei Grashey nicht ausdr\u00fccklich formuliert, ist aber in deutlichen Umschreibungen als Voraussetzung zu seiner Erkl\u00e4rung der sonderbaren Sprachst\u00f6rung implicite vorhanden. Es handelt sich um das innere Erfassen des Namens beim Anblick eines Gegenstandes. Nach Grasheys Voraussetzung, welche er zur Erkl\u00e4rung des vorliegenden Falles verwendete, und auf deren Richtigkeit er gerade aus dem Eintreffen der logischen Konsequenzen bei der Untersuchung des Falles schlofs, wird bei dem Anblick eines Objektes oder dessen Bildes successive jeder einzelne Lautbestandteil des zugeh\u00f6rigen Namens in uns ausgel\u00f6st. Nimmt man nun an, dafs ein Mensch ein so geringes optisches Ged\u00e4chtnis hat, dafs er bei dem Entziehen eines","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Sprache.\n145\nGesichtsbildes dieses sofort verliert, so m\u00fcfste f\u00fcr ihn der beim Anblick des Objektes z. B. schon zur H\u00e4lfte ausgel\u00f6ste Name beim Verdecken des Gegenstandes unvollendet bleiben.\nS. 679. \u201eSobald das fertige Objektbild nur kurze Zeit, also etwa nur 0,06 Sekunden dauert, so kann nur der erste Teil des Klangbildes erregt und folglich auch nur der erste Teil des Klangbildes ausgesprochen und niedergeschrieben werden, d. h. der zu dem Objekt geh\u00f6rige Name kann weder gedacht, noch gesprochen, noch geschrieben werden und lediglich der erste Buchstabe des Namens kann gedacht, gesprochen und geschrieben werden.\u201c\nDa nun bei dem inneren Fehlen des Lautgebildes, welches als Name zu dem Objekt geh\u00f6rt, dieser Name auch nicht ausgesprochen werden kann, so ergiebt sich im Hinblick auf den zu Grunde liegenden Mangel an Ged\u00e4chtnis der Begriff der \u201eamnestischen Aphasie\u201c. Der fr\u00fcher genannte erste Satz Grasheys steht also im innigsten Zusammenh\u00e4nge mit dieser psychologischen Voraussetzung zur Erkl\u00e4rung des Falles.\nDiese S\u00e4tze bezogen sich auf folgenden Befund:\nS. 669.: \u201eDer Kranke kann Objektbilder, Klangbilder und Symbole nur sehr kurze Zeit festhalten, m\u00f6gen ihm die betreffenden Bilder neu oder von fr\u00fcher bekannt sein; zeigt man ihm z. B. aus einer Reihe von Gegenst\u00e4nden ein Messer, verdeckt dann einen Moment die Gegenst\u00e4nde und fordert ihn dann auf, den unmittelbar vorher gezeigten Gegenstand, das Messer, zu ber\u00fchren, so ist er hierzu vollst\u00e4ndig unf\u00e4hig, weil er das Bild des Messers vergessen hat.\u201c\nGrashey stellte durch genaue Untersuchungen eine hochgradige Vergefslichkeit speziell f\u00fcr Gesichtsbilder, sodann auch f\u00fcr Lautgebilde fest. Um diesen Defekt an Ged\u00e4chtniskraft zu ersetzen, wendete der Patient mehrere Kunstgriffe an. (S. 671.) \u201eEr kann also Klangbilder und Symbole dadurch l\u00e4ngere Zeit festhalten, dafs er sie nachspricht oder abliest und fortw\u00e4hrend ausspricht. Verzichtet er einmal auf diesen Kunstgriff, so entschwindet ihm fast momentan das Klangbild oder das Symbol aus dem Ged\u00e4chtnis.\u201c\nNun stellte Grashey dem Patienten die Aufgabe, zu einem gesehenen Gegenst\u00e4nde den Namen zu finden. Es zeigte sich dann, dafs Voit stets Schreibbewegungen ausf\u00fchrte, bevor er den Namen vorbrachte.\n10*","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nRobert Sommer.\nVoir fand also schreibend die Namen zu den gesehenen. Gegenst\u00e4nden.\nDiese Erscheinung erkl\u00e4rte Grashey auf Grund der Pr\u00e4misse, dafs beim Anblick von Objekten successive die einzelnen Lautbestandteile des Namens ausgel\u00f6st werden, unter Beziehung auf die grofse Schw\u00e4che des Ged\u00e4chtnisses f\u00fcr Gesichtsvorstellungen und Lautgebilde.\nVon erfafste nach Grasheys Erkl\u00e4rung beim Anblicke z. B. eines Hundes zuerst den Anfangsbuchstaben H. Um nun sein mangelndes Lautged\u00e4chtnis zu ersetzen, fixierte er ihn schreibend, w\u00e4hrend sich der zweite Buchstabe bei dem kontinuierlichen Anblick des Hundes bildete, und f\u00fcgte ablesend die durch Niederschreiben fixierten Buchstaben mit den innerlich enstehenden zu dem Namen zusammen. Wurde ihm pl\u00f6tzlich vor Vollendung des Namens das Objekt entzogen, so blieb wegen des Mangels an optischem Ged\u00e4chtnis auch das Wort imvollendet, selbst wenn ihm das Hilfsmittel des Schreibens zu Gebote stand.\nS. 680. \u201eDer Kranke kann nun in der That, wie bereits oben (S. 671) erw\u00e4hnt ist, von den Objektbildern zu den Klangbildern \u00fcbergehen, wenn er das Objekt best\u00e4ndig vor sich hat und von dem immer wieder erneuerten Objektbilde aus Buchstabe f\u00fcr Buchstabe des Klangbildes hervorruft und jeden Konsonanten oder Vokal des Klangbildes durch wirkliches. Niederschreiben oder durch Schreibbewegung und gleichzeitiges Aussprechen festh\u00e4lt. \u201c\nDas Wesentliche der beobachteten St\u00f6rung bestand nach Grasheys eigenem Ausdruck darin, dafs Von die Namen zu gesehenen Objekten \u201eschreibend fand.\u201c\nS. 656. \u201eVon August bis Ende Dezember 1884 blieben die Symptome derselben konstant; dieselben bestanden, allgemein und kurz ausgedr\u00fcckt, darin, dafs Patient f\u00fcr Objekte, welche er kannte, die Namen nicht angeben konnte, dafs er aber die fehlenden Namen niederschrieb und dann aussprach oder besser gesagt, dafs er sie schreibend fand.\u201c\nIch hebe diesen Ausdruck \u201eschreibend finden\u201c besonders hervor, weil die zur Zeit vorhandene Abnormit\u00e4t damit sehr gut bezeichnet ist.\nNach dieser Feststellung des Inhaltes von Grasheys Abhandlung, welche durchweg auf eine wirkliche Analyse der","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Sprache.