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{"created":"2022-01-31T14:14:32.332765+00:00","id":"lit14375","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Cornelius, C. S.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2: 164-179","fulltext":[{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie des r\u00e4umlichen Vorstellens mit R\u00fccksicht auf eine Nachbildlokalisation.\nYon\nC. S. Cornelius.\nDie Nachbildlokalisation, die wir hier im Sinne haben, betrifft eine Erscheinung, welche neuerdings Th. Lipps 1 n\u00e4her untersucht hat. Wendet man n\u00e4mlich den Blick von einem leuchtenden Objekt nach irgend welcher Richtung rasch hinweg, so scheint dasselbe einen rasch verschwindenden Streifen nach entgegengesetzter Richtung zu ziehen. Lipps verallgemeinert dies noch dahin, dafs jedes von seiner Umgebung gen\u00fcgend sich abhebende Objekt bei rascher Wegwendung des Blickes einen Streifen nach entgegengesetzter Richtung aus sich zu entlassen scheint, das leuchtende Objekt einen leuchtenden, das weniger leuchtende einen schw\u00e4cheren und verwascheneren hellen, das dunkle einen verwaschenen dunklen. Um die in Rede stehende Erscheinung wahrzunehmen, ist es indes nicht erforderlich, dafs das Auge das Objekt erst fixiert und dann sich von demselben wegwendet. Man sieht jenen Streifen auch dann, wenn das Auge eine rasche Bewegung vollzieht, die den Blick von einem indirekt gesehenen Objekt weiter wegf\u00fchrt.\nDen meisten Personen scheint es, wie Lipps bemerkt, sehr schwer zu fallen, das bezeichnete Ph\u00e4nomen zu beobachten, und zwar haupts\u00e4chlich wegen mangelnder \u00dcbung im indirekten Sehen. Doch nimmt Lipps f\u00fcr seine Beobachtungen vollkommene Sicherheit in Anspruch. Ich sehe, sagt derselbe, seit ich mich gew\u00f6hnt habe, darauf zu achten, des Abends von den Strafsenlaternen, wenn ich den Blick wegwende, \u00fcberall die\n1 S. diese Zeitschrift, Bd. I, S. 60 ff.","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie des r\u00e4umlichen Vorstellens etc.\n165\nbezeichneten leuchtenden Streifen ausgehen. \u201eIch habe eine bestimmte Vorstellung von ihrer L\u00e4nge und ihrem meist un-regelm\u00e4fsigen wellenf\u00f6rmigen, bei k\u00fcrzeren Augenbewegungen gelegentlich auffallend bogenf\u00f6rmigen Verlauf.\u201c\nDies alles fand ich durch eigene Beobachtungen best\u00e4tigt. Dabei ergab sich auch, dafs man in dem Falle, wo der Blick sich rasch einem leuchtenden, im Bereich des indirekten Sehens befindlichen Gegenst\u00e4nde zuwendet, einen Lichtstreifen im Sinne dieser Bewegung wahrnimmt. So sehe ich, wenn die Blickbewegung nach dem Gegenst\u00e4nde hin sich von rechts nach links vollzieht, auf der linken Seite desselben einen mehr oder weniger langen Lichtstreifen hervortreten, der bald wieder verschwindet. Indessen bietet sich mir die Erscheinung in diesem, wie in jenem Falle nur dann in einer auffallenden Weise dar, wenn das Zu- oder Wegwenden des Blickes verm\u00f6ge einer hinreichend raschen Bewegung des Kopfes geschieht.\nEs kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen, dafs man es in Ansehung dieser Lichtstreifen mit Nachbildern zu thun hat. Infolge der Blickbewegung wird eine Reihe von Netzhautstellen nacheinander gereizt, so dafs, wenn die Wirkung dieser Reize eine gewisse Zeit nachdauert, eine Reihe von Nachbildern sich entwickeln mufs. Es handelt sich hier also um eine Lokalisation positiver Nachbilder. Dies hat bereits E. Mach1 erkannt. Derselbe betrachtet den Streifen, der bei raschem Wegwenden des Blickes von einem Objekt in entgegengesetzter Richtung dieser Blickbewegung hervortritt, als das lokalisierte positive Nachbild des Objekts, freilich als ein falsch lokalisiertes Nachbild. Auch Lipps denkt im Hinblick auf diesen Streifen an eine falsche Nachbildlokalisation, die jedoch auf einer Urteilst\u00e4uschung beruhen soll, w\u00e4hrend Mach dahin gestellt l\u00e4fst, durch welche organische Einrichtungen des Auges diese falsche Lokalisation herbeigef\u00fchrt werde. Die Art und Weise, wie Lipps seine Ansicht zu begr\u00fcnden sucht, findet sich an dem bezeichneten Ort n\u00e4her dargelegt. Voraussetzung dieser Erkl\u00e4rung ist, wie Lipps selbst hervorhebt, dafs Bewegungsempfindungen des Auges mit der Einordnung der Gesichtseindr\u00fccke in das Sehfeld, also mit der Wahrnehmung der wechselseitigen Lage und Entfernung gleichzeitig gesehener\n1 Beitr\u00e4ge zur Analyse der Empfindungen, 1886.","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nC. S. Cornelius.\nObjekte nichts zu thun haben. Diese Voraussetzung soll nun, sofern sie zur Erkl\u00e4rung der in Eede stehenden Erscheinung erforderlich sei, durch die letztere eine Best\u00e4tigung finden.