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{"created":"2022-01-31T16:11:06.798052+00:00","id":"lit14439","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lombroso, Cesare","role":"author"},{"name":"S. Ottolenghi","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2: 337-360","fulltext":[{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Die Sinne der Verbrecher.\nVon\nCesare Lombroso und S. Ottolenghi.\n(Mit 4 Figuren.)\nKapitel I.\nNachdem wir eben erst begonnen, uns wissenschaftlich mit den Verbrechern und zwar haupts\u00e4chlich mit jenen traurigsten, schon durch ihre Geburt dieser Gattung zugeh\u00f6rigen Wesen, die unsere Schule \u201egeborene Verbrecher\u201c nennt, zu besch\u00e4ftigen, bemerkten wir, dafs die ihnen eigent\u00fcmlichen Anomalien weit h\u00e4ufiger funktioneller, als anatomischer Natur waren. Insbesondere sind die der spezifischen Sinne in h\u00f6herem Grade ausgepr\u00e4gt, als selbst bei den schwersten Geisteskrankheiten (z. B. bei Paranoikern und Melancholikern). Und doch wurde dieses Ph\u00e4nomen ganz aufser acht gelassen, und die Psychiater der verschiedenen Schulen diskutierten ernstlich die Existenz des moralischen Irrsinns, der demnach das \u00c4quivalent oder vielmehr das Synonymon des angeborenen Verbrechertums ist, ohne sich doch die M\u00fche zu nehmen, wenigstens einige sachliche Untersuchungen anzustellen. Dies berechtigt und erkl\u00e4rt die Ungl\u00e4ubigkeit, mit der seit so vielen Jahren die Behauptung dieser furchtbaren psychiatrischen Anomalie aufgenommen wurde, die die gr\u00f6fste Geifsel der Menschheit ist und doch noch nie von den Klinikern geh\u00f6rig studiert worden ist.\n1. Allgemeine Sensibilit\u00e4t.\nWir begannen mit der Untersuchung der allgemeinen Sensibilit\u00e4t, die wir am K\u00fccken der Hand vermittelst des D\u00fc Bors-KEYMONDschen Schlitteninduktoriums ausf\u00fchrten. Bei 14 Verbrechern, denen wir 15 gesunde Individuen gegen\u00fcberstellten, fanden wir eine betr\u00e4chtliche Abweichung: n\u00e4mlich bei den\nZeitschrift F\u00fcr Psychologie II.\t23","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nCesare Lombroso und S. Ottolenghi.\nersteren eine mittlere Sensibilit\u00e4t von 49 mm, bei den letzteren eine solche von 64 mm. Neue Untersuchungen, die sich auf den Unterschied der Sensibilit\u00e4t der rechten und linken Hand bezogen und sich auf 42 Verbrecher erstreckten, ergaben die folgenden tabellarisch geordneten Resultate :\n\tDie allgemeine Sensibilit\u00e4t war am K\u00fccken\t\t\n\tder rechten,\t\tder linken Ha\n\tmm\t%\t\nzwischen 11 u. 20 bei 2 Verbr.\t\t= 4,7\tbei 2 Verbrechern . .\n55\t21 ,, 30 ,, 4\t\u201e\t= 9,5\t55\t2\t55\n55\t31 \u201e 40 \u201e 4\t\u201e\t= 9,5\t55\t55\n55\t41 \u201e 50 \u201e 14\t\u201e\t= 33,3\t\u00bb 14\n55\t51 \u201e 60 \u201e16\t\u201e\t= 38,0\t\u201e18\n55\t61 \u201e 70 \u201e 2\t\u201e\t= 4,7\t55\t1\t55\t* *\nDie mittlere Sensibilit\u00e4t war also 45 mm rechts\nund 47 \u201e links.\nDie linksseitige d\u00fcrfte demnach \u00fcberwiegen. Gleiche Sensibilit\u00e4t auf beiden Seiten zeigten 26,1%;\n\u00fcberwiegend rechtsseitige 33,3 \u201e\n\u201e linksseitige 40,4 \u201e\n%\n= 4,7 = 4,7 = 11,9 = 33,3 = 42,8-= 2,3\n2. Topographische Sensibilit\u00e4t.\nUnter 95 Beobachteten fanden wir betr\u00e4chtliche Obtusit\u00e4t in 61 F\u00e4llen. Dieselbe war vorwiegend rechtsseitig in 21, vorwiegend linksseitig in 16 F\u00e4llen.\n3. Algesimetrie.\nNoch wichtiger ist die Pr\u00fcfung der Schmerzempfindlichkeit, die wir ebenfalls am Handr\u00fccken vermittelst des Du Bois-REYMONDschen Schlitteninduktoriums anstellten. Wenn hier bei 21 normalen Individuen die mittlere Empfindlichkeit \u2014 49,1 mm ist, so sinkt ihre Schmerzempfindlichkeit selten bis 0 herab. Bei einem einzigen sank sie auf 17, und schwankte in den meisten F\u00e4llen zwischen 32 und 49. \u2014 Von den Verbrechern dagegen hatten 4 eine Schmerzempfindlichkeit = 0, d. h. v\u00f6llige Analgesie. Bei 3 war die Quote 11\u201415, w\u00e4hrend sie in den zahlreicheren Serien zwischen 30 und 35 schwankte.\nSoviel \u00fcber die Schmerzempfindlichkeit des Handr\u00fcckens. Dasselbe w\u00fcrde sich an der Zunge und Stirn best\u00e4tigen, wor\u00fcber wir jedoch nur wenigere Daten gesammelt haben.\nWeitere, an 46 Verbrechern angestellte Versuche ergaben:","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Die Sinne der Verbrecher.\n339\nDie Schmerzempfindliclikeit war\nan der rechten,\n0\thei 11 Verhr. = 23,9 %\n= 13,0 \u201e\n1\u201410 mm 11-20 \u201e 21\u201430 \u201e 31\u201440 \u201e 51\u201460 \u201e\n= 13,0 \u201e = 15,2 \u201e = 8,7,, = 2,1 \u201e\nan der linken Hand\nhei 9 \u00bb\t4\n\u201e 8\n\u201e 12 \u201e 1\nVerbrechern\n\u00bb\nJ)\nJJ\n= 19,5 % = 8,7 \u201e = 17,4 \u201e = 26,1 \u201e = 2,1 \u201e = 2,1 \u201e\nIm Durchs\u00e7hnitt also 20 mm rechts, 21 mm links. Gleiche Schmerzempfindlichkeit auf beiden Seiten zeigten 7 (=15,2%),\n\u00fcberwiegend rechtsseitige................14 (\u201430,4%),\n\u201e linksseitige....................18 (=39 %).\nIn 7 F\u00e4llen (15%) war die Schmerzempfindlichkeit = 0, d. h. \u00fcberhaupt nicht vorhanden, und zwar auf beiden Seiten. Bei Gelegenheitsverbrechern und Alkoholikern trat eine bemerkenswerte Obtusit\u00e4t nicht hervor.\nUnter 15 jugendlichen Verbrechern zwischen 10 und 14 Jahren fanden wir 10 F\u00e4lle von vollkommener Analgesie, und dadurch wird die Annahme hinf\u00e4llig, dafs dieselbe von Alkoholismus, Syphilis, Altersschw\u00e4che oder irgend einem Einfl\u00fcsse der Berufst\u00e4tigkeit herr\u00fchre.\nAuf diese h\u00e4ufige Analgesie waren wir schon durch die unter Verbrechern allgemein verbreitete Sitte des T\u00e4ttowierens, sowie durch zahlreiche Anekdoten des Gef\u00e4ngnislebens aufmerksam geworden. So hatte sich z. B. ein alter Dieb gl\u00fchendes Eisen an das Skrotum kommen lassen, ohne einen Laut von sich zu geben und dann gefragt, ob es schon vorbei sei, als wenn die ganze Sache ihn nicht betr\u00e4fe. Jedoch nach kurzer Zeit lag er im Fieber. Ein andrer fiefs sich mit der gr\u00f6fsten Apathie ein Bein amputieren, nahm dann das losgel\u00f6ste Glied in die Hand und machte seine Sp\u00e4fse dar\u00fcber. Ein alter M\u00f6rder, der nach Ablauf seiner Strafzeit aus dem Bagno der Insel S. entlassen werden sollte, bat den Direktor, ihn noch im Gef\u00e4ngnisse behalten zu wollen, da er sonst nicht w\u00fcfste, woher er sich ein St\u00fcck Brot verschaffen sollte. Als er sein Anliegen abgelehnt sah, schlitzte er sich mit einem L\u00f6ffelstiel die Eingeweide auf, stieg dann ruhig die Treppe hinauf und legte sich wie gew\u00f6hnlich ins Bett, wo er bald darauf verschied, ohne einen Seufzer von sich zu geben. \u2014 Der M\u00f6rder Descourbes brachte \u00abich, um nicht nach Cayenne\n23*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nCesare Lombi'oso und S. Ottolenghi.