\n147\nErscheinungen ohne die \u00fcblichen Postulate von \u201eCentren\u201c, \u201eAssociationsfasern\u201c und \u201eLeitungsunterbrechungen\u201c gerichtet ist, wenden wir uns zu dem gegenw\u00e4rtigen Befund bei Voit, um daran die psychologische Voraussetzung von Grasheys Erkl\u00e4rungsversuch zu pr\u00fcfen.\nPr\u00fcfungen des geistigen Zustandes, speziell der Intelligenz werden in hiesiger Klinik nach dem Schema vorgenommen, welches von Hrn. Prof. Rieger im Anschlufs an die genaue Beschreibung eines Mannes, der nach einer Hirnverletzung gewisse St\u00f6rungen zeigte, aufgestellt worden ist.1 Aus den oben angedeuteten Gr\u00fcnden weiche ich hier von einer dem Schema entsprechenden Darstellung ab und gebe von dem reichen Beobachtungsmaterial, welches bei wiederholten Untersuchungen unter verschiedenen Gesichtspunkten zusammengestellt worden ist, mit Ausscheidung alles rein Medizinischen und manches anderweitig psychologisch Interessanten nur das f\u00fcr die Nachpr\u00fcfung der genannten psychologischen S\u00e4tze Notwendige.\nZun\u00e4chst will ich den Zustand des optischen Ged\u00e4chtnisses untersuchen, dessen Schw\u00e4che im Grunde nach Grasheys Erkl\u00e4rung im Jahre 1885 die Sprachst\u00f6rung des Mannes bedingte.\nWenn man dem Manne einen Gegenstand unter mehreren zeigt, mit der Aufforderung, sich denselben zu merken, und dann die Gegenst\u00e4nde, bezw. die Bilder unsichtbar macht, so ist Voit schon nach ca. Va Minute nicht mehr imstande, den richtigen unter den ihm von neuem gezeigten zu finden.\nEine Fehlerquelle bei dieser Untersu\u00e7hung entspringt daraus, dafs Voit verschiedene Hilfsmittel anwendet, um den Mangel seines optischen Ged\u00e4chtnisses zu ersetzen.\nWenn man ihm bekannte Gegenst\u00e4nde zeigt, so findet er oft schreibend deren Namen und h\u00e4lt sie schreibend, oder sie fortw\u00e4hrend vor sich hinsprechend, fest. Es kommt also darauf an, ihm Gesichtseindr\u00fccke zu bieten, welche nicht aus den irgendwie festgehaltenen Namen reproduziert werden k\u00f6nnen.\nMan zeigt ihm eine bestimmte Taste einer kleinen Klaviatur von 5 Tasten ; nach kurzer Unterbrechung dieses Gesichtseindruckes ist er meistens nicht mehr imstande, die richtige Taste\n1 Beschreibung der Intelligenzst\u00f6rungen infolge einer Hirnverletzung. W\u00fcrzburg 1889, Stahel.","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nRobert Sommer.\nzu finden. Doch, zeigt sich auch hier eine Fehlerquelle darin, dafs Voit die betreffende Taste rasch von einer Seite aus abz\u00e4hlt und sich sprechend oder schreibend diese Bestimmung nach Fortnehmen des Klaviers merkt, bis man ihm dieses wieder sichtbar macht.\nIn diesem Falle giebt er, wenn man ihm nach einer Weile das Klavier wieder zeigt, die richtige Taste an, indem er von dem sprechend oder schreibend behaltenen Zahlwort ausgehend die Taste wieder findet.\nDafs das Merken des festgehaltenen Zahlwortes die Vermittlerrolle hierbei \u00fcbernimmt, tritt dadurch hervor, dafs Voit bei dem Wiedervorzeigen der Klaviatur gleichzeitig mit dem Zeigen der Taste laut das betreffende Zahlwort ausspricht. Entsprechend tritt seine Geschicklichkeit, f\u00fcr den Mangel an optischem Ged\u00e4chtnis andere Hilfsmittel sich dienstbar zu machen, hervor, wenn Voit eine Reihe von gesehenen K\u00f6rperbewegungen nachmachen soll.\nMan geht zu diesem Versuch hintereinander auf mehrere Gegenst\u00e4nde im Zimmer zu und ber\u00fchrt jeden einzelnen. Vorher hat man ihn aufgefordert, die ihm vorgemachten Bewegungen zu merken und dann nachzuahmen. Pafst man jetzt nicht genau auf, so ergiebt dieser Versuch scheinbar ein Resultat, welches f\u00fcr das Vorhandensein von optischem Ged\u00e4chtnis spricht. N\u00e4mlich der Patient kritzelt einfach, ohne auf seine H\u00e4nde zu sehen, mit dem Zeigefinger am Oberschenkel die Namen der ber\u00fchrten Gegenst\u00e4nde oder spricht sie leise vor sich hin und f\u00fchrt die Bewegungen, oder wenigstens den ersten Teil derselben etwas langsamer, aber richtig aus.\nMan mufs daher Gegenst\u00e4nde w\u00e4hlen, welche f\u00fcr ihn nicht durch Worte merkbar sind, weder durch Namen, noch durch Zahlworte.\nSehr gut f\u00fcr ihn geeignet ist hierzu ein im hiesigen Untersuchungszimmer angebrachter Apparat, dessen einzelne Teile ihm ganz fremd sein m\u00fcssen. Ber\u00fchrt man davon einzelne Teile mit der Hand und fordert ihn auf, diese Bewegungen nachzumachen, so ist er nicht imstande, mehr als die erste Bewegung zu reproduzieren.\nZum Vergleich wurden mehrere Idioten hiesiger Anstalt herangeholt, welche ihn s\u00e4mtlich in dieser Beziehung \u00fcbertrafen.\nZum Ausschlufs der angedeuteten Fehler wurde nach","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Sprache-\n149\nGrasheys Vorgang gepr\u00fcft, ob Voit imstande ist, die einzelnen ihm successive gebotenen Teile eines Gegenstandes, bezw. Bildes zu behalten und das Bild daraus zu kombinieren. Man f\u00fchrt hierzu ein mit einem spalt\u00e4hnlichen Ausschnitt versehenes Blatt \u00fcber das Bild, so dafs successive alle einzelnen Teile des Bildes zur Wahrnehmung kommen. Auch hier zeigt sich noch eine Fehlerquelle, darin n\u00e4mlich, dafs aus einzelnen charakteristischen kleinen Teilen, welche durch den Spalt sichtbar werden, z. B. bei der Kuh aus einem Euter, der Schlufs auf das Ganze gemacht wird. Im vorliegenden Falle wird der Name des deutlich gesehenen charakteristischen Teiles und der Name des Ganzen durch Schreibebewegungen gefunden und festgehalten und schliefslich bei dem Wiedervorzeigen des Bildes dieses durch Vermittelung des gemerkten Namens erkannt. Der entsprechende Versuch mit Bildern von Gegenst\u00e4nden, deren einzelne Parallelteilungen wenig Bedeutsames zeigen, wie z. B. das Bild eines Fasses, gelingt auch bei geistig Gesunden nicht immer. Am sichersten erscheint der Versuch mit Schn\u00f6rkeln, d. h. mit Gesichts bildern, welche nicht durch Namen gemerkt werden k\u00f6nnen.