\nMeines Erachtens bietet die besagte Erscheinung durchaus nichts dar, was als triftiger Einwand gegen die Ansicht dienen k\u00f6nnte, nach welcher die Entstehung des Sehfeldes auf einer Association von Licht- und Bewegungsempfindungen des Auges beruht. Ist das Sehfeld auf solche Weise einmal entstanden, so bedarf es freilich keiner neuen Bewegungsempfindungen mehr, um die gegenseitige Lage und Entfernung gleichzeitig gesehener Objekte wahrzunehmen. Mag jene Nachbildlokalisation immerhin mit einer Urteilst\u00e4uschung Zusammenh\u00e4ngen: es folgt daraus nichts gegen die zuvor gedachte Theorie. Doch erachten wir es noch als sehr fraglich, ob in dem betreffenden Falle eine Urteilst\u00e4uschung stattfindet, namentlich eine Urteilst\u00e4uschung von der Art, wie sie Lipps nachzuweisen sucht.\nZuv\u00f6rderst steht es thats\u00e4chlich fest, dafs die Erscheinung jener Lichtstreifen bedingt ist von einer Bewegung des Kopfes bezw. der Augen. Auch scheinen noch besondere Bewegungen und Stellungen der Augen Einflufs zu haben. Wendet sich der Blick rasch nach einem leuchtenden Objekt hin, das im Bereich des indirekten Sehens sich befindet, so erscheint, wie bereits mitgeteilt wurde, ein Lichtstreifen auf der rechten oder linken Seite des Objekts, je nachdem die Blickbewegung von links nach rechts oder umgekehrt geschieht. Die Lokalisation der Nachbilder des Objekts vollzieht sich hier in einer Weise, wie man es im Hinblick auf die Lageverh\u00e4ltnisse der nacheinander entstehenden Netzhautbilder zu erwarten hat, was sich durch eine Zeichnung leicht veranschaulichen l\u00e4fst. Nun liegt allerdings auch die Erwartung nahe, dafs die Nachbilder eines leuchtenden Objekts, von dem der Blick sich rasch wegwendet, auf der Netzhaut des Auges in einer Reihenfolge auftreten, die zur Entwickelung eines Lichtstreifens in der Richtung der Blickbewegung Anlafs giebt. Da aber der Streifen wirklich in der entgegengesetzten Richtung hervortritt, so l\u00e4fst sich hier freilich von einer falschen Nachbildlokalisation reden. Indessen bietet sich uns die M\u00f6glichkeit dar, dafs das Auge, w\u00e4hrend der Blick sich rasch von dem Objekt wegwendet, bez\u00fcglich des letzteren eine Drehung","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie des r\u00e4umlichen Vorstellens etc.\n167\nvollzieht, welche zu einer Reihe von Nachbildern f\u00fchrt, deren Lokalisation den Streifen in der bezeichneten Richtung erscheinen l\u00e4fst. Bewegt sich der Kopf z. B. von unten nach oben von einem leuchtenden Objekt rasch hinweg, so wird infolge dieser Bewegung, an welcher die Augen sich nat\u00fcrlich beteiligen, auf der oberen H\u00e4lfte der Netzhaut ein Bild entstehen, dessen Projektion nach unten es mit sich bringt, dafs das Objekt um eine bestimmte Strecke nach unten zu r\u00fccken scheint.1 Findet nun alsbald jene Drehung der Augen statt, welche den Blick der aufw\u00e4rts gerichteten Bewegung des Kopfes und der Augen entgegen um einen gewissen Betrag abw\u00e4rts f\u00fchrt, so kann auf der Netzhaut eine Reihe von Nachbildern sich entwickeln, die unten von dem eben aktuellen Bilde des betreffenden Objekts begrenzt ist. Die Projektion dieser Nachbilder wird dann die Erscheinung eines unterhalb des Objekts befindlichen Lichtstreifens gew\u00e4hren, so dafs wir es hier doch nicht mit einer falschen Nachbildlokalisation zu thun haben. \u2014 Man m\u00f6ge ferner noch beachten, dafs, wenn der Kopf und mit ihm der Blick bez\u00fcglich eines leuchtenden Objekts, z. B. einer Strafsenlaterne, abw\u00e4rts gekehrt ist, bei raschem Heben des Kopfes ein Lichtstreifen oberhalb des Objekts erscheint, wogegen man, wenn der Blick bei abw\u00e4rts gesenktem Kopf infolge einer Drehung der Augen nach oben gerichtet ist, einen Lichtstreifen unterhalb des Objekts wahrnimmt, sobald der Kopf eine rasche Drehbewegung nach oben vollbringt.\nEs wurde bereits erw\u00e4hnt, dafs Lipps die Meinung hegt, Bewegungsempfindungen des Auges h\u00e4tten mit der Einordnung der Gesichtseindr\u00fccke in das Sehfeld nichts zu thun. Dagegen sollen Bewegungsempfindungen des Auges, wie auch solche des Kopfes den Mafsstab abgeben zur Abmessung der Verschiebungen, welche das ganze Sehfeld und jeder Punkt desselben innerhalb des uns umgebenden, als ruhend gedachten Gesamtraumes erleiden.2 Wir beurteilen nach der Gr\u00f6fse solcher\n1 Wir erinnern hier beil\u00e4ufig an das l\u00e4ngst bekannte und leicht zu erkl\u00e4rende Faktum, dafs ein vor den Augen in Ruhe befindliches Objekt, z. B, ein Finger, nach rechts oder links, nach oben oder unten zu r\u00fccken scheint, je nachdem der Kopf nach links oder rechts, nach unten oder oben, sich bewegt.\n* A. a. O. S. 64.","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nC. S. Cornelius.\nBewegungen oder erschliefsen aus ihr, wie es heilst, die Gr\u00f6fse des Weges, den unser Blick eben verm\u00f6ge dieser Bewegungen in dem ruhenden Baume zur\u00fccklegt.