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{"created":"2022-01-31T14:47:07.508753+00:00","id":"lit14436","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Liepmann","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2: 316-321","fulltext":[{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nLitteraturbericht.\nW. Wundt. Zur Lehre von den Gem\u00fctsbewegungen. Philos. Studien.\nVI (1890). S. 335\u2014393.\nDie Arbeit bringt mehr als der Titel erwarten l\u00e4fst. Die Behandlung des besonderen Gegenstandes f\u00fchrt den Verfasser auf einige Kernfragen der Psychologie.\nWundt hat, wie kein Zweiter in Deutschland, sein Lebenswerk darin gesucht, die Psychologie von metaphysischen Voraussetzungen zu befreien und sie einerseits auf Analyse der Bewufstseinsvorg\u00e4nge zu beschr\u00e4nken, andererseits ihr Methoden und Ergebnisse der exakten Naturwissenschaften zuzuf\u00fchren, Unter derselben Plagge nun, unter welcher er selbst die alte Seelenlehre bek\u00e4mpft hat, erheben sich neuerdings Bestrebungen, wenn auch nicht direkt auf ihn abgezielt, so doch gegen einen Standpunkt, als dessen hervorragendsten Vertreter er sich ansehen darf. Wieder sind: Ablehnung des Transcendenten, strenge Empirie, weitgehende Verwertung der physiologischen Forschung, die Losungsworte, mit welchen gegen eine von ihm gehegte Auffassung der seelischen Erscheinungen gestritten und \u00fcber sie hinausgedr\u00e4ngt wird.\nDem gegen\u00fcber nimmt W. bei der vorliegenden Er\u00f6rterung eines Spezialthemas Gelegenheit, seinen Standpunkt noch einmal klarzulegen, zu verteidigen und gewissermafsen die Grenzen zu ziehen, bei denen ihm die Abwehr der alten spekulativen Psychologie in einen \u00fcber das Ziel hinausschiefsenden pseudo-empiristisohen Kadikalismus \u00fcberzugehen scheint.\nMag man den Ausf\u00fchrungen Wundts durchweg beistimmen oder nicht, \u2014 in jedem Fall darf der Warnruf des Altmeisters der physiologischen Psychologie in Deutschland eingehendster Beachtung sicher sein.\nUnter I: \u201eTerminologische Vorfragen\u201c giebt W. lehrreiche Mitteilungen \u00fcber die Entwickelung des Sinnes der Wortpaare: Geist \u2014 Gem\u00fct, Empfindung \u2014 Gef\u00fchl, Affekt \u2014 Leidenschaft, Begehren \u2014 Trieb, und ihre Bedeutung in der heutigen Psychologie.\nDer II. Abschnitt befafst sich mit dem Gef\u00fchl und Affekt. Un-gemein treffend werden die als \u201eintellektualistisch\u201c vom Verfasser gebrandmarkten Versuche zur\u00fcckgewiesen, Vorg\u00e4nge, welche ihrer unmittelbaren Beschaffenheit nach jeder Beschreibung unzug\u00e4nglich sind, wie die Gef\u00fchle, durch Reflexionen \u00fcber die Bedingungen ihres Zustandekommens in intellektuelle Prozesse umzugiefsen und so, statt dieselben als Thatsachen zu buchen, sich die Scheinbefriedigung eines logischen Bed\u00fcrfnisses durch Pseudodefinitionen und Pseudodeduktionen zu erschleichen. W. zeigt, wie nicht nur Spinoza und Locke diesem Fehler mit ihren Zirkeldefinitionen der Affekte verfallen sind, sondern wie im Grunde auch die Lehre Herbarts, ja einzelne Aufstellungen Lotzes auf diese intellektualistische Umdeutung hinauslaufen.