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{"created":"2022-01-31T17:02:23.734996+00:00","id":"lit14712","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lipps, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3: 123-171","fulltext":[{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Die Raumanschaiiung und die Augenbewegungen.\nVon\nTh. Lipps.\nI. Sehfeld und Blickfeld.\nDie Herausgabe eines psychologischen \u201eFestgrufses zum siebenzigsten Geburtstage Hermann von Helmholtz\u2019\u201c veran-lafste mich j\u00fcngst, gewissen Beobachtungen weiter nachzugehen, die sich mir bei Gelegenheit der Untersuchung einfacher architektonischer und keramischer Formen aufgedr\u00e4ngt hatten.1 Die Beobachtungen betrafen scheinbare Modifikationen unserer Gesichtswahrnehmung, die, wie mir schien, die sonstigen Ergebnisse meiner \u00e4sthetischen Untersuchung \u00fcber einfache sichtbare Formen in erfreulicher Weise best\u00e4tigten. Sie fanden ihre Erkl\u00e4rung in der \u00e4sthetischen Betrachtungsweise, die wir allen solchen Formen gegen\u00fcber jederzeit vollziehen. Dabei verstehe ich unter der \u00e4sthetischen Betrachtungsweise diejenige Betrachtungsweise, f\u00fcr welche die sichtbaren Formen nicht nur da sind, sondern sich erzeugen, also Kr\u00e4fte in sich bergen, Bewegungen repr\u00e4sentieren, mit einem Worte \u201eSymbole\u201c sind einer bestimmten Art der Lebendigkeit.\nIm weiteren Verlauf der Betrachtung stellten sich mir ungesucht noch einige bekanntere Augent\u00e4uschungen unter denselben Gesichtspunkt; so vor allem diejenigen, bei denen eine wirkliche oder angebliche \u00dcbersch\u00e4tzung spitzer Winkel stattfindet, also beispielsweise das HERiNGsche und Z\u00f6LLNERsche Muster, und die Verschiebungen, die die Kreislinie erf\u00e4hrt, wenn im Kreise Sehnen gezogen worden. \u2014 Daran kn\u00fcpfe ich hier an.\n1 Th. Lipps, \u00c4sthetische Faktoren der Raumanschauung in: Beitr\u00e4ge sur Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Hamburg und Leipzig. 1891.","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nTh. Lipps.\nWie bekannt, bringt Wundt diese \u00dcbersch\u00e4tzung spitzer Winkel mit Augenbewegungen in Zusammenhang. Ein spitzer Winkel ist ein ausgef\u00fcllteres St\u00fcck des Sehfeldes als ein stumpfer. Es wird darum vom Auge, wie Wundt meint, weniger leicht durchlaufen. . . Und dies bedingt die \u00dcbersch\u00e4tzung. \u2014 Es ist, allgemein gesagt, die Theorie der Ausmessung des Sehfeldes nach Augenbewegungen, die ims hier in spezieller Wendung und Anwendung entgegentritt.\nGegen diese Theorie nun habe ich mich schon mehrfach erkl\u00e4rt. Und, wie mir scheint, aus guten Gr\u00fcnden. Sie hat von vornherein wenig Vertrauenerweckendes. Schon die erste Voraussetzung ihrer Zul\u00e4ssigkeit, dafs wir n\u00e4mlich uns von der Form und Gr\u00f6fse einer Linie oder Fl\u00e4che \u00fcberzeugen, indem wir sie fixierend durchlaufen, ist eine unerwiesene. Dafs ich jetzt nicht so verfahre, dessen bin ich sicher. Ich begn\u00fcge mich, \u00fcber Objekte, die ich sehen will, ohne Kegel so oder so hinzugehen oder sie zu streifen. Aber auch, dafs ich jemals dieser, wie ich denke, \u00fcberfl\u00fcssigen M\u00fche mich unterzogen haben sollte, habe ich, nach dem, was ich bei Kindern sehen kann, Grund zu bezweifeln. In jedem Falle m\u00fcfste die Theorie diese ihre Grundvoraussetzung erst noch aus Beobachtungen zu rechtfertigen suchen. Man sieht aber leicht, dafs es sich hier um den Nachweis nicht eines ungef\u00e4hren und schwankenden, sondern eines sehr bestimmten und haarscharfen Durchlaufens oder Durchmessens von Linien und Fl\u00e4chen handelt. Unsere F\u00e4higkeit r\u00e4umlicher Wahrnehmung ist ja eine aufserordentlich bestimmte und scharfe.