\nNach unserem Daf\u00fcrhalten n\u00f6tigen indes analytische, von der inneren Erfahrung ausgehende Erw\u00e4gungen, auch die Entstehung des Sehfeldes, sowie die Wahrnehmung der gegenseitigen Lage und Entfernung gleichzeitig gesehener Objekte, und endlich auch die Vorstellung des uns umgebenden, als ruhend gedachten Gesamtraumes auf Associationen von Licht-und Bewegungsemplindungen zur\u00fcckzuf\u00fchren. Nur auf diesem Wege d\u00fcrfte sich eine einheitliche, in sich wohl zusammenh\u00e4ngende Theorie des r\u00e4umlichen Vorstellens gewinnen lassen.\nIm Hinblick auf den Entwickelungsprozefs des r\u00e4umlichen Vorstellens gehen wir von dem Satze aus, dafs der Mensch lediglich durch die Empfindung mit der Aufsenwelt in Beziehung steht. Derselbe besitzt aber nicht eine urspr\u00fcngliche Empfindung der B\u00e4umlichkeit oder Ausdehnung der Sinnesorgane, mittelst deren wir zu r\u00e4umlichen Wahrnehmungen gelangen. Bekanntlich bat man in fr\u00fcherer Zeit nicht selten die Meinung ausgesprochen, dafs die Netzhaut ihre eigene Ausdehnung empfinde, oder dafs das Sensorium urspr\u00fcnglich bef\u00e4higt sei, die Ausdehnung der Netzhaut wahrzunehmen, wogegen dem Geh\u00f6rssinne die Empfindung des B\u00e4umlichen fast ganz fehle, weil er seine eigene Ausbreitung im Baume nicht empfinden k\u00f6nne. Freilich ist die Entwickelung unseres Eaum-vorstellens abh\u00e4ngig von der B\u00e4umlichkeit und sonstigen Beschaffenheit des betreffenden Organs, allein dieses Vorstellen beruht nicht auf einem unmittelbaren Bewufstsein der B\u00e4umlichkeit des Organs. Wir k\u00f6nnen jene Meinung als hinreichend widerlegt ansehen, wie auch die damit zusammenh\u00e4ngende Ansicht, wonach der Baum eine angeborene, der Erfahrung vorausgehende Form der Sinnlichkeit sein soll. Ebensowenig d\u00fcrfen wir uns im Hinblick auf die Entwickelung des r\u00e4umlichen Vorstellens die Annahme gestatten, dafs wir von unseren eigenen Bewegungen ein unmittelbares Bewufstsein haben und dazu einer sinnlichen Empfindung nicht bed\u00fcrfen. Ferner m\u00fcssen wir es als verkehrt bezeichnen, wenn man meint , die Anschauung der Ausdehnung sei zugleich eine Ausdehnung der Anschauung. Aus der Annahme, die Empfindung oder die Seele, welche empfindet, sei ausgedehnt, folgt keineswegs\u00ab dafs","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie des r\u00e4umlichen Vorstellens etc.\n169\nuns das Empfundene ausgedehnt erscheinen m\u00fcsse. 1 Indes liegt im Inhalt der einzelnen Empfindung nicht die geringste Hindeutung auf r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse, was auch von den sogenannten Bewegungsempfindungen gilt. Die Empfindung seihst ist ein rein intensiver Zustand. Das Vorstellen des R\u00e4umlichen kann nur hervorgehen aus einer Vielheit verschiedener Empfindungen, die verm\u00f6ge ihrer qualitativen Gegens\u00e4tze dergestalt miteinander in Wechselwirkung stehen, dafs sie in einer bestimmten Ordnung, die von der Art und Weise ihrer Verbindung abh\u00e4ngt, auseinander streben, ohne doch wirklich auseinander zu treten. Mit diesem Auseinanderstreben ist f\u00fcr das Vorstellen ohne weiteres ein Lokalisieren gegeben, so dafs das Vorgestellte des ganzen, hier in Betracht kommenden Komplexes als ein r\u00e4umlich Ausgebreitetes in einer bestimmten Ordnung des Zwischen- und Nebeneinander erscheinen mufs. Es ist durchaus nicht erforderlich, hier noch an einen besonderen Zug in der Natur der Seele zu denken, welcher sie, wie Lotze meint, zu der r\u00e4umlichen Form ihrer Auffassung bef\u00e4hige. Betrachtet man die Seele, wie es von Lotze geschieht, als ein einfaches Wesen, so ist sie eben wegen ihrer Einfachheit bef\u00e4higt und gen\u00f6tigt, eine Mehrheit qualitativ verschiedener Empfindungen, die also s\u00e4mtlich Zust\u00e4nde eines und desselben Wesens sind, in der Form eines kontinuierlichen Nebeneinander oder in r\u00e4umlicher Weise vorzustellen, falls dieselben verm\u00f6ge ihrer Verbindung innerhalb gewisser Grenzen zu gleichm\u00e4fsiger Klarheit emporgehoben in einer bestimmten Ordnung auseinander streben. Sieht man es als richtig an, dafs der Mensch lediglich durch die Empfindung mit der Aufsenwelt verkehrt und dafs die Empfindung als solche ein rein intensiver Zustand ist, so ist der Schlufs unabweislich, dafs die Auffassung der Aufsenwelt in r\u00e4umlicher Form nur auf der angedeuteten Wechselwirkung und Verbindung gewisser Empfindungen beruhen kann, wobei sich von der Frage nach der Existenz eines selbst\u00e4ndigen Seelenwesens zun\u00e4chst noch absehen l\u00e4fst. Eestzuhalten ist nur, dafs das r\u00e4umliche Vorstellen lediglich die Art und Weise oder die Form betrifft, in welcher bestimmte Empfindungen miteinander verbunden sind.