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{"created":"2022-01-31T17:04:15.836595+00:00","id":"lit14620","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Fl\u00fcgel, O.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2: 444-448","fulltext":[{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"Erwiderung.\nVon\n0. Fl\u00fcgel.\nIn dieser Zeitschrift (Bd. II, S. 180) findet sich ein Aufsatz des Herrn Professor J. Rehmke: Die Seelenfrage mit besonderer R\u00fccksicht von 0. Fl\u00fcgels: Die Seelenfrage u. s. w. Hierin bed\u00fcrfen einige Mifsverst\u00e4ndnisse einer Berichtigung. Der Verfasser sucht nachzuweisen, dafs meine Auffassung des geistigen Lebens Materialismus sei oder zum Materialismus f\u00fchre, ohne zu sagenr was unter Materialismus zu verstehen sei, und noch weniger, worin das Falsche und Unberechtigte desselben bestehe. \u00dcbrigens richtet er den Vorwurf des Materialismus gegen alle Psychologen, wahrscheinlich mit der einzigen Ausnahme von J. Rehmke. \u201eKeinen Versuch in der Geschichte der Psychologie bis auf heute herab giebt es, der nicht dem Banne des Materialismus irgendwie verfallen w\u00e4re bei Feststellung des Seelengegebenen.\u201c S. 212.\nUm nun meine Auffassung vom geistigen Leben und zugleich die Psychologie Herbakts als Materialismus zu erweisen, giebt sich der Verfasser dem Mifsverst\u00e4ndnisse hin, als seien die Atome (und also auch das Seelenwesen) selbst schon an und f\u00fcr sich Materie. So ist es bekanntlich nicht. Das Merkmal der Materie ist, dafs sie sinnlich wahrgenommen wird. Was nicht sinnlich wahrgenommen werden kann, ist nicht Materie, ist insofern immateriell. Unter Atom versteht man die letzten Bestandteile der Materie, aus welchen erst die Materie mit ihren Erscheinungen erkl\u00e4rt werden soll. Nun waren ja freilich die Atome der Alten und wohl auch mancher Neuern nichts als kleine Teile der Materie, behaftet mit denselben Kr\u00e4ften","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Erwiderung.\n445\nund Eigenschaften als diese selbst. Allein der Fortschritt der Forschung besteht in dieser Hinsicht darin, alle Eigenschaften der Materie als Wirkung anzusehen, verursacht teils durch die Wechselwirkung der Atome untereinander, teils durch deren Wirkung auf unsere Sinnesorgane. Sie selbst aber, die Atome, sofern man sie an und f\u00fcr sich, einzeln, abgesehen von jeder Wechselwirkung denkt, besitzen keine der Eigenschaften, welche der Materie als einer zusammengesetzten Masse, zukommen, sie sind insofern immateriell, aber f\u00e4hig, Materie zu bilden. M\u00f6gen nun auch hinsichtlich der Atomenlehre noch viele unklare und voneinander abweichende Meinungen herrschen, so l\u00e4fst sich doch sagen, man ist auf dem Wege zu dieser Erkenntnis, jedenfalls sind die realen Wesen im Sinne Herbakts \u2014 und nur um diese handelt es sich hier \u2014 zu fassen als an sich immaterielle Wesen, die durch ihr Zusammenwirken die Materie bilden. Die Frage, ob die letzten Bestandteile der Materie streng einfach, in r\u00e4umlicher Beziehung also punktf\u00f6rmig gedacht werden m\u00fcssen, oder ob man ihnen eine gewisse, wennschon \u00fcberaus kleine Ausdehnung zuschreiben darf, diese Frage kann bei der Er\u00f6rterung \u00fcber die Seele als den realen Tr\u00e4ger der geistigen Zust\u00e4nde bei seite gelassen werden, und ist auch von mir bei Seite gelassen, weil es sich hierbei allein um intensive Einheit, um Einfachheit der urspr\u00fcnglichen Qualit\u00e4t handelt. Darum habe ich es zu vermeiden gesucht, von punktf\u00f6rmiger Seele, von Seelenatom, \u00fcberhaupt von punktf\u00f6rmigen Atomen zu reden, Und wenn Verfasser die letztgenannten W\u00f6rter mit besonderm Nachdruck hervorhebt und mit Anf\u00fchrungsstrichen als meine Worte vortr\u00e4gt, so ist dies keine genaue Berichterstattung, und wenn er glaubt, die Atome nenne man darum immateriell, weil sie punktf\u00f6rmig gedacht werden, so irrt er, sie bleiben immateriell, auch wenn sie eine gewisse Ausdehnung besitzen sollten.