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Über Brückes Theorie des körperlichen Sehens: Habilitationsrede, gelesen vor der medizinischen Fakultät der Berliner Universität am 3. März 1891

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{"created":"2022-01-31T17:04:08.056895+00:00","id":"lit14618","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Du Bois-Reymond, Claude","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2: 427-437","fulltext":[{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Br\u00fcckes Theorie des k\u00f6rperlichen Sehens.\nVon\nDr. C. du Bois-Reymond.\n(Habilitationsrede, gelesen vor der med. Fakult\u00e4t der Berl. Universit\u00e4t\nam 3. M\u00e4rz 1891.)\nWenn auch das Stereoskop zu den verbreitetsten optischen Apparaten z\u00e4hlt und eine ganze Flut von Streitschriften veranlafst hat, kann man doch nicht behaupten, dafs seine Erkl\u00e4rung in befriedigender Weise abgeschlossen ist. Es ist eine Eigenheit dieses Werkzeugs, dafs es, anscheinend \u00fcberaus einfach und verst\u00e4ndlich, unmittelbar an die letzten Fragen der Sinnesphysiologie f\u00fchrt, wenn man die Wirkung sich begreiflich zu machen sucht. Aber schon die \u00e4ufseren Bedingungen, unter welchen es gelingt, flache Bilder k\u00f6rperlich zu erblicken, sind nicht hinreichend erforscht.\nAus dem gewaltigen Umfang der vom Stereoskop handelnden Schriften mufs ich mich beschr\u00e4nken, einige auszuheben, welche eine einzelne, heut noch unentschiedene Frage zu beantworten suchen. Es ist streitig geblieben, ob Augenbewegungen die Erkenntnis der Tiefendimension ergeben, oder nicht. Die Ansichten der Forscher sind geteilt, weil die vorliegenden Versuchswege zur Entscheidung nicht gen\u00fcgten, und die Besprechung hat, wesentlich aus diesem Grunde, lange Zeit hindurch geruht. Wheatstone selbst legte den Grund f\u00fcr diese Er\u00f6rterungen in der sehr eingehenden Abhandlung \u00fcber sein Stereoskop. In dieser sch\u00f6nen Arbeit, welcher wohl manche Nachfolger nicht ganz die geb\u00fchrende Anerkennung gezollt haben, finden wir schon alle die wichtigsten Erscheinungen des stereoskopischen Sehens beschrieben. Durch eine grofse Reihe von Versuchen, deren viele sp\u00e4ter eine gewisse Ber\u00fchmtheit erlangt haben, suchte der Erfinder sich die Wirkung zu erkl\u00e4ren.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie n.\t29","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nC. du Bois-Reymond.\nEs ist nicht zu verwundern, dafs er den Doppelbildern zu geringe Beachtung schenkte. Er lehrte und erforschte grade die Vereinigung der Bilder, er war noch nicht durch Gegner auf die Nebenerscheinungen aufmerksam gemacht, und er besafs, wie man aus seinen Tafeln erkennen kann, eine ungew\u00f6hnlich hohe F\u00e4higkeit, sehr ungleiche Bilder zu vereinigen.\nEine viel wiederholte Stelle, welche seinen Standpunkt kennzeichnet, habe ich wortgetreu \u00fcbersetzt :\n\u201eIch habe gen\u00fcgende Beweise daf\u00fcr geliefert, dafs Objekte, deren Bilder nicht auf korrespondierende Netzhautpunkte fallen, dennoch einfach erscheinen k\u00f6nnen. Ich will jetzt einen Versuch anf\u00fchren, der beweist, dafs \u00e4hnliche Bilder, auf korrespondierende Netzhautpunkte fallend, doppelt und an verschiedenem Orte erscheinen k\u00f6nnen. Man biete im Stereoskop dem rechten Auge eine senkrechte und dem linken eine um einige Grad vom Lote ab geneigte Linie dar, so wird der Beobachter, wie oben dargethan wurde, eine Linie erblicken, deren