\n1 S. des Yerf. Schrift: \u00dcber die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele, Halle 1875, S. 45 f.","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nC. S. Cornelius.\nWie nun die Entstehung des Sehfeldes mit Einschlufs der Tiefenwahrnehmung sich auf Associationen von Licht- und Bewegungsempfindungen zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4fst, habe ich in einigen fr\u00fcheren Schriften ausf\u00fchrlicher dargelegt.1 Ich gestatte mir, auf diese Schriften hinzuweisen und hier nur noch eine Reihe erg\u00e4nzender Bemerkungen folgen zu lassen.\nWas die Augenbewegungen anlangt, von welchen wir die Entstehung des Sehfeldes abh\u00e4ngig erachten, so sind dieselben zun\u00e4chst als v\u00f6llig unwillk\u00fcrliche Bewegungen anzusehen, die verm\u00f6ge \u00e4ufserer und innerer Reize, welche die betreffenden Muskeln erregen, auf analoge Weise entstehen, wie die Bewegungen verschiedener anderer Glieder unseres Leibes. Indem aber jene Erregung die in Rede stehende Bewegung bedingt, veranlafst sie andererseits noch einen psychischen Zustand, n\u00e4mlich die sogenannte Muskelempfindung.\nMan weifs nun, dafs neugeborene Menschen h\u00e4ufig asymmetrische und inkoordinierte Augenbewegungen vollziehen, und dafs erst allm\u00e4hlich eine Ausscheidung der \u00fcberfl\u00fcssigen und damit eine Bevorzugung der zum deutlichen Sehen mit beiden Augen erforderlichen Bewegungen stattfindet.2 Es verh\u00e4lt sich hier, bemerkt Preyer, ebenso wie mit den Bewegungen der Beine zur Zeit des Gehenlernens. Die ungeordneten Bewegungen werden allm\u00e4hlich immer seltener und von den koordinierten werden schliefslich die brauchbarsten, welche mit dem Minimum von Anstrengung am meisten leisten, beibehalten. \u2014 Ferner ist bekannt, dafs Reugeborene den Bewegungen eines kleinen hellen Gegenstandes, der ihnen vorgehalten wird, nicht folgen. Erst nach Verlauf einer gewissen Zeit3 findet ein Umherblicken durch Bewegungen der Aug\u00e4pfel und ein sog. Fixieren eines hellen Objekts, z. B. einer vorgehaltenen Kerzenflamme statt. Dieses Fixieren, das keineswegs als ein willk\u00fcrliches angesehen werden darf, h\u00f6rt auf, sobald\n1 Theorie des Sehens und r\u00e4umlichen Vorstellens, S. 513\u2014623, und Zur Theorie des Sehens, Halle 1864. \u2014 Vgl. auch Volkmann von Volkmar: Lehrbuch der Psychologie, 1885, Bd. II, S. 1\u2014157.\n* Vergl. E. R\u00e4hlmann und L. Witkowski: Archiv f\u00fcr Anatomie und Physiologie, herausgegeben von E. du Bois-Keymond, Physiol. Abteilung, Jahrg. 1887, S. 454 ff. \u2014 W. Preyer: Die Seele des Kindes, S. 25 ff.\n3 Nach Beobachtungen von Cuignet am 20. Tage : Annales d\u2019oculistique, Tome LXVI. \u2014 A. Genzmer: Untersuchungen \u00fcber die Sinneswahrnehmungen des neugeborenen Menschen. Halle 1873.","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie des r\u00e4umlichen Vorstellens etc-\n171\nman die Kerze etwas seitw\u00e4rts verschiebt, und beginnt erst wieder, wenn dieselbe in der Sehlinie zur\u00fcckgebracht wird. Das Kind sieht nur, wie es heilst, mit der macula lutea und hat noch kein peripherisches Gesichtsfeld. Zwar wenden Neugeborene nicht selten den Kopf einem milden Licht zu, wobei jedoch an ein willk\u00fcrliches Wenden des Kopfes und des Blickes noch nicht zu denken ist. Sp\u00e4terhin, nach etwa drei Monaten, fixiert das Kind sicher und folgt bewegten Gegenst\u00e4nden mit den Augen.\nWir denken nun hinsichtlich der Entstehung des Sehfeldes zuv\u00f6rderst an geordnete Augenbewegungen, die sich noch innerhalb relativ enger Grenzen vollziehen, unter Bezugnahme auf Lichtreize, welche den centralen Teil der Netzhaut, die macula lutea oder den gelben Fleck treffen. Von hier aus beginnt die r\u00e4umliche Orientierung, insofern das Auge bez\u00fcglich der Objekte, die sich daselbst abbilden, zuerst eine gewisse Fertigkeit im richtigen Einstellen und Fixieren, sowie einen h\u00f6heren Grad der Beweglichkeit gewinnt. Dabei kommt jedoch die macula lutea nicht sowohl als Inbegriff der empfindlichsten Netzhautpunkte in Betracht, sondern vielmehr wegen des Umstandes, dafs sie eine feine Mosaik erregbarer Stellen darbietet, die es vielleicht mit sich bringt, dafs jede Drehung des Auges, durch welche das Bild eines Lichtpunktes von einem Z\u00e4pfchen zu einem n\u00e4chsten bewegt wird, schon eine eigent\u00fcmliche Muskelempfindung bedingt. Die mit den verschiedenen Drehbewegungen der Augen verkn\u00fcpften Muskelempfindungen bilden aber, indem sie sich mit den Lichtempfindungen associieren, zusammen ein Beihengewebe und damit ein fl\u00e4chenhaftes Sehfeld, dem zun\u00e4chst noch eine verh\u00e4ltnism\u00e4fsig geringe Ausdehnung eignen wird. Sp\u00e4ter vollbringen die Augen ausgedehntere und zwar geordnete Bewegungen, veranlafst durch Lichtreize, welche weiter seitlich gelegene Stellen der Netzhaut erregen und zum Teil auch die die macula lutea erregenden Beize an Intensit\u00e4t \u00fcbertrefien. Es entstehen nun auch l\u00e4ngere Beihen von Muskelempfindungen, indem die peripherischen Bilder durch jene Bewegungen der Netzhautmitte zugef\u00fchrt werden. Weiterhin kn\u00fcpft sich dann an die Erregung eines peripherischen Netzhautpunktes infolge einer Beproduktion der betreffenden Muskelempfindungen eine Bewegungstendenz, welche das auf den Punkt fallende Bild nach dem centralen","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nC. S. Cornelius.