\nEbenso setzt die Theorie weiterhin unbewiesene und unbeweisbare Dinge voraus. Bald diese, bald jene Hilfshypothesen werden aufgestellt; Augenbewegungen werden f\u00fcr schwieriger oder weniger schwierig erkl\u00e4rt, wie es der gerade vorliegende Erkl\u00e4rungszweck fordert. M\u00f6gen die Behauptungen in einigen F\u00e4llen zutreffen; in anderen scheint es mir nicht so. Hebung des Auges soll schwieriger sein als Seitw\u00e4rtswendung; die \u00dcbersch\u00e4tzung von H\u00f6hendistanzen soll darauf beruhen. Dagegen sprechen meine Erfahrungen. Die kleine Arbeit \u201e\u00fcber eine falsche Nachbildlohalisation\u201c, die im ersten Hefte dieser Zeitschrift ver\u00f6ffentlicht ist, veranlafste mich, wochenlang bei allen m\u00f6glichen Gelegenheiten m\u00f6glichst rasche Augenbewegungen auszuf\u00fchren. Schliefslich beschr\u00e4nkte ich mich fast","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Die 'Raumanschauung und die Augenbeicegungen.\n125\nausschliefslicli auf Bewegungen von unten nach, oben, weil sie mir am leichtesten fielen. Dem entsprach es auch, dafs ich mit diesen Bewegungen den beabsichtigten Erfolg am sichersten erzielte. \u2014 Darum \u00fcbersch\u00e4tze doch auch ich H\u00f6hendistanzen.\nAngenommen aber auch, es h\u00e4tte mit der behaupteten gr\u00f6fseren oder geringeren Schwierigkeit von Augenbewegungen jedesmal seine S\u00fcchtigkeit, so w\u00fcrde ich doch nicht einzusehen verm\u00f6gen, warum die von der Theorie angenommene Beziehung zwischen ihnen und unserem Bewufstsein r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen bestehen solle, warum insbesondere Distanzen, deren Durchmessung schwieriger ist, gr\u00f6fser erscheinen sollen, als solche, die leichter durchmessen werden. Ist das Eaumbewufstsein einmal gegeben, dann gewifs k\u00f6nnen Bewegungen mit einer Art des Eaumbewufstseins sich verkn\u00fcpfen und so zu Zeichen werden f\u00fcr zuk\u00fcnftige Eaumbestimmungen. Insbesondere kann, wer es einmal erlebt hat, dafs die Durchmessung einer gr\u00f6fseren Strecke gr\u00f6fsere Anstrengung erforderte, dazu kommen, auch in Zukunft mit dem Bewufstsein der gr\u00f6fseren Anstrengung die Vorstellung der gr\u00f6fseren Baumstrecke zu verbinden. Aber dies ist ja nicht die Meinung der Theorie. Durch ein, jeder Analogie entbehrendes Wunder, \u201epsychische Synthese\u201c genannt \u2014 ein \u201eWunder\u201c nur darum, weil es jeder Analogie entbehrt \u2014, sollen Augenbewegungen, die doch an sich f\u00fcr das Bewulstsein mit gesehenen Gr\u00f6fsen ganz und gar nichts zu thun haben, das Bewufstsein solcher Gr\u00f6fsen entstehen lassen. Wir sollen an ihr Entstehen glauben, nicht weil irgendwelche psychischen Thatbest\u00e4nde uns daran glauben lassen, sondern einzig, weil es die Theorie so fordert.\nDafs auch abgesehen von allem dem die Theorie eine unm\u00f6gliche ist, dafs die auf ihr beruhenden Erkl\u00e4rungsversuche nichts erkl\u00e4ren, dafs sie in ihren Konsequenzen einfachen Thatsachen widerstreitet, habe ich an einer anderen Stelle, n\u00e4mlich meinen \u201ePsychologischen Studienu, ausf\u00fchrlich zu zeigen versucht. Nat\u00fcrlich wiederhole ich hier nicht das dort Gesagte. Ebensowenig dasjenige, was ich gegen die Anwendung des Prinzips in einzelnen F\u00e4llen schon in meinen \u201eGrundthatsachen des Seelenlebens\u201c bemerkt habe. Da nichts dagegen vorgebracht worden ist, so darf ich meine Gr\u00fcnde ja wohl auch weiterhin als stichhaltig ansehen.\nNur einer Gegenbemerkung begegne ich bei Wundt. Er","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nTh. Lipps.\nmeint, ich \u00fcbersehe \u201edie den Erscheinungen des Sehens selbst entnommenen Belege\u201c f\u00fcr seine Theorie. Dies ist nicht ganz zutreffend. Ich habe diese Belege nicht \u00fcbersehen, sondern, wenigstens teilweise, \u00fcbergangen ; und dies darum, weil sie mir einer besonderen Widerlegung nicht zu bed\u00fcrfen schienen. Dies mag ein Irrtum gewesen sein ; insofern bekenne ich mich gerne eines Vers\u00e4umnisses schuldig.