Enden in ungleicher Entfernung vom Auge erscheinen. Man zeichne auf das linke Bild senkrecht eine schwache Linie, welche in L\u00e4nge und Richtung genau mit der dem rechten Auge gebotenen \u00fcbereinstimmt, und lasse die beiden Linien dieses linken Bildes sich in ihren Mittelpunkten schneiden. Betrachtet man nun diese beiden Bilder im Stereoskop, so fallen die zwei starken Linien, jede mit einem Auge gesehen, zusammen, und die entstehende Raumlinie wird sich scheinbar in der fr\u00fcheren Lage befinden. Aber die schwache Lime, obwohl sie jetzt auf einen Strich der linken Netzhaut f\u00e4llt, der einem Strich der rechten Netzhaut entspricht, auf den eine der vereinigten starken Linien, die senkrechte n\u00e4mlich, f\u00e4llt, erscheint an einem verschiedenen Orte. Diese schwache Linie erscheint da, wo die Blickebene des linken Auges, in welcher sie liegt, sich schneidet mit der Blickebene des rechten Auges, welche die starke Linie enth\u00e4lt.\nDieser Versuch bringt einen neuen Beweis, dafs eine notwendige physiologische Verbindung zwischen den korrespondierenden Punkten der zwei Netzh\u00e4ute nicht besteht, obwohl viele Autoren diese Lehre verteidigt haben.\u201c\nDer Versuch ist nicht gut. Er ist seither von Volkmann und v. Helmholtz durch den Nachweis wiederlegt, dafs die senkrechten Meridiane in den meisten Augenpaaren nicht als","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Br\u00fcckes Theorie des k\u00f6rperlichen Sehens.\n429\nstreng korrespondierende Netzhautlinien anzusehen sind. Vollends wird seine Beweiskraft g\u00e4nzlich hinf\u00e4llig, sobald man kleine Baddrehungen zur Erleichterung der Verschmelzung eintreten l\u00e4fst, wie sie Panum nachgewiesen hat. Aber ich f\u00fchre die Stelle an, um zu zeigen, dafs Wheatstone bewufst, mit vollem Verst\u00e4ndnis die1 Lehre von den korrespondierenden Punkten anfocht. Im letzten Abschnitt, wo er seine eigene Anschauung darstellt, bespricht Wheatstone auch die Augenbewegungen :\n\u201eDafs eine gewisse Undeutlichkeit in den Teilen des Blickfelds, auf welche die Augen nicht unmittelbar gerichtet sind, besteht, und dafs diese mit dem Abstand vom Fixierpunkt zunimmt, kann nicht bezweifelt werden, und es ist auch wahr, dafs die so undeutlich gesehenen Objekte h\u00e4ufig sich verdoppeln. Beim gemeinen Sehen, mag man sagen, werde diese Undeutlichkeit und Verdoppelung darum nicht beachtet, weil die Augen stetig von Punkt zu Punkt schweifend alle Teile des Objekts nacheinander deutlich machen. Die Wahrnehmung des Objekts sei nicht Folge eines einzigen Blicks, wobei nur ein kleiner Teil davon deutlich gesehen wird, sondern bilde sich durch Vergleichung aller nacheinander gesehenen Bilder, w\u00e4hrend die Augen von einem Objektpunkt zum andern wechseln.\nIn gewissem Mafse ist dies alles richtig, w\u00e4re es jedoch vollkommen so, dann d\u00fcrfte kein k\u00f6rperliches Scheinbild sich zeigen, wenn die Augen gespannt auf einen Punkt eines Binokularbildes im Stereoskop fixiert bleiben. Wenn man aber sorgf\u00e4ltig diesen Versuch ausf\u00fchrt, wird man finden, sofern die Bilder nicht allzuweit von den Mitten des deutlichen Sehens hinwegreichen, dafs das Bild doch noch einfach und k\u00f6rperlich erscheint, wenn diese Bedingung erf\u00fcllt wird. W\u00e4re die Theorie der korrespondierenden Netzhautpunkte wahr, so m\u00fcfste es das Aussehen zweier aufeinandergelegten Zeichnungen darbieten, womit es aber nicht die geringste \u00c4hnlichkeit hat. Die folgenden Versuche sind