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Kriminal-Anthropologie: 1. Cesare Lombroso: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, 2 Bände, Hamburg, Verlagsanstalt A.-G. I, 562 S., 1887, II, 412 S., 1890. 2. Cesare Lombroso: L'anthropologie et ses récents progrès, Paris, Alcan 1890, 180 S.. 3. G. Tarde: La criminalité comparée, 2. édit. Paris, Alcan 1890, 215 S.. 4. Havellock Ellis: The Criminal, London, Scott, 1890, 337 S.. 5. Emile Laurent: Les habitués des prisons de Paris, Études d'anthrophologie et de psychologie criminelles, Lyon, Storch, Paris, Masson 1890, Bibliothèque de criminologie, Préface de Lacassagne, 616 S.. 6. J. Thomson: Beobachtungen über den Selbstmord, Archiv f. Psychiatrie, Bd. XXII, 1890, Heft 1, 20 S.

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{"created":"2022-01-31T16:11:27.496925+00:00","id":"lit14437","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"T\u00f6nnies, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2: 321-334","fulltext":[{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n321\nBewufstseinsinhalten ereignet\u201c und sie ver\u00e4ndert. \u201eSolche Ver\u00e4nderungen sind darum nicht minder reale empirische Thatsachen.\u201c Der Wille ist nichts von diesen Ver\u00e4nderungen Verschiedenes.\nDer Psychologe, der darum den Willen als selbst\u00e4ndigen seelischen Inhalt leugnet, steht unter demselben Vorurteil, \u201edem die Anh\u00e4nger der aristotelischen Physik, unterlagen, als sie dem NEWTOxschen Begriff der Schwere deshalb entgegen traten, weil diese Schwere blofs in den Vorg\u00e4ngen zwischen den K\u00f6rpern sich \u00e4ufsere.\u201c Das Subjekt wird solcher Psychologie zum \u201etranscendenten Gegenst\u00e4nde.\u201c\nSo giebt Wundt den Gegnern den Vorwurf zur\u00fcck, vom Gegebenen sich in die Transcendenz zu verlieren.\tLiepmann (Berlin).\nKriminal - Anthropologie.\n1.\tCesare Lombroso. Der Verbrecher in anthropologischer, \u00e4rztlicher und juristischer Beziehung. In deutscher Bearbeitung von Dr. M. O. Fraenkel. Mit Vorwort von Prof. Dr. M. v. Kirchenheim. 2 B\u00e4nde. Hamburg, Verlagsanstalt A.-G. I, 562 S., 1887; II, 412 S., 1890.\n2.\t\u2014 L\u2019anthropologie et ses r\u00e9cents progr\u00e8s. Paris, Alcan, 1890. 180 S.\n3.\tG. Tarde. La criminalit\u00e9 compar\u00e9e. 2. \u00e9dit. Paris, Alcan, 1890. 215 S.\n4.\tHavelock Ellis. The Criminal. London, Scott, 1890. (The Contemporary Science Series.) 337 S.\n5.\tEmile Laurent. Les habitu\u00e9s des prisons de Paris. \u00c9tude d'anthropologie et de psychologie criminelles. Lyon, Storch. Paris, Masson, 1890. Biblioth\u00e8que de criminologie.) Pr\u00e9face de Lacassagne. 616 S.\n6.\tJ. Thomsen (Kappeln, Schl.-Holst.). Beobachtungen \u00fcber den Selbstmord. Archiv f. Psychiatrie, Bd. XXII (1890), Heft 1. 20 S.\nDas Hauptwerk Lombrosos, eines Schriftstellers, der in der psychiatrischen Litteratur schon seit geraumer Zeit bekannt gewesen ist, geh\u00f6rt der Weltliteratur. Eine weitreichende Bewegung ist in allen L\u00e4ndern davon ausgegangen. Die Internationale Kriminalistische Vereinigung, welche Reform des Strafrechts auf Grund anthropologischer und socio-logischer Forschungen erstrebt, steht sichtlich unter diesem Einfl\u00fcsse, wenn auch keineswegs davon abh\u00e4ngig. Ihren bedeutendsten Anhang hat sie in Deutschland, einer ihrer anregendsten Leiter ist Prof. v. Liszt-Halle (der in seiner und v. Lilienthals \u201eZeitschrift f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft\u201c schon vor Jahren auf die anthropologische Schule der Italiener mit Nachdruck aufmerksam gemacht hatte). Es ist daher sehr dankenswert, dafs jenes Werk des Schulhauptes auch in unsere Sprache \u00fcbertragen worden ist. Dabei hat von dem ersten Teile die dritte italienische Ausgabe Vorgelegen, welche von der vierten, nach welcher die franz\u00f6sische \u00dcbersetzung (L'homme criminel. Paris, Felix Alcan, 1887) gemacht worden ist, nur wenig abzuweichen scheint. Beide \u00dcbersetzungen haben aus dem zweiten italienischen Bande das Kapitel \u00fcber Epilepsie in den ersten Band her\u00fcbergenommen. Dieses Kapitel scheint wie die des zweiten deutschen Bandes \u00fcber Verbrechen und Leidenschaft, \u00fcber den irren und den Gelegenheitsverbrecher, erheblich","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nI/Uteraturbericht.\nsp\u00e4teren Ursprunges als die eigentliche Masse des Bnches zu sein. \u2014 Lombroso ist ein Autor von ausgebreiteter Gelehrsamkeit, von ungeheurem Eifer, raschem Denken, lebhaftem Geiste. Er studiert eine Welt von Thatsachen, aber er macht auch mit Leichtigkeit seine etwas losen Theorien dazu. Die Grunds\u00e4tze freilich stehen ihm fest; sie sind die der modernen wissenschaftlichen Denkungsart: Determinismus, Identit\u00e4t des Physischen und Moralischen, Abstammungstheorie. In das grofse Publikum ist die allgemeine Idee gedrungen, dieser Philosoph erkl\u00e4re die Verbrecher f\u00fcr Verr\u00fcckte. In der That mag ihm dieser Gedanke immer am n\u00e4chsten gelegen haben, durch Despine, Maudsley u. A. vorbereitet. Seine Kritiker aber machen ihm zum Vorwurf, dafs er zuv\u00f6rderst, auf Grund der Abstammungslehre, den Atavismus als allgemeine Ursache der abnormen Beschaffenheit des Verbrechers dargestellt, sp\u00e4ter aber den Irrsinn in den Vordergrund ger\u00fcckt habe und zwar jene besondere vielfach bezweifelte, und wohl noch keineswegs hinl\u00e4nglich beschriebene Form: den moralischen Irrsinn. Endlich neuerdings lege er am meisten Gewicht auf die Vergleichungspunkte, welche das somatisch-psychische Wesen des Verbrechers mit der Epilepsie darbiete. Diese Gesichtspunkte, sagt man, seien nicht vereinbar.