\nDies Vers\u00e4umnis nun habe ich teilweise in der Abhandlung \u00fcber \u201e\u00e4sthetische Faktoren der Baumanschauungu, auf die ich vorhin anspielte, gut zu machen gesucht. Aber eben auch nur teilweise, d. h. nur mit B\u00fccksicht auf die \u201eErscheinungen des Sehens\u201c, bei denen mir an die Stelle des vermeintlichen Einflusses der Augenbewegungen \u00e4sthetische Faktoren schienen treten zu m\u00fcssen. Hier will ich jener Pflicht weiter zu gen\u00fcgen suchen. Da es sich dabei um Vertretung einer Position handelt, die ich schon anderw\u00e4rts vertreten habe, so bitte ich, dafs man sich im Folgenden weder \u00fcber Verweisungen, noch selbst \u00fcber gelegentliche ausdr\u00fcckliche Erinnerungen an schon Gesagtes wundern m\u00f6ge.\nErste Voraussetzung der Entscheidung einer Streitfrage ist, dafs der Streitpunkt klar liege. Streitpunkt nun ist hier der Einflufs der Augenbewegungen auf die Ausmessung des Sehfeldes, nicht der \u2014 von niemand bestrittene \u2014 Einflufs derselben auf unser Raumbewufstsein \u00fcberhaupt. Dabei wider-um ist erforderlich, dafs wir wissen, was wir unter der Ausmessung des Sehfeldes verstehen.\nSehfeld nun ist \u2014 ich denke f\u00fcr jedermann \u2014 die r\u00e4umliche Einheit dessen, was wir in einem Momente sehen, oder, genauer gesagt, das System der r\u00e4umlichen Ausbreitung und r\u00e4umlichen Zusammenordnung von Objekten und Teilen von Objekten, wie es in einem gegebenen Augenblick Gegenstand unserer Gesichtswahrnehmung ist. Das Sehfeld in diesem Sinne ist eine Fl\u00e4che; es hat also, an und f\u00fcr sich betrachtet, keine Beziehung zur dritten oder Tiefendimension. Es verh\u00e4lt sich zur dritten Dimension, wie ich an anderer Stelle sagte, etwa so, wie sich die Zeit zur zweiten und dritten Dimension verh\u00e4lt, d. h. es hat, so lange nur das Sehfeld als solches in Betracht kommt, keinen Sinn, von einer dritten Dimension \u00fcberhaupt zu reden. Wahrgenommene Objekte sind als solche dem Auge weder nahe, noch fern, sowie die Zeit weder dick, noch d\u00fcnn","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Die Raumanschauung und die Augenbewegungen.\n127\nist, sondern sie sind einfach da und haben eine bestimmte il\u00e4chenhafte Ausdehnung und Anordnung ihrer Teile. \u2014 Die Ausmessung des Sehfeldes ist das in der Wahrnehmung unmittelbar enthaltene Bewufstsein von der relativen Lage seiner Punkte oder der relativen Gr\u00f6fse der in ihr enthaltenen Distanzen. Beides sagt dasselbe, sofern die Lage eines Punktes in der Gr\u00f6fse seiner Abst\u00e4nde von anderen Punkten besteht.\nInwiefern ich zu den in diesen S\u00e4tzen liegenden sachlichen Behauptungen, auf die ich teilweise zur\u00fcckkommen werde, berechtigt bin, habe ich in meinen \u201eGrundthatscichen des Seelenlebens\u201c und den \u201ePsychologischen Studien\u201c zu zeigen versucht. Ebenda suche ich deutlich zu machen, aus welchen der Erfahrung angeh\u00f6rigen Thatsachen und nach welchen bekannten psychologischen Gesetzen das Sehfeld oder die Zusammenordnung der Eindr\u00fccke zur r\u00e4umlichen Einheit des Sehfeldes entstehen k\u00f6nne, bezw. m\u00fcsse. Allgemein gesagt, erscheint meiner Sehfeldtheorie zufolge die Einordnung der Eindr\u00fccke im Sehfeld oder die relative Gr\u00f6fse wahr genommener Abst\u00e4nde innerhalb desselben durch die relative Lage der den Eindr\u00fccken zugeh\u00f6rigen Netzhautpunkte unmittelbar bestimmt; und zwar ist es, wiederum sehr allgemein gesagt, die Erfahrung, die jene wahrgenommene Ordnung der Eindr\u00fccke an diese that-s\u00e4chlichen Ordnung der Netzhautpunkte unmittelbar bindet.\nLassen wir nun aber hier das Recht meiner Anschauungen \u00fcber das Sehfeld, \u00fcber seine Entstehung sowohl, wie \u00fcber seine Beschaffenheit, einstweilen dahingestellt. Eine Forderung, die ich dabei zu erf\u00fcllen suchte, bleibt in jedem Falle f\u00fcr jede Theorie der Baumanschauung oder jeden Versuch einer solchen bestehen. Keine Baumtheorie darf es unterlassen, zun\u00e4chst das, was wir wirklich sehen, von dem, was Inhalt eines abgeleiteten oder vermittelten Baumbewufstseins ist, genau zu scheiden. Eine Baumtheorie gewinnt \u00fcberhaupt erst Sinn, wenn diese Scheidung vollzogen ist.