\nTeil der Netzhaut hinzuf\u00fchren sucht. Die reproduzierten Muskelempfindungen, welche sich verm\u00f6ge fr\u00fcherer Bewegungen der Augen und auch des Kopfes erzeugten, bestimmen die Gr\u00f6fse der Drehung, die das Auge zu vollziehen hat, um ein peripherisches Bild mit einem Minimum von Anstrengung auf die Stelle des deutlichsten Sehens zu bringen. \u2014 Haben die Systeme von Muskelempfindungen, von welchen die Entstehung des Sehfeldes abh\u00e4ngt, infolge einer Wiederholung geordneter Augenbewegungen eine gewisse Festigkeit gewonnen, so werden dieselben auf die ferneren Augenbewegungen einen regulierenden Einflufs aus\u00fcben. Beil\u00e4ufig sei hier im Hinblick auf die sogenannten identischen oder korrespondierenden Netzhautstellen bemerkt, dafs wir darunter solche Stellen verstehen, deren Erregung in beiden Augen dieselben Systeme von Muskelempfindungen reproduziert.1\nZu den Wahrnehmungen im fi\u00e4chenhaften Sehfelde gesellen sich weiterhin die Tiefendimension betreffende, und zwar nicht etwa blofs mittelst des Tastorgans, sondern auch verm\u00f6ge des Gesichtssinnes. Wir k\u00f6nnen der Meinung nicht zustimmen, dafs die Einf\u00fchrung der Tiefendimension in unser r\u00e4umliches Vorstellen das Produkt eines vom Inhalt einer Wahrnehmung unabh\u00e4ngigen Urteils sei. Man k\u00f6nnte ebensogut annehmen, dafs das Vorstellen des Abstandes zweier Objekte im fl\u00e4chenhaften Sehfelde das Produkt eines solchen Urteils sei. Urteile und Sch\u00e4tzungen machen sich zwar in R\u00fccksicht der Tiefendimension vielfach geltend, aber erst, nachdem die Vorstellung dieser Dimension \u00fcberhaupt auf Grund bestimmter Wahrnehmungen sich entwickelt hat.\nTh. Lipps2 suchte freilich darzuthun, dafs es eine Tiefenwahrnehmung nicht giebt. Niemand wisse anzugeben, worin diese Wahrnehmung bestehe, d. h. welchen Inhalt sie habe. \u201eWenn ein Objekt a in irgend einer Entfernung von einem anderen Objekt b wahrgenommen werden soll, so mufs doch neben dem a erstlich das b, und zweitens die Entfernung zwischen beiden wahrgenommen werden.\u201c Nun sehe man aber das Auge und insonderheit die Netzhaut weder urspr\u00fcnglich noch jetzt, also k\u00f6nne man auch nichts in irgend einer\n1\tZur Theorie des Sehens. S. 54.\n2\tGrundthatsachen des Seelenlebens, Bonn 1883, S. 548 ff. Psychologische Studien, Heidelberg 1885, S. 61 ff.","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie des r\u00e4umlichen Vorstellens etc.\n173\nEntfernung vom Auge oder von der Netzhaut sehen. Nicht besser stehe es mit der Entfernung seihst. Entfernung zwischen zwei Objekten sei nicht etwas den Objekten seihst Anhaftendes, sondern ein drittes, von den Objekten Unabh\u00e4ngiges und Dazwischenliegendes. \u201eMan sieht zwei Objekte genau soweit voneinander entfernt, als die Gr\u00f6fse des Zwischenliegenden betr\u00e4gt, das man auf dem Wege von einem zum anderen wahrnimmt. Was nun bietet sich unserer Wahrnehmung zwischen Auge und Objekt ? Sollen wir den Gegenstand, auch wo nichts Wahrnehmbares den Kaum zwischen Auge und Gegenstand f\u00fcllt, in einer gewissen Entfernung vom Auge sehen, so bleibt nur \u00fcbrig, dafs der leere Kaum dasjenige ist, was zwischen Auge und Gegenstand gesehen wird. Dafs aber der Raum ohne irgend welche Qualit\u00e4t des Sichtbaren unsichtbar ist, wird wohl niemand leugnen.\u201c Demnach sei es aus doppeltem Grunde nichts mit der Wahrnehmung der Entfernung vom Auge.\nLipps meint also, man k\u00f6nne nichts in irgend einer Entfernung vom Auge oder von der Netzhaut sehen, weil wir weder das Auge noch die Netzhaut sehen k\u00f6nnen. Dieser Einwand trifft nicht im geringsten die M\u00f6glichkeit der Tiefenwahrnehmung. Dabei ist an ein Gesichtsbild des Auges zun\u00e4chst gar nicht zu denken. Man nehme statt des Auges irgend ein anderes Glied unseres Leibes, das der Auffassung durch das Auge zug\u00e4nglich ist, z. B. die Hand oder den Fufs. Das Gesichtsbild dieses Gliedes kann dann in Anbetracht der Objekte, die sich in gewissen Entfernungen von uns befinden, als Beziehungspunkt dienen. Doch werden die \u00e4ufseren Gesichtsobjekte, da die von ihnen herr\u00fchrenden Lichteindr\u00fccke unter