\nIn der That hat L. seit der vierten Auflage seines Werkes sich entschlossen, den \u201egeborenen Verbrecher\u201c mit dem moralisch Verr\u00fcckten zu identifizieren, so dafs ihr Unterschied auf das schlechthin accidentelle Merkmal hinauskomme, dafs jener meistens im Gef\u00e4ngnis, dieser meistens im Irrenhause sich befinde. Sodann will er beide als \u201eEpileptoide\u201c begreifen, ohne aber darum die atavistische Hypothese aufzugeben. Tarde (3), dessen Kritik L. selber als die gescheiteste und tiefste bezeichnet hat, die ihm vorgekommen sei, hat hiergegen eingewandt (S.36), die Verr\u00fccktheit sei eine Frucht der Civilisation, deren Fortschritten sie bis zu einem gewissen Punkt folge; sie sei fast unbekannt bei den illitteraten Klassen und noch mehr bei den niederen Kassen; wenn der Verbrecher ein Wilder sei, so k\u00f6nne er nicht ein Verr\u00fcckter sein, und umgekehrt. In seiner letzten Vorrede geht L. schon auf dieses Bedenken ein (S. XX d. Ue.), scheint es aber nicht scharf verstanden zu haben. Mir scheint allerdings, dafs er nicht aus logischen Gr\u00fcnden gen\u00f6tigt ist, den Atavismus aufzugeben. Wenn es sich immer um Defekte handelt \u2014 psychische, die in physischen ihre Objektit\u00e4t haben und diese auf Entwickelungshemmungen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, so k\u00f6nnen diese allerdings zugleich R\u00fcckschl\u00e4ge auf fr\u00fchere und weniger differenzierte Zust\u00e4nde der Gattung darstellen, ohne darum als krankhafte und zwar degenerative Bildungen, die doch zugleich durch vorausgegangene h\u00f6here Entwickelung bedingt sind, ihren sehr tiefen Unterschied von jenen verkennen zu lassen, welche noch die ganze Potenzialit\u00e4t der Veredelung in sich tragen. So wird das Alter der Kindheit \u00e4hnlicher, mehr oder weniger \u2014 aber bleibt ebenso sehr von ihr verschieden, ja entfernt sich von ihr immer weiter. Das Alter wird kindisch, der Verr\u00fcckte wird kindisch; und wiederum ist der Wilde in vielen St\u00fccken dem Kinde \u00e4hnlich. Indessen ist die endliche Ansicht L.\u2019s durchaus nicht frei von Widerspruch. Wenn er keinen Unterschied","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n323\nmehr erkennt zwischen dem geborenen Verbrecher und dem moralisch Verr\u00fcckten, so wird sein anf\u00e4nglicher Begriff von Jenem, worauf er das ganze Buch aufgebaut hat, notwendigerweise sich verd\u00fcnnen. Bei allen Messungen und Beobachtungen scheint er davon ausgegangen zu sein, dafs jeder Str\u00e4fling als ein geborener Verbrecher anzusehen sei, bei dem nicht feststehe, dafs er unter eine der Kategorien geh\u00f6re, die nunmehr im zweiten Bande erw\u00e4hnt werden; wobei es noch unklar bleibt, ob wirklich die Scheidung so innegehalten worden ist, dafs der kriminelle Typus weniger aus diesen Kategorien (von denen ja die des \u201eirren\u201c Verbrechers, d. h. des wesentlich intellektuell Kranken, nach des Verfassers eigener Erkenntnis, die aber offenbar auch sp\u00e4teren Ursprungs ist, einen erheblichen Teil der Insassen von Strafanstalten einschliefst), als aus der \u00fcbrigen Menge abstrahiert worden w\u00e4re. Indessen kann auch die ernste Meinung nicht sein, dafs die Thatsache einer gerechten Verurteilung (sei es auch einer mehrmals wiederholten) gen\u00fcge, um in solchen F\u00e4llen, wo kein Gelegenheitsverbrecher, kein Verbrecher aus (edlerer) Leidenschaft, auch kein intellektuell Wahnsinniger vorliegt, den Thatbestand moralischer Verr\u00fccktheit f\u00fcr erwiesen zu halten. Dies w\u00fcrde methodologisch h\u00f6chst uuzul\u00e4ssig sein, und Erfahrung w\u00fcrde es keineswegs rechtfertigen. Mit Recht f\u00fchren dagegen Tarde und Lacassagne (6) die Bedeutung der sozialen Faktoren f\u00fcr die \u00c4tiologie des Verbrechens ins Feld, welche L. g\u00e4nzlich vernachl\u00e4ssigt hat. \u2014 Von dem Umfange der Untersuchungen nun, eigener und fremder, aus welchen der ber\u00fchmte Autor seine Schl\u00fcsse gewonnen hat, eine richtige Vorstellung zu geben ist im Rahmen dieser Mitteilung nicht m\u00f6glich. Es liegen eine Menge von Ergebnissen, wenig durchaus gesicherte Ergebnisse vor. In den Verallgemeinerungen ist ohne Zweifel mit zu grofser Hast verfahren worden. Anekdotenhafte Elemente treten oft hervor, die statistische Methode ist nicht mit aller Vorsicht angewandt worden. Aus allem ist deutlich, dafs das Material geh\u00e4uft worden ist um eine These zu erh\u00e4rten, n\u00e4mlich diese: es giebt einen Verbrecher-Typus. Der Verfasser h\u00e4lt f\u00fcr erwiesen, dafs dieser Typus in 40% der F\u00e4lle vorliege. Einwenden darf man gegen die These zuv\u00f6rderst: \u201eVerbrecher\u201c ist ein schlechter Allgemein-Begriff. Nach welchen Merkmalen wird er gebildet? Bei anatomischen Untersuchungen, die sich nie \u00fcber grofse Zahlen erstrecken, gen\u00fcgt die Thatsache, dafs das Individuum im Zuchthause gestorben ist \u2014 wenn nicht auch Gef\u00e4ngnis-Insassen dazukommen ; alsdann wird etwa noch unterschieden zwischen M\u00f6rdern und Dieben. Wie verschieden sind aber nach ihrem ganzen Milieu, und vermutlich nach ihrer psycho-physischen Beschaffenheit, ein Raubm\u00f6rder und ein eifers\u00fcchtiger M\u00f6rder seiner Gattin; wie verschieden ein gelernter Einbrecher und ein alkoholistischer Vagabunde, der wegen einfachen Diebstahls im wiederholten R\u00fcckfalle in Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Und hat etwa der Anatom die im intellektuellen Sinne Irren ausgeschieden? Wegen dieser Bedenken m\u00fcssen wir der Untersuchung von 383 Verbrechersch\u00e4deln, wor\u00fcber das erste Kapitel des zweiten Teils berichtet, mit Zweifeln gegen\u00fcberstehen. Doch bleibt wohl einiges von Bedeutung darin enthalten. Am meisten auffallend scheint die H\u00e4ufigkeit von","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nLitteraturbericht.\nAsymmetrie und Plagiokephalie, ferner die der mittleren Hinterhauptsgrube. welche zuweilen einen enormen Umfang erreichen soll ; aber nur dem letzteren Merkmal wagt Verfasser einen atavistischen Ursprung zuzuschreiben, und giebt auch sonst diesem Merkmal eine ausgezeichnete Bedeutung. Aufserdem \u201escheinen bei den Dieben Mikrokephalie, Nahtsynostosen, fliehende Stirn, Spitzkopf, dickere Sch\u00e4delknochen, umfangreiche Augenh\u00f6hlen vorzuherrschen, bei den M\u00f6rdern volumin\u00f6se Unterkiefer, zahlreiche Schaltknochen, Plattk\u00f6pfe und Stirnn\u00e4hte;\u201c jedoch gestatte die Seltenheit des Materials nur ein sehr reserviertes Verhalten hinsichtlich dieser Unterscheidung. Etwas sicherer scheint \u201edie abnorme Beschaffenheit des Gehirns und der Eingeweide bei den Verbrechern\u201c (Kap. 2) dazustehen. Hier wird \u00fcber die BENEDiraschen Studien berichtet, die den Gedanken der Phrenologie wieder aufleben lassen, worauf