ebenfalls entscheidend gegen diese Theorie. Erster Versuch: Man ziehe zwei etwa zwei Zoll lange gegeneinander geneigte Linien auf ein Blatt Papier, und nachdem man sie durch Konvergieren der Sehaxen auf einen Punkt, n\u00e4her als das Papier, zum Zusammenfallen gebracht hat, betrachte man gespannt das obere Ende der entstandenen Linie, ohne die Augen einen Moment davon abweichen zu lassen.","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nC. du Bois-Ileymond\nDie ganze Linie wird einfach und in richtigem Hervortreten gesehen werden, und es kann, ohne die geringste Schwierigkeit, eine Stecknadel oder ein grader Draht genau in die Lage gebracht werden, dafs er damit zusammenf\u00e4llt. Oder, w\u00e4hrend die Sehaxen auf das obere und n\u00e4here Ende dauernd gerichtet bleiben, kann eine Nadelspitze mit dem unteren und ferneren Ende, oder irgend einem Zwischenpunkt zum Zusammenfallen gebracht werden ; die Ber\u00fchrung wird sich genau gleich bleiben, wenn die Sehaxen bewegt werden und dort sich begegnen. Zuweilen werden die Augen m\u00fcde, und aus diesem Grunde erscheint die Linie verdoppelt in den Teilen, auf welche die Sehaxen nicht geheftet sind, aber in diesem Falle schwindet aller Schein der K\u00f6rperlichkeit. Derselbe Versuch kann mit mannigfaltigeren Zeichnungen erprobt werden, doch sollten die Bilder nicht zu weit aus den Netzhautmitten sich erstrecken.\u201c\nAls zweiten Versuch nennt dann Wheatstone die Verschmelzung binokidarer Nachbilder, die auch ihm schon gelungen ist. Gegen diesen l\u00e4fst sich kaum etwas einwenden, es m\u00fcfste denn sein, dafs er allzu subjektiv und nur f\u00fcr den beweisend ist, dem es gelingt, ihn nachzumachen.\nDie \u00fcbersetzten Stellen zeigen, dafs dieser zuverl\u00e4ssige und h\u00f6chst sorgf\u00e4ltige Beobachter die Doppelbilder wohl bemerkt und gekannt, sogar Br\u00fcckes sp\u00e4tere Theorie von den Augenbewegungen schon reiflich erwogen hatte, und dafs theoretische Gr\u00fcnde ihn veranlafst haben, diese Ansicht zu verwerfen. Aus dem Satz, wo er von der Erm\u00fcdung bei den fixierenden Versuchen spricht, m\u00f6chte ich fast die Gewifsheit sch\u00f6pfen, dafs eine aufsergew\u00f6hnlich starke Eaddrehung bei ihm, wie bei Panum, das Verschmelzen divergenter Linien erleichterte. So erkl\u00e4rt sich auch ungezwungen die Bemerkung von Helmholtz, dafs die meisten Beobachter die Linien in Wheatstones Figur leicht in Doppelbildern sehen, weil der Neigungsunterschied zu grofs ist.\nZwei Jahre sp\u00e4ter erschien die Verteidigung der angegriffenen Identit\u00e4tslehre von Br\u00fccke. Ich brauche sie nicht genauer darzustellen, denn im wesentlichen besteht sie darin, dafs er die in der angef\u00fchrten Stelle von Wheatstone selbst verworfene Theorie etwas gr\u00fcndlicher entwickelt und von neuem in das Feld f\u00fchrt. Br\u00fccke meint, dafs Wheatstone im Fixieren nicht hinreichend ge\u00fcbt gewesen sein m\u00fcsse und die Doppel-","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Bruches Theorie des k\u00f6rperlichen Sehens.