\nWenn man ihm gezeichnete Schn\u00f6rkel vorlegt, welche m\u00f6glichst wenig \u00c4hnlichkeit mit Gegenst\u00e4nden oder Buchstaben haben d\u00fcrfen, und wenn man ihn auf einen davon hinweist, so ist er nach kaum sekundenlangem Verdecken desselben nicht mehr imstande, den richtigen zu finden.\nZur Pr\u00fcfung des optischen Ged\u00e4chtnisses wurde ferner an Voit die Aufgabe gestellt, ein Bild (z. B. Hund, Pferd etc.) in groben Umrissen von einer Vorlage abzuzeichnen. Wenn er bei diesem Nachzeichnen z. B. mit dem Kopfe eines Tieres fertig war, so wurde ihm die Vorlage entzogen. Von diesem Augenblick an stockte er und beendete die Zeichnung mit einem Haken, der nicht die mindeste Beziehung zu dem hatte, was er machen sollte. Das Hilfsmittel, welches er sonst zur Unterst\u00fctzung seines optischen Ged\u00e4chtnisses bereit hat, n\u00e4mlich das Schreiben des Wortes, wurde in diesem Falle, wo die Hand mit Nachzeichnen besch\u00e4ftigt war, nie angewendet. In diesem Falle wirkte offenbar die Verwendung der Hand zum Zeichnen als eine Hemmung der Schreibbewegungen, wodurch ihm die M\u00f6glichkeit schreibend Worte zu finden und festzuhalten geraubt wurde.","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nRobert Sommer.\nDementsprechend war er nicht imstande, wenn man ihm den Namen eines Tieres sagte und ihn zum Zeichnen dieses aufforderte, mehr als die groben Umrisse des Kopfes zu zeichnen, sondern schlofs die Zeichnung mit einem flaschen\u00e4hnlichen Anhang, der nichts Tierartiges an sich hat. Es mufs ihm also erstens das durch das \"Wort hervorgerufene Gesichtsbild rasch verschwunden sein ; zweitens aber wendet er in diesem Falle das Hilfsmittel der Schreibbewegungen zur Festhaltung der \"Worte und zur Reproduktion der Gesichtsvorstellungen vermittelst dieser nicht an. Der m\u00f6gliche Einwand, dafs der Patient \u00fcberhaupt schlecht seine inneren Gesichtsvorstellungen in \u00e4ufsere Umrisse umsetzen kann, l\u00e4fst sich leicht widerlegen. \"Wenn man ihm \u201ePferd\u201c hinschreibt, mit der Aufforderung, ein Pferd zu zeichnen, so bringt er ein zwar schlechtes aber erkennbares Bild eines solchen zu st\u00e4nde, ebenso, wenn man ihm fortw\u00e4hrend das \"Wort vorsagt.\nEs geht aus diesen Beobachtungen hervor, dafs in der That ein grofser Mangel an optischem Ged\u00e4chtnis bei Voit vorhanden ist.\nNeben dem Zustand des optischen Ged\u00e4chtnisses hat Professor Gkashey mit Recht auch die F\u00e4higkeit, Laute und Worte in der Erinnerung zu behalten, in Betracht gezogen.\nWeil er diese F\u00e4higkeit bei Voit abnorm gering fand, so erkl\u00e4rte er Vous Verhalten, welcher die Namen schreibend fand, dahin, dafs jeder von dem Objektbilde ausgel\u00f6ste Lautbestandteil des Wortes von Von schriftlich fixiert w\u00fcrde, um durch das geschriebene Buchstabenbild dem Lautged\u00e4chtnis zu Hilfe zu kommen. Grashey sagte also, dafs in Voit bei dem Anblick z. B. eines gemalten Ebers der zuerst ausgel\u00f6ste Buchstabenlaut E w\u00e4hrend der Entstehung des zweiten wieder vergessen w\u00fcrde, wenn derselbe nicht durch Niederschreiben fixiert w\u00fcrde.\nEs zeigte sich in Bezug auf das Laut- und Wortged\u00e4chtnis Folgendes :\nVoit vergifst ihm vorgesprochene Substantive sehr rasch, z. B. wenn man ihm vorsagt: \u201eSchrank, Ofen, Tisch\u201c, und dabei verhindert, dafs er die angedeuteten Hilfsmittel zum Festhalten der Worte verwendet, so hat er dieselhen nach kaum V* Minute v\u00f6llig vergessen. Wenn man ihn nach dem Diktat schreiben l\u00e4fst, so bleibt er oft mitten im Wort stecken,","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Sprache.\n151\nweil ihm die Laute verloren gegangen sind. Hierher geh\u00f6rt auch der oben erw\u00e4hnte Versuch, bei dem man ihm z. B. das Wort Pferd sagte mit der Aufforderung, ein Pferd zu malen.\nEr ist dann nicht imstande, das Wort zu behalten und kann die Zeichnung nach einem kleinen Anfang nicht fortsetzen.\nEs ist also bei Voit eine grofse Ged\u00e4chtnisschw\u00e4che f\u00fcr Lautgebilde vorhanden. Die Frage, ob sich diese Ged\u00e4chtnisschw\u00e4che besonders auf substantivische Worte bezieht, ob ferner solche Substantive unter anderen Bedingungen, z. B. im Verlauf festgef\u00fcgter associativer Reihen leichter gefunden werden, lasse ich hier bei seite, obgleich sich in dieser Richtung ein weitl\u00e4ufiges Beobachtungsmaterial vordr\u00e4ngt. Hier best\u00e4tige ich nur den oben wiedergegebenen Befund Grasheys und frage nun, ob daraus die Sprachst\u00f6rung des Mannes erkl\u00e4rt werden kann, welche darin besteht, dafs Voit Namen von Objekten nur schreibend findet?\nWir stellen also mit Bezug auf die gekennzeichnete Darlegung Grasheys fest, dafs bei Voit auch jetzt noch eine hochgradige Schw\u00e4che des Ged\u00e4chtnisses f\u00fcr Gesichtseindr\u00fccke und Lautgebilde vorhanden ist.\nFerner kann auch jetzt noch mit dem von Grashey zuerst angewandten Stichwort behauptet werden, dafs Voit die Namen zu gesehenen Gegenst\u00e4nden \u201eschreibend findet\u201c. Nichtsdestoweniger l\u00e4fst sich zeigen, dafs jene Ged\u00e4chtnisschw\u00e4che nicht in einem Kausalverh\u00e4ltnis zu der l\u00e8tzteren wesentlichen St\u00f6rung steht.\nWir richten jetzt unser Augenmerk auf den Punkt, welcher das Centrum unserer Betrachtung bildet, n\u00e4mlich auf das Verh\u00e4ltnis von vorgezeigten Bildern zu den zugeh\u00f6rigen Worten. Voit kann auch heute noch zu dem Bilde eines Gegenstandes, das er sieht, nur dann das zugeh\u00f6rige Wort finden und aussprechen , wenn er Schreibbewegungen zu Hilfe nimmt. Diese werden f\u00fcr gew\u00f6hnlich mit der rechten Hand auf dem Tisch ausgef\u00fchrt. Ob Voit dabei hinsieht oder nicht, ist gleichgiltig. Im Stehen schreibt er mit dem rechten Zeigefinger gegen den Oberschenkel, ohne hinunterzusehen. Bei genauer Beobachtung kann man an diesen Schreibbewegungen das den einzelnen Buchstaben entsprechende Auf- und Niederf\u00fchren des Fingers unterscheiden. H\u00e4lt man die rechte Hand fest, so bewegt er die linke schreibend, h\u00e4lt man sie beide, so malt er die Buch-","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nRobert Sommer.