noch das Buch von Lauvergne l, vielleicht die \u00e4lteste Monographie \u00fcber Strafanstalts-Insassen, allzusehr beruhte. Es ist aber auch bekannt, dafs andere Forscher die Ergebnisse Benedikts ganz und gar glauben widerlegt zu haben. Indessen l\u00e4fst sich erwarten, dafs hier zuk\u00fcnftige Forschung nicht fruchtlos sein wird. Geboten w\u00e4re die genaue Untersuchung, insbesondere bei jedem bestraften Individuum, wo irgend welcher Verdacht wirklicher Psychose, sei es mitgebrachter oder im Gef\u00e4ngnis erworbener, Vorgelegen hat. Indessen scheinen nach anderer Sichtung hin Obduktionen noch ergiebiger: L. meint, dafs die Verbrecher h\u00e4ufiger oder eben so h\u00e4ufig als die Irren, Herzfehler aufweisen. Besonders h\u00e4ufig scheint Atrophie vorzukommen; andererseits ist oft eine Verfettung der Leber beobachtet worden, was L. wohl mit Recht auf Alhoholismus zur\u00fcckf\u00fchrt, sp\u00e4ter aber doch wie ein kongenitales Merkmal verwertet. \u2014 Das eigentlich centrale Kapitel ist nun aber das dritte (immer des zweiten Teils), worin \u00fcber Mafse und Gesichtsausdr\u00fccke von 3839 Verbrechern gehandelt wird. Diese sind zusammengefafst aus eigenen Untersuchungen und solchen mehrerer Mitarbeiter, welche namhaft gemacht werden. Die Hauptergebnisse sind f\u00fcr Verbrecher schlechthin: gr\u00f6fsere K\u00f6rperl\u00e4nge, gr\u00f6fsere Spannweite, breiterer Brustkasten, h\u00f6heres Gewicht, dunkleres Haar als bei Normalen und bei Irren; bei Dieben, R\u00fcckf\u00e4lligen und Jugendlichen gr\u00f6fsere Reihe von Submikrokephalen als bei gew\u00f6hnlichen Menschen, aber geringere als bei Irren ; Kopf und Gesicht sind besonders bei Sittenverbrechern und Dieben h\u00e4ufiger schief als bei Normalen, seltener als bei Irren ; im Vergleiche mit diesen kommen beim Verbrecher schr\u00e4ge Augen und traumatische Kopfverletzungen h\u00e4ufiger vor,2 seltener Atherome der Schl\u00e4fenarterien, abnorm eingesetzte Ohren, sp\u00e4rlicher Bartwuchs, Nystagmus, Mydriasis, noch seltener fr\u00fche Kahlheit des Kopfes, hingegen im gleichen Verh\u00e4ltnis Prognathismus, Ungleichheit der Pupillen, verdrehte Nase, fliehende Stirn. H\u00e4ufiger wiederum als beim Irren und beim Gesunden ist ein langes Gesicht, starke Entwickelung\n1\tH. Lauvergne. Les for\u00e7ats consid\u00e9r\u00e9s sous le rapport physiologique, moral et intellectuel, observ\u00e9s au bagne de Toulon. Paris, J. B. Bailli\u00e8re, 1841. 464 S.\n2\tSo nach der franz. \u00dcbersetzung S. 233. Die deutsche ist hier offenbar fehlerhaft und das Resume S. 252 im Widerspruch mit S. 229.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n325\nder Jochbogen und der Kiefer, finsteres Auge, dichter, schwarzer Haarwuchs , besonders hei Strafsenr\u00e4ubern. Bucklige kommen selten unter M\u00f6rdern, \u00f6fter unter Stupratoren, F\u00e4lschern, Brandstiftern vor . . . (und so gieht es andere Unterschiede zwischen den Klassen der Delinquenten). Ein Studium von Photographien (wozu dem Verfasser das Berliner und das Z\u00fcricher Verbrecheralbum zu Gebote stand), ergebe ein durchschnittliches Vorkommen der kriminellen Physiognomie bei \u201825\u00b0/o gegen\u00fcber einem Maximum von 36\u00b0/0 bei den M\u00f6rdern und einem Minimum von 6\u20148\u00b0/o bei Bankerottierern, Betr\u00fcgern und Bigamisten. Alle Merkmale, zu denen noch der verwischte Geschlechtsunterschied und die h\u00e4ufig braune Hautfarbe kommen, sollen zusammen mit den anatomischen Abnormit\u00e4ten dem europ\u00e4ischen Verbrecher fast den Stempel der australischen und mongolischen Hassen aufdr\u00fccken, w\u00e4hrend zu gleicher Zeit das Schielen, die Sch\u00e4del-Asymmetrie, die schweren histologischen Anomalien, die Osteome, die meningitischen, hepatischen und Herzl\u00e4sionen einen Menschen bezeichnen, der schon vor seiner Geburt durch E nt wie kelungs hemmung oder durch erworbene Krankheit verschiedener Organe, besonders der Nervencentren, abnorm gebildet war, gleich dem Wahnsinnigen, und. ihn als einen wahren chronischen Kranken darstellen. \u2014 Man wird den vermutlich richtigen Eindruck empfangen, dafs hier manches Wahre mit manchem Falschem, Regelm\u00e4fsiges mit Zuf\u00e4lligem vermischt ist. Wenn die vorsichtige Schlufsfolgerung w\u00e4re: es giebt unter den verurteilten schweren Verbrechern viele mit den physischen Charakteren niederer Menschenrassen, es giebt darunter viele chronisch Kranke, \u2014 wie denn niemand zweifelt und der Verfasser selber (im zweiten Bande) enth\u00fcllt, dafs es nicht wenige Geisteskranke darunter gieht \u2014: der Prozentsatz aller dieser Kategorien ist unter Str\u00e4flingen gr\u00f6fser als unter unbescholtenen Menschen, so w\u00fcrden wir das Ergebnis f\u00fcr merkw\u00fcrdig genug, vielleicht f\u00fcr hinl\u00e4nglich begr\u00fcndet durch das unterliegende Material, jedenfalls f\u00fcr innerlich wahrscheinlich und zu manchen Betrachtungen anregend erachten; es w\u00fcrde zur Grundlage genauerer kausaler Untersuchungen tauglich sein. Mehr ist sicherlich nicht erwiesen; ja mehr hat auch der gelehrte Herr, wenn wir ihn scharf verstehen, nicht sagen wollen, aufser wo es ihm auf die Rettung des Verbrecher-Typus ankommt, den er ohne Schaden aufgeben k\u00f6nnte. Wie schon bemerkt wurde, verteidigt er den Begriff in der letzten Vorrede, und ebenso geschieht es in der interessanten Nachschrift (2), wo er \u00fcbrigens in unumwundener Weise den Fortschritt einr\u00e4umt, den seine Nachfolger, an deren Spitze Ferri, durch Untersuchung der specielleren Typen, \u00fcber seine eigene Darstellung erreicht haben; wie ja aller Fortschritt vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Allgemeinen zum Besonderen gehe. Der Typus aber sei den Durchschnittswerten der Statistik vergleichbar, wozu denn eine Ausf\u00fchrung des ihm gegnerischen Anthropologen Topinard citiert wird. Indessen liegt hier der Fehler auf der Hand, wenn zugestanden wird, dafs bei 60 % der Verbrecher der Verbrecher-Typus g\u00e4nzlich mangele. An einem Durchschnittswerte arbeiten gleichsam s\u00e4mtliche Werte mit, sie vereinigen sich ganz eigentlich in ihm. In diesem Sinne mag der Typus einen Durchschnitt der 40\u00b0/\u00b0 darstellen, die Zeitschrift f\u00fcr Psychologie II.