\t431\nbilder \u00fcbersehen habe. Mit ausf\u00fchrlicher Begr\u00fcndung verficht er die Ansicht, dafs beim Sehen k\u00f6rperlicher Dinge und stereoskopischer Bilder kleine Schwankungen der Blickrichtung und Konvergenz, ohne empfunden zu werden, gleichsam automatisch stattfinden. Dadurch werden nach und nach alle Punkte der ungleichen Bilder je einmal zur Deckung gebracht, und die Tiefenanschauung unbewufst aus der Gr\u00f6fse dieser Bewegungen gewonnen. Es sei sehr schwer, vielleicht unm\u00f6glich, sich f\u00fcr l\u00e4ngere Zeit vollkommen dieser Bewegung zu erwehren und einen Punkt so genau zu fixieren, dafs die stereoskopische T\u00e4uschung schwindet. Diese Bewegungen k\u00f6nnten nach Art der Reflexbewegungen geschehen, indem die Sehnervenerregung beim Anblicken eines Gegenstandes, ohne Vermittelung des bewufsten Willens, motorische Antriebe f\u00fcr die Augenmuskeln ausl\u00f6st. Von selbst verfolgen die beiden Netzhaut mitteipunkte die sichtbarsten Umrisse und Linien des K\u00f6rpers, wie zwei tastende Fingerspitzen, Konvergenz und Accommodation passen sich fortw\u00e4hrend dem Bed\u00fcrfnis, einfach und scharf zu sehen, an. Die Gr\u00f6fse der Augendrehung berechnete Br\u00fccke f\u00fcr eins der Bilder Wheatstones auf 2 Grad 13 Minuten, um zu zeigen, dafs sie sehr wohl unserer Aufmerksamkeit entgehen k\u00f6nne.\nIn seiner Kritik Wheatstones hat Br\u00fccke unbestritten recht behalten. Pr\u00e9vost und Brewster traten ganz seinen Ansichten bei. Andere, vor allem Dove, bek\u00e4mpften aber die Annahme von Augenbewegungen, und die Mehrzahl der sp\u00e4teren Autoren, auch von Helmholtz erkl\u00e4ren, er habe zu grofses Gewicht auf diese gelegt.\nDove, der sich viel mit dem Stereoskop besch\u00e4ftigte und eine Reihe von wichtigen Anwendungen beschrieben hat, widerlegte die Erkl\u00e4rung Br\u00fcckes. Er fand, dafs beim Lichte einer in regelm\u00e4fsigen Zeitr\u00e4umen stattfindenden Elektricit\u00e4tsent-ladung er selbst, wie auch andere, die Bilder k\u00f6rperlich sahen. Diese Beobachtung ist von Volkmann, August, Recklinghausen und Helmholtz, auch in mancherlei Ab\u00e4nderungen, wiederholt und im wesentlichen best\u00e4tigt worden. Von Bewegungen der Augen w\u00e4hrend der Funkendauer kann nat\u00fcrlich keine Rede sein. Dem Einwand, dafs vielleicht Phosphorescenz der Papierbilder eine l\u00e4ngere Beleuchtung bewirkte, ist durch Dove selbst, wie auch durch August und Recklinghausen, \u00fcbrigens ohne dafs er gemacht worden w\u00e4re, dadurch begegnet worden, dafs","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nC. du Bois-Reymond.\nein Teil ihrer Versuche an einfachen Spiegelbildern der Lichtquelle angestellt wurde. Es kann wohl nicht f\u00fcglich mehr bestritten werden, dafs ohne die geringste Bewegung der Augen ein stereoskopisches Sehen m\u00f6glich ist.\nIn von Helmholtz\u2019 ,,'Physiologischer Optik11 wird eine ab-schliefsende Darstellung der Frage gegeben, in welcher dann der Verfasser eine vermittelnde Stellung einnimmt. Er giebt zu, dafs Br\u00fcckes Augenbewegungen beim unbefangenen Sehen eine Hauptrolle spielen, dafs sie entschieden die Tiefenanschauung genauer und lebendiger machen, und sogar, dafs durch l\u00e4ngeres genaues Fixieren nur die fast an der Grenze der Trennbarkeit liegenden Doppelbilder nicht gel\u00f6st werden, woran m\u00f6glicherweise die unvermeidlichen kleinen Schwankungen Schuld haben. Aber er hat selbst die Versuche mit momentaner Beleuchtung wiederholt und sich \u00fcberzeugt, dafs Zeichnungen mit nicht allzugrofsen Unterschieden einfache k\u00f6rperliche Wahrnehmung gestatten. Dennoch ist die Funkenbeleuchtung kein absolutes Hindernis f\u00fcr die Trennung der Doppelbilder. Bei wiederholten Funken, wenn man sich vorher deutlich vorstellt, wie sie aussehen m\u00fcssen, f\u00e4ngt man an, sie zu sehen. Auch Nachbilder hat Helmholtz plastisch gesehen, bemerkt aber, dafs eine Neigung besteht, sie als blofse Flecke auf die Unterlage zu projizieren.