\nDiese Forderung gilt, mag es sich um ein normales oder um ein abnormes Baumbewufstsein handeln. Wo sich das letztere findet, sprechen wir von \u201eoptischen T\u00e4uschungen\u201c. Doch ist der Begriff der optischen T\u00e4uschungen im Grunde kein sehr bestimmter. N\u00e4hmen wir die \u201eT\u00e4uschung\u201c im allgemeinen Sinne, als Widerspruch zwischen Bewufstsein und Wirklichkeit, so h\u00e4tten wir drei Arten optischer T\u00e4uschung","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nTh. Tipps.\nzu unterscheiden : Wir sehen, was nicht ist ; wir glauben zu sehen, was wir nicht sehen; und wir glauben zu sehen, was nicht ist. Unter Voraussetzung dieser Dreiteilung unterl\u00e4gen wir optischen T\u00e4uschungen der beiden ersten Arten jederzeit und allen Objekten gegen\u00fcber. Wir sehen nie, was ist ; und wir sehen nie, was wir zu sehen glauben. In solchem Sinne pflegen wir indessen den Begriff der optischen T\u00e4uschung nicht zu fassen. Wir verstehen darunter vielmehr nur gewisse Abweichungen von dem, was wir nach allgemeineren Kegeln des Raumbewufstseins erwarten sollten. Auch dann aber m\u00fcssen wir in jedem einzelnen Falle uns bewufst sein, ob wir unter der optischen T\u00e4uschung eine Modifikation des Sehens, genauer: des Gesichtsfeldes verstehen, oder eine Modifikation dessen, was wir zu sehen glauben, also eine Modifikation unseres optischen Urteils.\nAn der Genauigkeit in diesem Punkte nun hat man es allzu oft fehlen lassen. Vor allem auch der Augenbewegungstheorie kann dieser Vorwurf nicht erspart bleiben.\nDas Bewufstsein der relativen Gr\u00f6fse gesehener Distanzen setzt den Vergleich voraus. Vergleichen ist eine Art des Ur-teilens. Die Vergleichsbedingungen aber k\u00f6nnen eine Modifikation unseres Bewufstseins von dem, was wir wahrnehmen, herbeif\u00fchren. Hier ist eine erste M\u00f6glichkeit gegeben f\u00fcr optische Urteilst\u00e4uschungen.\nZwei in gr\u00f6fserer Entfernung voneinander befindliche K\u00f6rper von nicht allzu verschiedener F\u00e4rbung erscheinen mir vielleicht gleich gef\u00e4rbt; nicht weil die Entfernung meine Farbenwahrnehmung ver\u00e4nderte, sondern weil sie die Erkenntnis des Unterschiedes der Wahrnehmungsinhalte erschwert. Wie es mit der Wahr ne hmung selbst sich verh\u00e4lt, davon \u00fcberzeuge ich mich um so sicherer, je n\u00e4her aneinander ich die farbigen K\u00f6rper halte, je g\u00fcnstigere Vergleichsbedingungen \u00fcberhaupt ich w\u00e4hle.\nSelbstredend verh\u00e4lt es sich ebenso beim Vergleich r\u00e4umlicher Gr\u00f6fsen. Damit erledigt sich zun\u00e4chst eine neuerdings von Martius aufgestellte Theorie. Distanzen, denen gleich grofse Netzhautbilder entsprechen, die darum, wie wir annehmen, gleich grofs gesehen werden, erscheinen gr\u00f6fser, wenn wir das Bewufstsein haben, dafs sie vom Auge weiter entfernt sind. Wir wissen, dafs sie thats\u00e4chlich gr\u00f6fser sein m\u00fcssen; darum","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Die Baumanschauung und die Augenbewegungen.\n129\nhalten wir sie f\u00fcr gr\u00f6fser und glauben sie gr\u00f6fser zu sehen. \u2014 Diese Auffassung bestreitet Maetius. Ihm zufolge vergr\u00f6fsert das Bewufstsein der gr\u00f6fseren Entfernung vom Auge das Wahrnehmungsbild. Jenes Bewufstsein hat bei ihm diese, sonst nirgends nachweisbare F\u00e4higkeit, die Wahrnehmung selbst zu ver\u00e4ndern. Ob es aber wirklich so sei, dies zu entscheiden giebt es nur ein einziges Mittel, n\u00e4mlich das Mittel der Vergleichung unter den g\u00fcnstigsten Vergleichsbedingungen. Und dies Mittel entscheidet sofort. Ich halte die gleichgerichteten Distanzen unmittelbar nebeneinander und erkenne sie mit Bestimmtheit als gleich. Ich sehe sie also gleich grofs.