\nstaben mit den F\u00fcfsen. Dieser Zwang zum Schreiben ist ein so starker, dafs Voit, wenn man ihm die Finger nicht ordentlich festh\u00e4lt, mit seinem Zeigefinger sogar auf dem R\u00fccken der festhaltenden Hand des Beobachters schreibt. Bei der Untersuchung wurde in der ersten Zeit vorausgesetzt, dafs, wenn Vous Arme und Beine festgehalten seien, die M\u00f6glichkeit, Schreibbewegungen auszuf\u00fchren, nun vollkommen fehle. Es f\u00fchrten jedoch eigent\u00fcmliche Mundverziehungen, welche Voit machte, wenn man ihn in dieser Stellung das Wort zu einem ihm vorgehaltenen Bild oder Gegenstand suchen liefs, auf die \u00fcberraschende Wahrnehmung, dafs Voit in diesem Falle mit der Zunge in der Mundh\u00f6hle Schreibbewegungen macht. (!) Die Zunge wird hierbei wirklich nach Art eines schreibenden Fingers auf und wiederbewegt. Voit, welcher selbst am besten weifs, dafs er fehlende Worte nur schreibend findet, best\u00e4tigte es bei den oft wiederholten Fragen stets, dafs er wirklich mit der Zunge schreibt.\nUm ihn also jeder M\u00f6glichkeit der Schreibbewegung und damit des Hilfsmittels zum Auffinden der Worte sicher zu berauben, blieb nichts anderes \u00fcbrig, als ihn bei festgehaltenen H\u00e4nden und F\u00fcfsen die Zunge herausstrecken und ausgestreckt halten zu lassen. Die meisten der folgenden Versuche erforderten diese Stellung.\nWir wollen bei ihrer Beschreibung diesen durch Fixierung von H\u00e4nden, F\u00fcfsen und Zunge herbeigef\u00fchrten Zustand kurz als totale Fesselung, n\u00e4mlich der von ihm zum Schreiben ben\u00fctzten Organe, bezeichnen.\nFesselt man nun H\u00e4nde, F\u00fcfse und Zunge, so ist Voit \u00fcberhaupt nicht mehr imstande, das Wort zu finden und auszusprechen. Es klingt scheinbar paradox, wenn man von jemandem verlangen will, dafs er die Zunge herausstrecken und ein Wort dabei aussprechen soll. Es ist dies aber so zu verstehen, dafs Voit aufgetragen wurde, so bald er innerlich das Wort gefunden habe, mit dem Kopfe zu nicken, dann die Zunge hereinzuziehen und das Wort auszusprechen. Er fand aber im Zustand der totalen Fesselung das Wort nie, sondern sch\u00fcttelte stets auf die Frage, ob er das Wort wisse, mit dem Kopf. Hierbei lag Voit das Bild dauernd vor Augen. L\u00e4fst man ihn, nachdem er bei vollkommener Fesselung vergeblich versucht hat, das Wort zu finden, die Zunge zur\u00fcckziehen, so bemerkt","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Sprache.\n153\nman an seinen Mundbewegungen deutlich, dafs er jetzt mit der Zunge in der Mundh\u00f6hle schreibt. Und erst nach Vollendung dieser Bewegungen, welche mehrere, oft bis 10 Sekunden in Anspruch nehmen, sagt Voit das richtige Wort.\nZur Erkl\u00e4rung der bis jetzt geschilderten Erscheinungen, wie sie bei Voit jederzeit beobachtet werden k\u00f6nnen, ist die GRASHEYsche Hypothese aus folgendem Grunde nicht verwendbar.\nSie besagt: Weil Voit jeden Buchstabenlaut, welcher in ihm beim Ansehen eines Gegenstandes hervorgerufen wird, sofort vergessen w\u00fcrde, so schreibt er den Buchstaben nieder, um durch Ablesen den Laut wiederzufinden. Also k\u00f6nnte Voit offenbar nur dann ein ganzes Wort (eine Lautkombination) schreibend finden, wenn er die einzelnen Buchstaben sich in einer dauernd sichtbaren Weise fixierte.\nNun vergibst er sie aber durchaus nicht, sondern findet ein Wort gerade so gut auch dann, wenn er es so geschrieben hat, dafs \u00fcberhaupt keine sichtbaren Buchstaben zu st\u00e4nde kommen.\nZweitens : Nach der Hypothese m\u00fcfste Voit auch bei totaler Fesselung das Wort bezw. zun\u00e4chst den Anfangsbuchstaben finden, wenn ihm nur das Bild dauernd vorliegt. Grashey hat selbst diese Konsequenz aus seiner Pr\u00e4misse gezogen.\nS. 679. \u201eIst diese Erkl\u00e4rung richtig, so mufs der Kranke aber auch von den Objektbildern zu den Klangbildern gelangen k\u00f6nnen, wenn er die an und f\u00fcr sich kurz dauernden Objektbilder durch Betrachten des Objektes fortw\u00e4hrend erneuert.\u201c\nUm die succesive ausgel\u00f6sten Buchstaben nicht wieder zu vergessen, schreibt Voit nach Grasheys Lehre die einzelnen Buchstaben nieder und liest diese ab. Nach unserem Befund kann Voit dagegen von den Objektbildern zu den Klangbildern selbst dann nicht gelangen, wenn das Objektbild durch Betrachtung des Objektes fortw\u00e4hrend erneuert wird, wofern man ihn nur im Zustand totaler Fesselung erh\u00e4lt.\nWenn nach Grasheys Annahme wirklich von dem festgehaltenen Objekt bilde successive die einzelnen Lautbestandteile des Wortes hervorgerufen w\u00fcrden, so m\u00fcfste auch bei v\u00f6lliger Fesselung das Wort als akustisches Gebilde innerlich vorhanden sein. Auf alle dahin gerichteten Fragen, ob er das Wort, welches zu dem Bilde geh\u00f6rte, innerlich erfafst habe, hat Voit w\u00e4hrend der Fesselung stets und ausnahmslos verneinend mit dem Kopfe gesch\u00fcttelt.","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nRobert Sommer.\nNimmt man nun mit Grashey an, dafs das Laut- und Buchstabenged\u00e4chtnis Vous zu schwach sei, um die einzelnen ausgel\u00f6sten Bestandteile des Wortes festzuhalten, so m\u00fcfste wenigstens der Anfangsbuchstabe innerlich richtig erfafst werden.