\ndeportiert zu werden, k\u00fcnstliche Wunden an den Beinen bei, und als diese heilten, durchbohrte er sich mit einem in eine Nadel gef\u00e4delten Haar das Kniegelenk und starb daran. \u2014 Mandrin liefs sich vor seiner Enthauptung 8 Schnitte in Arme und Beine machen ohne zu st\u00f6hnen. Um sich unkenntlich zu machen, sprengte sich B. mit Schiefspulver drei Z\u00e4hne aus; K. zog sich mit einem St\u00fcck Glas die Haut vom Gesicht. \u2014 In der Strafanstalt zu Chatam vermerkte man w\u00e4hrend der Jahre 1871 und 1872 an 841 freiwillig beigebrachte Kontusionen und Wunden. 27 Str\u00e4flinge verst\u00fcmmelten sich so aus eigenem Antrieb irgend ein Glied, und in 17 dieser F\u00e4lle mufste man zur Amputation schreiten; andere 62 versuchten sich zu verst\u00fcmmeln; in 101 F\u00e4llen fand man Wunden vor, die mit \u00e4tzenden Substanzen beigebracht waren (Bivista d\u00e9lie discipline carcerarie, 1873).\n4. Taktile Sensibilit\u00e4t.\nDieselbe wurde eingehend au 69 Individuen gepr\u00fcft. Auffallend stumpf zeigte sie sich bei 30%, besonders fein entwickelt nur bei 2 %. Auch das arithmetische Mittel von 2,67 rechts und 2,41 links w\u00fcrde eine weit unter der normalen liegende Feinheit der Sensibilit\u00e4t beweisen im Vergleiche zu dem Durchschnitt, der sich bei mir und den Behandelten ergab, und der =1,2 \u2014 1,5 betrug, ferner bei 30 Alkoholikern = 2,5, und bei Geisteskranken = 2,3.\nBesonders auffallend d\u00fcrfte die Anomalie in dem Unterschiede der beiden Seiten sein. Aus den Beobachtungen an 69 Verbrechern ergab sich :\nDie taktile Sensibilit\u00e4t\nan der\n\t\tan der rechten,\t\tan der linken Hand\t\t\t, Zungensph\t:ze\n\t\t\tO/o\t\t\tO/o\t\t\u00b0/o\nist 0,1\t-i,o,\tbei\t2Verbr. = 2,9,\tbei\t2 Yerbr. = 2,9,\t\tbei 6 Verbr. =\t16,6,\n, 1,1\t-2,0,\t\u00bb\t30\t\u201e\t=43,4,\t\u201e\t26\t\u201e\t=37,6,\t\u201e 12 \u201e =\t32,2,\n\u201e 2,1\t-3,0,\tr>\t16\t,\t=23,1,\t\u00bb\t28\t\u201e\t=40,5,\t\u201e 9\t\u201e\t=\t24,9,\n\u201e 3,1\t-4,0,\t\u00bb\t13\t\u201e\t=18,8,\t\u00bb\t6\t\u201e = 8,6,\t\u201e\t7\t\u201e\t=\t19,4,\n\u201e 4,1\t-5,0,\t\u00bb\toT ii iO\t\u00bb\t4\t\u201e\t= 5,8,\tn 1\t\u00bb\t=\t2,7,\n\u201e 5,1\t-6,0,\t\u00bb\t2\t\u201e\t= 2,9,\tV\t2\t\u201e\t= 2,9,\t,, 1 \u201e \u2014\t2,7,\n\u00bb 7,1\t-8,0,\t\t\t\u00bb\t1\t\u201e\t= 1,4,\t\t\n, 8,1\t-9,0,\t\u00bb\t2\t\u201e\t= 1,4.\t\t\t\t\t\nW\u00e4hrend nur bei 5\u00b0/o normaler Individuen Stumpfheit der taktilen Sensibilit\u00e4t sich zeigte, fanden wir eine solche","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Die Sinne der Verbrecher.\n341\nziemlich, h\u00e4ufig bei diesen Verbrechern: n\u00e4mlich bei 30,3% auf der rechten Seite, bei 18,9% auf der linken; etwa 30% zeigten anormale Sensibilit\u00e4t an der Zunge.\nDas arithmetische Mittel der Sensibilit\u00e4t am \u00c4sthesiometer und zwar f\u00fcr 69 Typen war 2,67 rechts, 2,41 links, und 2,33 an der Zunge, w\u00e4hrend nach Marro normale Individuen 1,68 rechts und 1,78 links ergeben. 17 endlich, d. h. 24,6% ergaben gleiche Ziffern f\u00fcr beide Seiten. Bei 31, d. h. 44,2% fand sich gr\u00f6fsere rechtsseitige Obtusit\u00e4t, bei 21 d. h. 30,4% gr\u00f6fsere linksseitige.\nUnter 15 minorennen Verbrechern fanden sich vier F\u00e4lle von taktiler Obtusit\u00e4t (3\u20144 mm). V\u00f6lliges Fehlen des Gef\u00fchls fanden wir bei einem Verbrecher, einem wahren Typus von Degeneration: derselbe hatte ein Mongolengesicht, ausgepr\u00e4gte Plagiocephalie, weiblichen Charakter in der Haut und der Verteilung des Haarwuchses. Es fehlte ihm v\u00f6llig das Geschmacksund Geruchsverm\u00f6gen, und auch die \u00fcbrigen Sinne waren wenig ausgepr\u00e4gt; zumal sein moralischer Sinn war minimal. Bei einem andern \u201egeborenen Verbrecher\u201c, einem Bruderm\u00f6rder, mit stark vorspringenden Kiefer- und Backenknochen und kleinen, \u00e4ufserst beweglichen Augen fanden wir vollst\u00e4ndigen Mangel des Gef\u00fchls: Geruch und Geschmack waren minimal, seine Sehsch\u00e4rfe dagegen gut.\nPr\u00fcft man die taktile Sensibilit\u00e4t nach Mafsgabe der verschiedenen Arten von Vergehen,1 so verdoppelt sich die H\u00e4ufigkeit der Obtusit\u00e4t (9, 10, 11) im Vergleich zur normalen Empfindlichkeit (5%) bei den Einbrechern, den sogenannten \u201eMesserhelden\u201c und \u201eSchwindlern\u201c ; sie nimmt noch mehr an H\u00e4ufigkeit zu bei Dieben und Strafsenr\u00e4ubern, w\u00e4hrend sie sich vervierfacht, ja verf\u00fcnffacht bei den geschlechtlichen Verbrechern, M\u00f6rdern und Brandstiftern.\n5. Empfindlichkeit gegen magnetische Einfl\u00fcsse.\nW\u00e4hrend die verschiedenen Arten der Empfindlichkeit vielfach abgestumpft erscheinen, mit alleiniger Ausnahme der Sehkraft, wie wir des Weiteren sehen werden, ist die Reaktion auf magnetische Einfl\u00fcsse dagegen um so lebhafter. In der\n1 Die Obtusit\u00e4t ist: bei M\u00f6rdern 25, sogenannten \u201eMesserhelden\u201c 10, geschlechtlichen Verbrechern 19, Dieben und Strafsenr\u00e4ubern 13, Brandstiftern 25, Schwindlern 11, Normalen 5'Yo.","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nCesare Lombroso und S. Ottolenghi.\nThat waren unter 62 Verbrechern, alles junge Leute zwischen 18 und 27 Jahren, 32 dagegen unempfindlich, w\u00e4hrend 30, also 48,3% darauf reagierten: eine hohe Ziffer im Vergleich zu der normalen, 23%, welche sich an 200 Studenten und Arbeitern ergab.\n6. Empfindlichkeit f\u00fcr meteorische Einfl\u00fcsse.