gew\u00f6hnlichen Umst\u00e4nden mit dem \u00d6ffnen und Schliefsen der Augen kommen und schwinden, schon fr\u00fchzeitig eine Beziehung zu denselben erlangen, zumal wenn wir mittelst des Tastorgans von unseren Augen und anderen Teilen unseres Leibes bereits gewisse Wahrnehmungsbilder gewonnen haben. \u00dcbrigens erachten wir es als sehr wohl m\u00f6glich, dafs bestimmte Distanz Vorstellungen, welche die Tiefendimension betreffen, sich verm\u00f6ge des Gesichtssinnes schon entwickeln, noch ehe ein deutliches Gesichtsbild unseres Leibes oder einzelner Glieder desselben zu Stande gekommen ist. \u2014 Was den leeren Raum zwischen dem Auge und einem \u00e4ufseren Gesichtsobjekt anlangt, so ist derselbe aller-","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nC. S. Cornelius.\ndings nicht in der Weise sichtbar, wie das durch einen geschlossenen Komplex von Lichtempfindungen gegebene Objekt ; allein wir haben doch eine Vorstellung dieses Saumes, als einer bestimmten Ordnung des Zwischen- und Nebeneinander, f\u00fcr die irgend welche Qualit\u00e4ten des Sichtbaren nicht mehr von Belang sind. \u2014 Wenn ferner gesagt wird, die Entfernung zwischen zwei Objekten sei nicht etwas den Objekten selbst Anhaftendes oder Eigent\u00fcmliches, so stimmen wir dem vollst\u00e4ndig bei. Die Beziehung, welche hier zwischen beiden Objekten besteht, ist lediglich Sache eines zusammenfassenden, durch den Gesichtssinn vermittelten Vorstellens, verm\u00f6ge dessen beide Objekte gleichzeitig in einem gewissen Abstande voneinander vorgestellt werden.\nLipps1 kommt schliefslich zu dem Ergebnis, dafs die Tiefenwahrnehmung, da sie an sich nichts sei, auch auf keine Weise zu Stande kommen k\u00f6nne. Es lasse sich nur von einem gedanklichen Tiefenbewufstsein reden, \u00fcber dessen Entstehung eine Andeutung gegeben wird. Man vergegenw\u00e4rtige sich n\u00e4mlich zwei Gegenst\u00e4nde, die sich so hintereinander befinden, dafs der dem Auge fernere hinter dem weniger entfernten teilweise oder eben vollst\u00e4ndig hervortritt. \u201eZwischen den aneinander stofsenden R\u00e4ndern der beiden Gesichtsbilder befindet sich f\u00fcr die Wahrnehmung nichts. Wir wissen aber, dafs ein Abstand dazwischen liegt. Wir wissen es, weil wir den Abstand bei anderer Stellung gesehen haben, und weil wir in mannigfacher Erfahrung r\u00e4umliche Gr\u00f6fsen als objektiv, von unserem Wahrnehmen und seinen Bedingungen unabh\u00e4ngig bestehend betrachten gelernt haben.\u201c Damit soll die Frage nach der Entstehung des Bewufstseins der dritten Dimension im Prinzip vollst\u00e4ndig beantwortet sein. Das Bewufstsein dieser Dimension ist, wie es weiter heifst, lediglich Gedanke, \u00dcberzeugung, Wissen, nicht Wahrnehmung, auch nicht Vorstellung. Wie f\u00fcr die Wahrnehmung, so sei f\u00fcr die Phantasievorstellung der leere Raum nichts. \u201eEhe Tiefe ist so wenig ein m\u00f6gliches Vorstellungsbild als ein m\u00f6gliches Wahrnehmungsbild. Wie niemals jemand etwas von einer dritten Dimension gesehen hat, so hat niemals jemand etwas dergleichen vorgestellt.\u201c\nIn dem zuvor angef\u00fchrtem Falle soll also das Wissen von\n1 Psychologische Studien, S. 71 f., S. 83 ff.","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie des r\u00e4umlichen Vorstellens etc.\n175\neinem Abstande zwischen den beiden hintereinander befindlichen Objekten darauf beruhen, dafs man den Abstand bei anderer Stellung gesehen hat. Gemeint ist damit wahrscheinlich die Stellung, worin uns beide Objekte in der Sehfeldfl\u00e4che erscheinen. Bieten sich uns also zwei Objekte, zwischen welchen ein leerer Raum befindlich ist, nebeneinander dar, so sieht man ihren Abstand. Damit ist aber unseres Erachtens die M\u00f6glichkeit zugestanden, dafs man auch den Abstand der Gesichtsobjekte von uns selbst wahrnehmen kann. Der leere Raum bietet hier kein gr\u00f6fseres Hindernis als dort. Lipps selbst findet es ja nicht ausgeschlossen, dafs wir gewisse Entfernungen von uns recht wohl wahrnehmen. \u201eIch sehe, wenn ich meinen Blick so richte, dafs er zugleich meinen Fufs und einen in irgend welcher Entfernung davon am Boden liegenden Gegenstand umfafst, die Entfernung dieses Gegenstandes von meinem Fufse, also von mir. Aber diese Entfernung bildet dann notwendig einen Bestandteil des fl\u00e4chenhaften Sehfeldes, dem nun einmal alles angeh\u00f6rt, was ich gleichzeitig sehe.