\t22","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nLitteraturbericht.\nohne Zweifel die Merkmale in mehr oder minder starker Auspr\u00e4gung enthalten. Es w\u00fcrde immer wieder heifsen m\u00fcssen: man findet unter den Verbrechern eine Anzahl von Menschen, deren kraniologische, physiognomische u. s. w. Merkmale sich um ein darstellbares Mittel gruppieren oder \u2014 nach dem von Topinard citierten Ausdrucke Isidore G. Saint-Hilaires \u2014 in mehr oder minder grofsen Abweichungen darum \u201eoscillieren\u201c. Dieses Mittel h\u00e4tte man alsdann ein Hecht Verbrecher-Typus zu nennen, wenn sich ergeben sollte, dafs solche physischen Merkmale die normale Erscheinung derjenigen psychischen Eigenschaften sind, welche als die gemeinsamen Charaktere von Gesetzes\u00fcbertretern (sofern die Gesetze zugleich die elementaren Sittengesetze sind) bezeichnet werden k\u00f6nnen. Denn hieran, an der Konkordanz des Physischen und Moralischen, welche die allgemeinen Gesetze der Erfahrung als eine vollkommene erwarten lassen, h\u00e4ngt doch zuletzt das ganze Interesse des Gegenstandes. Die Methode w\u00fcrde nun hierzu den Beweis erfordern, dafs die 40 \u00b0/o von den 60 % auch im Psychischen in ihren Durchschnitten auf deutliche Art verschieden seien, sie an verbrecherischem Wesen \u00fcbertreffend. Diesen Beweis vermissen wir und finden anstatt dessen nur einzelne Beispiele ausgezeichneter Verbrecher, bei denen in der Regel die \u00dcbereinstimmung der \u201e\u00e4ufseren\u201c und \u201einneren\u201c Merkmale zutrifft. Hierin liegt die Bedeutung der Kapitel des dritten Teils, welcher \u201eBiologie und Psychologie des geborenen Verbrechers\u201c genannt wird. Das erste Kapitel handelt vom Tattuieren der Verbrecher, das zweite enth\u00e4lt wertvolle Forschungen \u00fcber ihre relative Unempfindlichkeit, die u. a. mit dem Sphygmographen gemessen wurde; in diesem Zusammenh\u00e4nge wird denn auch der Mancinismus hervorgehoben, bei welchem offenbar der Zusammenhang physiologischer und psychologischer Eigent\u00fcmlichkeit der Betrachtung sich aufdr\u00e4ngen mufs. \u201eVermutlich\u201c, sagt L., \u201earbeitet der normale Mensch mehr mit der linken, der Verbrecher mehr mit der rechten Hirnhemisph\u00e4re\u201c; besonders soll die Linksh\u00e4ndigkeit bei Betr\u00fcgern auffallend sein (welche \u00fcbrigens auch zu den irren Verbrechern ein starkes Kontingent stellen). Es folgt Kapitel 3: vom Gem\u00fctszustand der Verbrecher; 4: \u00fcber den Selbstmord; 5: \u00fcber Gef\u00fchle und Leidenschaften ; 6: \u00fcber R\u00fcckf\u00e4lligkeit und \u201eMoral\u201c der Verbrecher; 7: \u00fcber ihre Religion; 8: \u00fcber Verstand und Bildung; 9: \u00fcber die Gaunersprache; 10: \u00fcber ihre Handschrift; 11: Litteratur, 12 : \u00fcber das Bandenwesen. Endlich 13 : geht dann auf das Thema der moralischen Verr\u00fccktheit \u00fcber.\nAlle jene Topica enthalten vieles Merkw\u00fcrdige, beruhen sicherlich auf sorgf\u00e4ltigen Beobachtungen und auf gr\u00fcndlicher Kenntnis der einschl\u00e4gigen Litteratur. Sie enthalten aber auch nicht wesentlich Neues. Erfahrung lehrt auch hier, was \u00dcberlegung erwarten l\u00e4fst: die M\u00f6rder und Messerhelden sind meistens roh, stumpf, grausam; Diebe liederlich, faul, frech; die Sittenverbrecher eitel, phantastisch oder schwachsinnig. Dafs sich auch in den Handschriften, in Gedichten, in der Sprache die Abbildungen dieser Charaktere erkennen lassen, ist sehr glaublich. Die Gauner-Sprache ist ja ein oft behandelter Gegenstand, gleich den in manchen St\u00fccken verwandten Idiomen der Handwerksburschen, der","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Li tteraturberich t.\n327\nVagabunden, in Deutschland auch der Studenten. \u00dcberhaupt, dafs die Gauner, nicht blofs die in R\u00e4uberbanden vereinigten, eine besondere Menschenklasse bilden, die ihr Gewerbe, ihre Physiognomie, ihre Denkungsart und Sprechweise eigent\u00fcmlich haben und unter sich fortpflanzen, war unter den Kriminalisten der alten Schule eine wohlbekannte und viel er\u00f6rterte Sache. (Die Litteratur geht bis auf Lyonnais Histoire g\u00e9n\u00e9rale des Larrons etc. Rouen 1636 zur\u00fcck.) \"Wenn L. seine Untersuchungen wesentlich auf diese Sorte gerichtet h\u00e4tte, so w\u00fcrde er nur eine alte Arbeit erneuert haben. In Bezug auf sie hat auch Tarde recht, wenn er vorschl\u00e4gt, von einem professionellen Typus zu reden. Mit diesem haben aber die meisten Verbrecher gegen das Lehen, gegen die Sittlichkeit, Brandstifter, Meineidige u. s. w. nichts zu thun. Und \u00fcbrigens scheint auch in diesem Gewerbe der z\u00fcnftige Charakter \u2014 wenigstens in Deutschland \u2014 dem Zeitgeiste erlegen zu sein. Die Zusammenh\u00e4nge sind lockerer, die Vererbung ist weniger strenge geworden ; die alten Stammelemente, Juden und Zigeuner, m\u00fcssen sich zum gr\u00f6fseren Teile anderen Besch\u00e4ftigungen zugewandt haben, wenn sie nicht ausgestorben sind. \u2014 Bisher habe ich noch nicht des ersten Abschnitts unseres \"Werkes erw\u00e4hnt, welcher die \u201eEmbryologie\u201c des Verbrechens behandelt, darum nicht, weil ich am wenigsten damit anfangen kann. Die Vorbilder des Verbrechers bei Pflanzen und Tieren zu suchen, halte ich f\u00fcr wertlos; die Zust\u00e4nde der Wilden haben f\u00fcr das Thema geringe Bedeutung. Dafs viele unentwickelte V\u00f6lker brutale Sitten haben, lockere eheliche Verh\u00e4ltnisse, zuweilen religi\u00f6s geheiligte Prostitution, mag uns ja im allgemeinen bekannt sein, so hat es doch wenig Sinn zu sagen: Verbrechen, bei uns die Ausnahmen, bilden dort die Regel. Was endlich \u00fcber moralisches Irresein und Verbrechen bei Kindern er\u00f6rtert wird, sollte lieber im Zusammenh\u00e4nge des Ganzen betrachtet werden, ist doch wohl mehr Folge entarteter und krankhafter Zust\u00e4nde der Erwachsenen, als dafs es diesen wie eine normale Vorstufe der Entwickelung zu Grunde l\u00e4ge; obschon zugegeben werden kann, dafs Mitleid und Scham auch bei ganz normalen Knaben oft sehr schwach entwickelt ist (sind doch diese moralischen Empfindungen wesentlich weiblicher Herkunft und bei erwachsenen M\u00e4nnern ganz regelm\u00e4fsig durch weibliche Heredit\u00e4t und weiblichen Einflufs bedingt !) \u2014 Hingegen bietet nun ein besonderes psychologisches Interesse der ganze Rest des Buches, nebst dem zweiten Bande, dar.