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{"created":"2022-01-31T17:00:45.496873+00:00","id":"lit14691","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Peretti","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3: 82-84","fulltext":[{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\nLitteraiurbericHt.\nW\u00e4rterin suggerierte, ein von ihr in der Hand gehaltenes Messer sei weggenommen, und sie aufforderte, alle Finger zu spreizen und die Hohlhand dem Boden zuzuwenden; die W\u00e4rterin kam dieser Aufforderung im wesentlichen nach, bem\u00fchte sich aber gleichzeitig, durch leichte Adduktion des Daumens das Messer mit grofser Geschicklichkeit in der Hand zu balanzieren. Die Fingerbewegung wurde offenbar durch zwei einander widersprechende Bewufstseinszust\u00e4nde beeinflufst. Beim Traum geschieht manchmal etwas \u00c4hnliches, man kann sehr wohl von der Realit\u00e4t eines Traumerlebnisses \u00fcberzeugt sein und durch dasselbe sogar beunruhigt werden und doch gleichzeitig das Bewufstsein haben, dafs es nur ein Traum ist.\nAuch die St\u00f6rungen des Reproduktionsverm\u00f6gens spielen bei der Pseudologia phantastica eine Rolle; jeder Mensch ist bei der Reproduktion fr\u00fcherer Erlebnisse Irrt\u00fcmern unterworfen, die um so geringer sind, je intensiver und klarer das Bewufstsein zur Zeit des Erlebnisses war. Ist aber das Bewufstsein im Entstehungsmoment einer L\u00fcge oder Schwindelei ein unklares oder doppeltes, so wird auch die Erinnerung unklar sein, und der Betreffende sucht seine Erinnerungen durch die gerade bei diesen Individuen sehr rege Phantasie zu erg\u00e4nzen. So entstehen Erinnerungsf\u00e4lschungen. Dafs diese auch durch Induzieren infolge eindringlicher Fragestellung von seiten des Arztes oder Richters hervorgerufen werden k\u00f6nnen, unterliegt keinem Zweifel.\nEs w\u00fcrde hier zu weit f\u00fchren, noch n\u00e4her auf das sehr lesenswerte Buch einzugehen, es mag nur noch aufmerksam gemacht werden auf die Besprechung des Ausdruckes \u201eSimulation\u201c, den D. mit Recht nur auf die mit bewufster Absicht ausgef\u00fchrte Vort\u00e4uschung von Krankheitssymptomen beschr\u00e4nkt wissen will, und auf die Ausf\u00fchrungen \u00fcber \u201edie verminderte Zurechnungsf\u00e4higkeit\u201c in der Einleitung des Buches.\nMan mufs dem Verfasser dankbar sein, dafs er als der Erste es versucht hat, den Begriff der pathologischen L\u00fcge zu pr\u00e4cisieren und eine Sorte der \u00dcbergangsformen zwischen Geistesst\u00f6rung und geistiger Gesundheit n\u00e4her zu beleuchten; seine Arbeit wird gewifs f\u00fcr andere Beobachter Anregung und Veranlassung sein, dahin geh\u00f6rige F\u00e4lle mehr psychologisch zu studieren und mitzuhelfen, Klarheit in das schwierige Kapitel der \u00dcbergangsformen zu bringen.\tPeeetti (Merzig).\nP. Janet. Etude sur un cas d\u2019aboulie et d\u2019id\u00e9es fixes. Revue philosophy Bd. XXXI (1891). Ko. 3 u. 4. S. 258\u2014287 u. 382\u2014407.\nEs handelt sich um ein erblich stark belastetes M\u00e4dchen von guten intellektuellen F\u00e4higkeiten, aber eigensinnigem, trotzigem Charakter, welches im 14. Jahre nach einem schweren, mit lang anhaltenden Delirien einhergehenden Typhus geistig ver\u00e4ndert blieb, nichts mehr lernte, an nichts Freude hatte, Menschenscheu zeigte und in allen Bewegungen sehr langsam wurde. Dieser Zustand steigerte sich nach dem ein Jahr sp\u00e4ter erfolgten Tode des Vaters und durch Aufregung infolge eines Liebesverh\u00e4ltnisses allm\u00e4hlich bis zu dem von J. ausf\u00fchrlich geschilderten Verhalten.