\nBr\u00fccke selbst ist in neuerer Zeit in seinen Vorlesungen \u00fcber Physiologie auf den Gegenstand zur\u00fcckgekommen. Er bespricht die Einw\u00e4nde und Versuche der Gegner und r\u00e4umt ein, dafs die Bewegungen nicht notwendig sind, um die Baumvorstellung zu erregen. Aber er setzt hinzu, dafs sie doch eine sehr merkliche Vertiefung und Belebung dieser Vorstellung hervorbringen, w\u00e4hrend dem momentanen Eindruck immer etwas Schemenhaftes, Unwirkliches anhafte. Diese letzte Darstellung Br\u00fcckes scheint mir allen Widerspr\u00fcchen der fr\u00fcheren Beobachtungen gut Bechnung zu tragen und den Thatsachen am besten zu entsprechen.\nZur\u00fcckgreifend mufs ich hier auch noch Donders\u2019 erw\u00e4hnen, der einige neue Gesichtspunkte hinzugebracht hat. Er f\u00fchrt die wichtige Beobachtung an, dafs in manchen F\u00e4llen von abnormer Augenstellung die Bedeutung der korrespondierenden Netzhautpunkte durch \u00dcbung verloren geht, w\u00e4hrend eine Anpassung an die neuen Verh\u00e4ltnisse erworben wird. Die","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Br\u00fcckes Theorie des k\u00f6rperlichen Sehens.\n433\nzwei\u00e4ugig Sehenden besitzen eine eigent\u00fcmliche, vollkommenere Empfindung des K\u00f6rperlichen, die den ein\u00e4ugig Sehenden unbekannt zu sein scheint. Er l\u00e4fst diese aus zwei Ursachen entstehen. Erstens, aus der Wahrnehmung der Doppelbilder, wobei aber, wenn weitere Hilfsmittel ausgeschlossen sind, die pseudo-skopische Umkehrung auftreten kann, und zweitens aus den Bn\u00fcCKEschen Bewegungen, Blickwendung und Konvergenz\u00e4nderung. Aus beiden gewinnen die Augen, mit grofser, durch die lebenslange \u00dcbung erworbener Sicherheit, erst die eindeutige, zwingende Vorstellung einer bestimmten Form.\nEs ist gewifs berechtigt, das Sehen bei Momentlicht oder bei strenger Fixierung als k\u00fcnstliche Ausnahmef\u00e4lle zu betrachten, nach denen \u00fcber den gew\u00f6hnlichen Gebrauch des Organs nicht abzuurteilen ist. Doch enthalten diese k\u00fcnstlich isolierten Paare, wie schon die mathematische Betrachtung im voraus ergiebt, alle notwendigen Data f\u00fcr eine richtige Baumvorstellung und f\u00fcr eine zweite, n\u00e4mlich die pseudoskopische Umkehrung, welche denn auch, unter diesen Umst\u00e4nden, von vielen Beobachtern gesehen worden ist. Die Vorstellung eines Baumgebildes wird f\u00fcr die Seele eine m\u00f6gliche und wohl immer die wahrscheinlichste Deutung des Gesehenen bleiben, sobald nicht in pr\u00fcfender Absicht die Aufmerksamkeit den im indirekten Sehfeld gelegenen Doppelbildern zugewandt ist. \u2014\nEs mag auff\u00e4llig scheinen, dafs in allen den genannten Arbeiten durchweg die Beweise f\u00fcr und wider die Augenbewegungen auf Umwegen gesucht wurden. Niemand hat durch unmittelbare Beobachtung die Frage endg\u00fcltig zu beantworten gesucht. Ich habe in Gemeinschaft mit Herrn Prof. A. K\u00f6nig in dessen Laboratorium, der Abteilung f\u00fcr physik. Physiologie (physiol. Optik) im hiesigen Physiologischen Universit\u00e4tsinstitut, Anstalten getroffen, um diesen Versuch selbst anzustellen. Dabei stiefsen wir alsbald auf die Hauptschwierigkeit. Es ist wohl kaum ausf\u00fchrbar, und w\u00fcrde jedenfalls sehr umst\u00e4ndliche Vorrichtungen erfordern, den Kopf eines Menschen so festzustellen, dafs kleine Bewegungen eines Auges mit Genauigkeit gemessen werden k\u00f6nnten. Wir benutzten eine St\u00fctze, welche, an einen schweren Tisch geschraubt, dem Kinn eine wagrechte Unterlage darbietet, von der aus ein dem Profil angepafstes Brett aufragt, mit einem eisernen, Stirn und Schl\u00e4fen umfassenden B\u00fcgel. In diesem Apparat fanden sich nun \u00fcberall, wo","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nC. du Bois-Reymond.