\nAlle diese wesentlich psychiatrischen Gegenst\u00e4nde werden mit Sachkenntnis behandelt, sind interessant und anregend zu vielen Erw\u00e4gungen. Gl\u00fccklicherweise wird von allen Seiten Derer, die den Thatsachen und Problemen dieser Art ihre Aufmerksamkeit widmen \u2014 was freilich Juristen immer noch weniger, als sie sollten, thun \u2014 die dringende Aufgabe anerkannt, irre Verbrecher \u2014 worunter dann die moralisch Verr\u00fcckten notwendigerweise einbegriffen sind, sofern sich ihr pathologischer Zustand konstatieren l\u00e4fst \u2014 auf eine besondere Art zu behandeln : man wird sagen m\u00fcssen : milder, da es keinen Sinn hat, sie zu plagen, ihre sonstige Gesundheit zu beeintr\u00e4chtigen ; aber strenger, sofern sie dauernd unm\u00fcndig und unfrei gemacht werden m\u00fcssen. Zur richtigen Diagnose","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nLitteraturberich t.\nk\u00f6nnen aber allerdings solche Forschungen, wie Lombroso und seine Schule sie unternehmen, in hohem Grade beitragen, je mehr sie mit eindringlicher Methode und ohne Absicht auf sensationelle Ergebnisse gepflegt werden; zumal, wenn sich ergeben wird, dafs gewisse Befunde an Lebenden einen sicheren oder h\u00f6chst wahrscheinlichen Schlufs auf entsprechende obduktionelle Entdeckungen zulassen. Ob alsdann noch der Strafrichter etwas zu thun \u00fcbrig beh\u00e4lt? Vielleicht w\u00e4re es kein Schade, wenn nicht. Ja, es ist geradezu'allgemeines Zugest\u00e4ndnis, dafs seine Th\u00e4tigkeit heillos ist. Denn Alle sagen, dafs die kurzen Freiheitsstrafen dem Menschen zum Verderben gereichen (von den langen scheint man Besseres zu meinen, was jedoch nur auf unlogischer Auffassung beruht). Nun sind aber fast alle erkannte Strafen, wenn man Geldstrafen und Verweise abzieht, kurze Freiheitsstrafen; z. B. im Jahre 1886 wegen Verbrechen und Vergehen gegen Beichsgesetze \u00fcber 91% Gef\u00e4ngnisstrafen bis zu 1 Jahr (Stat. d. D. \u00df. N. F. 30, Tab. 17). Man huldigt der Besserungstheorie \u2014 wenigstens als ein wichtiger Nebenzweck soll Besserung gelten. Erkannt aber hat man, dafs die Bestrafung verschlechtert. Die Juristen greifen zu dem desperaten Auskunftsmittel der \u201ebedingten Verurteilung\u201c. Das Experiment wird in Belgien gemacht auch in England und Amerika, jedoch unter ganz anderen als den kontinentalen strafprozessualischen Voraussetzungen). Es ist auch psychologisch interessant. Man mufs erwarten, dafs eine nicht vollstreckte Strafe viel von ihrer abschreckenden Kraft verlieren wird. Dagegen wird mit Grund eingewandt, Abschreckendes liege wenig in den kurzen Freiheitsheraubungen, wohl aber Einiges in Anklage, Verh\u00f6r, Verurteilung. Nun soll aber doch die Aussicht, der Strafe zu entgehen\n\u2014\tbei \u201eguter Konduite\u201c bis zu einer bestimmten Frist \u2014 als eine Pr\u00e4mie wirken. Ich gebe auch zu, dafs dies trotzdem nicht ohne Wahrscheinlichkeit ist. Die Vorstellung vom \u201eSitzen\u201c und der damit verbundenen Unehre ist eine andere vor aller Erfahrung, aus der Ferne; eine andere, wenn sie einmal in unmittelbare N\u00e4he ger\u00fcckt war. Wiederum kann die v\u00f6llige Erfahrung sie ihrer urspr\u00fcnglichen Gestalt wieder ann\u00e4hern. (Es ist ja \u00e4hnlich mit anderen Dingen: man nehme eine Mensur oder ein Examen f\u00fcr die Studenten. Aus der Ferne gesehen schreckt es nicht; in der N\u00e4he kommt die Angst. Wenn \u00fcberstanden, so \u201ewar es nicht so schlimm\u201c, und Wiederholung wird minder gef\u00fcrchtet.) \u2014 Jedoch scheint mir, dafs \u2014 abgesehen von theoretischen Bedenken \u2014 in der Praxis die bedingte Verurteilung daran scheitern wird, dafs die \u201egute Konduite\u201c in sehr vielen F\u00e4llen sich nicht kontrolieren l\u00e4fst, und daher mehr eine Pr\u00e4mie auf Schlauheit des Unentdecktbleibens als auf \u201estraffreie F\u00fchrung\u201c gesetzt wird. Auch bedeutet straffreie F\u00fchrung nicht Gleiches mit guter F\u00fchrung. Das moralische Element kann im modernen Rechte nur Anomalie sein. \u2014 \u00dcbrigens zweifle ich nicht, dafs die einfache Identifikation des geborenen Verbrechers \u2014 wenn es denn solche giebt\n\u2014\tmit dem moralisch Verr\u00fcckten unhaltbar ist. Wenn aber thats\u00e4chlich durch mehrere R\u00fcckf\u00e4lle die unausrottbare Neigung, Verbrechen zu begehen, oder aber \u2014 ins Zuchthaus zu kommen, konstatiert worden ist, so sollte allerdings die volle Freiheit niemals wiedergegeben werden.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n329\nDurchaus vom \u00dcbel ist freilich das gegenw\u00e4rtige System der Polizeiaufsicht, wenn sie auch in grossen St\u00e4dten die neue Verhaftung erleichtern mag. Viel besser w\u00fcrde eine allgemeinere Anwendung der Korrigenden* Anstalten wirken, zumal wo diese durch landwirtschaftliche, der Privatunternehmung unrentable Kulturarbeit dem Gemeinwohl dienen. Diese Arbeit w\u00fcrde auch auf Manchen noch als moralisches Heilmittel wirken. Man m\u00f6ge sie zuerst obligatorisch machen f\u00fcr eine Reihe von Jahren nach dem Verlassen der Strafanstalt. Nachher kann man die Wahl stellen zwischen Fortsetzung dieses Zustandes oder R\u00fcckkehr in die \u201eFreiheit\u201c, mit wirklicher Polizeiaufsicht, d. h. Verantwortlichkeit f\u00fcr die Art des Erwerbes und zwangsweiser h\u00e4uslicher Besch\u00e4ftigung im Falle der Unf\u00e4higkeit, andere Arbeit zu bekommen. Ein bestimmter Prozentsatz \u2014 ich sch\u00e4tze auf mehr als die H\u00e4lfte \u2014 w\u00fcrde sich f\u00fcr die erstere Alternative entscheiden. Eine mit Humanit\u00e4t geleitete Arbeitsanstalt braucht durchaus nicht den Charakter der Strafanstalt zu tragen, wie es die Korrigendenanstalten bisher in zu entschiedener Weise thun. Irrenanstalten k\u00f6nnen gerade ihnen zum Muster dienen. M\u00f6gen die Philister immerhin schreien, dafs die schweren Verbrecher es \u201ezu gut haben\u201c, f\u00fcr den Politiker ist es schon von unsch\u00e4tzbarem Werte, dafs der Verbrecher verhindert vrird, sich fortzupflanzen. Man d\u00fcrfte sagen, dafs diese Unsch\u00e4dlichmachung mindestens ebenso wichtig sei, als die unmittelbare seiner Person.