\u201c Es wird hier also von Lipps anerkannt, dafs es eine gewisse Tiefenwahrnehmung giebt; derselbe leugnet aber die Wahrnehmung der Tiefe insofern, als man darunter eine aufserhalb der Sehfeldfl\u00e4che fallende Entfernung versteht. Dies letztere kann jedoch nach dem Vorstehenden nicht die Tiefen Wahrnehmung als solche, sondern eigentlich nur die Schwierigkeiten treffen, die sich hinsichtlich der Erkl\u00e4rung dieser Wahrnehmung erheben, da die Netzhautbilder der \u00e4ufseren Objekte, wie es scheint, nur zur Entfaltung eines rein fl\u00e4chenhaften Sehfeldes f\u00fchren. Nach unserem Ermessen steht die Tiefenwahrnehmung thats\u00e4chlich fest. Wir finden uns gen\u00f6tigt, auch in Anbetracht der Tiefendimension an eine Wahrnehmung zu denken, die freilich nicht unmittelbar sich vollzieht, sondern aus einer Association von Lichtempfindungen und bestimmten Muskelempfindungen hervorgeht.\nEs ist zu erwarten, dafs Kinder verh\u00e4ltnism\u00e4fsig fr\u00fchzeitig zur Auffassung vertikaler und auch horizontaler Fl\u00e4chen ver-anlafst werden. Beiderlei Fl\u00e4chen, die horizontale wie die vertikale, bilden sich auf der Netzhaut des Auges ab, und gewinnen im Vorstellen die Beziehung auf ein Rechts und Links in derselben Weise, n\u00e4mlich durch die Bewegungen des Auges nach rechts und links. Anders verh\u00e4lt es sich dagegen mit der\n12\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie II.","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nC. S. Cornelius.\nTiefendimension einer horizontalen Fl\u00e4che, auf welche das Auge herabblickt. Zum Wahrnehmen der verschiedenen Teile einer horizontalen Strecke, welche der Tiefendimension entspricht, sind zum Teil andere muskul\u00e4re Th\u00e4tigkeiten des Auges erforderlich als in jenem Falle. Wir meinen hier namentlich die \u00c4nderungen der Accommodation und Sehaxenconvergenz, und nebenbei noch die wechselnden Hebungen und Senkungen des Blickes. Diese \u00c4nderungen vollziehen sich zun\u00e4chst durch eine reflektorische Erregung von seiten der Netzhaut und kommen hier, was das deutliche Wahrnehmen der verschiedenen Teile jener Strecke betrifft, insofern in Betracht, als sie die Lichtoder Farbenempfindung beim Hingleiten des Blickes l\u00e4ngs der Strecke bestimmter hervortreten lassen. Die aus diesen \u00c4nderungen entspringenden Muskelempfindungen bilden aber infolge ihrer Verbindung eine Baumreihe, welche die Tiefendimension in das Sehfeld einf\u00fchrt oder das Vorstellen aus der Sehfeldfl\u00e4che herausf\u00fchrt. Es verh\u00e4lt sich hier auf analoge Weise wie beim Tastsinne. Das Kind f\u00e4hrt anf\u00e4nglich mit seinen Armen unbestimmt umher und ber\u00fchrt dabei unwillk\u00fcrlich diesen oder jenen Teil seines Leibes. Trifft nun die Hand, nachdem sie einen Teil des Leibes, etwa das Gesicht ber\u00fchrt hat, zuf\u00e4llig ein \u00e4ufseres Objekt, und bewegt sich dieselbe dann zwischen dem Leibe und dem Objekt hin und her, so entsteht w\u00e4hrend der Bewegung des Armes eine stetige Reihe von Muskelempfindungen, die sich zwischen die Wahrnehmung des Leibes und das Tastbild des Objekts einschiebt und somit beide Wahrnehmungen im Vorstellen auseinander h\u00e4lt. In \u00e4hnlicher Weise wird das Gesichtsbild eines \u00e4ufseren Objekts verm\u00f6ge einer Reihe von Muskelempfindungen als in einer gewissen Entfernung von uns befindlich vorgestellt.\nDie Glieder der oben bezeichneten Reihe von Muskelempfindungen, welche bei dem Hingleiten des Blickes l\u00e4ngs einer horizontalen Strecke, z. B. des Fufsbodens, entsteht, sind nun mit den von dieser Strecke herr\u00fchrenden Lichtempfindungen associirt, so dafs die Seele des Kindes zun\u00e4chst mittelst sichtbarer Strecken zu gewissen Distanzvorstellungen gelangt. Die hierbei gewonnenen Erfahrungen machen sich denn weiterhin auch in Ansehung solcher Distanzen geltend, welche sich nicht als Lichtstrecken auf der Netzhaut des Auges darstellen. Nachdem sich einmal zwischen den Muskelempfindungen, welche aus-","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Zw Theorie des r\u00e4umlichen Vorstellens etc.\n177\nder Accommodation und Sehaxenconvergenz hervorgehen, und bestimmten, zun\u00e4chst sichtbaren Distanzen gewisse Associationen gebildet haben, m\u00fcssen dieselben auch dann noch sich wirksam erweisen, wenn die Entfernungen der Gegenst\u00e4nde von uns keine Komplexe von Lichtempfindungen darbieten, also sogenannte leere Distanzen sind. Obschon die Auffassung der Tiefendimension zuv\u00f6rderst auf einer Association von Licht-und Muskelempfindungen beruht, so wird es doch sehr bald zum Vorstellen leerer Strecken kommen. Dasselbe ist hier ebenso wie in Anbetracht des fl\u00e4chenhaften Sehfeldes durch Reihen blofser Muskelempfindungen bedingt. \u00dcberall, wo der \u00dcbergang des Blickes von einem Objekt zu anderen durch Reihen von Muskelempfindungen, ohne damit associirte Lichtoder Farbenempfindungen, geschieht, erscheinen uns die betreffenden Objekte, die infolge geschlossener Empfindungskomplexe als r\u00e4umlich begrenzte vorgestellt werden, durch leere Raumstrecken voneinander getrennt. Wegen des Unbestimmten, Gef\u00fchlartigen, was dem Inhalt der Muskelempfindungen anhaftet, sind dieselben zur Herstellung eines leeren Raumschemas besonders geeignet. Dies Gef\u00fchlartige schliefst indes das Vorhandensein feiner qualitativer Abstufungen zwischen den genannten Empfindungen keineswegs aus.