\nEine andere, den Verbrechern eigent\u00fcmliche Empfindlichkeit ist die f\u00fcr meteorische Ver\u00e4nderungen, welche in 26 unter 102 F\u00e4llen deutlich wahrgenommen wurde : 7 derselben wurden streits\u00fcchtig, und einer unter ihnen, der jedoch eine Wunde am Kopfe hatte, ein Einbrecher und Sodomit, erkl\u00e4rte, seine Genossen f\u00fchlten, so oft sie ihn in z\u00e4nkischer Laune s\u00e4hen, den Eintritt des schlechten Wetters voraus und betrachteten ihn deshalb als Barometer.\n7. Der Geruchssinn.\nWir konstruierten uns eine Art von Osmometer, bestehend aus 12 L\u00f6sungen von Nelkenessenz in Wasser, die nach steigenden Graden von Konzentration hergestellt und in ebenso vielen gleichen Fl\u00e4schchen mit versiegeltem Kork in der gleichen Menge enthalten waren. Es bestand also dieser Osmometer aus 12 Graden, entsprechend den verschiedenen L\u00f6sungen:\n1. Grad\t= L\u00f6sung\tV\u00f6OOOO\t7.\tGrad\t= L\u00f6sung\tV1000\n2. \u201e\tV\tV25000\t8.\t5?\tn\t1/s 00\n3.\t\u201e\tn\tVlOOOO\t9.\tV\t= \u201e\tVsoo\n4.\t\u201e\tr>\tV\u00f6OOO\t10.\tn\t= n\tV250\n5.\t\u201e\t== t\t\u00bb\tV2500\t11.\t\u00bb\t=\tj,\tV200\n6. \u201e\t\u00bb\tV2000\t12.\t5\u00bb\t\u00bb\tV100\nWir w\u00e4hlten die Nelkenessenz als eine der bekanntesten, am st\u00e4rksten riechenden und am leichtesten l\u00f6sbaren Substanzen.\nDie Beobachtungen wurden in verschiedenen Abteilungen ein einziges Mal t\u00e4glich unter so gut wie identischen Vorbedingungen der Ventilation u. s. w. angestellt. Auch wurden die L\u00f6sungen jedesmal erneuert, um Irrt\u00fcmer zu vermeiden, die aus der leichten Verdunstung h\u00e4tten entstehen k\u00f6nnen.\nWir bedienten uns nun dieses Osmometers in zwiefacher Weise. Erstlich handelte es sich darum, den Konzentrationsgrad der L\u00f6sung zu bestimmen, bei dem die einfache Geruchsempfindung begann. Jedoch legten wir darauf nicht viel Wert,","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Die Sinne der Verbrecher.\n348\nda dieselbe durch die gespannte Aufmerksamkeit zu stark h\u00e4tte beeinflufst sein k\u00f6nnen. Sodann vermerkten wir den Grad, bei dem die spezifische Empfindlichkeit begann, indem wir dem Individuum immer zun\u00e4chst die L\u00f6sung des ersten Grades reichten.\nBei beiden Proben gingen wir nach der von Nichols und Byley angewandten Methode zu Wege. Man brachte die verschiedenen Fl\u00e4schchen durcheinander und forderte dann das Individuum auf, sie nach ihrer nat\u00fcrlichen Reihenfolge zu ordnen, wobei es nur den Geruch zu Rate ziehen durfte. Wir verabreichten die L\u00f6sungen pers\u00f6nlich, mit den schw\u00e4chsten beginnend, damit nicht etwa jemand, der unvermittelt an einer der st\u00e4rkeren gerochen h\u00e4tte, nachher aufser st\u00e4nde w\u00e4re, die schw\u00e4cheren Grade wahrzunehmen.\nWir untersuchten 90 geborene Verbrecher. Sie alle rauchten nicht, noch wiesen sie Alterationen der Nasenwege auf.\nDie einzelnen, nach den beiden Methoden angestellten Beobachtungen haben wir in der folgenden tabellarischen \u00dcbersicht zusammengefafst.\nDer mittlere Grad, bei welchem normale Individuen die L\u00f6sung von Nelkenessenz wahrzunehmen vermochten, war der 4. (= Vsooo), dagegen entsprach das mittlere Geruchsverm\u00f6gen bei Verbrechern dem 8. Grade des Osmometers (= L\u00f6sung Vsoo).\nBetrachten wir sodann die F\u00e4lle, welche den geringsten Grad von Geruchsempfindlichkeit aufwiesen (d. h. das Individuum nahm den Nelkengeruch erst bei der meist konzentrierten L\u00f6sung des 12. Grades (= 1/ioo) wahr und machte bei der Anordnung der Fl\u00e4schchen mehr als vier schwere Fehler), so ergiebt sich f\u00fcr die Normalen ein Verh\u00e4ltnis von 3,3 %, f\u00fcr die Verbrecher 13%; sechs der letzteren besafsen nicht das geringste Geruchsverm\u00f6gen (Geruchsblindheit).\n8. Das Geruchsverm\u00f6gen bei geschlechtlichen Verbrechern.\nZwischen den sexuellen Instinkten und dem Geruchssinne besteht ein so inniger Zusammenhang, dafs man geneigt ist zu glauben, ihre kortikalen Centren seien einander benachbart. In der That f\u00fchrt Hesch einen Fall von Atrophie der Genitalien an, wo zugleich die Geruchsdr\u00fcsen fehlten. Schon Cloquet bemerkte, dafs der Duft der Blumen zur geschlechtlichen","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nCesare Lombroso und S. Ottolenglii.\nBegierde reizt. Auch Hildebrand nahm Beziehungen zwischen dem Geruchssinn und den sexuellen Empfindungen an, und Most und J\u00fcger und Ploss bewiesen an der Hand von Belegen,, dafs schon die Transspiration, der Schweifs eines Menschen Lustgef\u00fchle erregen kann. Einen ferneren Beweis daf\u00fcr haben wir in der Vorliebe, welche manche \"W\u00fcstlinge und sinnliche Frauen f\u00fcr Parfums bezeugen.\nDas zwischen Geruchs- und Geschlechtssinn bestehende Band erscheint auch bei Geisteskranken, welche h\u00e4ufigen Geruchshallucinationen unterworfen sind ; in der Psychose ferner infolge von Masturbation bei beiden Geschlechtern. Man erkennt es ebenso deutlich in den verschiedenen Formen sexueller Verirrungen, wie z. B. in dem Behagen am Trinken von Frauenurin, in den Psychopathien und Neuropathien im allgemeinen. Gewisse Ger\u00fcche erregen in manchen Menschen den Geschlechtssinn, andere wiederum k\u00f6nnen ihn paralysieren. So ist uns ein Fall von einer ehrbaren neuropathischen Frau bekannt, die trotz ihres Verlangens den geschlechtlichen Verkehr mied wegen der abstofsenden Wirkung, welche die Ausd\u00fcnstung des Gatten auf sie aus\u00fcbte.\nD\u00fcrfen wir nun auf Grund dieses Falles behaupten, dafs der Geruchssinn bei sexuellen Neuropathikern mehr oder weniger entwickelt sein m\u00fcsse? Krafft-Ebing neigt entschieden zu der Ansicht, dafs dieser Sinn bei sexuellen Neuropathikern ausgepr\u00e4gter als bei anderen sei. Doch beweisen die angef\u00fchrten Beispiele nichts anderes als den unwiderleglichen Zusammenhang von Geruchs- und Geschlechtssinn und offenbaren uns eine bemerkenswerte Idiosynkrasie gewisser Individuen f\u00fcr gewisse Ger\u00fcche. Das zeigt uns die Kasuistik.\nAus alledem h\u00e4tte man nun auf eine aufserordentliche Geruchsempfindlichkeit bei sexuellen Psychopathikern schliefsen m\u00fcssen. Statt dessen hat die wissenschaftliche Forschung das Gegenteil erwiesen : ein neuer Beweis daf\u00fcr, wie wenig apriorische Annahmen in der Wissenschaft etwas n\u00fctzen im Vergleiche zu Untersuchungen, die auf exakter Methode beruhen.