\nEs folgt nun die Kritik der ausschliefslich physiologischen Erkl\u00e4rungsversuche der Gem\u00fctsbewegungen, des Standpunktes also, welcher mit dem Aufweis des physischen Substrates zu einem seelischen Prozefs \u201edas Gesch\u00e4ft der wissenschaftlichen Erkl\u00e4rung f\u00fcr ersch\u00f6pft h\u00e4lt\u201c, und damit eine jener prinzipiellen Auseinandersetzungen, auf welche in den einleitenden Bemerkungen des Referats hingedeutet wurde.","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n317\nAn einem der j\u00fcngsten Versuche dieser Art, C. Lances Arbeit \u201e\u00dcber Gem\u00fctsbewegungen\u201c (1887) pr\u00fcft W. die Berechtigung dieses Standpunktes.\nIndem Lange jede Bechenschaft \u00fcber den psychischen Thathestand als spekulativ verwerfe, und die Aufgabe der Analyse des Affektes lediglich im Aufweis der physiologischen Begleiterscheinungen suchet gelange er zu absurden Ergebnissen, unter anderem zu einer intimen Verwandtschaft von Freude und Zorn. Es sei ebenso einseitig, von den inneren Wahrnehmungen zu ahtrahieren, wie von den begleitenden physischen Prozessen, um so mehr, als letztere vielfach lediglich Sache hypothetischer Konstruktion seien. Der gesamten bisherigen Psychologie werfe Lange vor, sie nehme eine Wirkung der Seele auf den K\u00f6rper an; er seihst tr\u00fcge aber kein Bedenken, umgekehrt k\u00f6rperliche Bewegungen psychische Vorg\u00e4nge erzeugen zu lassen. Beides sei aber gleich verwerflich. L. f\u00fchrt f\u00fcr sich an, dafs Gem\u00fctsbewegungen durch k\u00f6rperliche Mittel erzeugt und ged\u00e4mpft werden k\u00f6nnen. Indes, erwidert W., k\u00f6nnte man nicht mit gleichem Bechte sagen, dafs seelische Erlebnisse Ver\u00e4nderungen der Gef\u00e4fsinnervation verursachen? Oder will man etwa annehmen, dafs das zugerufene Wort, welches etwa einen Menschen in Wut versetzt, als blofser akustischer Beiz den Erfolg reflektorisch herbeif\u00fchrt? Aber warum hat ein anderer ganz \u00e4hnlicher Beiz gar keine Wirkung? Hier zeigt sich, dafs die bestimmte zum Erfolg erforderliche Qualit\u00e4t des Beizes sich \u201evorl\u00e4ufig nur nach ihren psychischen Eigenschaften und Wirkungen definieren l\u00e4fst.\u201c\nDaher stellt W. folgendes dem LANGESchen Standpunkt entgegen. Affekt ist ein psychologischer Thathestand, als solcher mufs er vor allen Dingen nach seinen der inneren Wahrnehmung gegebenen Eigenschaften betrachtet werden, wonach auch allein der Begriff sich scharf abgr\u00e4nzen l\u00e4fst. Daneben ist die Feststellung der begleitenden Innervations\u00e4nderungen und Ausdrucksbewegungen sehr verdienstlich. Aber eins aus dem anderen darf nicht abgeleitet werden.\nDem wichtigen LANGESchen Satz : \u201eMan nehme die physischen Begleiterscheinungen des Affektes weg, und der Affekt seihst verschwindet\u201c stellt er den ebenso wichtigen Satz \u2022 gegen\u00fcber : \u201eMan nehme die psychischen Erscheinungen des Affektes hinweg, und der Affekt selber verschwindet.\u201c Beide S\u00e4tze sprechen nicht f\u00fcr die alleinige Bechtm\u00e4fsigkeit einer rein physiologischen oder rein psychologischen Theorie.\nAus diesen Erw\u00e4gungen resultiert die Aufgabe, vor allem die Affekte .zu beschreiben. Von dem Ganzen unserer inneren Wahrnehmungen trennen wir den auf Objekte bezogenen Teil ab als Vorstellungen. Unter den zur\u00fcckbleibenden subjektiven Zust\u00e4nden unterscheiden wir solche, hei denen eine merkliche B\u00fcckwirkung auf den Verlauf der Vorstellungen nicht statt hat, als Gef\u00fchle von denen, hei welchen diese B\u00fcckwirkung sich findet, den Affekten. In jeden Affekt gehen Gef\u00fchle als Bestandteile ein; nicht jedes Gef\u00fchl aber f\u00fchrt zum Affekt. Dazu kommen die sich an den Affekt anschliefsenden, erheblich st\u00e4rkeren physischen Begleiterscheinungen. Das Gef\u00fchl ist also das Einfachere, der Empfindung Analoge. Der Versuch ein Gef\u00fchl zu definieren f\u00fchrt immer nur auf","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nLitteraturbericht.