Open Access
{"created":"2022-01-31T17:01:36.975718+00:00","id":"lit14707","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Leppmann, A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3: 86-87","fulltext":[{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nLitteraturbericht.\nA. Leppmann. Die Sachverst\u00e4ndigenth\u00e4tigkeit bei Seelenst\u00f6rungen. Ein\nHandbuch f\u00fcr die \u00e4rztliche Praxis. Berlin, A. Th. F. Enslin, 1890. 273 S. (Selbstanzeige.)\nNachdem der Verfasser die Freude gehabt hat, von der gesamten Kritik die praktische Zweckdienlichkeit seines Buches in kaum gehoffter Weise anerkannt zu sehen, m\u00f6chte er in folgendem auf einige mehr theoretische Fragen eingehen :\n1. Bei der Begutachtung krankhafter Seelenzust\u00e4nde vermifst der praktische Arzt, auch wenn es ihm m\u00f6glich ist, im Einzelfalle eine ausgiebige Menge krankhafter Einzelerscheinungen am Seelenleben festzustellen, ein allgemein anerkanntes Schema, nach welchem er dieselben, wenn auch nicht zu einem klinisch abgegrenzten Krankheitsbilde, so doch zu einem h\u00e4ufig wiederkehrenden Symptomenbilde gruppieren kann. Dies ist besonders bei den seelischen St\u00f6rungen der Fall, welche man einfache nennt, weil sie nicht durch Komplikationen mit besonderen k\u00f6rperlichen Erscheinungen oder besonderen Ursachen, wie z. B. die paralytische Seelenst\u00f6rung und das Delirium tremens, die Zurechnung zu einer besonderen Gruppe rechtfertigen.\nDer Hauptfortschritt, welchen die Neuzeit in der symptomatischen Einteilung dieser einfachen Seelenst\u00f6rungen gemacht hat, ist das Aufgeben des Grundsatzes : jede Seelenst\u00f6rung m\u00fcsse zuerst mit einer Gem\u00fctskrankheit beginnen und damit die Einf\u00fchrung des Symptomenbildes der prim\u00e4ren Verr\u00fccktheit und des prim\u00e4ren Bl\u00f6dsinns. Die Feststellung des Auftretens von prim\u00e4ren Verstandesst\u00f6rungen, welche auf Grund von allm\u00e4hlich sich entwickelnden, fest einwurzelnden Verfolgungs- und Selbst\u00fcbersch\u00e4tzungsideen zur v\u00f6lligen Umgestaltung des Ichbewufstseins f\u00fchren, schuf zun\u00e4chst den Begriff der chronischen prim\u00e4ren Verr\u00fccktheit. Hierzu f\u00fcgte Westphal den Begriff der akuten prim\u00e4ren (hallu-cinatorischen) Verr\u00fccktheit durch die thats\u00e4chliche Behandlung eines \u00e4hnlichen Symptomenkomplexes, welcher aus pl\u00f6tzlich aufspringenden, durch Hallucinationen vermittelten falschen Ideen von gleicher .Richtung sich aufbaut.\nDie folgerichtige Anwendung dieser modernen Lehre f\u00fchrte den Verfasser zu folgendem Schema:\nA. Akute Seelenst\u00f6rungen:\n1. Melancholie; 2. Manie; 3. akute Verr\u00fccktheit; 4. akuter Bl\u00f6dsinn.\nB. Chronische Seelenst\u00f6rungen:\n1. Chronische prim\u00e4re Verr\u00fccktheit; 2. chronische sekund\u00e4re Verr\u00fccktheit; 3. chronischer prim\u00e4rer Bl\u00f6dsinn; 4. chronischer sekund\u00e4rer Bl\u00f6dsinn.\nDieser Teil seines Buches hat nicht die Billigung aller seiner Fachgenossen gefunden. Die einen sagen: es g\u00e4be eine Reihe von Symptomen-bildern, welche sich unter das Schema \u00fcberhaupt nicht bringen liefse, die andern, es w\u00fcrde dadurch den Thatsachen Gewalt angethan, indem Krankheiten von verschiedenartigstem Grundgef\u00fcge verm\u00f6ge symptomatischer \u00c4hnlichkeit zusammengestellt w\u00fcrden. Letzteres m\u00f6chte Verfasser bezweifeln, sein Schema trennt die lockerer einhaftenden, die rein funktionellen St\u00f6rungen des Seelenlebens von den Entartungen ebensogut","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"i\u00c4tteraturbericht.