\nDie kleine franz\u00f6sische Schrift, welche auf einem Vortrage beruht, der im zweiten Kongrefs f\u00fcr Kriminal-Anthropologie (Paris 1889) gehalten wurde (zum guten Teil stimmt der Text w\u00f6rtlich \u00fcberein mit demjenigen des zweiten Bandes), macht dem hervorleuchtenden Wahrheitssinn Lombrosos alle Ehre. Es ist mehr von den Verdiensten Anderer als den eigenen die Rede. Auch hier wird auf die epileptoiden Zust\u00e4nde immer st\u00e4rkerer Nachdruck gelegt; leider vermischt der Autor mit sonst vorsichtigen Betrachtungen \u00fcber diesen Gegenstand seine Hypothese \u00fcber den \u201egenialen Menschen\u201c. Auf festeren Boden treten wir wieder, wenn L. \u00fcber die (von ihm sogenannten) Mattoidi handelt, die wir als \u201e\u00dcberspannte\u201c bezeichnen d\u00fcrfen ; Leute, hei denen \u201efast immer Physiognomie und Sch\u00e4del normal sind\u201c; sie \u201etreten haupts\u00e4chlich in den grofsen St\u00e4dten auf, die in so betr\u00fcbender Weise durch Civilisation \u00fcberm\u00fcdet sind\u201c (S. 79). Unter den K\u00f6nigs- und Pr\u00e4sidentenm\u00f6rdern seien sie vertreten. Den politischen Verbrechern und anderen \u201eKriminaloiden\u201c ist dann noch ein besonderes Kapitel gewidmet (welchem L. schnell ein besonderes Buch hat folgen lassen). Anhangsweise wird \u00fcber den Unterricht in der Kriminal-Anthropologie, insbesondere \u00fcber das Studium der Verbrecher in den Gef\u00e4ngnissen gehandelt. \u2014 Wie ernst es dem Verfasser um die Sache ist, zeigt er auf jeder Seite. Sollen wir aber das Facit aus seinen Bem\u00fchungen ziehen, das sich f\u00fcr die Psychologie ergieht, so ist es nur billig, auf das in vortrefflicher Weise \u00fcber die ganze Sache orientierende Buch von H. Ellis (4) zu verweisen ; worin wir zugleich \u00fcber die Vorgeschichte dieses Studiums kundige Mitteilungen finden (aus der Litteratur in deutscher Sprache m\u00f6chte aber manches zu erg\u00e4nzen sein). Sein Urteil ist. sympathisch, aber vorsichtig. So","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nLitteraturbericht.\nbemerkt er, nicht ohne Schalkheit, \u00fcber die physiognomisclien Studien: \u201eMit all ihren minuti\u00f6sen und sorgf\u00e4ltigen Untersuchungen haben es die modernen Kriminalanthropologen noch nicht erreicht, aus der Physiognomik des Verbrechers eine exakte Wissenschaft zu machen, und die mehr Kriminellen unter uns m\u00f6gen sich noch bei dem Gedanken tr\u00f6sten, dafs es keine unfehlbare Wahrzeichen giebt, aus welchen man uns die Verbrechen von den Gesichtern ablesen k\u00f6nnte\u201c (S. 87); wogegen denn eingewandt werden kann, dafs ein irgend welcher Grad von Wahrscheinlichkeit schon gen\u00fcge und auch in den meisten anderen Wissenschaften befriedigen m\u00fcsse. Er macht ferner, nach einer Pr\u00fcfung der moralischen und intellektuellen Eigenschaften, des Charakters, der Sprache, der \u201e-Religion\u201c und \u201ePhilosophie\u201c des instinktiven Verbrechers (welchen Namen er dem criminel-n\u00e9 zu geben vorzieht, den Begriff festhaltend), mit Recht darauf aufmerksam, dafs nicht blofs die Kriminalanthropologie, sondern auch die allgemeine Anthropologie noch eine sehr junge Disziplin sei (S. 202); wie das verwandte Studium des Wahnsinns nicht minder. Einige begr\u00fcndete Schlufsfolgerungen h\u00e4lt er f\u00fcr zul\u00e4ssig mit Bezug auf die biologischen Anf\u00e4nge des Verbrechens (worin ich noch erheblich weniger zu erblicken vermag), mit Bezug auf Verbrechen unter Kindern (wor\u00fcber verst\u00e4ndig, aber doch nicht in hinl\u00e4nglich kritischer Weise gegen Lombroso und seine engeren Anh\u00e4nger geurteilt wird), auf die Kriminalit\u00e4t der Frauen (f\u00fcnf Ursachen, meint er, beschr\u00e4nken diese : 1. k\u00f6rperliche Schw\u00e4che, 2. sexuelle Auslese \u2014 nach Makros Ansicht auf Elimination des weiblichen Verbrecher ty pus hin wirkend (?) \u2014 3. h\u00e4usliche Abschliefsung, 4. Prostitution, 5. der Mutterberuf); ferner in bezug auf das Verh\u00e4ltnis von Verbrechen und Lasterhaftigkeit, wo er den von Lombroso vertretenen Satz aufnimmt, dafs die Prostitution das weibliche Korrelat des Verbrechertums bilde: Untersuchungen eines Petersburger weiblichen Arztes sollen auch die anthropologische Best\u00e4tigung ergeben haben.1 Endlich handelt er noch \u00fcber das Verbrechen als Gewerbe. Hier besch\u00e4ftigt er sich mit Tardes (3) Erkl\u00e4rung es kriminellen als eines professionellen Typus, gleich dem der Priester, K\u00fcnstler u. s. w., welche Topinard aufgenommen, aber mit Hecht als der Erg\u00e4nzung bed\u00fcrftig hingestellt habe durch R\u00fccksicht auf das Element des Krankhaften, welches die antisoziale Gruppe bezeichne. \u00dcber dieses letzte meint Ellis, es w\u00fcrde ein th\u00f6richter Versuch sein, dessen Wichtigkeit zu leugnen; insbesondere seien aber die \u00c4hnlichkeiten zwischen krimineller Anlage und Idiotismus noch zu wenig studiert. Was die moralische Verr\u00fccktheit betrifft, so m\u00f6chte er sie lieber moralische Imbezillit\u00e4t nennen und zweifelt nicht, dafs diese zu einem sehr grofsen Teile mit dem Verbrecherinstinkt sich decke. \u2014 Die Schlufs-kapitel des empfehlenswerten Buches verbreiten sich \u00fcber die Behandlung des Verbrechers, im Anschl\u00fcsse an die moderne skeptische Richtung\n1 Dr. Pauline Tarnowsky \u2014 Etude anthropologique sur les prostitu\u00e9es et les voleuses \u2014 hat untersucht: 150 Prostituierte, 100 r\u00e9cidiv\u00e9 Diebinnen, 50 gebildete Frauen, alle von derselben Rasse, aus derselben Provinz geb\u00fcrtig. Vgl. Journal of mental science, July 1890.