\nGrashey selbst hat diese Konsequenz aus seiner Hypothese gezogen (S. 679): \u201eSobald das fertige Objektbild nur kurze Zeit, also etwa nur 0,06 Sekunden dauert, so kann nur der erste Teil des Klangbildes erregt und folglich auch nur der erste Teil des Klangbildes ausgesprochen und niedergeschrieben werden, d. h. der zu einem Objekt geh\u00f6rige Name kann weder gedacht, noch gesprochen, noch geschrieben werden, und lediglich der erste Buchstabe des Namens kann gedacht, gesprochen und geschrieben werden.\u201c Hieraus ist klar, dafs sich nach Grashey bei festgehaltenem Objektbild zun\u00e4chst der Anfangsbuchstabe bei Voit bilden m\u00fcfste, was jedoch nicht der Fall ist, wenn man ihn am Schreiben hindert.\nNannte man ihm im Zustande der Fesselung von dem zu dem Objekt geh\u00f6renden Worte den ersten Buchstaben unter einer Reihe beliebiger unrichtiger und fragte bei jedem, ob das betreffende Wort so beg\u00e4nne, so konnte er dies niemals richtig beantworten. Ja sogar, er erkannte selbst ganze Silben und gr\u00f6fsere Bruchst\u00fccke des Namens beim Vorsprechen nicht als zu dem Objekte geh\u00f6rig. Eine ausf\u00fchrliche Beschreibung dieser Experimente ist durchaus notwendig.\nVoits H\u00e4nde und Beine werden dabei von zwei Beobachtern, welche neben ihm sitzen, festgehalten, w\u00e4hrend er die Zungenspitze hervorstrecken mufs. In dieser Stellung wird ihm nun ein Bild, z. B. das eines Trichters, dauernd vorgelegt. Auf die Frage, ob er innerlich den Namen weifs, sch\u00fcttelt er mit dem Kopf. Nun fragt man, ob das Wort mit R, S, T oder F. etc. anf\u00e4ngt, um zu pr\u00fcfen, ob im Sinne der GRASHEYschen Hypothese der Anfangsbuchstabe innerlich ausgel\u00f6st ist. Patient zuckt bei allen Buchstaben unwissend mit der Schulter. Nun fragt man, ob das Wort mit Re, Sa, Trich, Fal anf\u00e4ngt, um zu sehen, ob bei der ersten Silbe \u201eTrich\u201c ein Erkennen der Zugeh\u00f6rigkeit eintritt. Wieder zuckt er unwissend mit der Schulter. Nun fr\u00e4gt man, ob das Wort mit Regel, Sal, Tricht etc. anf\u00e4ngt.\nAuch jetzt erkennt Voit das fast bis ans Ende ausgesprochene Wort noch nicht als zu dem Objektbilde geh\u00f6rig.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Sprache.\n155\nErst wenn man das ganze Wort Trichter allein oder in einer Reihe von anderen ausspricht, nickt er lebhaft mit dem Kopfe.\nEntsprechend konnte er folgende Bruchteile von Worten im Zustande der Fesselung nicht als zu dem Namen der betreffenden Objekte geh\u00f6rig erkennen, L, L\u00f6, L\u00f6ff (erst bei L\u00f6ffel).\nL, L\u00f6, L\u00f6ff (L\u00f6ffel),\nSch, Schee (Scheere),\nL,\tLa, Lat, Late, Later (Laterne),\nH, Ha, Ham (Hammer),\nG, Ga, Gab (Gabel),\nG, Gi, Gita (Guitarre),\nK, Ko, Kor (Korb),\nF, Fla (Flasche),\nM,\tMess (Messer),\nS, Si, Sich (Sichel),\nK, Ko, Kom, Kommo (Kommode).\nVoit erkennt also erst das bis zu Ende ausgesprochene Wort im Zustande der Fesselung als zu dem Objekte geh\u00f6rig, verneint aufserdem regelm\u00e4fsig, dafs er dieses Wort innerlich wisse, bevor man es ihm vorsagt.\nHierdurch ist erwiesen, dafs in Voit im Zustande der Fesselung keine Lautgebilde (Buchstabenlaute) auch bei dauernd festgehaltenem Objektbild ausgel\u00f6st werden. Diese werden bei ihm erst nach der L\u00f6sung mit und bei den Schreibbewegungen lebendig.\nZugleich tritt bei diesen Versuchen eine geradezu wunderbare Unf\u00e4higkeit, Bruchst\u00fccke von Worten zu erg\u00e4nzen, hervor. Diese war schon fr\u00fcher zuf\u00e4llig bemerkt worden und wurde nun vor allem untersucht. Es zeigt sich nun, dafs Voit, obgleich er den Sinn der Aufforderung, ein unvollendetes Wort durch Anh\u00e4ngen von Buchstaben zu erg\u00e4nzen, wohl versteht, nicht imstande ist, diesem Auftrag nachzukommen. Wenn man sich vorher von seinem Begreifen der Aufgabe \u00fcberzeugen will und ihn fragt, was er machen soll, so sagte er, er solle das Wort \u201eausmachen\u201c. Stellt man ihm nun die Aufgabe, z. B. das unvollendete Wort: \u201eM\u00e4d\u201c zu erg\u00e4nzen, so zuckt er unwissend mit der Schulter, auch wenn man ihm graphische Freiheit l\u00e4fst. Entsprechend ist das Resultat, wenn man ihm Bruchst\u00fccke von Namen hinschreibt. Er war nicht imstande,","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nBobert Sommer.\nFolgendes zu erg\u00e4nzen: \u201eBierwa\u201c, \u201eOfenro\u201c, \u201eGardin\u201c, \u201eCiga\u201c, \u201eHutschacht\u201c, \u201eKleiderst\u00e4nd\u201c, \u201eZeitu\u201c, Bleisti\u201c. Dafs er den Sinn der Aufgabe versteht, geht aus dem ausnahmsweise vorkommenden Gelingen der Erg\u00e4nzung hervor, z. B. erg\u00e4nzte er \u201eLeucht\u201c richtig zu Leuchter, \u201eBierbrau\u201c zu Bierbrauer. Im allgemeinen aber steht er vor dem gesprochenen oder geschriebenen Bruchst\u00fcck eines Wortes wie vor einem absolut fremden und mit nichts zusammenh\u00e4ngenden Gegenstand. Diesem Befund entspricht v\u00f6llig die oben mitgeteilte Beobachtung, dafs Voit im gefesselten Zustande z. B. vor dem Bild einer Kommode selbst die Lautkombination \u201eKommo\u201c noch nicht als zugeh\u00f6rig erkennt. Erst das bis zum Ende ausgesprochene Wort wird in seiner Zugeh\u00f6rigkeit erfafst. Auch hier jedoch handelt es sich nicht um die Identifizierung des ausgesprochenen Namens mit einem vorher durch das dauernd vorliegende Bild ausgel\u00f6sten Lautgebilde ; denn die Frage nach dem inneren Vorhandensein des Namens bei dem Anblick des Bildes wird im Zustande der Fesselung stets von ihm durch Zeichen verneint.