\nUnsere Aufgabe war es also, den Grad von Sensibilit\u00e4t zu finden, welchen 20 geschlechtliche Verbrecher f\u00fcr die genannte Substanz besafsen, nachdem wir den mittleren Grad bei Normalen bereits kennen gelernt hatten.\nDer durchschnittliche Grad der Wahrnehmung f\u00fcr die","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Die Sinne der Verbrecher.\n345\nL\u00f6sung der Nelkenessenz entsprach bei geschlechtlichen Verbrechern dem 6. (= 72000), wobei durchschnittlich vier schwere Fehler in der Anordnung der L\u00f6sungen gemacht wurden.\nW\u00e4hrend ferner an 30 Normalen nur ein Fall von Geruchsunempfindlichkeit konstatiert wurde (ein Zustand, bei dem zwar eine gewisse Sensation vorhanden ist, ohne dafs man doch n\u00e4her zu bestimmen verm\u00f6chte, in welcher Weise der Reiz einwirkt), so begegnete man derselben bei 33 % der geschlechtlichen Verbrecher.\nExperimente mit Ammoniakl\u00f6sungen ergaben dieselben Resultate. Und so erhellt denn aus unseren Versuchen, dafs das Geruchsverm\u00f6gen der geschlechtlichen Verbrecher wreniger ausgebildet als bei Normalen ist. Und das best\u00e4tigt auch Pelanda (Arch, cli psich. 1889); in der That fand er unter Anwendung derselben Methode, deren wir uns bedient hatten, bei keinem seiner Pornopathiker (Nr. 10) normale Geruchsempfindlichkeit; bei allen waren Abweichungen vorhanden, bei einigen sogar fast vollst\u00e4ndige Anosmie.\nMittlere Geruchssch\u00e4rfe nach Graden der Osmometerl\u00f6sung:\n1\u00b0 2\u00b0 3\u00b0 4\u00b0 5\u00b0 6\u00b0 7\u00b0 8\u00b0 9\u00b0 10\u00b0 11\u00b0 12\u00b0\nhei:\nnorm.\nM\u00e4nnern\nverbr.\tMM\nM\u00e4nnern\nverbr.\nWeibern\nprostit.\nWeibern\nnorm, fcp ' f3\u00bb\t;\nWeibern\nGeringster Grad von Geruchssch\u00e4rfe hei folgenden Prozenten der untersuchten Individuen:\n1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20%\nnorm.\nM\u00e4nnern\nverbr.\nM\u00e4nnern\nWeibern\nprostit.\nWeibern\nnorm. HHHH1\nWeibern\nFig. 1.","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nCesare Lombroso und S. Ottolenghi.\n9. Der Geschmack.\nUnsere Beobachtungen erstreckten sich auf 60 geborene Verbrecher, 20 Gelegenheitsverbrecher, 20 normale Individuen aus den untersten sozialen Schichten, 50 Studenten und Gewerbetreibende, die alle von gesunder, kr\u00e4ftiger Konstitution und zwischen 20 und 50 Jahren waren. Wir experimentierten nun sowohl mit Bitterem und S\u00fcfsem, welche beide reine Geschmacksempfindungen erzeugen, als auch mit Salzigem, das in konzentrierter L\u00f6sung, wie Zennech, Valentin und Vintschgau behaupteten, als taktiler Beiz wirkt, w\u00e4hrend es in stark verd\u00fcnnten L\u00f6sungen nach Schien ebenfalls Geschmacksempfindungen hervorruft. Was das Bittere betrifft, so w\u00e4hlten wir Strychninsulfat. Nach Babuteau soll der bittere Geschmack desselben noch in einer L\u00f6sung von Vcooooo wahrnehmbar sein. Doch fanden wir, dafs etwa 12 % unserer Normalen das Bittere noch in der L\u00f6sung Vsooooo herausschmeckten. Davon ausgehend stellten wir L\u00f6sungen in gradueller Steigerung bis zu V\u00f6oooo her.\nWas das S\u00fcfse betrifft, so wandten wir anstatt des Zuckers, der uns nur wenig teilbare L\u00f6sungen geben konnte, das Saccharin an. Dasselbe besitzt nach unseren Erfahrungen einen Grad von S\u00fcfsigkeit, der selbst in einer L\u00f6sung von Viooooo noch ziemlich deutlich wahrzunehmen ist, und vielleicht k\u00f6nnte man noch weiter verd\u00fcnnte L\u00f6sungen erzielen, da der Prozentsatz derer, die jenen Grad noch wahrzunehmen vermochten, ver-h\u00e4ltnism\u00e4fsig hoch ist (25 % f\u00fcr normale Menschen). Man stellte sieben L\u00f6sungen in gradueller Steigerung her bis Vioooo. Von Wichtigkeit war die Bestimmung der Quantit\u00e4t, die bei den Versuchen zur Anwendung kommen sollte. W\u00e4hrend fr\u00fchere Beobachter vielmehr die geringste Quantit\u00e4t zu finden sich bem\u00fchten, die auf einem beschr\u00e4nkten Teil der Zunge die besagte Empfindung zu erregen imstande war, \u2014 (Camebek z. B. experimentierte nur mit einem einzigen Hautw\u00e4rzchen) \u2014, so reizten wir, um vergleichende Beobachtungen \u00fcber das Maximum der gustativen Sensibilit\u00e4t zu gewinnen, vielmehr die gesamte Oberfl\u00e4che der Zunge und bedienten uns immer der konstanten Quantit\u00e4t von V\u00e4 cm. Und damit die Fl\u00fcssigkeit mit der ganzen geschmackempfindenden Fl\u00e4che in Ber\u00fchrung k\u00e4me, liefsen wir sie in den Mund laufen, mit der Weisung,","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Die Sinne der 'Verbrecher.\n347\nsie hinunterzuschlucken. Alle diese L\u00f6sungen waren in ebensoviel Fl\u00e4schchen aufbewahrt. Durch den Kork, der sie schlofs, reichte eine d\u00fcnne, mit Graden versehene R\u00f6hre, vermittelst derer wir die konstante Quantit\u00e4t Fl\u00fcssigkeit auf die Zunge spritzten. Keineswegs gleichg\u00fcltig ist die Temperatur der Fl\u00fcssigkeit. Ist sie zu kalt, so ist die Geschmacksempfindlichkeit viel geringer. Unsere Fl\u00e4schchen wurden demnach in demselben Kasten aufbewahrt. Ihre Temperatur war die der umgebenden Luft. Ehe wir zum Versuche schritten, liefsen wir mit nicht allzu kaltem Wasser den Mund sorgf\u00e4ltig aussp\u00fclen. Weil sich nun betr\u00e4chtliche Unterschiede in der Feinheit des Geschmacks bei solchen Leuten herausstellen, die sich zum erstenmal dem Experiment unterziehen, wie es Aducco und Mosso bewiesen haben, so wiederholten wir den Versuch mehrmals.\nGeschmacksverm\u00f6gen f\u00fcr bitter bei folgenden Prozentzahlen der untersuchten Individuen:\na) ausgezeichnet:\nFig. 2.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nCesare Lombroso und S. Ottolenglii.\nMan sagt, das Salzige wirke nur als taktiler Beiz. Unsere Ergebnisse bleiben jedoch dieselben f\u00fcr alle Arten des Geschmacks, auch f\u00fcr den des Salzigen. Freilich, die entschiedenste und konstanteste Geschmacksempfindung ruft das Bittere hervor, und man kann sagen, es stelle in der Skala der gusta-tiven Empfindungen das dar, was das Bote unter den Farbenempfindungen. Die Mehrzahl unserer Erfahrungen betrifft daher das Bittere.