\nBeschreibung der Entstehungsbedingungen und Reflexionen, welche es in uns anregt. Ist das auch, wie gezeigt, keine strenge Definition, so doch das einzige Mittel, Anderen mitzuteilen was in uns vorgeht.\nDie h\u00f6heren Gef\u00fchle sind nicht selbst zusammengesetzt, sondern nur ihre Entstehungshedingungen. Jeder Affekt ist dagegen zusammengesetzt. An jedem l\u00e4fst sich 1. ein Gef\u00fchl, 2. eine R\u00fcckwirkung desselben auf den Vorstellungsverlauf, 3. ein sich hieran anschliefsendes sekund\u00e4res Gef\u00fchl unterscheiden. Teilerscheinungen des Affektes sind die physiologischen Ver\u00e4nderungen. Dafs mit diesen wieder sekund\u00e4re Ver\u00e4nderungen verkn\u00fcpft sein k\u00f6nnen und so eine Selbststeigerung des Affektes stattfinden kann, l\u00e4fst sich nicht in Abrede stellen.\nIn einem kleinen Abschnitt \u201eZur Theorie der Gef\u00fchle\u201c tritt W. f\u00fcr seine Auffassung des Gef\u00fchls als der \u201eReaktionsweise der Apperzeption auf den Vorstellungsinhalt\u201c ein, wobei er sich dagegen verwahrt, dafs die Apperzeption etwas sei \u201ewas den Effekten, die sie am Vorstellungsinhalte erzeugt und den Begleiterscheinungen, die sie im Gebiete des Gef\u00fchls hat, als etwas Besonderes realiter zu Trennendes ge gen\u00fcb er s t \u00e4nde.\u201c\n\u201eVielmehr besteht sie selbst nur aus diesen Begleiterscheinungen und Wirkungen.\u201c Letztere sind die Grundlage des Begriffs der Apperzeption. Die Spannungsempfindungen, \u201ewelche vielleicht noch mehr der Apperzeption den Charakter eines selbst\u00e4ndigen Bewufstseins-inhalts gegeben haben .... k\u00f6nnen wohl am ehesten fehlen.\u201c Eine zweite Begleiterscheinung sind die Gef\u00fchle. Trotz ihrer innigen Beziehung zur Apperzeption sind sie von ihr zu trennen.\nDas Problem, die Ausdrucksbewegungen zu erkl\u00e4ren, f\u00e4llt mit dem allgemeinen, die tierische Bewegung \u00fcberhaupt zu erkl\u00e4ren, zusammen. Mit der Er\u00f6rterung dieser Fragen st\u00f6fst W. auf einen zweiten Punkt von allgemeinerer Bedeutung. Er tritt f\u00fcr Beibehaltung der strengen Unterscheidung zwischen Reflex und Willensakt ein gegen die namentlich von M\u00fcnsterbeeg in seinem Buch \u201e Die Willenshandlung \u201c vertretene Theorie, nach welcher die Willenshandlung physiologisch als \u201eGehirnreflex\u201c zu fassen sei. Zwar stellt W. nicht in Abrede, dafs auch bei der gewollten Bewegung ein rein physischer Zusammenhang zwischen Anfangs- und End-Glied gefordert werden m\u00fcsse, dafs die Annahme einer Unterbrechung der physischen Reihe durch seelische Zwischenglieder wissenschaftlich unzul\u00e4ssig sei, aber dennoch empfehle sich auch rein physiologisch die Unterscheidung derselben vom Reflexe. Denn nur beim letzteren sei die Zuordnung bestimmter Bewegungen zu bestimmten Reizen regelm\u00e4fsig und \u00fcbersehbar, wogegen bei der Willenshandlung der motorische Enderfolg unberechenbar werde. Es handle sich hei letzterer nicht nur um gr\u00f6fsere L\u00e4nge und Ausbreitung der Bahn, sondern darum, dafs andere sensorische Erregungen ausgel\u00f6st werden, \u201ederen Zustandekommen auf der sich jeder Berechnung entziehenden bisherigen generellen und individuellen