\nIn gleicher Weise erledigt sich auch die schon erw\u00e4hnte Erkl\u00e4rung, die Wundt von den auf der Art der Ausf\u00fcllung des Sehfeldes beruhenden optischen T\u00e4uschungen giebt. Eine gerade Linie sei geteilt, eine andere ebenso grofse ungeteilt. Die geteilte erscheint dann gr\u00f6fser. Meint man, sie werde gr\u00f6fser gesehen, dann giebt es wiederum nur ein Mittel, den Streit zu entscheiden. Ich lege beide Linien in gleicher Bichtung unmittelbar nebeneinander. Beide erscheinen dann nicht ungleich, sondern gleich. Also sind sie f\u00fcr die Wahrnehmung gleich. Scheinen sie trotzdem unter anderen Vergleichsbedingungen ungleich, so kann dies nur daran liegen, dafs unter diesen Bedingungen die Geteiltheit und Ungeteiltheit den Akt des Vergleichens in bestimmter Weise beeinflufst. In welcher Weise, dies habe ich anderw\u00e4rts gesagt. In jedem Falle ist der Schein der Ungleichheit Ergebnis unseres Vergleichs, allgemeiner gesagt, Sache des Urteils.\nF\u00fcr Wundt nun sind auch hier Augenbewegungen im Spiel. Von diesen Augenbewegungen erfahren wir sonst, dafs sie Einflufs \u00fcben auf die \u201eAusmessungen des Sehfeldes\u201c. Hoch bestimmter sagt Wundt, unsere \u201eurspr\u00fcnglichen\u201c Baum-vorstellungen seien unter dem Einflufs der Augenbewegungen entstanden. Gfewifs k\u00f6nnen unter diesen \u201eurspr\u00fcnglichen\u201c Baumvorstellungen nicht solche Inhalte oder Bestimmungen unseres Baumbewufstseins verstanden sein, die sich erst aus der Vergleichung schon vorher f\u00fcr die Wahrnehmung vorhandener Gr\u00f6fsen ergeben. F\u00fcr jene Anschauung aber f\u00fchrt Wundt, wenn ich ihn recht verstehe, auch die \u00dcbersch\u00e4tzung geteilter Linien als Beweis an. Ist es so, dann beruht die Augenbewegungstheorie in diesem Punkte auf einer Verwechselung.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie in.\t9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nTh. Tipps.\n\u25a0\u2014 Dafs die Erkl\u00e4rung jener \u00dcbersch\u00e4tzung auch abgesehen davon unzul\u00e4ssig ist, daf\u00fcr verweise ich auf die ,, Grund' thatsachen des Seelenlebens\u201c.\nBei alledem leugne ich doch nicht einen gewissen Einflufs der Augenbewegungen auf die Ausmessung des Sehfeldes ; nur ist es nicht der von Wundt behauptete: kein unmittelbarer, sondern ein mittelbarer Einflufs. Inwiefern ein solcher Einflufs besteht, dies zu sagen, geben mir Wundts direkte Einw\u00e4nde gegen meine Sehfeldtheorie Gelegenheit. Ich erw\u00e4hne sie in ver\u00e4nderter Reihenfolge.\nGewifs hat Wundt Recht, wenn er als Voraussetzung meiner Theorie \u201eirgendwelche Merkmale\u201c fordert, die \u201ean die Netzhautpunkte selbst gekn\u00fcpft\u201c sind. Aber diese Forderung habe ich selbst so eindringlich als m\u00f6glich aufgestellt ; ja ich habe die Annahme solcher Merkmale, d. h. die Annahme von urspr\u00fcnglichen, an die Netzhautpunkte als solche gebundenen Unterschieden der Eindr\u00fccke der verschiedenen Netzhautpunkte als die erste und als eine selbstverst\u00e4ndliche Voraussetzung jeder Erkl\u00e4rung der Ausmessung des Sehfeldes bezeichnet. Eben unter Voraussetzung solcher Unterschiede wollte ich, ebenso wie auch Wundt, die der Ordnung der Netzhautpunkte entsprechende Ordnung der Eindr\u00fccke verst\u00e4ndlich machen. Ich wollte dies nur mit anderen Mitteln. \u2014 Wundt scheint hier einen Teil meiner Ausf\u00fchrungen \u00fcbersehen zu haben.