\nDer Verfasser sieht nun aber ohne weiteres die Atome als K\u00f6rper, als kleine Teile der Materie an, und darum meint er, Herbarts Lehre von der Seele sei Materialismus, weil er die Seele als ein einfaches reales Wesen, wie die Atome \u00fcberhaupt ansieht. In Wahrheit aber sind alle Atome und also die Seele immateriell, d. h. nichts sinnlich Wahrnehmbares, nicht mit den Eigenschaften und Kr\u00e4ften der Materie behaftet.\nEin zweites Mifsverst\u00e4ndnis besteht darin, da-fs Verfasser\n30*","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\n0. Fl\u00fcgel.\nmeint, ich schreibe der Seele nur innere Zust\u00e4nde zu und halte sie f\u00fcr unf\u00e4hig, \u00e4ufsere Zust\u00e4nde zu haben. \u201eDas Gehirnatom,\u201c heifst es S. 189, \u201ehat (nach Fl\u00fcgel) \u00e4ufsere und innere Zust\u00e4nde, das Seelenatom als nicht-r\u00e4umliches allein innere.\u201c \u201eDas Seelenatom soll nur innere Zust\u00e4nde bekommen.\u201c S. 210. Wie mag Verfasser zu dieser Ansicht und zu diesem Bericht gekommen sein? \u00dcberall ist in meiner Schrift und in der ganzen Herbart-schen Litteratur \u00fcber diesen Punkt das gerade Gegenteil gesagt, dafs auch hinsichtlich der \u00e4ufseren Zust\u00e4nde, n\u00e4mlich der Bewegungsvorg\u00e4nge, zwischen dem Seelenwesen und jedem andern realen Wesen kein Unterschied ist. So gut wie jedes andere einfache Wesen mufs die Seele gedacht werden bald ruhend, bald sich bewegend, mit diesem oder jenem Wesen in Ber\u00fchrung oder aufser Ber\u00fchrung. Die \u00e4ufseren Bewegungsvorg\u00e4nge sind die formale Bedingung f\u00fcr die Entstehung der inneren Zust\u00e4nde (z. B. der Empfindungen).\nWenn es freilich so w\u00e4re, wie Verfasser meine Ansicht darstellt, als seien \u00e4ufsere Zust\u00e4nde f\u00fcr die Seele nicht m\u00f6glich, dann h\u00e4tte er Hecht, wenn er sagt S. 189: \u201eEin Nest von Widerspr\u00fcchen gr\u00f6bster Art starre ihm entgegen, wenn er sich eine Wechselwirkung von Gehirn und Seele denken solle.\u201c Allein Verfasser sollte bedenken, dafs er selbst diese Widerspr\u00fcche gekn\u00fcpft hat und zwar dadurch, dafs er unter-l\u00e4fst, den so klar ausgesprochenen Gedanken aufzufassen und statt dessen das gerade Gegenteil mir als meine Ansicht unterzuschieben. Es f\u00e4llt ganz auf ihn, wenn er S. 188 sagt: \u201eDie HERBARTsche Philosophie, welche es als das eigenste philosophische Gesch\u00e4ft verk\u00fcndet, die Widerspr\u00fcche aufzul\u00f6sen, sollte sich h\u00fcten, selbstth\u00e4tig neue Widerspr\u00fcche zu schaffen und sollte feinf\u00fchliger sein gegen so plumpe Widerspr\u00fcche, wie derjenige ist, in welchem der Seele einerseits K\u00f6rperlichkeit, Materialit\u00e4t, R\u00e4umlichkeit abgesprochen und andererseits Sitz, Ort, Bewegung und Beweglichkeit im Gehirn zugesprochen wird.\u201c Hierin liegt kein Widerspruch. Der Widerspruch kommt erst hinein, weil Verfasser die Behauptung dazwischen schiebt, die Seele habe nur innere Zust\u00e4nde. Der Verfasser bemerkt in dieser Hinsicht S. 184: \u201eWir kennen die Weise, sowie den Text von den realen Wesen und seinen inneren Zust\u00e4nden genugsam, verk\u00fcndigen doch Herbarts Sch\u00fcler diese W\u00f6rter noch immer laut und oft.\u201c Allein es scheint, als w\u00e4re","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Erwidermg.\n447\ndas, was allerdings hinreichend bekannt sein sollte, doch noch nicht laut und oft genug verk\u00fcndet, wenigstens Herr Rehmke kennt die einfachsten Grundz\u00fcge der Lehre Herbarts \u00fcber die realen Wesen und ihre Zust\u00e4nde noch gar nicht, geschweige denn genugsam.