Entwickelungsgeschichte des Gehirns beruht,\u201c ehe von da aus der motorische Enderfolg zu st\u00e4nde komme. Zudem wissen wir gar nichts Bestimmtes \u00fcber jene vorausgesetzten physiologischen Prozesse. Alle","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturberich t\n319\nunsere Mutmafsungen st\u00fctzen sich auf die Beobachtung der parallel laufenden seelischen Vorg\u00e4nge. Gegen\u00fcber einer ganz unbestimmten Forderung auf physischer Seite liegt ein verh\u00e4ltnism\u00e4fsig klarer Zusammenhang auf psychischer vor. Die psychologische Motivierung zu Gunsten jener imagin\u00e4ren Hirnmechanik aufgeben, hiefse das Erreichbare vagen Zukunftsphantasieen opfern. Dem Postulat der kausalen Erkl\u00e4rbarkeit der k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge mufs die Warnung mit auf den Weg gegeben werden, dafs es stets Postulat bleiben und h\u00f6chstens in dem Umkreis beschr\u00e4nkter Verbindungen der Erf\u00fcllung zug\u00e4nglich sein wird.\nDer dritte Teil der Abhandlung besch\u00e4ftigt sich mit den Beziehungen des Gef\u00fchls und Affektes zum Trieb und Willen. Das Wollen besteht nicht aus zwei getrennten Bestandteilen 1. dem Begehren 2. der Verwirklichung des Begehrten, sondern ersteres ist derselbe Vorgang, bei welchem man von dem th\u00e4tigen Moment des Wollens abstrahiert.\nAnders mit dem Gef\u00fchl. Dieses bereitet die Willenshandlung nicht nur vor, sondern begleitet sie. In jedem Gef\u00fchl ist Willensrichtung, in jedem Willen Gef\u00fchlswirkung. Nicht jedes Gef\u00fchl f\u00fchrt aber zu einer Handlung, weil es von anderen Bewufstseinsvorg\u00e4ngen erstickt wird, ehe es zur Wirksamkeit gelangt. Nach allem sind F\u00fchlen und Wollen untrennbar.\nTriebe sind Gef\u00fchle mit intensiver Willensrichtung. Begegnen sich mehrere Triebe, so entsteht entweder Gleichgewicht: schwankende Gem\u00fctslage, oder ein Trieb herrscht vor, die \u00fcbrigen sind aber stark genug, um den \u00dcbergang in eine Triebhandlung unm\u00f6glich zu machen. Begehren, oder eine Willensrichtung siegt: W\u00e4hlen zwischen ver_ schiedenen Zwecken = Wil lk\u00fcrhandlu ng.\nDabei liegt die Ursache, aus der ein Trieb die Handlung determiniert, immer in der ganzen durch die gesamte vorausgegangene Entwickelung bestimmten Bewufstseinsanlage. Dadurch erscheint die Handlung nicht mehr als das passiv erlebte Resultat des Kampfes der Triebe, sondern als aktive Entscheidung.\nDie Affekte stehen in inniger Beziehung zu den Triebhandlungen. Beide sind Vorstufen der Willk\u00fcrhandlung. Die Wirkung auf den Vorstellungsverlauf beim Affekt ist verwandt der Wirkung des Triebes und seine Vorbedingung. Es wird im Affekt dem \u201eStreben nur eine gewisse Richtung der Th\u00e4tigkeit aufgepr\u00e4gt,\u201c w\u00e4hrend beim Trieb eine bestimmte Handlung erzielt wird. Einzelne Affekte gehen unmittelbai in Triebhandlungen \u00fcber. Der Schreck in Flucht, der Zorn in Rache.\nSo ist die Grenze fliefsend. Im allgemeinen bereitet der Affekt den Trieb vor. Oft kommt es bei einem Affekt nicht zur Ausbildung einer festen, in einer kontinuierlichen Reihe von Akten festgehaltenen Willensrichtung, sondern zu blofsen Triebanwandlungen, die sich durch rasch vor\u00fcbergehende Handlungen \u00e4ufsern. Dies sind die Ausdrueksbewe-gungen.\nWie Gef\u00fchl, Affekt und Trieb Glieder einer Entwickelungsreihe sind, so sind sie auch Vorstufen der Wahlhandlung. Diese ist also","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nLitteraturbericht.