\nNach dem Vorstehenden ist das r\u00e4umliche Vorstellen eines jeden Objekts mit einem System leerer Raumreihen verbunden, die sich von dem Objekt aus nach allen m\u00f6glichen Richtungen zu anderen Objekten erstrecken. Der im Vorstellen nach allen Seiten m\u00f6gliche \u00dcbergang von einem Objekt zu anderen Objekten ist uns im Bewufstsein gegenw\u00e4rtig als der leere Umgebungsraum, welcher sich an die Vorstellung eines jeden r\u00e4umlich geschlossenen Objekts kn\u00fcpft, und der sich f\u00fcr eine Mehrheit von Objekten, die in der Wahrnehmung zusammen-gefafst werden, zu einem gr\u00f6fseren gemeinsamen Umgebungsraume er\u00f6ffnet. Dieser Raum gewinnt denn auf solche Weise allm\u00e4hlich immer mehr an Ausdehnung, wozu auch die Bewegung der \u00e4ufseren Objekte und des eigenen Leibes beitr\u00e4gt. Hat sich der Mensch bereits vielfach umher bewegt, so erscheint ihm die Bewegung, was ihre formale Seite angeht, schliefslich als ein Vorgang, der unaufh\u00f6rlich fortgesetzt werden kann. Dieser Gedanke \u00fcbertr\u00e4gt sich beim Sehenden auf die Bewegung irgend eines \u00e4ufseren Objekts, das infolge seiner\n12*","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nC. S. Cornelius.\nBewegung dem Blicke allm\u00e4hlich entschwindet. Hiermit ist aber eine Erweiterung der bereits gewonnenen Raum Vorstellung \u00fcber jede Grenze hinaus gegeben. Man wird sich der Unendlichkeit des Raumes bewufst, was zun\u00e4chst nur bedeutet, dafs hier jede Grenze als eine solche erscheint, die sofort \u00fcberschritten werden, oder f\u00fcr eine weitere Eortschreitung als Anfangsglied dienen kann. Demnach ist die Vorstellung des leeren Raumes, worin uns alle sichtbaren und f\u00fchlbaren Gegenst\u00e4nde erscheinen, kein urspr\u00fcngliches Besitztum der Seele, sondern das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses. \u2014\n\"Wenn in den obigen Betrachtungen von einem Hingleiten des Blickes l\u00e4ngs einer Fl\u00e4che oder Strecke die Rede ist, so darf dabei selbstverst\u00e4ndlich nicht an das Vorhandensein einer Vorstellung der Fl\u00e4che bezw. Strecke gedacht werden. Hat das r\u00e4umliche Vorstellen schon einen gewissen Grad der Ausbildung erreicht, so ist allerdings bei dem Hin- und Herlaufen des Blickes l\u00e4ngs einer Fl\u00e4che stets ein psychisches Gesamtbild derselben gegenw\u00e4rtig. Dahingegen wird beim Entstehen des Sehfeldes, wenn das Auge des Kindes auf eine Fl\u00e4che gerichtet ist, zun\u00e4chst nur eine Licht- oder Farbenempfindung ausgel\u00f6st, die sich weiterhin w\u00e4hrend der Bewegung des Blickes mit den Muskelempfindungen des Auges associiert. Diese Empfindungen entstehen, wie wir bereits andeuteten, infolge einer Erregung oder Innervation der betreffenden Muskeln, welche andererseits auch die Bewegungen des Auges bedingt. Doch wird diese Innervation selbst nicht unmittelbar empfunden; dieselbe veranlafst nur eine Nervenerregung in centripetaler Richtung, eine Nervenerregung, durch welche der psychische Zustand, den wir Muskelempfindung nennen, ausgel\u00f6st wird. Wie aber die Bewegungen des Auges anf\u00e4nglich ohne jeglichen Willensimpuls erfolgen, so hat auch die Seele des Kindes zun\u00e4chst noch nicht ein Bewufstsein oder eine Vorstellung von diesen Bewegungen, wie auch nicht von den Bewegungen anderer, aufserhalb des eigenen Leibes befindlicher Objekte; daher denn, was die Entstehung des Sehfeldes betrifft, nicht wohl von Bewegungsvorstellungen die Rede sein kann. Obschon die wirkliche Bewegung der \u00e4ufseren Gesichtsobjekte einen nicht zu verkennenden Einflufs auf die Ausbildung des r\u00e4umlichen Vorstellens hat, so tritt doch die Vorstellung dieser Bewegung, wie sich nachweisen l\u00e4fst, erst hervor, nach-","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie des r\u00e4umlichen Vorstellens etc.\n179\ndem bereits bestimmte Baumreihen sieb entfaltet haben, oder nachdem das Sehfeld \u00fcberhaupt zu Stande gekommen ist. Diese Vorstellung macht sich dann auch bald in der Form des Begehrens und weiterhin des Wollens geltend. Es entstehen Muskelinnervationen von seiten der Begierde oder des AVillens und somit willk\u00fcrliche Bewegungen, die f\u00fcr die weitere Entwickelung des r\u00e4umlichen Vorstellens eine nachweisbare Bedeutung haben.","page":179}],"identifier":"lit14375","issued":"1891","language":"de","pages":"164-179","startpages":"164","title":"Zur Theorie des r\u00e4umlichen Vorstellens mit R\u00fccksicht auf eine Nachbildlokalisation","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:14:32.332771+00:00"}