\nman die Hautoberfl\u00e4che bei etwa 25facher Linearvergr\u00f6fserung einstellte, Meine vorwiegend wagrechte Schwingungen des Kopfes von 0,1 bis 0,125 mm Weite, ungef\u00e4hr 2 bis 3 Hin-und Herg\u00e4nge in der Sekunde. Durch Willensanstrengungen liefsen sich diese Bewegungen nur f\u00fcr eine kurze Dauer und kaum merklich vermindern. Vermehrung der St\u00fctzpunkte, indem durch einen schweren K\u00f6rper auf zwei Stellen des Hinterkopfes ein sanfter Druck ausge\u00fcbt wurde, ver\u00e4nderte gar nichts an dieser Bewegung. Freie Seitenlage auf der Tischplatte, mit fester Unterlage f\u00fcr den Kopf auch nicht, nur dafs hier eine sehr deutliche Pulswelle als Ausdruck einer Schwingung des ganzen K\u00f6rpers hinzukam. Festbeifsen an ein Holzbrettchen gab der Bewegung eine \u00fcberwiegende Vertikalrichtung. Vielleicht w\u00fcrde man zum Ziel kommen, wenn man einen entsprechend konstruierten Vergr\u00f6fserungsapparat durch einen festen Verband am freien Kopf selbst anbr\u00e4chte. Indessen f\u00fcr die Entscheidung der vorliegenden Frage war es nicht notwendig; die einfache, zuerst beschriebene St\u00fctze gab eine f\u00fcr den Zweck ausreichende Buhelage, wegen der Kleinheit und Gleichm\u00e4fsigkeit der Kopfschwingungen.\nIch w\u00e4hlte das einfachste aller Stereoskopbilder, welches auch v. Recklinghausen benutzt hat, 2 Nadelstich-Paare in dunkelem Papier, 6 und 7,5 mm voneinander entfernt. Sie wurden in einem gew\u00f6hnlichen Prismen-Stereoskop vor dem Untersuchten aufgestellt und von hinten diffus erleuchtet. Man glaubt zwei im dunkeln Baum schwebende, ungleich entfernte Lichtpunkte zu sehen. Fixiert man den einen, so gelingt es, wenn man im indirekten Beobachten ge\u00fcbt ist, leicht, den andern in deutlich getrennten Doppelbildern zu sehen. Auf der Sklera, nahe dem \u00e4ufsern Augenwinkel, wurde das Bild einer entfernten Lampenflamme mit H\u00fclfe einer kleinen Sammellinse entworfen und die so erleuchtete Stelle unter das Mikroskop genommen. Die feineren Bindehautgef\u00e4fse auf dem hellgl\u00e4nzenden Grunde erlauben eine sehr betr\u00e4chtliche Ver-gr\u00f6fserung anzuwenden und w\u00fcrden auch viel kleinere Bewegungen deutlich erkennen lassen. So war es m\u00f6glich, die Fixation w\u00e4hrend des stereoskopischen Sehens zu \u00fcberwachen und jede subjektive T\u00e4uschung auszuschliefsen. Die Bewegung, welche die Doppelbilder zum Verschwinden brachte, die willk\u00fcrliche Bewegung des Untersuchten von einem Punkt zum","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Bruches Theorie des k\u00f6rperlichen Sehens.\n435\nandern, betrug etwas mehr als 0,5 mm, konnte also mit vollkommener Sicherheit von allen anderen Schwankungen unterschieden werden, welche nur ein F\u00fcnftel bis ein Viertel dieser Gr\u00f6fse erreichen. Bewegungen dieser Gr\u00f6fsenordnung beobachteten wir niemals w\u00e4hrend der beabsichtigten Fixation; im Gegenteil konnte meist eine eben erkennbare M\u00e4fsigung der kurzen Schwingungen wahrgenommen werden.