\nWeiter meint Wundt, meine \u201eErkl\u00e4rung der Ausf\u00fcllung des blinden Flecks aus einer Art Irradiation der Reizung\u201c verm\u00f6ge \u201enicht \u00fcber die Genauigkeit der Sch\u00e4tzung von Strecken, die zum Teil in das Gebiet des blinden Flecks fallen, Rechenschaft zu geben, abgesehen davon, dafs sie nicht mit der sonstigen Natur der Irradiation \u00fcbereinstimme\u201c. Hier irrt Wundt zun\u00e4chst hinsichtlich dessen, was ich sage. Ich spreche an der Stelle, die er im Auge hat,1 nicht von einer Irradiation der Reizung, sondern von einer psychologischen Irradiation, die ich der physiologischen oder Irradiation der \u201eReizung\u201c entgegenstelle. Oder genauer: nachdem ich von der \u201estetigen Verschmelzung\u201c der Gesichtseindr\u00fccke gesprochen und ausf\u00fchrlich gesagt habe, was ich darunter verstehe, bezeichne ich dieselbe nebenbei auch, um durch ein bekanntes Wort an eine\n1 Psychologische Studien, S. 46.","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Die Raumanschauung und die Augeribeivegungen.\n131\nbekannte Thatsache zu erinnern, als eine Art psychischer Irradiation, die mit der physiologischen vergleichbar sei. \u2014 Im \u00fcbrigen erledigt sich obiger Einwand von selbst, wenn man beachtet, dafs nach dem ganzen Sinne meiner Theorie die Gr\u00f6fsenwahrnehmung von der Art der Verteilung der reizbaren Elemente auf der Netzhaut, also auch vom Vorhandensein von Stellen, denen die Reizbarkeit v\u00f6llig abgeht, zun\u00e4chst unabh\u00e4ngig ist. Zum \u00dcberflufs habe ich auf den Punkt besonders aufmerksam gemacht.\nDamit h\u00e4ngt der dritte \u2014 bei Wundt erste \u2014 Einwurf zusammen. Meine Theorie setzt, wie Wundt wiederum mit Recht bemerkt, eine Proportionalit\u00e4t voraus zwischen der Entfernung der Netzhautpunkte und der durchschnittlichen objektiven Verschiedenheit der auf diese Punkte geschehenden Lichteindr\u00fccke. Von dieser Proportionalit\u00e4t meint Wundt, sie sei \u201emindestens h\u00f6chst bestreitbar\u201c. Nun kenne ich freilich Wundts Gr\u00fcnde nicht. Jene Proportionalit\u00e4t aber scheint mir, soweit sie gefordert werden kann, einfach dadurch gegeben, dafs bei jeder Bewegung des Auges identische Objekte nacheinander auf verschiedenen Teilen der Netzhaut dasselbe Netzhautbild entstehen lassen, also jedesmal gleichen Licht- oder Farbenunterschieden objektiver Punkte gleiche Entfernungen der zugeh\u00f6rigen Netzhautpunkte auf den verschiedenen Netzhautteilen entsprechen. Freilich wandert nicht jedes Netzhautbild \u00fcber die ganze Netzhaut, sondern das eine \u00fcber diese, das andere \u00fcber jene Teile; auch ver\u00e4ndern sich Objekte, in Wirklichkeit oder nur f\u00fcrs Auge; sie \u00e4ndern vor allem ihre Stellung und ihre Entfernung vom Auge. In allen solchen F\u00e4llen erlebt der eine Netzhautteil, was nicht alle anderen Netzhautteile zugleich miterleben. Aber im ganzen m\u00fcssen diese Unterschiede sich ausgleichen. Rein Netzhautteil kann schliefslich hinsichtlich der Gleichartigkeit oder Verschiedenartigkeit der Einwirkungen, die er in seinen einzelnen Punkten gleichzeitig erf\u00e4hrt, einem andern gegen\u00fcber bevorzugt oder benachteiligt erscheinen.\nDennoch sage ich mit Bedacht, die behauptete Proportionalit\u00e4t bestehe, soweit sie gefordert sei. Die Proportionalit\u00e4t zwischen Entfernung von Netzhautpunkten und durchschnittlicher objektiver Verschiedenheit der zugeh\u00f6rigen Reize soll die andere Proportionalit\u00e4t verst\u00e4ndlich machen, die zwischen Ordnung der Eindr\u00fccke im Sehfeld und Ordnung der Netz-\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nTh. Tipps.\nliant,punkte besteht. Wie weit nun die letztere Proportionalit\u00e4t eine genaue ist, wissen wir nicht. Es fehlt uns ja, was man nie vergessen sollte, jede M\u00f6glichkeit eines sicheren Vergleichs der Bilder, die wir im indirekten, und derjenigen, die wir im direkten Sehen gewinnen. \"Nat\u00fcrlich will ich aber durch meine Theorie die Ausmessung des Sehfeldes verst\u00e4ndlich machen, nur soweit wir davon wissen. Die Theorie entspricht allen billigen Anforderungen, wenn sie in ihren Konsequenzen dem sicher feststehenden Thatbestand unseres Lokalisierens nicht widerspricht. Mit vollem Bewufstsein habe ich mich darum an den bezeichneten Orten hinsichtlich gewisser Punkte nicht bestimmter ausgesprochen, als ich es that.