\nDas Hauptsymptom war eine Erschwerung der Bewegungen, alle","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n83\nwillk\u00fcrlichen Bewegungen der Arme, der Beine, der Zunge und der Lippen zeigten dieselbe Kraftlosigkeit und dieselbe Unschl\u00fcssigkeit, wodurch die Patientin gew\u00f6hnlich aufser st\u00e4nde war aufzustehen, eine Th\u00fcre zu \u00f6ffnen, einen Gegenstand zu ergreifen, manchmal sogar den Mund zu \u00f6ffnen und zu sprechen, und nach einigen fruchtlosen Versuchen davon abstand. Dagegen waren alle Reflexe, sowie die physiologischen und instinktiven Bewegungen (Respiration, Verdauung, sowie Sichkratzen, Schn\u00e4uzen, Verjagen einer Fliege vom Gesicht) normal, und gewohnte einfache Bewegungen, N\u00e4hen und H\u00e4keln konnten ausgef\u00fchrt werden. Auffallend war, dafs zeitweise, und zwar in impulsiver Weise komplizierte Bewegungen zu st\u00e4nde kamen ; so z. B. zerrifs die Patientin gegen ihren Willen ein Fichu zu kleinen St\u00fccken, ohne aufh\u00f6ren zu k\u00f6nnen, sie kaute an den Fingern\u00e4geln, trotzdem es ihr selbst sehr peinlich war, sie mufste, wenn man ihr einen Bleistift und ein Blatt Papier in die Hand gab, triebartig das ganze Blatt mit unf\u00f6rmlichen Zeichen beschreiben, xmd \u00f6fter erfafste sie ein Selbstmordtrieb, der sie zu raschen und energischen Handlungen veranlafste. Da sie auch in der Hypnose suggerierte Handlungen ohne jedes Stocken ausf\u00fchrte, ist es einleuchtend, dafs sich die St\u00f6rung auf die willk\u00fcrlichen Bewegungen und Handlungen beschr\u00e4nkte, die automatischen dagegen nicht ergriff, die Patientin konnte sich eben nicht entschliefsen, sie konnte nicht mehr gen\u00fcgend wollen (Aboulie). Von besonderem psychologischen Interesse war die Beobachtung, wie die Schwierigkeit einer gewollten Bewegung geringer wurde, wenn es sich um bekannte Gegenst\u00e4nde und Bewegungszwecke handelte, w\u00e4hrend Versuche, eine neue Bewegung auszuf\u00fchren, zuerst immer mifsgl\u00fcckten.\nNeben diesen Bewegungsst\u00f6rungen, die nicht auf einer Nerven-oder Muskelkrankheit beruhen konnten, sondern rein psychischer Natur waren, hatte Patientin noch andere psychische St\u00f6rungen; sie bekam Anf\u00e4lle, in denen sie ganz benommen w~ar, unbeweglich vor sich hinstierte und unter dem Einfl\u00fcsse von Beeintr\u00e4chtigungs-Ideen und Halluci-nationen, vorwiegend des Gesichts, stand. Die Sinnest\u00e4uschungen und Wahnvorstellungen bezogen sich immer auf fr\u00fchere Vorg\u00e4nge und wiederholten sich in derselben Weise; \u00e4hnlich wie die posthypnotischen Suggestionen hatten sie eine gewisse Nachwirkung auf das Verhalten der Patientin nach dem Anfalle, waren aber nicht die Ursache der Aboulie.\nDas Ged\u00e4chtnis war f\u00fcr die Zeit bis zum Beginn der Krankheit ein gutes, von da ab aber sehr mangelhaft, neue Eindr\u00fccke blieben nicht haften, obgleich die Th\u00e4tigkeit der Sinnesorgane normal war. Die Patientin zweifelte an der Wirklichkeit aller Vorg\u00e4nge, zweifelte auch an ihrer eigenen Pers\u00f6nlichkeit. Gelesenes verstand sie nicht, erkannte und verstand aber einen Artikel, den sie vorher schon gelesen und den man ihr dabei klar gemacht hatte. In der bis zu einem gewissen Grade fortgef\u00fchrten Hypnose jedoch war sie vollst\u00e4ndig ver\u00e4ndert, sie erkannte alles, war \u00fcber nichts zweifelhaft, behielt auch in der Erinnerung, was sie in diesem Zustande beobachtet und sich klar gemacht hatte, verstand Gelesenes und f\u00fchrte alle Bewegungen prompt aus.\nDiese kurze Zusammenstellung der vornehmlichen krankhaften\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\ni\u00c4tteraturbericht.\nErscheinungen wird gen\u00fcgen, um zu zeigen, dafs der gut beobachtete Fall n\u00e4here Aufmerksamkeit verdient, nicht zum mindesten wegen der eigent\u00fcmlichen Beziehungen des \"Willens zu gewohnten und zu neuen Handlungen.