\nAus allen diesen Beobachtungen geht klar hervor, dafs der Geschmackssinn im normalen Menschen h\u00f6her entwickelt ist, als im Verbrecher, h\u00f6her entwickelt im Gelegenheitsverbrecher als im geborenen. . Auch im Vergleiche mit den an wenig gebildeten Personen gemachten Versuchen \u00fcberrascht das gleiche Verh\u00e4ltnis. W\u00e4hrend sich gustative Obtusit\u00e4t bei 25 % derselben fand, d\u00fcrfte sie bei 38 % der geborenen Verbrecher, dagegen nur bei 14 % der Gewerbetreibenden vorhanden sein: Ergebnisse, die sich noch deutlicher beim S\u00fclsen und beim Salzigen herausstellen.\n10. Das Geh\u00f6r.\nUnser Beobachtungsmaterial bestand aus 110 Verbrechern von gesunder Konstitution, und zwar waren es 82 M\u00e4nner, deren 40 geborene Verbrecher und 42 Gelegenheitsverbrecher waren, sowie 28 weibliche Verbrecher. Die Messung der Geh\u00f6rsch\u00e4rfe nahm Pr. Gkadenigo in jedem einzelnen Falle mit vier hellt\u00f6nenden Schallquellen vor : n\u00e4mlich einer Uhr mit starkem Schlagwerk (durchschnittliche Entfernung 5 m), einer Uhr mit schw\u00e4cherem Schlagwerk (mittlere Entfernung 31A m), der tonlosen Stimme und dem Akumeter von Politzer.\nDie Hauptergebnisse waren nun folgende.\nUnter 82 Individuen lag bei 55 ( = 67,3 %) die Sch\u00e4rfe des Geh\u00f6rs unter der normalen, auf einem oder beiden Ohren. Unterscheidet man hier geborene und Gelegenheitsverbrecher, so f\u00e4llt die Majorit\u00e4t der Erkrankten den ersteren im Alter von 20\u201430 Jahren zu. Die genauen Ziffern sind folgende:\nUnter 40 geborenen Verbrechern Unter 42 Gelegenheitsverbrechern 29 Kranke = 72,5%.\t26 Kranke = 62%.\nVon 15\u201420 J. 3 Kranke auf 6 = 50% \u201e\t20\u201430 \u201e\t13\t\u201e\t17 = 76%\n\u00bb\t30-40,,\t4\t\u201e\t\u201e\t7 = 57%\n\u201e\t40-60 \u201e\t9\t\u201e\t\u201e\t10=90%.\n4 Kranke\tauf 7 = 57 %\n8\t\u201e\t\u201e\t16 =\t50%\n6\t\u201e\t\u201e\t10 = 60%\n8\t\u201e\t\u201e\t9 =\t88%.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Die Sinne der Verbrecher.\n349\nDie verschiedenen bei Verbrechern beobachteten Affektionen k\u00f6nnen folgendermafsen gruppiert werden:\nMittl. katarrhal, u. purulente Otitisb.l\u00e4geb.Verbr.; b. 13Gelegenheitsverbr. Innere senile etc. Otitis... \u201e 12 \u201e\t\u201e B 9\nNicht genau zu lokalisierende\nDysakusien.................... 5 \u201e\t\u201e\t4\t\u201e\nDie Aflfektionen des mittleren Ohres sind fast doppelt so h\u00e4ufig als die des inneren, und viermal so h\u00e4ufig als die gemischten Formen (Apparat der Transmission und Perzeption).\nDie Ohrenkrankheiten im allgemeinen treten, obwohl sie h\u00e4ufiger sind bei geborenen Verbrechern, doch weit schwerer bei G-elegenheitsverbrechern auf.\nEs geht also aus diesen Beobachtungen hervor, dafs die H\u00e4ufigkeit von Ohrenleiden bei Verbrechern im allgemeinen gr\u00f6fser ist als beim Durchschnitt der normalen Menschen. Die Abnahme der Geh\u00f6rsch\u00e4rfe (die weit h\u00e4ufiger ist als bei Normalen = 65%) r\u00fchrte in der grofsen Majorit\u00e4t der F\u00e4lle von Entz\u00fcndungen des mittleren und inneren Ohres her. Nur in einigen F\u00e4llen (11% aller untersuchten, 18% der kranken Individuen) konnte man eine Form von Disakusie konstatieren, die der sog. \u201ePresbyakusie\u201c gesunder alter Leute ganz analog ist und von einem degenerativen Charakter des H\u00f6rorgans herr\u00fchrt.\n11. Das Gesicht.\nI. Die Sehsch\u00e4rfe.\nWir mafsen die Sehsch\u00e4rfe an 100 Verbrechern, alles erwachsene Leute, mit den Optoskopen von Snellen, und zwar auf breiten H\u00f6fen, an sonnigen Tagen, immer zur gleichen Stunde, und erhielten die folgenden Durchschnittsresultate :\nDurchschnittliche Sehsch\u00e4rfe von 82 Dieben.............= 1,8 Snellen\n,,\t\u201e\t18 M\u00f6rdern.............= 2,2\t\u201e\n\u00bb\t\u201e\t100 Verbrechern im allg. =2\t\u201e\nDaraus geht hervor, dafs (wenn man als normal einen Visus von 1,3 Snellen betrachten kann), bei Verbrechern, vornehmlich bei M\u00f6rdern, die Sehkraft sch\u00e4rfer ist als bei Normalen, wie das schon bei wilden V\u00f6lkerst\u00e4mmen beobachtet wurde.","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nCesare Lombroso und S. Ottolenghi.\nT\u00e4glich fortgesetzte Untersuchungen best\u00e4tigten uns diese Eesultate: so erhielten wir neuerdings bei 30 typischen geborenen Verbrechern bei schwachem Licht eine mittlere Sehsch\u00e4rfe von 1,5 Snellen: bei 4 M\u00f6rdern fanden wir sogar einen Visus von 3 Snellen.\nII. Farbensinn.\nWas den Farbensinn anbelangt, so fand Dr. Bono unter 227 noch sehr jugendlichen Verbrechern, 15 Daltoniker oder Farbenblinde, = 6,60%, d. h. mehr als das doppelte von dem Prozentsatz, den er bei 800 Studenten fand, ohne jedoch dabei Schw\u00e4che des Farbensinnes zu ber\u00fccksichtigen. Unter 460 erwachsenen Verbrechern fanden wir vollst\u00e4ndige Farbenblindheit nur bei 0,43%.\nIII. Gesichtsfeld.\nWir untersuchten das Gesichtsfeld an 26 geborenen Verbrechern (typischen F\u00e4llen von moralischer Unzurechnungsf\u00e4higkeit) nach der LANDOLTschen Methode. Sie alle besafsen keinerlei L\u00e4sion der brechenden Medien und eine durchaus normale Sehsch\u00e4rfe.\nNehmen wir den Durchschnitt der an 24 Sektoren jedes Auges gewonnenen Ergebnisse, so k\u00f6nnen wir mit H\u00fclfe der LANDOLTschen Methode einen Durchschnittstypus des Gesichtsfeldes konstruieren, wie er durch folgende Formel dargestellt wird:\nMittleres Gesichtsfeld der geborenen Verbrecher.\n( aufsen \u2014 oben 46,46, 43, 36, 36, 37 \u2014 unten 32, 34,37, 39, 41, 39 ec es uSe( jnnen\u2014unten31,34,41, 45, 63, 63\u2014 oben 50,65,61,67,68, 69\nt aufsen\u2014 oben 38, 37, 39,39, 37, 38 \u2014 unten 39, 38, 34, 37, 39, 38 m es uge | jnnen \u2014 unten 45,48, 49, 55, 61, 67 \u2014 oben 35, 43, 45, 58, 67, 70_\nEs folgt daraus:\n1.\tDas Gesichtsfeld ist betr\u00e4chtlich beschr\u00e4nkt bei den geborenen Verbrechern.\n2.\tAus dieser Einschr\u00e4nkung des Gesichtsfeldes resultiert eine teilweise, beiderseitige Hemianopie, vornehmlich in Bezug auf die beiden inneren Quadranten.\n3.\tDie Peripherie ist sinu\u00f6s ausgebuchtet.","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Rie Sinne der Verbrecher.\n351\nRetina.\na\nb\nR- A.\tL. A.\nFig. 3.\nBetrachten wir nunmehr die in individuellen F\u00e4llen gewonnenen Resultate (die Einzelbeobachtungen werden des Weiteren in dem \u201eGiornale della R. Accademia medicau von Turin ver\u00f6ffentlicht werden), so kommen wir zu folgenden Schl\u00fcssen:\n1.