\nIch stelle also fest, dafs in Voit beim Anblick eines Gegenstandes im Zustande der Fesselung kein Lautgebilde, weder das ganze Wort, noch ein Bruchteil, ja nicht einmal der Anfangsbuchstabe ausgel\u00f6st wird, dafs also bei ihm vor den Schreibbewegungen, welche er sofort nach L\u00f6sung der Fesselung vornimmt, keine Klanggebilde vorhanden sind, als deren Ausdruck die Schreibbewegungen zu betrachten w\u00e4ren. Wir fragen nun : Sind die \u00e4ufseren Buchstabenzeichen, welche bei den Schreibbewegungen nach L\u00f6sung der Fesselung hervorgebracht werden, \u00e4ufserliche Darstellung von innerlich gedachten Buchstabenbildern ? Oder anders ausgedr\u00fcckt : Bilden Buchstabenbildvorstellungen die Br\u00fccke zwischen den Objektbildern und den Schreibbewegungen? Wir h\u00e4tten dann den merkw\u00fcrdigen Fall vor uns, dafs an Objektbilder die den Namen ausmachenden Buchstabenzeichen direkt gekettet w\u00e4ren, ohne dafs Lautgebilde d. h. eben die Namen der Gegenst\u00e4nde dazwischen l\u00e4gen.\nMan k\u00f6nnte sich diesen Zustand etwa denken bei einem Telegraphisten, welcher bei dem Erscheinen bestimmter Gegenst\u00e4nde z. B. beim Einlaufen eines Zuges die Zeichen f\u00fcr die Laute \u201eZug kommt\u201c richtig telegraphiert, ohne dafs in ihm die Lautgebilde \u201eZug kommt\u201c vorhanden w\u00e4ren.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Sprache.\n157\nDie zu telegraphierenden Zeichen k\u00f6nnten beim Anblick des Gegenstandes unmittelbar in seinem Geiste auftauchen und durch die damit verkn\u00fcpftenBewegungsimpulse zu einer richtigen Aufserung f\u00fchren, selbst wenn in ihm kein akustischer Vorgang, keinDenken der zu telegraphierenden Worte vorausgegangen w\u00e4re.\nEs l\u00e4fst sich nun leicht zeigen, dafs in Voit im Zustande der Fesselung auch keine Buchstabenbilder bei dem dauernden Anblick des Objektes entstehen, welche in den nach der L\u00f6sung bemerkbaren Schreibbewegungen zum Ausdruck kommen k\u00f6nnten. Um dies zu zeigen, stellt man am besten eine Versuchsreihe mit Niederschreiben der den Namen ausmachenden Buchstabenzeichen an, welche den obigen Versuchen mit Vorsprechen von Lautbestandteilen des Wortes vollkommen parallel geht. Legt man Voit im Zustand der Fesselung ein Bild vor und schreibt ihm sichtbar den Anfangsbuchstaben des Namens hin, mit der Frage, ob das Wort so anfange, so zuckt er stets unwissend mit der Schulter. W\u00fcrde von dem Objektbilde der erste Laut des Wortes und von diesem das zugeh\u00f6rige Buchstabenbild ausgel\u00f6st, oder w\u00fcrde im Sinne der oben gemachten Annahme durch den Anblick des Objektes das Buchstabenbild innerlich direkt erzeugt, so w\u00fcrde in beiden F\u00e4llen Voit das innerlich entstandene Buchstabenbild mit dem ihm vorgeschriebenen identifizieren; dieses tritt jedoch nicht ein. Ja sogar man kann, entsprechend wie man ihm oben Bruchst\u00fccke von den Namen vorsprach, nun auch dieselben sichtbar hinschreiben, ohne dafs eine Erkenntnis der Zugeh\u00f6rigkeit zu dem angeschauten Objekt eintritt. Voit konnte die Zugeh\u00f6rigkeit zu den Bildern \u201eLaterne, Hammer, Gabel, Guitarre, Korb, Flasche, Messer, Sichel, Kommode\u201c nicht erkennen, selbst wenn man folgende Bruchst\u00fccke hinschrieb: \u201eLater, Ham, Gab, Gita, Kor, Fla, Mess, Sich, Kommo.\u201c\nEs geht daraus hervor, dafs dem nach der L\u00f6sung bemerkbaren Schreiben bei Voit keine Buchstabenbildvorstellungen innerlich vorausgehen, ebensowenig als im Zustand der Fesselung Klanggebilde beim Anblick eines Objektes in ihm wachgerufen werden.\nNichtsdestoweniger hat das, was bei den Schreibbewegungen Voits, die sofort nach der L\u00f6sung eintreten, \u00e4ufserlich zu st\u00e4nde kommt, das Ansehen derjenigen Buchstaben, welche das Wort bezeichnen.","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nRobert Sommer.\nEs steht also fest, dafs You im Zustand der Fesselung den zu dem angeschauten Objekt geh\u00f6renden Namen nicht \u201eweifs\u201c, sondern ihn erst nach L\u00f6sung eines seiner graphischen Bewegungsorgane (einer Hand, eines Fufses, der Zunge) \u201eschreibend findet\u201c. Es ist nun bemerkenswert, dafs sich dieses Stichwort zur Bezeichnung der Sprachst\u00f6rung des Mannes schon bei Grashey im Jahre 1885 findet.\nDie Frage, ob sich die Sprachst\u00f6rung des Mannes z. Z. auf Grund der oben in \u00dcbereinstimmung mit Grashey festgestellten Ged\u00e4chtnisschw\u00e4che erkl\u00e4ren l\u00e4fst, muls nach den mitgeteilten Beobachtungen entschieden verneint werden. Der Kranke erfafst nicht beim Anschauen des Bildes die Laute und fixiert sie schreibend, um so seinem mangelnden Ged\u00e4chtnis zu Hilfe zu kommen, sondern er findet die Laute durch Schreibbewegungen, findet dagegen die Laute, ja selbst den Anfangsbuchstaben \u00fcberhaupt nicht, wenn man ihn graphisch fesselt. Dieser Befund wurde bei s\u00e4mtlichen in diesem Herbst vorgenommenen Untersuchungen best\u00e4tigt. Hieraus einen B\u00fcck-schlufs auf die Ung\u00fcltigkeit von Grasheys Erkl\u00e4rungsversuch vom Jahre 1885 machen zu wollen, w\u00e4re unwissenschaftlich. Nur mufs ich auf einen Widerspruch aufmerksam machen, welcher sich in jener Abhandlung findet.\nGrashey spricht von der M\u00f6glichkeit, die von einem festgehaltenen Objektbild ausgel\u00f6sten Lautbestandteile des Namens zu fixieren und dadurch das fehlende Ged\u00e4chtnis f\u00fcr die Laute zu ersetzen.\nDiese Korrektion des Ged\u00e4chtnisses kann nach Grashey geschehen (cfr. S. 679), 1. wenn der Patient jeden Teil des successiv entstehenden Namens sofort auf die Sprachbahn \u00fcbertr\u00e4gt und durch Sprechen fortw\u00e4hrend erneuert ; 2. indem jeder ausgel\u00f6ste Lautbestandteil sofort niedergeschrieben wird.\nUnd nun sagt Grashey (S. 680): \u201eIch habe \u00f6fter versucht, den Kranken zur Ben\u00fctzung des ersten Weges zu veranlassen, indem ich ihm einen Gegenstand vorlegte, nach dessen Namen fragte und den Kranken hinderte, den fehlenden Namen zu schreiben. Aber niemals ist es ihm auf solche Weise gelungen, den Namen zu finden, ja er konnte nicht einmal den ersten Buchstaben des fehlenden Namens finden.