\nIn der Antwort auf den letzten der drei Einw\u00fcrfe Wundts nun habe ich zugleich gesagt, inwiefern Augenbewegungen zur Ausmessung des Sehfeldes allerdings mitwirken. Man sieht, dafs diese Wirkung nichts zu thun hat mit derjenigen, die Wundt behauptet. Das Bleiche gilt nun aber auch von den mancherlei anderen thats\u00e4chlich bestehenden Arten des Einflusses der Augenbewegungen auf unser Baumbewufstsein. Ich suche diese Arten im Folgenden zu unterscheiden.\nAugenbewegungen sind wichtig einmal, sofern sie das Mittel sind zur sicheren Auffassung r\u00e4umlicher Verh\u00e4ltnisse. Hier besteht wiederum eine doppelte M\u00f6glichkeit. Der einen begegnen wir bei den \u201eoptischen T\u00e4uschungen aus \u00e4sthetischen Gr\u00fcnden\u201c. Eine optische Wirkung sei dadurch bedingt, dafs in einer Form bestimmte, in bestimmter Art verlaufende oder gegeneinander wirkende Bewegungen verwirklicht scheinen. Dann m\u00fcssen wir diesen Bewegungen folgen, wenn die optische Wirkung eintreten soll. Zun\u00e4chst mit der Aufmerksamkeit oder dem inneren \u201eBlickpunkt\u201c. Aber man weifs, wie die Bewegung der Aufmerksamkeit an die der Augen gebunden ist.\nZum Anderen mufs nat\u00fcrlich in allen den F\u00e4llen, in denen\n.\t4\t\u2022\noptische T\u00e4uschungen auf einem Vergleich verschiedener Gr\u00f6fsen oder Formen beruhen, dieser Vergleich wirklich vollzogen werden. Und auch dazu geh\u00f6ren Augenbewegungen. So mufs ich auch, wenn ich zwei Farben miteinander vergleiche, vor allem solche, die etwas weiter auseinander liegen, meine Augen bewegen. Die Augenbewegungen sind das Mittel, mir die Farben gen\u00fcgend deutlich zum Bewufstsein zu bringen oder von ihnen ein gen\u00fcgend deutliches Bild zu gewinnen.","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Die Baumanschauung und die Augenbewegungen.\n133\nUm das Verh\u00e4ltnis verschiedener Gebirgsformationen kennen zu lernen, mufs ich vielleicht sogar weite Reisen unternehmen. Daraus schliefst doch niemand, dafs wir den Unterschied zweier Farben nach Augenbewegungen oder die Verschiedenheit von Grebirgsformationen nach der L\u00e4nge und Schwierigkeit von Eisenbahn- oder Dampfschiffahrten bemessen.\nAber auch daran ist kein Zweifel, dafs wir Raumgr\u00f6fsen nach Augenbewegungdn bemessen. Rur nicht Raumgr\u00f6fsen innerhalb des Sehfeldes. Das Sehfeld, d. h. der Inbegriff dessen, was wir in einem Momente sehen, ist ja nicht der Raum unseres Bewufstseins, sondern nur ein Teil desselben. Zu ihm hinzu tritt die mich umgebende r\u00e4umliche Welt, die ich sehe, wenn ich mein Auge aus seiner jetzigen Lage herausbewege, weiterhin den Kopf und schliefslich meinen K\u00f6rper drehe. Von diesem \u201eBlickfeld\u201c oder Raum der m\u00f6glichen Gesichtswahrneh-mung bildet das Sehfeld oder der Raum der in einem Augenblick wirklichen Gesichtswahrnehmung einen Ausschnitt. Verm\u00f6ge der Bewegungen des Auges, ebensowohl des Kopfes und K\u00f6rpers verschiebt sich das Sehfeld innerhalb dieses Blickfeldes, es gewinnt in ihm bald diese, bald jene Lage ; und es ist kein Zweifel, dafs wir diese Lagen und Lagenverschiebungen des Sehfeldes im Blickfeld nach der Lage und den Bewegungen des Auges, freilich nicht minder des Kopfes und K\u00f6rpers bemessen, dafs uns die Gr\u00f6fse solcher Bewegungen davon Kunde giebt, wie weit das Sehfeld eines Momentes sich von einer gewissen mittleren Lage innerhalb des Blickfeldes nach rechts oder links, nach oben oder unten verschoben hat. Wiederum aber hat mit diesem Bewufstsein der Lage des Sehfeldes im Blickfeld das Bewufstsein der relativen Lage der Punkte des Sehfeldes zu einander oder kurz die Ausmessung des Sehfeldes nichts zu thun. Wenn ich mich drehe, w\u00e4hrend die Objekte in Ruhe bleiben, so verschiebt sich das Sehfeld im Blickfeld best\u00e4ndig. Dagegen bleibt das r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnis der Punkte des Sehfeldes zu einander wie es ist.