\n87\nwie viele andere Einteilungs versuche, und wenn auch der erste Einwurf gerechtfertigt ist, so ist eine ersch\u00f6pfende Einteilung nach symptomatischen Grunds\u00e4tzen bisher \u00fcberhaupt noch nicht erfolgt. Die seinige aber findet den Beifall der \u00e4rztlichen Praktiker; sie befreit dieselben wenn sie auch nur ein Notbehelf ist, vor dem Umherschwanken auf uferlosem Meere, oder vor dem resultatlosen Eindringen in Einteilungs-Systeme von be\u00e4ngstigender Vielgestaltigkeit.\n2.\tBei der Frage von der Zurechnungsf\u00e4higkeit r\u00e4t Verfasser dem Sachverst\u00e4ndigen, auf eine Beantwortung der Frage, ob die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war, nicht zu verzichten, wie er es in seinem (gleich folgenden) Referat \u00fcber Mendel : Zurechnungsf\u00e4higkeit er\u00f6rtert hat ;\n3.\tbetont er wie viele andere Psychiater die notwendige Abschaffung der landrechtlichen Begriffe des Wahnsinns und Bl\u00f6dsinns. Er bem\u00fcht sich im einzelnen auszuf\u00fchren, dafs ohne wesentliche logische Fehler zwei Sachverst\u00e4ndige aus denselben Thatsachen zu verschiedenen landrechtlichen Begriffen kommen k\u00f6nnen, da die Sch\u00e4tzung der F\u00e4higkeit, \u201emit der Aufsenwelt in vernunftgem\u00e4fser Weise verkehren zu k\u00f6nnen\u201c, einen zu grofsen subjektiven Spielraum bietet.\n4.\tDer Verfasser bem\u00fcht sich, so weit dies m\u00f6glich ist, seine Auseinandersetzungen so zu gestalten, dafs sie auch gebildeten Nicht\u00e4rzten verst\u00e4ndlich werden k\u00f6nnen. Ein sehr beachtenswerter Kritiker erblickt darin eine Erschwerung der \u00e4rztlichen Sachverst\u00e4ndigenwirksamkeit. Der Verfasser glaubt aber eher das Gegenteil. Die \u00e4rztlichen sachverst\u00e4ndigen Begutachtungen sind zumgr\u00f6fsten Teil f\u00fcr Laien bestimmt ; sie werden einem psychologisch belehrten Beurteiler gegen\u00fcber mehr Verst\u00e4ndnis, demnach mehr Anerkennung finden. Auch kann der Laie, wenn er menschlichen Sonderbarkeiten in Reden und Handlunge.i* mit psychologischen Vorkenntnissen gegen\u00fcbertritt unter gewissen Umst\u00e4nden, wie z. B. als Gef\u00e4ngnisbeamter den ersten Anlafs zur Aufdeckung von Seelenst\u00f6rungen, die sonst verkannt worden w\u00e4ren, geben.\nE. Mendel Zurechnungsf\u00e4higkeit. EulenburgsReal-Encyklop\u00e4die der gesamten Heilkunde. 2. Aufl. Wien und Leipzig, Urban & Schwarzenberg, 1890.\nEine Monographie von 27 Seiten, ersch\u00f6pfend im Inhalt einschliefslich der geschichtlichen Entwickelung und mit wohlthuender Klarheit ab-gefafst. Verfasser h\u00e4lt an dem von ihm stets vertretenen Standpunkt fest: Die Zurechnungsf\u00e4higkeit in forensischer Beziehung ist die F\u00e4higkeit, f\u00fcr eine durch das Strafgesetzbuch mit Strafe bedrohte Handlung zur Verantwortung gezogen zu werden. Ihre Vorbedingungen werden durch die einzelnen Gesetzb\u00fccher der Kulturstaaten festgestellt; sie ist also ein kriminalrechtlicher Begriff, und der \u00e4rztliche Sachverst\u00e4ndige hat nur das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der gesetzlich umgrenzten Vorbedingungen, so weit sie krankhafte Zust\u00e4nde betreffen, festzustellen, der Entscheid aber, ob daraus ein Mangel oder eine Aufhebung der Zurechnungsf\u00e4higkeit entspringt, steht allein dem Richter zu.\nEbensowenig geh\u00f6rt es zur Pflicht des Arztes, dar\u00fcber zu entscheiden, ob im Einzelfalle eine \u201eAufhebung der freien Willensbestimmung\u201c, wie sie der \u00a7 51 des R.-Str.-G. fordert, vorliegt.","page":87}],"identifier":"lit14707","issued":"1892","language":"de","pages":"86-87","startpages":"86","title":"Die Sachverst\u00e4ndigenth\u00e4tigkeit bei Seelenst\u00f6rungen: Ein Handbuch f\u00fcr die \u00e4rztliche Praxis. Berlin, A. Th. F. Enslin, 1890","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:01:36.975723+00:00"}