\u201c\nHier widerspricht eine Beobachtung der gleichzeitig aufgestellten Theorie, in deren Konsequenz Grashey selbst verlangte,","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Sprache.\n159\ndafs in Voit unter allen Umst\u00e4nden beim Anblick eines Objektes der erste Buchstabenlaut rege werden sollte.\nDas Wesentliche der vorliegenden St\u00f6rung besteht also darin, dafs bei dem Anblick eines Gegenstandes oder eines Bildes der zugeh\u00f6rige Name durch Schreibbewegungen gefunden wird, dafs also die Schreibbewegungen nicht Ausdruck einer innerlich erfafsten Lautkombination, auch nicht die \u00e4ufsere Darstellung innerlich erfafster Buchstabenbilder sind ; sondern dafs im Gegenteil das Wort, die Lautkombination, bei Voit erst durch die Schreibbewegungen lebendig wird.\nDiese Feststellung widerstreitet nun allem, was man sich f\u00fcr gew\u00f6hnlich denkt. Vermutlich n\u00e4mlich w\u00fcrde vom Standpunkt der Lokalisationslehre nichts eingewendet werden, wenn man sich den Vorgang des Aussprechens von Namen, welche zu gesehenen Gegenst\u00e4nden geh\u00f6ren, so d\u00e4chte: Von dem Centrum der Gesichtsbilder geht eine Verbindungsbahn nach dem Centrum der Lautgebilde. Bei dem Anschauen eines Objektes werden der Reihenfolge nach alle einzelnen Laute, welche den Namen des Objektes ausmachen, ausgel\u00f6st.\nUm nun diesen Namen zu schreiben, mufs man von den einzelnen Lauten zu den Bewegungsvorstellungen \u00fcbergehen, welche durch Vermittelung von Muskelbewegungen die den einzelnen Lauten entsprechenden Buchstabenbilder hervorbringen.\nVielleicht werden einige noch behaupten, dafs den einzelnen Teilen des Lautgebildes gedachte Buchstabenbilder entsprechen, von denen jedes mit bestimmten Bewegungsvorstellungen verkn\u00fcpft ist, welche zu seiner \u00e4ufseren Darstellung und somit successive zum Niederschreiben des ganzen Wortes f\u00fchren.\nEs ist wirklich behauptet worden, dafs wir, um ein Wort niederzuschreiben, erst zu jedem Laut den zugeh\u00f6rigen Buchstaben innerlich vorstellen und jeden einzelnen durch Vermittlung der zugeh\u00f6rigen Bewegungsvorstellungen nach aufsen \u00fcbertragen, so dafs eine das Wort darstellende Buchstabenreihe entsteht. Nur das kann der Sinn sein, wenn man behauptet, dafs wir \u201ebuchstabierend schreiben\u201c, denn unter einem \u201eBuchstaben\u201c kann man nur ein Gesichtsbild, welches einen Laut bedeutet, nicht aber einen Laut selbst verstehen.\nIn einer Doktor dissertation von Adler (Breslau 1889), welche\nZeitschrift f\u00fcr Psychologic II.\t11","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nRobert Sommer.\ngewissermafsen den status quo der Kenntnisse \u00fcber die Aphasie bezeichnen will, heilst es \u00fcber den Vorgang beim Hinschreiben eines zu einem Objekt geh\u00f6renden Namens S. 8 : \u201eDem Buchstabenklangbild wird ein Buchstabenschriftbild associiert und dieses hingeschrieben. Durch Aneinanderf\u00fcgen der einzelnen Schriftbilder kommt das Wort zu Stande.\u201c Adler kommt zu diesem Satz im Verlauf einer Deduktion und verwendet zur empirischen Begr\u00fcndung seiner theoretischen Annahmen gerade den GRASHEYschen Fall, welcher uns vorliegt. S. 9: \u201eDas wichtige Ergebnis dieser theoretischen Deduktion ist, dafs wir stets buchstabierend lesen und schreiben. Zu eben demselben Resultate ist Grashey durch seine Beobachtungen bei einem Falle funktioneller Aphasie gekommen.\u201c\nAus der oben gegebenen Darstellung gehen nun in dieser Beziehung zwei S\u00e4tze ohne Schwierigkeit hervor, 1. dafs bei Voit keineswegs zwischen einer Objektvorstellung und dem Niederschreiben des zugeh\u00f6rigen Namens ein Klanggebilde liegt, dessen einzelne Lautbestandteile sich successive mit Buchstabenbildern associieren, die ihrerseits der Reihe nach niedergeschrieben werden.\n2.\tDer Fall Voit zeigt also, dafs die theoretische Deduktion, wonach wir buchstabierend (lesen und) schreiben, zu keinem allgemein g\u00fcltigen Resultat f\u00fchrt. Wie weit diese Annahme richtig ist, kann hier nicht weiter gepr\u00fcft werden.\n3.\tDer Fall Voit beweist, dafs es ein Schreiben giebt, welches nicht der Ausdruck von vorgestellten Buchstabenzeichen und vermittelst dieser von gedachten Lauten ist, sondern vermittelst dessen Klanggebilde gefunden werden. Und zwar werden bei dem Anblick von Gegenst\u00e4nden deren Namen gefunden, indem Schreibbewegungen ausgef\u00fchrt werden, deren Resultat f\u00fcr das Auge des Beobachters diejenigen Buchstabenzeichen sind, welche die Gegenst\u00e4nde bezeichnen.\nWir stellen nun die Frage in den Vordergrund: welche geistigen Vorg\u00e4nge vermitteln bei Voit den \u00dcbergang von den Objektbildern zu den Schreibbewegungen, mittelst derer die Namen gefunden werden? F\u00fcr die Aufhellung dieses dunkeln Raums, welcher bei Voit zwischen Objektvorstellung und Schreibbewegung liegt, ist die folgende Versuchsreihe wichtig.\nEs wurden Voit je zwei Bilder von Gegenst\u00e4nden gezeigt mit der Frage, ob sich beide unter einen Namen bringen liefsen.","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Sprache.\n161\nWenn man ihn nicht fesselte, so fand er jedesmal schreibend rasch den n\u00e4chst h\u00f6heren Begriff zu den gesehenen Gegenst\u00e4nden. Nun wurde er gehemmt und war dann niemals imstande, das zusammenfassende Wort zu den beiden Gegenst\u00e4nden zu finden, w\u00e4hrend er dasselbe kurz vorher in graphischer Freiheit schnell erfafst hatte. Ob er das Wort innerlich w\u00fcfste, liefs man ihn mit Nicken oder Sch\u00fctteln des Kopfes beantworten. Stets kam die verneinende Geberde, wenn man ihn graphisch gefesselt hatte. Bis hierher bietet der Versuch nichts neues. Es liefs sich jedoch erkennen, dafs in Voit eine begriffliche Kombination beider Gegenst\u00e4nde zu Stande kam, selbst wenn er das zusammenfassende Wort noch nicht gefunden hatte.