\nnichts weniger als ein transcendentes Verm\u00f6gen, welches zu jenen im Gegensatz st\u00e4nde.\nDem W ollen seihst geh\u00f6rt der letzte Abschnitt \u201eZus\u00e4tze zur Willenslehre\u201c an, welcher im wesentlichen eine Antwort auf M\u00fcnsteebergs \u201e Willenshandlung\" (Freib. 1888) ist. Dieselbe Arbeit hat schon ein Anh\u00e4nger Wundts: K\u00fclpe (Philos. Studien. 1889, Heft II) besprochen. Indes weicht Wundts Kritik in wesentlichen Punkten von K\u00fclpes ab. W. giebt manches zu, was K. bestreitet, bestreitet anderes, was K. anerkennt. Es handelt sich um die fundamentale Frage, ob mit M\u00fcnsterberg und anderen auch der Wille zu den mythologischen Seelenwesen zu werfen sei, oder ob er im WuNDTSchen Sinne als besondere Thatsache des Bewufstseins neben Vorstellungen und Gef\u00fchlen bestehen bleiben soll.\nIn etwas gereiztem Tone wehrt Wundt die \u201eBeschuldigungen\u201c M.s ab, dessen Arbeit er nur heranziehen will, um \u201eIrrt\u00fcmer, welche sie \u00fcber seine Auffassung des Willens verbreitet hat, richtig zu stellen.\u201c\nEr stellt ihm Folgendes entgegen :\nM\u00fcnsterberg nimmt das zu Beweisende schon voraus, wenn er von dem Satze ausgeht, dafs die letzten Bestandteile des Bewufstseins Empfindungen seien, angeblich einer Grundlehre der modernen Psychologie. In Wahrheit aber gilt dieser Satz nur f\u00fcr den vorstellenden Teil unseres Bewufstseins.\nF\u00fcr M. ist die Willenshandlung nur eine besondere Kombination von Empfindungen. Welcherlei Empfindungen sind dies nun, zun\u00e4chst f\u00fcr die innere Willenshandlung ? Das willk\u00fcrliche Denken soll sich vom unwillk\u00fcrlichen Assoziationsverlauf lediglich dadurch unterscheiden, dafs dem Wollen einer Vorstellung a schon ein Bewufstseinszustand vorausgeht, der dem Inhalte nach a enthalte.\nDies ist aber unrichtig. Es gehen der Vorstellung a nur solche voraus, die zu ihr in Beziehung stehen. Aber dies findet bei unwillk\u00fcrlichen Assoziationen auch statt. Also ist es M. nicht gelungen, den Unterschied zwischen willk\u00fcrlichem und unwillk\u00fcrlichem Vorstellungsverlauf zu kennzeichnen.\nBei \u00e4ufseren Willenshandlungen findet allerdings solche gedankliche Vorausnahme des Zuk\u00fcnftigen statt und begr\u00fcndet in der That ein Unterscheidungsmerkmal der gewollten von den reflektorischen und automatischen Bewegungen. Aber auch hier ist dieses Merkmal unzul\u00e4nglich, denn es l\u00e4fst das beim Wollen vorhandene Bewufstsein eigener Th\u00e4tig-keit unerkl\u00e4rt. Dies f\u00fcr eine T\u00e4uschung zu erkl\u00e4ren ist ebenso wenig ang\u00e4ngig, wie auf die Bewegungsempfindungen zu rekurrieren ; denn letztere sind auch bei unwillk\u00fcrlichen Bewegungen vorhanden, Die im Grunde spinozistische Gleichsetzung von Wollen und Vorstellen beruht auf der irrt\u00fcmlichen Substantialisierung der seelischen Vorg\u00e4nge.\nDie Vorstellungen werden wie Objekte angesehen, denen gegen\u00fcber wir in passiver Betrachtung verharren. Unsere eigene Th\u00e4tigkeit wird so auch zur blofsen Vorstellung. Da aber die Th\u00e4tigkeit das einzige wesentliche Merkmal des Willens ist, so l\u00f6st sich dieser selbst f\u00fcr einen solchen Standpunkt in Empfindungen auf. Nun kann aber eine Th\u00e4tigkeit immer nur ein Vorgang sein, \u201eder sich an irgend welchen gegebenen","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n321\nBewufstseinsinhalten ereignet\u201c und sie ver\u00e4ndert. \u201eSolche Ver\u00e4nderungen sind darum nicht minder reale empirische Thatsachen.