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n331\n(\u201eannehmen, dal's die Einzelhaft aus dem Verbrecher ein vern\u00fcnftiges Wesen machen k\u00f6nne, ist ebenso vern\u00fcnftig, als die Annahme, dafs sie aus ihm einen Soldaten, oder einen Schiffer, einen Arzt oder einen, Prediger machen werde\u201c S. 263), und \u00fcber die Statistik und m\u00f6gliche Verh\u00fctung des Verbrechens (von Bildung ist nicht viel zu erwarten eher von rechtzeitiger spezieller Behandlung abnormer Kinder). \u2014 Das Buch enth\u00e4lt eine erhebliche Anzahl von Portr\u00e4ts, darunter die bekanntesten LoMBKOsoschen Typen und mehre 0-ALTONSche Mischphotographien. Interessant ist auch die Tabelle, S. 95, welche (nach Marro) in graphischen S\u00e4ulen den Anteil unter- und \u00fcbernormalen (unter 25 und \u00fcber 40) Zeugungs alter s der V\u00e4ter von Verbrechern und Wahnsinnigen im Vergleiche mit den V\u00e4tern normaler Menschen darstellen soll; ob aber dieser statistische Stoff durch hinl\u00e4ngliche Kritik gereinigt worden, mufs ich auch hier bezweifeln.1 \u2014 Von franz\u00f6sischen Werken \u00fcber den Gegenstand ist ein \u00e4lteres von Lauvergne schon erw\u00e4hnt worden, dessen Verdienst auch von Ellis hervorgehoben wird. Er sagt, es sei das erste Buch von irgend welcher Bedeutung, das aus-schliefslich der physischen, moralischen und intellektuellen Beschaffenheit von Str\u00e4flingen gewidmet wurde ; Lauvergne scheine ein Mann von humaner Gesinnung gewesen zu sein, dessen Verstand und Bonhommie ihm m\u00f6glich machte, freundliche Beziehungen mit den Verbrechern, die er studierte, zu unterhalten; er hatte \u2014 dieses Urteil finde ich durchaus zutreffend \u2014 zwar keine besondere Gabe f\u00fcr wissenschaftliche Analyse, aber er schrieb aus dem Vollen \u00fcber das, was er gesehen und kennen gelernt hatte; sein Buch enth\u00e4lt manche scharfe Beobachtungen, die seitdem ihre Best\u00e4tigung gefunden haben. Ein \u00e4hnliches Lob liefse sich f\u00fcglich auch auf das neue Buch eines jungen Pariser Gef\u00e4ngnisarztes beziehen (5). Er geh\u00f6rt der Schule Lacassagnes an, die sich als die \u00e4ltere Bichtung der Kriminalanthropologie betrachtet und den gr\u00f6fseren Nachdruck auf die soziale \u00c4tiologie legen will. Im Gegens\u00e4tze zu der ziemlich schematischen Anwendung von Statistik, die uns in der LoMBRososchen Schule begegnet, erhalten wir hier gar keine Statistik, sondern nur Beschreibungen, zum Teil sehr ausf\u00fchrliche, von einzelnen Individuen, ihrer leiblichen und geistigen Verfassung, den Bedingungen, unter denen sie erwachsen sind, gelebt haben und zu ihren Missethaten angetrieben wurden. Die endlichen Ergebnisse sind gleichwohl denen Lombrosos und anderer ziemlich \u00e4hnlich. \u201eIch habe gezeigt,\u201c heifst es am Schl\u00fcsse (S. 605), \u201ewie die Gef\u00e4ngnisse bev\u00f6lkert sind von Degenerierten, von Schw\u00e4chlichen, von Alkoholisten, Epileptischen, ja\n1 \u00dcber den zweiten Band Lombrosos f\u00e4llt Herr Ellis folgendes Urteil (Journal of mental science. July 1890): \u201eWe find throughout this volume the same absence of keen critical discernment and well weighed conclusions which impairs the value of nearly all Lombroso\u2019s previous works; but, at the same time, it shows also the same qualities of suggestions and genial exuberance of ideas which have made him an initiator and a leader in the exact study of so many obscure paths of morbid psychology. The defects of the work are too obvious to lead astray any intellelligent and critical reader, while its suggestive qualities serve to stimulate more patient and careful investigations.\u201c","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nLitteraturbericht.\nsogar (?) Hysterischen und Wahnsinnigen. Ich habe diese Individuen geschildert als schlecht bewaffnet f\u00fcr den Kampf ums Dasein. Studiert habe ich ihre schwache Intelligenz, ihre \u00e4rmliche Phantasie, ihren ohnm\u00e4chtigen Willen, ihr stummes Gewissen. Ich habe an ihren Leibern zahlreiche Spuren physischer Entartung gefunden, die so h\u00e4ufig Begleiterscheinungen der physischen Entartung sind. Ich habe sie beschrieben als verschieden von Wahnsinnigen, aber auch als verschieden von den anderen Menschen, mit einem Wort als eine Klasse f\u00fcr sich\u201c \u2014 und doch hat der Verfasser vorher (S. 350) den kriminellen Typus geleugnet und sich das Urteil Manouvriers angeeignet, der auf dem Pariser Kongrefs sich dahin ausgesprochen hatte, dafs man vom anthropologischen Standpunkte aus Subjekte in den Verbrechern sehen m\u00fcsse, die unter Umst\u00e4nden gut zum Studiertwerden taugen, um an ihnen die bei allen Menschen vorhandenen Relationen des Anatomisch-Physiologischen zum Psychologischen und Moralischen zu erkennen. Dafs aber dieser Schriftsteller, dessen Buch vielleicht mehr unterhaltend als belehrend ist und \u00fcbrigens auf alle Seiten des Gegenstandes sich erstreckt, nach solcher Aufgabe methodisch sich gerichtet habe, kann ich nicht zugeben. Immerhin sind seine auf reicher Erfahrung beruhenden Darstellungen besonders darum merkw\u00fcrdig, weil sie die korrumpierenden Einfl\u00fcsse ausgepr\u00e4gtesten grofsst\u00e4dtischen Lebens an sehr deutlichen Beispielen beleuchten. In Bezug darauf sagt auch in seinem einf\u00fchrenden Vorworte Lacassagne (S. IX): \u201eDer am h\u00e4ufigsten vorkommende Typus ist der \u201ep\u00e2le voyou\u201c, der letzte Endpunkt der Degeneration des Parisers. Er ist ein Produkt der Parisinose, einer Art von hauptst\u00e4dtischer Kachexie, einer lu-tezischen Malaria\u201c . . . und nachher (S. X) : \u201eDiese pariser Kriminalit\u00e4t, zwar sanfter und gleichsam civilisierter, ist zugleich niedertr\u00e4chtiger und verschmitzter. Was sie eingeb\u00fcfst hat an Wildheit, hat sie gewonnen an Bosheit und Feigheit.\u201c \u2014 Was bei dem Dr. Laurent, im Gegens\u00e4tze zu seinem Meister und zu seinem Vorg\u00e4nger von 1841, die mit philosophischer W\u00fcrde ihren Gegenstand behandeln, weniger angenehm ber\u00fchrt, ist hin und wieder einige Frivolit\u00e4t und Lust an Pikanterien, welche durch die Assoziation nur um so ekelhafter werden.