\nAlso z. B. : Voit sitzt mit festgehaltenen H\u00e4nden und F\u00fcfsen da, w\u00e4hrend er die Zungenspitze unbeweglich herausstrecken mufs. Man legt ihm nun zwei Bilder vor, z. B. eine Guitarre und eine Trompete. W\u00e4hrend man ihn beide dauernd betrachten l\u00e4fst, fragt man ihn, ob er das Wort wisse, welches beide zusammen bezeichnet. Als Antwort sch\u00fcttelt er mit dem Kopfe. Nun fragt man, ob die Gegenst\u00e4nde zusammen geh\u00f6ren, ob sie sich mit einem Namen nennen lassen : Er nickt lebhaft. Ohne das zusammenfassende Wort zu kennen, weifs Voit die Zusammengeh\u00f6rigkeit der Dinge; er weifs, dafs sie zusammen begriffen werden k\u00f6nnen \u2014 oder vielmehr, er begreift sie wirklich zusammen, ohne das zusammenfassende Wort nennen zu k\u00f6nnen. L\u00f6st man nun die Fesselung, indem man ihm z. B. nur die Zunge freigiebt, so bringt er nach mehreren Sekunden das richtige Wort vor.\nFolgende Gegenst\u00e4nde erfafste er w\u00e4hrend der Fesselung als zusammengeh\u00f6rig und konnte nach der L\u00f6sung die zusammenfassenden Namen nennen:\nGuitarre \u2014 Trompete : \u201eMusikinstrumente\u201c ;\nGlocke \u2014 Orgel: \u201eKircli enger\u00e4t11;\nGewehr \u2014 Kanonen: \u201e Schiefswaffen\u201c ;\nZimmer \u2014 Keller: \u201eGeb\u00e4ulichkeit\u201c;\nBottich \u2014 Obstm\u00fchle: \u201eKelterzeug\u201c;\nGabel\nGabel \u2014 Messer: \u201eBesteck\u201c;\nSichel \u2014 Giefskanne:\nLaterne \u2014 Brennlampe: \u201eLicht\u201c;\n\u201eHausger\u00e4t\u201c; Haue \u2014 Hippe:'\nPalast \u2014 Scheune: \u201eBaulichkeit\u201c.\n\u201eWerkzeug\u201c;\nII*","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nHobert Sommer.\nObgleich also Voit das zusammenfassende Wort nicht findet, w\u00e4hrend er gefesselt ist, begreift er in diesem Zustande die Zusammengeh\u00f6rigkeit. Es liegt also in diesem Falle ein noch wortloses Begreifen der Zusammengeh\u00f6rigkeit zwischen dem Anblick der Objektbilder und den Schreibbewegungen, vermittelst welcher er den Namen findet.\nIm Falle, wo zu einem Objektbilde der Name durch Schreibbewegungen gefunden wurde, war es noch denkbar, dafs zwischen dem Objektbilde und den Schreibbewegungen wenigstens Buchstabenbilder lagen, welche an die Objektbilder direkt gekn\u00fcpft waren und die in den Schreibbewegungen zum \u00e4ufseren Ausdruck kamen. Hier aber kann man sich unm\u00f6glich vorstellen, dafs z. B. die Buchstabenbilder des Wortes \u201eKelterzeug\u201c direkt vergesellschaftet w\u00e4ren mit den Gesichtsbildern eines Bottichs und einer Obstm\u00fchle. Es liegen also in diesem Falle, wo es sich um das Finden des zusammenfassenden Namens handelt, zwischen dem Anblick der Objektbilder und den nach der L\u00f6sung sofort auftretenden Schreibbewegungen nachweislich weder Klanggebilde noch Buchstabengesichtsbilder, sondern ein nicht weiter analysierbares wortloses Begreifen der Zusammengeh\u00f6rigkeit. Was sich sonst noch dazwischen einschiebt an geistigen Vorg\u00e4ngen, liefs sich bisher nicht ermitteln. Jedenfalls erfolgten nach L\u00f6sung der Fesselung auf dieses Begreifen Schreibbewegungen, welche \u00e4ufserlich zur Produktion von Buchstabenbildern f\u00fchren und innerlich das Wachwerden des dem Begriff entsprechenden zusammenfassenden Namens bedingen.\nEine weitere Aufkl\u00e4rung von psychologischer Seite \u00fcber die Auslegung der beobachteten Erscheinungen w\u00e4re mir sehr erw\u00fcnscht, da ich nicht imstande gewesen bin, auf Grund der gewohnten Lehren \u00fcber den Sprachvorgang zu einem Verst\u00e4ndnis des Falles zu gelangen.\nNur aus einer Bichtung winkt ein schwaches Licht, welches vielleicht geeignet ist, den dunklen Grund der beobachteten Thatsachen zu erhellen und zugleich als Leitstern f\u00fcr das nebelhafte Gebiet gehirnphysiologischer Thatsachen zu dienen.\nEs ist nachgewiesen worden, dafs bei Voit durch Behinderung gewisser gewollter Bewegungen eine Amnesie zun\u00e4chst f\u00fcr die Namen von Gegenst\u00e4nden k\u00fcnstlich erzeugt werden kann. Die M\u00f6glichkeit, sich an die Namen zu erinnern, ist bei Voit an die Ausf\u00fchrung von Schreibbewegungen gekn\u00fcpft.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der Sprache.\n163\nDenkt man sick diejenigen Gehirnteile, deren Verlust nach den neueren Experimenten und pathologischen Beobachtungen den Verlust von Erinnerungsbildern bedingt, als Bewegungsapparate, deren Zerst\u00f6rung \u00e4hnlich wirkt wie im vorliegenden Fall die .Fesselung\u201c, so liefse sich die Amnesie erkl\u00e4ren, ohne dafs man in der modernen plump materialistischen Weise annimmt, dafs die Erinnerungsbilder in den betroffenen Zellen \u201elokalisiert\u201c gewesen seien. Es kann hier nicht n\u00e4her ausgef\u00fchrt werden, dafs sich das gesamte Beobachtungsmaterial \u00fcber Amnesie und amnestische Aphasie imgezwungen von dieser Idee aus erkl\u00e4ren l\u00e4fst.\nOhne diese Hypothese n\u00e4her auszuf\u00fchren, m\u00f6chte ich zur Anregung weiterer Beobachtungen in dieser Beziehung hier nur die Frage formulieren, welche sich aus dem Mitgeteilten in Bezug auf das Zustandekommen von Amnesie ergiebt und stelle dieselbe so :\nGiebt es physiologische oder pathologische F\u00e4lle, in denen Erinnerungen durch Vermittelung von gewollten Bewegungen wach werden und in denen durch Behinderung dieser Bewegungen Amnesie hervorgerufen werden kann?","page":163}],"identifier":"lit14374","issued":"1891","language":"de","pages":"143-163","startpages":"143","title":"Zur Psychologie der Sprache","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:13:49.936407+00:00"}