\tDas Gesichtsfeld der geborenen Verbrecher (22 unter 26) ist betr\u00e4chtlich eingeschr\u00e4nkt im Vergleich zu dem normaler Menschen.\n2.\tBei 21 unter 26 geborenen Verbrechern bemerkten wir eine konstante Unregelm\u00e4fsigkeit in der Peripherie des Gesichtsfeldes, infolge deren die Delimitationslinie gekr\u00fcmmt, unterbrochen und unregelm\u00e4fsig erscheint.\n3.\tBei einigen (11) geborenen Verbrechern wies die Peripherie des Gesichtsfeldes stark vorspringende Einbuchtungen l\u00e4ngs der verschiedenen Sektoren auf, welche bei einigen Individuen richtige peripherische Skotome von ganz unbestimmter Lage bildeten. Und gerade infolge der unbestimmten Lage solcher Einbuchtungen tritt diese charakteristische Eigent\u00fcmlichkeit, die sich an den individuellen Gesichtsfeldern best\u00e4ndig vorfindet, im Durchschnittstypus nur mit geringen Kr\u00fcmmungen auf, indem n\u00e4mlich die nicht symmetrischen Einbuchtungen sich gegenseitig kompensieren und so eine mehr oder weniger regelm\u00e4fsige, nur leicht gekr\u00fcmmte Linie ergeben.\n4.\tBei fast allen geborenen Verbrechern (17 unter 26) erscheint das Gesichtsfeld mehr eingeschr\u00e4nkt auf der rechten","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nCesare Lombroso und S. Ottolenghi.\nSeite in der unteren Hemisph\u00e4re, und auf der linken Seite in der oberen, symmetrisch zu den entsprechenden inneren Quadranten, so dafs sich auf diese Weise eine teilweise, vertikale, beiderseitige Hemianopie bildet. Dieselbe ist bei einigen stark ausgepr\u00e4gt, bei anderen kaum wahrnehmbar, dergestalt jedoch, dafs sie im Durchschnittstypus wohl zu erkennen ist.\n5.\tBei drei geborenen Verbrechern konstatierten wir eine ganz aufsergew\u00f6hnliche Einschr\u00e4nkung des Gesichtsfeldes, die von Neuroretinitis herr\u00fchrte.\n6.\tDas Gesichtsfeld der Farben erschien bei allen eingeschr\u00e4nkt, aber im Verh\u00e4ltnisse zur normalen Ausdehnung weniger als das f\u00fcr Weifs.\n7.\tDie Gestalt des Gesichtsfeldes der Farben folgt best\u00e4ndig, jedoch mehr oder minder regelm\u00e4fsig, dem f\u00fcr Weifs, sowohl hinsichtlich der Unregelm\u00e4fsigkeit der Peripherie, als auch hinsichtlich der teilweisen, vertikalen Hemianopie.\n8.\tDie Gesichtsfelder f\u00fcr Blau und Rot kreuzen sich an verschiedenen Punkten der Peripherie, wenn auch letzteres ein wenig mehr verengert erscheint.\n9.\tDer centrale Teil des Gesichtsfeldes erscheint normal bei den geborenen Verbrechern, sowohl f\u00fcr Weifs als f\u00fcr die Farben. Nur in einem Falle fanden sich Skotome.\n10.\tDie ophthalmoskopische Untersuchung ergab in der Majorit\u00e4t der F\u00e4lle (20 unter 25 Verbrechern) negative Resultate.\n11.\tDie centrale Sehsch\u00e4rfe fanden wir g\u00e4nzlich unabh\u00e4ngig von dem peripherischen Sehverm\u00f6gen. Sie war vielmehr normal bei allen geborenen Verbrechern, die wir untersuchten. In 18 F\u00e4llen \u00fcbertraf sie sogar die normale.\n12. Die \u00fcbrigen Sinne : die allgemeine, die taktile, die Schmerzempfindlichkeit, Geh\u00f6r, Geschmack und Geruch richten sich im allgemeinen nach der Einschr\u00e4nkung des peripherischen Sehverm\u00f6gens bei den geborenen Verbrechern (52 %). Bei zwei Verbrechern fehlten einige Sinne v\u00f6llig (taktile Sensibilit\u00e4t, Schmerzempfindlichkeit, Geruch und Geschmack).\nK\u00fcrzlich mafsen wir das Gesichtsfeld von 13 verbrecherischen Knaben und fanden dabei 12 mal Einschr\u00e4nkungen,\n6\tmal mit unregelm\u00e4fsiger und gebuchteter Peripherie und\n7\tmal mit teilweiser vertikaler Hemianopie.","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Die Sinne der Verbrecher.\n353\nAnaloge Experimente \u00fcber das Gesichtsfeld von normalen Individuen, von Gelegenheitsverbrechern, Hysterikern, Neurasthenikern, Pellagrosen ergaben immerw\u00e4hrend die schon bekannten charakteristischen Merkmale. Nur ausnahmsweise begegnet man hier und da einer bei den geborenen Verbrechern als Hegel gefundenen Eigent\u00fcmlichkeit.\nEin eingeschr\u00e4nktes Gesichtsfeld, mit unregelm\u00e4fsigen H\u00e4ndern, mit peripherischen Einbuchtungen oder Skotomen, mit teilweiser, vertikaler, beiderseitiger Hemianopie, ohne anderweitige Symptome tiefgehender Alteration des centralen oder peripherischen Nervensystems ist demnach ein Kennzeichen der \u201egeborenen Verbrecher\u201c, und wie wir des Weiteren sehen werden, der Epileptiker.\nVom \u00e4tiologischen Gesichtspunkte glauben wir jene Eigent\u00fcmlichkeit des Gesichtsfeldes bei geborenen Verbrechern gewissen L\u00e4sionen zuschreiben zu m\u00fcssen, die ihren Sitz in dem Kortex haben und mit den optischen Centren in irgend einem Zusammenhang stehen.\nKapitel II.\nDie Sinne der weiblichen Verbrecher.\n1. Allgemeine Sensibilit\u00e4t, Schmerzempfindlichkeit und taktile Empfindlichkeit.\nBei den weiblichen Verbrechern ist, im Gegensatz zu den M\u00e4nnern, die Empfindlichkeit in der Kegel vortreff lieh ; jedoch l\u00e4fst sich ein leichtes Vorwiegen auf der linken Seite wahrnehmen. In der That fand Marro:\nDie allgemeine Sensibilit\u00e4t =114 rechtsseitig, 115 linksseitig,\n\u201e Schmerzempfindlichkeit = 7,5\t\u201e\t7,3\t\u201e\n\u201e taktile Empfindlichkeit = 1,96\t\u201e\t1,94\t\u201e\nBei 17 war sie vorwiegend gut auf der linken, bei 9 auf der rechten Seite, bei 14 auf bei beiden Seiten gleich, w\u00e4hrend Marro bei normalen Frauen h\u00e4ufiger F\u00e4llen von Obtusit\u00e4t begegnete. Nach den Versuchen Salsotto\u2019s hatten 20 Gift-mischerinnen eine taktile Sensibilit\u00e4t von 1,8 auf der linken und 1,9 auf der rechten Seite.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie II.","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nCesare Lombroso und S. Ottolenghi.\n2.\tSehsch\u00e4rfe.\nAuf ihre Sehsch\u00e4rfe hin untersuchten wir nur 10 typische weibliche Verbrecher und stiefsen nur in einem Fall auf einen Visus, der infolge von Neuroretinitis unter dem normalen lag.\n3.\tFarbensinn.\nDie erw\u00e4hnten Personen boten keinerlei Alteration des Farbensinnes dar.\n4.\tGesichtsfeld.\nUnter zehn F\u00e4llen, die zur Untersuchung kamen, waren acht, wo das Gesichtsfeld verkleinert war; sechs andere mit unregelm\u00e4fsiger Peripherie des Gesichtsfeldes; endlich vier mit peripherischen Skotomen.