\nMit Vergn\u00fcgen schliefse ich diesen Bericht durch Empfehlung des schon mehrfach genannten (und auch an anderer Stelle, Philosophische Monatshefte 1889 in meiner Rec. von Garofalo, Criminologie ger\u00fchmten) B\u00fcchleins von Tarde (3), dessen Erfolg, durch die zweite Auflage bewiesen, seinem Werte entsprechend ist. Der Verfasser er\u00f6rtert in vier Kapiteln 1. die Frage des verbrecherischen Typus; 2. die Kriminalstatistik Frankreichs, welche durch die Publikation von Yvern\u00e8s \u00fcber das halbe Saeculum von 1830\u20141880 eine so gr\u00fcndlich belehrende als durch ihren Inhalt niederschlagende Darstellung gefunden hat; 3. Probleme des Strafrechts; 4. Probleme der Kriminalit\u00e4t im allgemeinen. Die letzten Abschnitte suchen der sozialen Psychologie des Verbrechens, und nebenher des Selbstmordes, auf den Grund zu kommen. Durchweg recht anregende, manchmal auch recht anfechtbare Betrachtungen. Ich stimme ihm zu, wenn er sagt: Die \u201eCivilisation\u201c \u2014 worunter er mit Recht die moderne grofsst\u00e4dtisch-nationale Entwickelung versteht \u2014 ist wesentlich Sache des m\u00e4nnlichen","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n333\nGeschlechts ; aber ich halte nicht f\u00fcr richtig, wenn er mit diesem Satze die Thatsache erkl\u00e4ren will, dafs in den St\u00e4dten der numerische Unterschied zwischen m\u00e4nnlichen und weiblichen Selbstmorden gr\u00f6fser ist,-als auf dem Lande. Die Tendenz zur Egalisierung der Geschlechter, welche er leugnet \u2014 unter Hinweisung darauf, dafs im \u00fcbrigen alle nat\u00fcrlichen Unterschiede sich verwischen \u2014 findet allerdings statt, obgleich sie in der relativen Selhstmordfrequenz keinen Ausdruck findet. Ich glaube, dafs diese eine bessere Erkl\u00e4rung zul\u00e4fst. Zuerst n\u00e4mlich ist eine Klasse von Frauen, die am meisten zum Selbstmorde neigt, die der \u00e4lteren, alleinstehenden (besonders kinderlosen) Witwen. Diese ist nun in St\u00e4dten relativ weniger zahlreich, schon weil das h\u00f6here Alter seltener erreicht wird. Sodann finden solche Witwen hier leichter einen Broterwerb, k\u00f6nnen sich auch eher im Haushalt ihrer Kinder n\u00fctzlich machen, wo z. B. die junge Frau auf Arbeit ausgeht; die Empfindung, den eigenen Angeh\u00f6rigen l\u00e4stig zu fallen, wird eine der h\u00e4ufigsten Ursachen freiwilliger Entfernung sein, weshalb man auch eine Verminderung dieser Selbstmorde durch die Altersrenten in Deutschland erwarten darf. Sodann ist hei den weiblichen Selbstmorden die h\u00e4ufigst angegebene Ursache Geisteskrankheit (nicht viel unter 50 %). Wenn nun auch wohl hinter den meisten F\u00e4llen dieser Art eine andere Ursache verborgen ist, so ist doch anzunehmen, dafs wirkliche Geisteskrankheit in St\u00e4dten eher erkannt wird und leichter zur Unterbringung in Anstalten f\u00fchrt. Die andere Ursache wird aber bei j\u00fcngeren Weihern meistens Reue \u00fcber einen Fehltritt und Furcht vor Schande sein; und man d\u00fcrfte gerade gegen Tardes Ansicht (in \u00dcbereinstimmung mit seinem allgemeineren Satze) behaupten, dafs die seltenere Kausalit\u00e4t dieses Motives in St\u00e4dten anzunehmen ist und gerade in dieser gr\u00f6fseren Gleichg\u00fcltigkeit gegen sexuelle Integrit\u00e4t ein Nivellement mit der m\u00e4nnlichen Denkungsart sich kundgieht. Endlich wirken allerdings einige besondere Ursachen, die den m\u00e4nnlichen Selbstmord in den St\u00e4dten vermehren (Alkoholismus, Bankerott und dergleichen), auf das weibliche Geschlecht viel weniger!1 \u2014 Tardes Betrachtungen \u00fcber die \u201eZukunft des Verbrechens\u201c zeugen von einer so tiefen psychologischen Einsicht in die Wirkung der modernsten Lebenshedingungen, als man selten antreffen wird. Daher bringt er die mit der Bildung zunehmende H\u00e4ufigkeit einer ganzen Klasse von Delikten (Betrug, Unterschlagung u. s. w.) mit der L\u00fcgenhaftigkeit in\n1 Bei Erw\u00e4hnung der Selbstmordstatistik m\u00f6ge auch der kleinen Arbeit eines praktischen Arztes gedacht werden (6), welcher seine Erfahrungen \u00fcber 127 Selbstm\u00f6rder mitteilt, die er in amtlicher Eigenschaft auf ihre Todesart und die wahrscheinlichen Ursachen untersucht habe. Da solche Forschung \u00fcber Individuen, wenn hinl\u00e4nglich vertieft, sehr lehrreiche Ergebnisse haben k\u00f6nnte, so wird man durch den Inhalt entt\u00e4uscht sein. Es sind doch nur einzelne F\u00e4lle, \u00fcber die eingehender berichtet wird, dies zwar in einer Weise, die nicht zweifeln l\u00e4fst, dafs Verfasser ein sorgf\u00e4ltiger Beobachter des um ihn vorgehenden \u2014 und untergehenden Lehens gewesen ist. Es sind ihm mehrere Familien be-kannt geworden, in welchen die Neigung zum Selbstmorde \u201ewirklich zu Hause gewesen sei\u201c ; eine genaue Schilderung dieser Familien w\u00e4re dankenswert gewesen.","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nLitteraturbericht.\nVerbindung, die mit der Bildung verschwistert sei. \u201eDafs die L\u00fcge oft sehr n\u00fctzlich ist im Leben, kann nur ein L\u00fcgner leugnen\u201c ... sie ist aber geradezu notwendig, wo Zwecke erreicht, Unannehmlichkeiten vermieden werden sollen, und gilt daf\u00fcr in der \u00f6ffentlichen Meinung. \u2014 Um die Summe von Irrt\u00fcmern und Illusionen zu erzeugen, die f\u00fcr jedes entwickelte Kulturleben unerl\u00e4fslich scheint, tritt, nach Taedes Meinung, die bewufste L\u00fcge, als Marktschreierei und Heuchelei, immer mehr an die Stelle des vision\u00e4ren Enthusiasmus, der gl\u00e4ubigen Phantasie. \u201eEs steht nicht zu hoffen, dafs der L\u00fcgengeist sich werde bannen lassen aus unseren Gesellschaften, es sei denn, dafs sie sich von neuem heimisch machen sollten in einem majest\u00e4tischen Irrtum, einem best\u00e4ndigen und tiefen, in irgend welchem strahlenden Credo, das sie einem blendenden Ideale entgegenf\u00fchren w\u00fcrde\u201c (S.211).\nE. T\u00f6nnies (Kiel).","page":334}],"identifier":"lit14437","issued":"1891","language":"de","pages":"321-334","startpages":"321","title":"Kriminal-Anthropologie: 1. Cesare Lombroso: Der Verbrecher in anthropologischer, \u00e4rztlicher und juristischer Beziehung, 2 B\u00e4nde, Hamburg, Verlagsanstalt A.-G. I, 562 S., 1887, II, 412 S., 1890. 2. Cesare Lombroso: L'anthropologie et ses r\u00e9cents progr\u00e8s, Paris, Alcan 1890, 180 S.. 3. G. Tarde: La criminalit\u00e9 compar\u00e9e, 2. \u00e9dit. Paris, Alcan 1890, 215 S.. 4. Havellock Ellis: The Criminal, London, Scott, 1890, 337 S.. 5. Emile Laurent: Les habitu\u00e9s des prisons de Paris, \u00c9tudes d'anthrophologie et de psychologie criminelles, Lyon, Storch, Paris, Masson 1890, Biblioth\u00e8que de criminologie, Pr\u00e9face de Lacassagne, 616 S.. 6. J. Thomson: Beobachtungen \u00fcber den Selbstmord, Archiv f. Psychiatrie, Bd. XXII, 1890, Heft 1, 20 S.","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:11:27.496931+00:00"}

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