\nEine \u00e4hnliche Bemerkung macht Verfasser gegen die Verwerfung des Begriffs von der unmittelbaren Fernwirkung. Da heifst es S. 183: \u201eIch mufs mich hier darauf beschr\u00e4nken, die logischen Ungeheuerlichkeiten dieser S\u00e4tze durch gesperrten Druck der Stichworte anzumerken, so sehr es mich auch reizt, diese abenteuerlichen Behauptungen in ihr Nichts zu zerpfl\u00fccken.\u201c Es w\u00e4re der Sache dienlicher gewesen, er h\u00e4tte diesem Heize nachgegeben und h\u00e4tte versucht, die Widerspr\u00fcche hier nachzuweisen, statt von erdichteten Widerspr\u00fcchen zu reden. Vielleicht h\u00e4tte er alsdann wenigstens ein Gef\u00fchl von den Schwierigkeiten bekommen, welche die neueren Physiker bestimmt haben, den Begriff der unmittelbaren Pernwirkung aufzugeben.\nAus dem Obigen m\u00f6ge man ersehen, wie Verfasser seine Behauptung begr\u00fcndet, Herbarts Psychologie sei oder f\u00fchre zum Materialismus. Einen anderen Grund daf\u00fcr scheint er in der Anschaulichkeit von Herbarts Lehre zu sehen. Anschaulichkeit und Materialismus scheint ihm dasselbe zu sein. Es heifst S. 186: \u201eEs kommt darauf an, die geistigen Erscheinungen in ihrer bestimmten positiven Eigenart sich klar zu machen, um nicht wieder bei der Auffassung von Seele und Seelischem dem Anschaulichen und damit dem Materialismus zu verfallen.\u201c Ebenso S. 212.\nSonst pflegt Anschaulichkeit einer Lehre eher als Vorzug angerechnet zu werden, aber nicht als Nachteil. Indessen anschaulich ist die Lehre von den Atomen \u00fcberhaupt nicht und ebensowenig Herbarts Lehre von den einfachen Wesen. Hier ist wohl alles auf Freiheit von Widerspr\u00fcchen, auf Denk-barkeit abgesehen, aber anschaulich ist kein einfaches Wesen und noch weniger ein innerer Zustand.\nSo oft Verfasser auch vom Materialismus redet und den blofsen Namen als eine Art Vorwurf ausspricht, so hat er doch niemals deutlich gesagt, was darunter zu verstehen ist. Gew\u00f6hnlich meint man damit die Leugnung eines besondern selbst\u00e4ndigen Seelenwesens, so dafs der Geist angesehen wird als eine Eigenschaft des Gehirns, als eines materiellen Organs.","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\n0. Fl\u00fcgel.\nUnd dahin d\u00fcrften des Verfassers Worte zielen: \u201eSoweit der moderne Psychologe \u2014 und dazu rechnet er doch wohl auch sich selbst \u2014 f\u00fcr die Empfindung einer Anlehnung bedarf, reicht ihm dazu der organisierte Leib hin, und ist ihm auch dieses Ding nicht im eigentlichen Sinne Tr\u00e4ger der Empfindung, so tr\u00e4gt und umschliefst es ihm doch irgendwie dieselbe.\u201c S. 200 . . . Dann heifst es aber auch wieder : \u201eDie Seele hat, weil keine Gr\u00f6fse, auch keinen Ort: die Seele ist, aber sie ist nirgends . . . das Zusammen von Seele und Leib ist ein solches, das sich mit keinem Zusammen des Raumgegebenen vergleichen l\u00e4fst, und daher nenne ich es ein exemplarisches Zusammen.\u201c S. 215. Jeder wird zugeben, dafs der Verfasser hier wenigstens die von ihm so verbotene Anschaulichkeit vermieden hat.\nAus den zuletzt angef\u00fchrten Worten des Verfassers k\u00f6nnte man vermuten, dafs er in dualistischer Weise das geistige Leben im schroffen Gegens\u00e4tze zu allen materiellen Erscheinungen auffasse, und nur darin kann es auch begr\u00fcndet sein, wenn er S. 182 sagt: \u201eWas hat die Seelenfrage zu thun mit Wandlungen naturwissenschaftlicher Begriffe? M\u00f6gen diese sich tausendfach wandeln, so ist doch nicht ersichtlich, wie daraus der Seelenfrage irgendwelcher Nutzen erwachsen d\u00fcrfte!\u201c Es heifst aber doch, den Begriff des Materialismus und dessen Geschichte in alter und neuer Zeit ganz verkennen, wenn man nicht einsehen will, dafs sich der Materialismus ganz und gar auf die naturwissenschaftlichen Begriffe von Stoff, Kraft, Bewegung u. s. w. gr\u00fcndet und also auch nur von hieraus beurteilt und berichtigt werden kann.","page":448}],"identifier":"lit14620","issued":"1891","language":"de","pages":"444-448","startpages":"444","title":"Erwiderung","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:04:15.836600+00:00"}