\n5.\tGeruch.\nWir mafsen das Geruchsverm\u00f6gen an 30 weiblichen Verbrechern, verglichen mit 20 normalen Frauen. Wie aus der tabellarischen \u00dcbersicht von S. 345 hervorgeht, besafsen die letzteren eine durchschnittliche Geruchssch\u00e4rfe, die dem 3. Grade des Osmometers entspricht; die weiblichen Verbrecher dagegen eine solche vom 6. Grade. 2% der normalen Frauen, 6% der Verbrecherinnen boten den geringsten Grad von Geruchssch\u00e4rfe (vergl. S. 345).\n6.\tGeschmack.\nNach derselben Methode, die bei den M\u00e4nnern zur Anwendung kam, untersuchten wir das Geschmacksverm\u00f6gen von 20 weiblichen Verbrechern, denen wir 20 normale Frauen gegen\u00fcberstellten. Wir fanden vortreffliches Geschmacksverm\u00f6gen bei 50% der normalen Frauen und bei 15% der weiblichen Verbrecher. Von den letzteren hatten sodann 20%, von ersteren 10% Obtusit\u00e4t der Geschmacksempfindung. Wir bemerkten schliefslich, dafs von den normalen diejenigen, welche den geringsten Grad von Geschmacksverm\u00f6gen aufwiesen, gerade am wenigsten sittenstreng zu nennen waren.\n7.\tGeh\u00f6r.\nVon 28 weiblichen (von Gradenigo beobachteten) Verbrechern hatten 15 eine Geh\u00f6rsch\u00e4rfe, die hinter der mittleren normalen","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Die Sinne der Verbrecher.\n355\n(=53,5%) zur\u00fcekblieb. Verteilt man die Resultate nach dem Alter, so ergiebt sich:\nVon 15\u201420 Jahren 3 Kranke unter 9 = 33%,\n\u201e 20-30\t\u201e\t7\t\u201e\t\u201e\t18\t= 53 \u201e\n\u00bb SO-40\t\u201e\t3\t\u201e\t6\t= 50\nAufserdem 2 F\u00e4lle von mangelhaftem Geh\u00f6r bei einem Alter von 60 bis 70 Jahren.\nDie verschiedenen Leiden, die wir antrafen, k\u00f6nnen folgendermafsen gruppiert werden:\nMittlere Otitis.....................9.\nInnere \u201e\t.....................2,\nNicht genau zu lokalisierende Dysakusie 1.\nVier weibliche Verbrecher von 15 bis 25 Jahren besafsen f\u00fcr den Schlag einer Uhr eine die durchschnittliche weit \u00fcbertreffende Sch\u00e4rfe des Geh\u00f6rs, und zwar war dieselbe bei dreien bilateral, bei einer nur rechtsseitig.\nKapitel III.\nDie Sinne der Prostituierten.\nF\u00fcr sich besonders untersuchten wir 60 typische Prostituierte, d. h. Personen, die dem Laster nicht bei Gelegenheit, sondern infolge eines instinktiven Triebes verfallen waren, und die in unseren Augen eine der b\u00f6sartigsten Kategorien des Verbrechertums bilden. Wir fanden:\n1.\tAllgemeine Sensibilit\u00e4t\nan der rechten Hand 59, an der linken 56;\n2.\tSchmerzempfindlichkeit\nan der rechten Hand 25, an der linken 21.\nBei etwa 28% war vollst\u00e4ndige Analgesie vorhanden.\nDas geringe Mafs von Empfindlichkeit geht auch aus dem h\u00e4ufigen Brauche des T\u00e4ttowierens hervor, wovon De Albertis (Archiv, di Psich. sc. Pen. antr. Grim., IX. 1888) 28 F\u00e4lle unter 300 Prostituierten fand.\n3.\tTaktile Sensibilit\u00e4t.\nGemessen wurde dieselbe an 58 Prostituierten. Die Durchschnittsziffern waren:\n24*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nCesare Lombroso und 8. Ottolenghi.\n3 mm an den fleischigen Teilen des rechten Mittelfingers,\n3\t\u201e an denen des linken,\nwobei in 17% der F\u00e4lle abgestumpfte taktile Sensibilit\u00e4t vorhanden war (von 4 mm aufw\u00e4rts).\n4.\tSehverm\u00f6gen.\nAn 20 Prostituierten fanden wir ein Sehverm\u00f6gen von 30/2o Snellen (die Brechung war normal).\n5.\tFarbensinn.\nEs wurden keinerlei Abweichung vom normalen wahrgenommen.\n6.\tGesichtsfeld.\nDasselbe wurde gemessen an 11 typischen Prostituierten. Es war verkleinert bei acht, begrenzt an einigen Sektoren bei zweien, und hatte eine unregelm\u00e4fsige Peripherie mit unterbrochener Linie bei acht. Alles das erinnert an die Anomalien, die sich bei den Verbrechern vorfanden.\n7.\tGeruch.\nDas Geruchsverm\u00f6gen von 40 Prostituierten entsprach dem 5. Grade des Osmometers (Vasoo der Nelkenessenz). Im Durchschnitt machten wir 4 schwere Irrt\u00fcmer bei der Anordnung der Fl\u00e4schchen. Jegliches Geruchsverm\u00f6gen fehlte bei 19% (vergl. Tabelle S. 345).\n8.\tGeschmack.\n30% unter 40 Prostituierten hatten ein minimales Geschmacksverm\u00f6gen (vergl. Tabelle S. 347).\nKapitel IV.\nSchlufsfolgerungen.\nSeit dem Tage, da der ber\u00fchmte griechische Weise sagte, es k\u00e4me nichts in den Intellekt, das nicht zuvor einginge durch das Thor der Sinne, war es vorauszusehen, dafs das Studium der Sinne die Eingangspforte zum Studium der Ethik werden w\u00fcrde. Und es ist eine seit langer Zeit anerkannte, wenn auch noch nicht mit exakter Methode nachgewiesene Thatsache, dafs","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Die Sinne der Verbrecher-\n357\nStumpfheit des moralischen Sinnes von Obtusit\u00e4t der Sinnesorgane begleitet ist. Schon Renaudin beschreibt eine hysterische Person, die bei jedesmaligem Auftreten von taktiler Empfindungslosigkeit zugleich auch moralische An\u00e4sthesie zeigte. Bei der Felida von Azam war auch der moralische Sinn so gut wie abgestorben, so oft sie sich im Zustande von Analgesie befand. Vor kurzem hat Romanes darauf aufmerksam gemacht, dafs die Schmerzempfindlichkeit von Haustieren, besonders von Hunden, die von Tieren derselben Gattung im wilden Zustande bei weitem \u00fcbertrifft ; und es ist bekannt, dafs die wilden V\u00f6lkerschaften gegen Schmerzen fast unempfindlich sind, und dafs die Civilisation die Hyper\u00e4sthesie oft bis zur Neurasthenie steigert. Erst jetzt ist uns die Beziehung zwischen Obtusit\u00e4t der Sinnesorgane und moralischer Stumpfheit zum ersten Male mit exakter Methode dargelegt worden.