\nOb das, was wir Fixation nennen, nicht dennoch eine Bewegung des Netzhautbildes \u00fcber eine oder mehrere Zapfenbreiten sei, mufs ich freilich unentschieden lassen. Aus mehreren Gr\u00fcnden erscheint es mir kaum zweifelhaft, dafs eine solche Bewegung wirklich alles Fixieren begleitet. Gewifs ist aber, dafs sie stets unter den gr\u00f6fseren Schwingungen des Kopfes verschwindet und nicht bis zum Verschmelzen getrennter Doppelbilder ausgedehnt zu werden braucht, um die Kaumvorstellung zu bewirken. Beide Bewegungen k\u00f6nnen aber trotzdem nicht ganz ohne Wert f\u00fcr die Auslegung des Gesehenen sein. Bei unserer sehr ausgebildeten F\u00e4higkeit, auch im excentrischen Sehen kleinste Ortsver\u00e4nderungen zu erkennen, sch\u00fctzen sie uns vielleicht mit Erfolg in vielen F\u00e4llen vor dem pseudo-skopischen Fehlschluls. So w\u00fcrde es verst\u00e4ndlich, dafs die Pseudoskopie im allgemeinen nicht leicht, am besten an etwas fernen Gegenst\u00e4nden und viel leichter bei Bildern gelingt.\nWenn ich mir nun im Sinne der empiristischen Theorie das r\u00e4umliche Sehen zu erkl\u00e4ren suche, so will es mir erscheinen, als ob einige Schwierigkeiten mehr k\u00fcnstlich hineingetragen worden w\u00e4ren. Der Begriff der korrespondierenden Punkte und die Lehre vom Horopter haben als anziehende geometrische Frage eine eingehende Behandlung gefunden, hinter welcher die eigentliche physiologische Bedeutung des Gegenstandes zur\u00fccktritt.\nIn strenger Wirklichkeit benutzen wir zwei Deckpunkte, die Fixierpunkte. Dem sehr erkl\u00e4rlichen Bed\u00fcrfnis des Einfachsehens folgend w\u00e4hlen wir weiterhin die Lage des Objektes oder unsere eigene so, dafs in m\u00f6glichst weitem Umkreise alle Doppelbilder sich so nahe als m\u00f6glich kommen. Man kann es so auffassen, als ob sich die Doppelbilder mit zunehmender Kraft anz\u00f6gen. Diese Anziehung, von Panum als Macht der Kontur bezeichnet, kann zum v\u00f6lligen Zwang werden. Jeder im Doppeltsehen Ge\u00fcbte wird zugeben, dafs es bei starker","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nC. du Bois-Reymond.\nAnn\u00e4herung der Bilder unm\u00f6glich wird, sie unbeweglich und getrennt zu halten. Beim Betrachten eines wirklichen Doppelbildes, wie es entsteht, wenn durch Verschieben des Papieres eine Druckseite oder Photographie sich verdoppelt, wird ein ganz eigent\u00fcmliches Unbehagen empfunden. Diese Unlust, welche auch beim Sehen mit einem Auge fortbesteht, entspringt offenbar aus den fruchtlosen Anstrengungen, die sehr nahen parallelen Umrisse zu einem einzigen zusammenzuziehen. Wie schon das Stereoskop in der Augenklinik seine Stelle gefunden hat, k\u00f6nnte man vielleicht solche verdoppelte Drucke in zweifelhaften F\u00e4llen als Probe auf das Vorhandensein eines Fusionstriebes verwerten. Etwas mehr getrennte Doppelbilder erregen diesen Trieb nur wenig; dagegen, weil gr\u00f6fsere Ungleichheiten \u00fcbereinander fallen, ein Gef\u00fchl von Verwirrung. Wir erkennen sie nicht mehr sicher als zusammengeh\u00f6rig; von ihnen gilt, was Wheatstone behauptet, dafs das Tiefengef\u00fchl verloren geht. Die Gesamtheit der korrespondierenden Punkte, der Horopter, ist nun der durch die beiden Augen gegebene Ort, wo jene Anziehung der Doppelbilder gleichzeitig v\u00f6llige Deckung herbeif\u00fchren k\u00f6nnte. Abgesehen von diesem idealen Fall sehen wir also stets einen Teil unserer Bilder doppelt. Lebenslange Erfahrung hat uns ferner gelehrt, dafs Doppelbilder an einem bestimmten Ort und von bestimmtem Abstande zu einem Ganzbilde Zusammengehen, wenn wir eine gewisse synergische Augenbewegung, die f\u00fcr uns einen wohlbekannten Tiefenwert hat, ausf\u00fchren. Jeder