Open Access
{"created":"2022-01-31T17:03:57.159248+00:00","id":"lit14616","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Barth, Paul","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2: 423-425","fulltext":[{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Li tteraturberich t.\n423\nBewufstseinsvorgang als etwas Nebens\u00e4chliches anzusehen, ist der von Forel so \u00fcberaus drastisch gekennzeichneten Macht des Vorurteils zu danken.\tG\u00f6tz Martius (Bonn).\nG. Simmel. \u00dcber soziale Differenzierung, soziologische und psychologische Untersuchungen. Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, herausg. von Gustav Schmoli.er, Bd. X., Heft 1. Leipzig, Duncker u. Humblot, 1890. 147 S.\nDiese Schrift behandelt zun\u00e4chst die erkenntnistheoretische Frage nach dem eigentlichen Objekt der Soziologie als Wissenschaft, dann verschiedene einzelne Seiten der sozialen Entwickelung. Es ist bedauerlich, dafs sie dabei weder auf grofse noch kleinere Vorarbeiten R\u00fccksicht nimmt. Die Theorien von Mill, Spencer, Sch\u00e4ffle, denen jetzt die Franzosen Le Bon, De Roberty, De Greef nachzueifern scheinen, die ungen\u00fcgend begr\u00fcndete aber viele blendende Theorie von Gum-plowicz, Monographien wie die von T\u00f6nnies und G\u00fcyau, die Forschungen von Maine, Morgan, Maclennan, alles dies, obgleich sich mit seinen Thematen vielfach ber\u00fchrend, scheint f\u00fcr Simmel nicht vorhanden zu sein. Solche Nichtbeachtung der Vorg\u00e4nger ist doch auf keinem sonstigen Gebiete der Wissenschaft \u00fcblich, dem Fortschritt einer werdenden Wissenschaft aber am allerwenigsten f\u00f6rderlich.\nIm ersten Kapitel wird zun\u00e4chst die Behauptung aufgestellt, dafs die Soziologie in erkenntnistheoretischer Beziehung neben die Metaphysik und die Psychologie zu stellen sei, \u201ediese beiden haben n\u00e4mlich das Eigent\u00fcmliche, dafs durchaus entgegengesetzte S\u00e4tze in ihnen das gleiche Mafs von Wahrscheinlichkeit und Beweisbarkeit aufzeigen\u201c (S. 4). Eine wahrhaft erschreckende Behauptung! \u2014 F\u00fcr die Metaphysik mag sie noch gelten, da es viele dergleichen Versuche, nicht eine Metaphysik giebt, f\u00fcr die Psychologie aber ist diese Behauptung ein fundamentaler Irrtum. Die angef\u00fchrten Beispiele beziehen sich auch alle auf die individuelle Verkn\u00fcpfung seelischer Vorg\u00e4nge, die freilich wegen der steten Wechselwirkungund grofsenKompliziertheit derselben oft schwer festzustellen ist, und einen demjenigen, den man annimmt, entgegengesetzten Verlauf nehmen oder entfernte Gebiete des Bewufstseins-inhalts, die scheinbar weit abliegen, dennoch durch ungeahnte Verkettung aufregen kann. Aber diese Unsicherheit der individuellen Verkn\u00fcpfung ber\u00fchrt die Gesetze der Psychologie ebensowenig, als die Unsicherheit der Meteorologie die Gesetze der Physik ber\u00fchrt. Wie ein Blitzschlag entsteht, wissen wir; ob im einzelnen Falle die Bedingungen da sind, wissen wir nicht. Dafs der Gef\u00fchlston Einflufs \u00fcbt auf die Verbindung der Vorstellungen, ist ein psychologisches Gesetz; seine Wirkung kann aber im einzelnen Falle durch eine entgegengesetzte Kraft, den Einflufs des objektiven Inhalts, aufgehoben werden. Freilich hat die eigentliche Psychologie meist qualitative, nicht quantitative Gesetze, aber dies berechtigt nicht sie der Metaphysik gleich zu setzen. Psychologen wie Wundt, Lipps u. A. werden sich jedenfalls f\u00fcr diese Gleichsetzung bedanken. Der Wert der psychologischen Aufstellungen ist doch ein h\u00f6herer als","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nLitteraturbericht.