\tPeretti (Merzig).\nL. Stern. \u00dcber das Verh\u00e4ltnis des K\u00f6rpergewichts zu einer Anzahl von Psychosen. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. XXVII (1891). S. 597\u2014627.\nDas Verh\u00e4ltnis des K\u00f6rpergewichtes bei Geisteskrankheiten zu dem Verlauf dieser Erkrankungen ist von gr\u00f6fstem Interesse f\u00fcr die Erkenntnis der allgemeinen Beziehungen von \u201eK\u00f6rper und Geist.\u201c Die Untersuchung \u00fcber dieses Verh\u00e4ltnis ist eine der interessantesten, aber \u2014 wenn man es genau nimmt \u2014 schwierigsten der praktischen Psychiatrie. Wenn man sich nicht damit begn\u00fcgt, einfach die Kurve des Gewichtes mit dem Verlauf der psychischen Erkrankung zu vergleichen, sondern durch genaue W\u00e4gung und Analyse der aufgenommenen Nahrung und der K\u00f6rperausscheidungen die wahre Bedeutung der Gewichts-Kurve zu ermitteln sucht, so st\u00f6fst man auf die gr\u00f6fsten Schwierigkeiten.\nNachdem Stern die vielen Widerspr\u00fcche der verschiedenen Autoren \u00fcber diese Frage gekennzeichnet hat, bezieht er sich wesentlich auf Emmerich, welcher glaubte, \u201ediese Widerspr\u00fcche durch die (schon oben angef\u00fchrten) Ern\u00e4hrungsgesetze der M\u00fcnchener Schule begr\u00fcnden zu k\u00f6nnen.\u201c S. 603. \u201eEr glaubte, dafs in allen F\u00e4llen zun\u00e4chst das Gewicht sinke, dann aber steige.\u201c \u201eGeht (aber) die Manie der Melancholie voraus, so wird ein bis dahin gesunder K\u00f6rper unter dem Einflufs der psychischen Erkrankung in schlechtere Ern\u00e4hrungsVerh\u00e4ltnisse gebracht ; es erfolgt also eine Abnahme; andererseits kann nach dem vorher entwickelten Gedankengang in der nun folgenden Melancholie das Gewicht steigen.\u201c Anf\u00e4ngliches Sinken, sp\u00e4teres Steigen soll also ganz unabh\u00e4ngig von der Art der Krankheit die Regel sein, so dafs ein Steigen des K\u00f6rpergewichtes sogar mit einer melancholischen Periode isochron sein kann. Beginnende Geisteskrankheit wird von Stern im allgemeinen als mit einer \u201eSch\u00e4digung\u201c des K\u00f6rpers einhergehend betrachtet, und das sp\u00e4tere Ansteigen des Gewichtes wird als \u201eGew\u00f6hnung des Organismus an die ihn betreffende Sch\u00e4digung\u201c, als Anpassung aufgefafst.\nMan hatte bisher bei langdauernden Manien oder Melancholien eine Gewichtssteigerung, wenn sie anhielt, ohne dafs geistige Besserung eintrat, als prognostisch ung\u00fcnstig betrachtet. Stern meint, dafs die Gewichts-Steigerung bei langdauernden Psychosen nicht direkt etwas mit der Prognose zu thun hat, sondern nur ein Ausdruck f\u00fcr die lange Dauer der Krankheit sei. \u201eDer Organismus hat sich ins Einvernehmen mit den ver\u00e4nderten, ihn sch\u00e4digenden Verh\u00e4ltnissen gesetzt, er rechnet mit einer gr\u00f6fseren Arbeitsleistung; eine Kompensation in der Assimilationsf\u00e4higkeit, gewissermafsen eine Hypertrophie der letzteren tritt ein.\u201c\nNach dieser Anschauung geht, wenn einmal durch eine Geisteskrankheit eine \u201eSch\u00e4digung\u201c des Organismus hervorgebracht ist, die Gewichtskurve unabh\u00e4ngig von dem Verlauf der geistigen Erkrankung ihren Weg, so dafs das Verhalten des K\u00f6rpergewichtes auch prognostisch gar nicht verwertet werden kann. S. 607. \u201eEinzelne der fr\u00fcheren Autoren","page":84}],"identifier":"lit14691","issued":"1892","language":"de","pages":"82-84","startpages":"82","title":"P. Janet: Etude sur un cas d'aboulie et d'id\u00e9es fixes. Revue philosoph., Bd. XXXI, 1891, No. 3 u. 4, S. 258-287 u. 382-407","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:00:45.496879+00:00"}