\nMan mufs hier erinnern, dafs diese Stumpfheit der Sinnesorgane und die angef\u00fchrten F\u00e4lle von An\u00e4sthesie bei Verbrechern keineswegs mit denen bei Hysterikern zusammengeworfen werden d\u00fcrfen, wie Charcot m\u00f6chte. Denn ihre geringe Lateralit\u00e4t, die Abwesenheit von isolierten unempfindlichen Stellen, die seltenen motorischen Anomalien, die best\u00e4ndige Wiederkehr der Ph\u00e4nomene und ihr seltenes Auftreten bei Frauen schliefsen jeden Verdacht auf Hysterie aus. Ebenso wie ihr Vorkommen in minorennem Lebensalter Alkoholismus oder Syphilis ausschliefst, so ist Hysterie auch ausgeschlossen durch die grofse Seltenheit der Ph\u00e4nomene bei Frauen, was wiederum mit der geringeren Abgestumpftheit des moralischen Sinnes und mithin mit der geringeren H\u00e4ufigkeit der Verbrechen bei Frauen eng zusammenh\u00e4ngt. Diese Obtusit\u00e4t der Sinnesorgane ist sicherlich kortikalen Ursprungs. Sie erscheint wie ein Ph\u00e4nomen von Atavismus, \u00e4hnlich denen, die man bei den Wilden beobachtet. Denn, wenn auch eine Ausnahme f\u00fcr die Sehsch\u00e4rfe zu machen ist, so kann auch diese aus Atavismus erkl\u00e4rt werden. Denn auch sie ist gerade bei den Wilden besonders ausgepr\u00e4gt durch den Gebrauch und die gewerbs-m\u00e4fsige \u00dcbung des Organs. Auch k\u00f6nnte ja niemand dem Arm der Gerechtigkeit sich entziehen oder zahlreiche Diebst\u00e4hle und Einbr\u00fcche ver\u00fcben, ohne h\u00f6here Entwickelung des Sehverm\u00f6gens.\nEine andere Schlufsfolgerung, die sich aus diesen Unter-","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nCesare Lombroso und S. Ottolenghi.\nsuchungen ziehen l\u00e4fst, liegt in der Best\u00e4tigung der epileptischen Natur des moralischen Irrsinns und des angeborenen Verbrechertums. Und in der That mufs nach den Untersuchungen von Agostini \u00c7Rivista esperinientale di Fren. e medic, legale) als v\u00f6llig sicher gelten, dafs beim Epileptiker auch in Perioden, die den Anf\u00e4llen fern liegen, eine aufsergew\u00f6hnliche Obtusit\u00e4t der Sinne, sowohl der allgemeinen Sensibilit\u00e4t, wie auch des Geruchs, Geschmacks, Geh\u00f6rs, Gef\u00fchls und der Schmerzempfindlichkeit vorhanden ist, w\u00e4hrend allein W\u00e4rmeempfindung und \u2014 wohlbemerkt! \u2014 Sehverm\u00f6gen unver\u00e4ndert bleiben.\nDiese Untersuchungen wurden zugleich mit unseren \u00fcbrigen neueren Beobachtungen vervollst\u00e4ndigt in der 1livista sperim. di Fren. e medic, legale, 1890.\n1.\tAllgemeine Sensibilit\u00e4t.\nZehn typische Epileptiker (die nicht Verbrecher waren) hatten eine allgemeine Sensibilit\u00e4t von 58 mm rechts und 55 mm links. Zw\u00f6lf psychische Epileptiker, welche schwere Blutthaten in einem Zustande von psychischer Epilepsie begangen hatten, zeigten 61 mm rechts, 60 links (w\u00e4hrend die normale Sensibilit\u00e4t :\t80 mm war).\n2.\tSchmerzempfindlichkeit.\nDie Schmerzempfindlichkeit war abgestumpft in 6 F\u00e4llen unter eben denselben 10 Epileptikern (= 25 mm rechts, 20 links). Bei 4 fehlte sie g\u00e4nzlich. Bei jenen 12 psychischen Epileptikern kamen 3 F\u00e4lle von rechtsseitiger, 2 von linksseitiger Analgesie vor. Bei den \u00fcbrigen war die Schmerzempfindlichkeit \u2014 30 mm rechts, 32 mm links.\n3.\tGeruch.\n5 Epileptiker unter 10 besafsen ein minimales Geruchsverm\u00f6gen (12 Grad). Bei den andern war es gering, d. h. dem 8. Grade des Osmometers entsprechend.\n4.\tGeschmack.\nDas Geschmacksverm\u00f6gen unserer 10 Epileptiker war ziemlich beschr\u00e4nkt, jedoch weniger als der Geruch.\nSie empfanden Strychninsulfat in einer mittleren L\u00f6sung von V200000 (5. Grad des Geschmacksmessers).","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Die Sinne der Verbrecher.\n359\n5.\tGesichtssch\u00e4rfe.\nUnsere 12 psychischen Epileptiker hatten einen normalen yigtts = 2%o ; die 10 gew\u00f6hnlichen Epileptiker durchschnittlich einen besseren \u2014 3%o.\n6.\tFarbensinn.\nBei einem einzigen unter 22 Epileptikern war der Farbensinn schwach entwickelt.\n7.\tGesichtsfeld.\nWir mafsen das Gesichtsfeld an 15 Epileptikern nach der LANDOLTschen Methode, wie schon bei den Yerbrechern. Das durchschnittliche Gesichtsfeld war folgendes:\n/aufsen-oben 51,47,41,38,40,41\u2014unten 37, 37, 39, 40,41,40 ec es uSe^jnnen\u2014unten 39,41,44, 54, 60, 64\u2014oben 54,58,63,63,63,63 /aufsen-oben 37,39,38,37, 40, 43 \u2014unten 46, 41,39, 43, 39,43 m-es uge /innen \u2014unten 51,54,59, 65, 66, 67 \u2014 oben 38,46,53,62,65,66\nEs geht aus dieser Formel hervor, dafs das Gesichtsfeld der Epileptiker beschr\u00e4nkt ist, wie schon D\u2019Abundo konstatiert hatte. Aber aufserdem findet sich eine teilweise vertikale beiderseitige Hemianopie und eine von einer vielfach gekr\u00fcmmten Linie begrenzte Peripherie.\nBetrachten wir sodann die individuellen Gesichtsfelder, so bemerkten wir \u00fcberall peripherische Skotome, sowie die charakteristische Peripherie, die von einer unregelm\u00e4fsigen, abgebrochenen Linie mit mehr oder minder ausgepr\u00e4gten Einbuchtungen begrenzt wird. Das Gesichtsfeld f\u00fcr die Farben schliefst sich, obwohl mehr eingeschr\u00e4nkt, in seinen Umrissen dem f\u00fcr Weifs an.\n6\nB. A.\nFig. 4.\ni\nL. A.","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nCesare Lombroso und S. Ottolenghi.\nDiese Form des Gesichtsfeldes entspricht also, wenn der Visus normal ist und die ophthalmoskopische Untersuchung negatives Eesultat ergiebt, vollst\u00e4ndig der, die wir bei den Verbrechern antrafen.\nNutzanwendungen.\nDiese Er\u00f6rterungen sind nicht ohne praktische Bedeutung z. B. f\u00fcr die gerichtliche Medizin.\nIn einem Fall, wo mehr als 7 Individuen wegen eines Vergehens wider die Sittlichkeit angeklagt waren, konnte man den Schuldigen an den T\u00e4ttowierungen, die er trug, und an seiner vollst\u00e4ndigen Analgesie erkennen. Als in einem entlegenen Hause ein Mord begangen war, wurde der Th\u00e4ter an geringen Indizien (abgewaschene Blutflecke u. s. w.) entdeckt, haupts\u00e4chlich aber an seiner Verbrecherphysiognomie, an dem Fehlen des moralischen Sinnes und an der Abgestumpftheit s\u00e4mtlicher Sinne.\nIn der That war seine allgemeine Sensibilit\u00e4t = 60 mm (Distanz der Induktionsrolle) rechts und 68 mm links, w\u00e4hrend ein normales Individuum 110 mm zeigte.\nEs fehlte jegliches Gef\u00fchl an der Hand und im Gesicht und erschien nur am oberen Teile des linken Fufses in der St\u00e4rke von 3 cm. Der Grad des Geruchsverm\u00f6gens war = 8, der des Geschmacks == 7 f\u00fcr das Bittere und 5 f\u00fcr das S\u00fcfse.\nSp\u00e4ter wies der Verlauf des Prozesses die volle Schuld des Verd\u00e4chtigten nach.","page":360}],"identifier":"lit14439","issued":"1891","language":"de","pages":"337-360","startpages":"337","title":"Die Sinne der Verbrecher","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:11:06.798057+00:00"}