\nder einer blofsen Orientierung (S. 7), wie ihre Verwendbarkeit in de P\u00e4dagogik beweist. In derselben Lage wie die Psychologie befindet sich die Soziologie. Auch auf ihrem Gebiete sind oft sowohl die wirkenden Ursachen an sich als auch der Grad ihrer Beteiligung an einem einzelnen Vorg\u00e4nge unmeisbar, es sind meist nur qualitative, nicht quantitative Gesetze m\u00f6glich. Daher kommt es, dafs Simmel \u00fcberhaupt von Gesetzen der sozialen Entwickelung nicht sprechen zu k\u00f6nnen glaubt (S. 9). Qualitative Gesetze, weil nicht \u201eexakt\u201c, gelten ihm offenbar nichts, und doch beruht auf ihnen, wie dort die P\u00e4dagogik, so hier die praktische Politik. Weiter behandelt Simmel die Frage, ob dem Begriff der Gesellschaft \u00fcberhaupt etwas Reales aufser ihren Mitgliedern entspricht, oder ob er zu diesen sich so verh\u00e4lt, wie der Sternhimmel zu den Sternen (S. 10). Nach dem Hinweis auf die Zusammensetzung vieler anderer scheinbarer Einheiten kommt Simmel zu dem Resultat, \u201edafs es nur einen Grund giebt, der eine wenigstens relative Objektivit\u00e4t der Vereinheitlichung abgiebt\u201c, die Wechselwirkung der Teile. Gesellschaft ist deshalb \u201ekein feststehender, sondern ein gradueller Begriff\u201c (S. 14). Das Spezifische gerade bei ihm ist: \u201eWo eine Vereinigung stattgefunden hat, deren Formen beharren, .... da ist Gesellschaft, da hat die Wechselwirkung sich zu einem K\u00f6rper verdichtet.\u201c Simmel f\u00fcrchtet, die eben verworfene \u201emystische Einheit des Gesellschaftswesens\u201c werde sich so wieder einschleichen (S. 17). Allerdings die Einheit ist wieder da, aber eine mystische ist sie nicht, so wenig mystisch wie diejenige, welche Organismen \u00fcberhaupt bildet und zusammenh\u00e4lt, insofern als beide Kr\u00e4fte, die organische und die die Gesellschaft zusammenhaltende, in ihrem Wirken klar zu Tage liegen, wenn sie auch noch nicht auf die letzten mechanischen Elemente zur\u00fcckgef\u00fchrt sind. Hier h\u00e4tte Simmel mit grofsem Nutzen auf den Begriff des physischen Organismus in Spencers Biologie und den des gesellschaftlichen Organismus in dessen Soziologie zur\u00fcckgreifen und letzteren entweder annehmen oder berichtigen k\u00f6nnen.\nDas zweite und dritte Kapitel behandeln verwandte Themata, \u201edie Kollektivverantwortlichkeit\u201c und \u201edie Ausdehnung der Gruppe und die Ausbildung der Individualit\u00e4t\u201c. Das zweite schliefst mit der Betonung des richtigen Gedankens, dafs mit fortschreitender Sozialisierung \u201edie Beschr\u00e4nkung des Individuums auf sich selbst sowohl a parte ante als a parte post aufh\u00f6rt\u201c, dafs \u201ejeder Mensch im Schnittpunkt unz\u00e4hliger sozialer F\u00e4den steht, so dafs jede seiner Handlungen die mannigfachsten sozialen Wirkungen haben mufs\u201c (S. 44), wenn auch rechtlich \u201eder Teil immer weniger sich dem Ganzen hinzugeben braucht\u201c (S. 25). Im Anfang einer sozialen Gruppe, \u201ewegen der zu engen Verbindung zwischen den einzelnen Willensakten und Interessenkreisen setzt die einzelne Zweckth\u00e4tigkeit noch viele andere eigentlich nicht dazu geh\u00f6rige in Bewegung und verbraucht sie \u2014 die Blutfehde z. B. findet statt nicht zwischen einzelnen, sondern zwischen ganzen Geschlechtern (nicht Familien, wie S. meint), \u2014 ungef\u00e4hr wie Kinder und ungeschickte Menschen zu einer Vorgesetzten Th\u00e4tigkeit viel mehr Muskelgruppen innervieren, als f\u00fcr sie erforderlich ist\u201c (S. 25). \u2014 Eine sehr treffende Bemerkung.\nIm dritten Kapitel vermifst man eine eigentlich historische","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericJit.\n425\nBetrachtung in grofsen Z\u00fcgen, wie sie zum Teil schon yon Maine \u00fcber dasselbe Thema ausgef\u00fchrt worden ist, \u00fcberhaupt eine induktive, alles Gleiche ersch\u00f6pfend zusammenfassende Methode. Vielmehr greift Simmel immer nur einen Pall heraus, den er dann, ohne die Grenzen genau anzugeben, verallgemeinert, so S. 65 in dem Beispiel vom mittelalterlichen Kaisertum, das den Partikularismus der V\u00f6lker entfesselt haben soll, woraus gefolgert wird, dafs jede Einheitlichkeit und Zusammenfassung \u201edie Individualit\u00e4t der Teile erst erschaffen, gesteigert, bewufst gemacht hat\u201c, ein Satz, der durch die Geschichte, z. B. des r\u00f6mischen Kaiserreichs nicht best\u00e4tigt wird. Auch h\u00e4lt Simmel die Familie f\u00e4lschlich f\u00fcr das erste politische Gebilde (S. 51), w\u00e4hrend es thats\u00e4chlich das Geschlecht ist, die monogamische Familie erst aus diesem sich entwickelt und als solche politische Bedeutung nicht besitzt.\nVon den \u00fcbrigen Kapiteln geh\u00f6ren das vierte: \u201eDas soziale Niveau\u201c und das sechste : \u201eDie Differenzierung und das Prinzip der Kraftersparnis\u201c enger zusammen. Ersteres f\u00fchrt aus, dafs es f\u00fcr die soziale Bewegung nicht auf die H\u00f6he der Unterschiede, die sich vom sozialen Niveau abheben, sondern auf unsere Unterschiedsempfindlichkeit ankommt ; letzteres beweist, warum die \u201eDiffenzierung, die scheinbar ein trennendes Prinzip ist, doch in Wirklichkeit so oft ein vers\u00f6hnendes und ann\u00e4herndes und eben dadurch ein kraftsparendes ist f\u00fcr den Geist, der theoretisch oder praktisch damit operiert\u201c (S. 119), dafs ferner \u201edie Differenzierung der sozialen Gruppe zu der des Individuums in direktem Gegens\u00e4tze steht\u201c (S. 137), und die Mannigfaltigkeit scharf gesonderter Inhalte, die das Ganze verlangt, nur herstellbar ist, wenn der einzelne auf ebendieselbe verzichtet (S. 138).\nDas f\u00fcnfte Kapitel ber\u00fchrt sich mit dem Inhalte des zweiten. Es beweist, dafs in der heutigen Gesellschaft die soziale Gruppe nicht das ganze Individuum in Beschlag nimmt, sondern nur einen bestimmten Teil seines Wesens, so dafs ein und dasselbe Individuum mit seinen verschiedenen Lebenskreisen verschiedenen Gruppen angeh\u00f6ren kann, so dafs es gewissermafsen \u201eim Schnittpunkt\u201c vieler sozialer Kreise steht.\nAuch in den drei letzten Kapiteln ist die Behandlung nicht streng historisch und genetisch, sondern gewissermafsen eklektisch und deshalb fast aphoristisch. Daher bleibt sie hinter ihrem Ziel zur\u00fcck. Denn den sozialen Erscheinungen l\u00e4fst sich nur auf genetischem Wege beikommen, indem man sie in primitiven Gebilden an ihrer Wurzel fafst und dann schrittweise ihre Entfaltung so genau wie m\u00f6glich verfolgt. Erst dadurch kann man das Zuf\u00e4llige vom Wesentlichen jeder Epoche trennen.\nWenn der Referent demgem\u00e4fs die Resultate des ersten Kapitels als nicht gen\u00fcgend begr\u00fcndet zur\u00fcckweisen zu m\u00fcssen glaubt, wenn er in der ganzen Methode der Behandlung der Themata schwerwiegende M\u00e4ngel findet, so soll die Schrift von S. nicht als wertlos dargestellt werden; sie giebt vielmehr wertvolle Anregungen zur weiteren Diskussion der auch politisch z. B. in Bezug auf die Entscheidung \u00fcber M\u00f6glichkeit oder Unm\u00f6glichkeit des Sozialismus wichtigen Fragen, die sie behandelt.\tP. Barth (Leipzig).","page":425}],"identifier":"lit14616","issued":"1891","language":"de","pages":"423-425","startpages":"423","title":"G. Simmel: \u00dcber soziale Differenzierung, soziologische und psychologische Untersuchungen, Staats- und sozialwisschenschaftliche Foschungen, herausg. von Gustav Schmoller, Bd. X., Heft 1. Leipzig, Duncker u. Humboldt 1890, 147 S.","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:03:57.159253+00:00"}