\u201c Der Wille ist nichts von diesen Ver\u00e4nderungen Verschiedenes.\nDer Psychologe, der darum den Willen als selbst\u00e4ndigen seelischen Inhalt leugnet, steht unter demselben Vorurteil, \u201edem die Anh\u00e4nger der aristotelischen Physik, unterlagen, als sie dem NEWTOxschen Begriff der Schwere deshalb entgegen traten, weil diese Schwere blofs in den Vorg\u00e4ngen zwischen den K\u00f6rpern sich \u00e4ufsere.\u201c Das Subjekt wird solcher Psychologie zum \u201etranscendenten Gegenst\u00e4nde.\u201c\nSo giebt Wundt den Gegnern den Vorwurf zur\u00fcck, vom Gegebenen sich in die Transcendenz zu verlieren.\tLiepmann (Berlin).\nKriminal - Anthropologie.\n1.\tCesare Lombroso. Der Verbrecher in anthropologischer, \u00e4rztlicher und juristischer Beziehung. In deutscher Bearbeitung von Dr. M. O. Fraenkel. Mit Vorwort von Prof. Dr. M. v. Kirchenheim. 2 B\u00e4nde. Hamburg, Verlagsanstalt A.-G. I, 562 S., 1887; II, 412 S., 1890.\n2.\t\u2014 L\u2019anthropologie et ses r\u00e9cents progr\u00e8s. Paris, Alcan, 1890. 180 S.\n3.\tG. Tarde. La criminalit\u00e9 compar\u00e9e. 2. \u00e9dit. Paris, Alcan, 1890. 215 S.\n4.\tHavelock Ellis. The Criminal. London, Scott, 1890. (The Contemporary Science Series.) 337 S.\n5.\tEmile Laurent. Les habitu\u00e9s des prisons de Paris. \u00c9tude d'anthropologie et de psychologie criminelles. Lyon, Storch. Paris, Masson, 1890. Biblioth\u00e8que de criminologie.) Pr\u00e9face de Lacassagne. 616 S.\n6.\tJ. Thomsen (Kappeln, Schl.-Holst.). Beobachtungen \u00fcber den Selbstmord. Archiv f. Psychiatrie, Bd. XXII (1890), Heft 1. 20 S.\nDas Hauptwerk Lombrosos, eines Schriftstellers, der in der psychiatrischen Litteratur schon seit geraumer Zeit bekannt gewesen ist, geh\u00f6rt der Weltliteratur. Eine weitreichende Bewegung ist in allen L\u00e4ndern davon ausgegangen. Die Internationale Kriminalistische Vereinigung, welche Reform des Strafrechts auf Grund anthropologischer und socio-logischer Forschungen erstrebt, steht sichtlich unter diesem Einfl\u00fcsse, wenn auch keineswegs davon abh\u00e4ngig. Ihren bedeutendsten Anhang hat sie in Deutschland, einer ihrer anregendsten Leiter ist Prof. v. Liszt-Halle (der in seiner und v. Lilienthals \u201eZeitschrift f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft\u201c schon vor Jahren auf die anthropologische Schule der Italiener mit Nachdruck aufmerksam gemacht hatte). Es ist daher sehr dankenswert, dafs jenes Werk des Schulhauptes auch in unsere Sprache \u00fcbertragen worden ist. Dabei hat von dem ersten Teile die dritte italienische Ausgabe Vorgelegen, welche von der vierten, nach welcher die franz\u00f6sische \u00dcbersetzung (L'homme criminel. Paris, Felix Alcan, 1887) gemacht worden ist, nur wenig abzuweichen scheint. Beide \u00dcbersetzungen haben aus dem zweiten italienischen Bande das Kapitel \u00fcber Epilepsie in den ersten Band her\u00fcbergenommen. Dieses Kapitel scheint wie die des zweiten deutschen Bandes \u00fcber Verbrechen und Leidenschaft, \u00fcber den irren und den Gelegenheitsverbrecher, erheblich","page":321}],"identifier":"lit14436","issued":"1891","language":"de","pages":"316-321","startpages":"316","title":"W. Wundt: Zur Lehre von den Gem\u00fctsbewegungen. Philos. Studien VI, 1890, S. 335-393","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:47:07.508758+00:00"}