willk\u00fcrlichen Bewegung, wenn wir sie mit einiger \u00dcberlegung ausf\u00fchren, geht eine solche absch\u00e4tzende Vorstellung zeitlich voraus, in welcher wir die r\u00e4umliche Gr\u00f6fse, Kraft und Zeitfolge der erforderlichen Impulse gewissermafsen abw\u00e4gen, um die Bewegung richtig und zweckm\u00e4fsig zu vollziehen. Ein Hieb wird zuerst mit dem Gedanken und dem Auge ausgef\u00fchrt, so dafs ge\u00fcbte Fechter ihn manchmal im voraus erraten. Bei der wunderbaren Genauigkeit unserer Beherrschung der Sehaxen ist es nicht so erstaunlich, dafs wir auch beim Blitz des Funkens, wo die Bewegung eben nur gedacht, aber nicht ausgef\u00fchrt werden kann, mit Hilfe der Anschauung allein, eine Raumvorstellung gewinnen. Br\u00fccke fragt mit Hecht, welche andere Deutung wir einem richtig gezeichneten Stereoskopbilde geben sollten, wie wir es von einem Raumgebilde unterscheiden k\u00f6nnten?","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber Bruches Theorie des k\u00f6rperlichem Sehens.\n437\nBeim l\u00e4ngeren unbefangenen Betrachten des Stereoskopbildes, noch mehr aber, sobald der Beobachter den Tiefenabstand abzusch\u00e4tzen sucht, findet fortw\u00e4hrend ein periodisches Schwanken von einem Punkt zum andern statt, ganz in der Weise, wie es Br\u00fccke durch Selbstbeobachtung gefunden hatte. Dies konnten wir unter dem Mikroskop vollkommen best\u00e4tigen. Zugleich glaubten wir zu bemerken, dafs die Lebhaftigkeit und das Augenmafs der scheinbaren Tiefenausdehnung durch die Augenbewegungen unterst\u00fctzt wird.\nEs entspringt also die zwingende Erkenntnis oder T\u00e4uschung des r\u00e4umlichen Sehens aus nur zwei gleichartigen Bedingungen : Entweder durchl\u00e4uft ein Auge nacheinander mehrere Orte, oder zwei Augen nehmen zugleich zwei verschiedene Orte ein. Allen \u00fcbrigen H\u00fclfsmitteln kommt nur eine geringere, die Baumanschauung etwas steigernde Nebenwirkung ein.\nLitteratur.\nWheatstone: Philos. Transact.of the London Roy Soc. 1838. P. II. S. 871\u2014394. (Deutsob: Poggendorffs Annalen, Erg\u00e4nzungsbd. I. S. 1. 1842: i. Auszug : Bd. 47. S. 625. 1839.\nBr\u00fccke: \u00dcber die ster. Erscheinungen und Wheatstones Angriff auf die Lehre v. d. id. Stellen d. Netzh\u00e4ute. M\u00fcllers Archiv f. Anat., Physiol, u. miss. Med., 1841. S. 459-476.\nDove: Darstellung der Farbenlehre u. opt. Studien. Berlin, 1853. S. 162, 163. \u2014 Verhandl. d. Akad. zu Berlin, 29. Juli 1839. S. 252.\nRecklinghausen, v. : Zur Theorie des Sehens. Poggendorffs Annalen, Bd. 110. S. 84. 1860.\nDove: \u00dcber Stereoskopie. Poggendorffs Annalen, Bd. 110. S. 496. 1860. August, F.: \u00dcber eine neue Art Stereoskop. Erscheinungen. Poggendorffs Annalen, Bd. 110. S. 533. 1860.\nRecklinghausen, v. Zum k\u00f6rperlichen Sehen. Poggendorffs Annalen, Bd. 114. S. 170. 1861.\nPanum, P. L.: Reichert u. du Bois-Beymonds Archiv, 1861. S. 68 u. a. Donders: Anom. of the Accomm. and Befr. of the Eye, 1864. S. 165. Helmholtz: Physiol. Optik. 1. Aufl. Leipzig, 1867. S. 739.\nBr\u00fccke: Vorles. \u00fcber Physiologie. S. 223.","page":437}],"identifier":"lit14618","issued":"1891","language":"de","pages":"427-437","startpages":"427","title":"\u00dcber Br\u00fcckes Theorie des k\u00f6rperlichen Sehens: Habilitationsrede, gelesen vor der medizinischen Fakult\u00e4t der Berliner Universit\u00e4t am 3. M\u00e4rz 1891","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:04:08.056901+00:00"}

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