\nIch betone hier diesen Gegensatz zwischen Lage und Ausmessung des Sehfeldes so sehr, weil Wundt in diesem Punkte wiederum eine Verwechselung begegnet. Er gewinnt daraus seinen ersten speziellen Beweis f\u00fcr seine Theorie. Wird, so erfahren wir (Physiol.Psychologie, 3. Auf!., II.,114f.) der \u00e4ufsere gerade Augenmuskel, etwa infolge einer Verletzung, pl\u00f6tzlich wirkuugs-","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nTh. Lippe.\nlos, so bleibt nichtsdestoweniger die Tendenz besteben, das Auge gelegentlich nach aufsen zu drehen; die hierzu aufgewandte Innervationsanstrengung ist aber ohne Erfolg. Man bemerkt nun in solchem Fall, dafs sich das Auge nach allen anderen Sichtungen im Blickfelde zu drehen vermag, und dafs es die Lage der Objekte in demselben richtig wahrnimmt. Sobald es sich aber nach aufsen zu drehen strebt, tritt eine Scheinbewegung der Objekte ein; diese scheinen sich nun nach derselben Seite zu bewegen, nach welcher das Auge vergebliche Innervationsanstrengungen macht.\u201c\nMan sieht, und auch Wundt sieht zun\u00e4chst wohl, warum es sich hier handelt. Die erw\u00e4hnte Thatsache zeigt, dafs ich das Bewufstsein der Bechtsdrehung des Auges auch haben kann, wenn ich nur die betreffende Bewegungsanstrengung mache. Kein Wunder, da die Vorstellung jener Bewegung gen\u00fcgende Gelegenheit gehabt hat, mit dem Gef\u00fchl der entsprechenden Willensanstrengung \u2014 Wundt nennt es Innervationsempfindung \u2014 sich zu verkn\u00fcpfen. Da sich nun trotz dieser vermeintlichen Bechtsdrehung des Auges das Sehfeld nicht verschiebt, so mufs ich glauben, die Objekte seien meiner Bewegung gefolgt, h\u00e4tten sich also gleichfalls nach rechts gedreht. \u2014 Dagegen glaube ich in einem solchen Falle durchaus nicht, dafs irgendwelche Verschiebung innerhalb des Sehfeldes sich vollzogen h\u00e4tte. Die Thatsache steht darnach zur Frage nach der Ausmessung des Sehfeldes in gar keiner Beziehung. Trotzdem ist sie f\u00fcr Wundt eine \u201esch\u00f6ne Best\u00e4tigung\u201c daf\u00fcr, dafs \u201enicht nur die allgemeine Form des Sehfeldes, sondern auch das gegenseitige Lagenverh\u00e4ltnis der Objekte in demselben mittelst der Bewegungen des Auges festgestellt wird.\u201c Offenbar k\u00f6nnte, wenn \u00fcberhaupt aus jener T\u00e4uschung auf die Ausmessung des Sehfeldes ein Schlufs gezogen werden sollte, derselbe nur umgekehrt lauten.\nII. Die Tiefe.\nAufser den bisher bezeichneten besteht noch eine weitere Art, wie Augenbewegungen f\u00fcr unser Baumbewufstsein von Einflufs, ja von entscheidender Bedeutung sind. Das Sehfeld, sagte ich oben, habe als solches keinerlei Beziehung zur dritten Dimension oder zur Tiefe. Dasselbe gilt von dem Blickfeld. Thats\u00e4chlich besteht aber der Inhalt unseres","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Die Daumanschauung und die Augenbewegungen.\n135\nRaumbewufstseins niemals ausschliefslicli aus dem Sehfeld und dem Blickfeld. Sondern immer ist damit untrennbar verbunden, was wir zu ihm auf-Grund unserer Erfahrung hinzuf\u00fcgen; und das ist eben die Tiefe. Wir sehen keine Tiefe, aber wir schreiben dem Gesehenen in Gedanken eine Lage in der Tiefe und eine Ausdehnung nach der Tiefe zu; wir denken die gesehene Fl\u00e4che in bestimmter Weise k\u00f6rperlich; wir wissen oder glauben zu wissen, dafs dieser Punkt dem Auge n\u00e4her, jener von ihm entfernter ist, diese Linie weiter, jene weniger weit in die Tiefe sich erstrecke. Wir f\u00e4llen best\u00e4ndig Urteile von solchem Inhalte.\nImmerhin sind diese Urteile von besonderer Art, n\u00e4mlich besonders zwingend und unmittelbar sich aufdr\u00e4ngend. Sie sind mit unserer ll\u00e4chenhaften Wahrnehmung so innig und unl\u00f6slich verbunden, dafs wir meinen, ihr Inhalt sei mit der Wahrnehmung zugleich gegeben oder in ihr selbst enthalten, also mit wahrgenommen. Wir glauben nicht nur an die Tiefe oder Entfernung vom Auge, sondern wir glauben sie zu sehen. Dadurch unterscheiden sich diese Urteile wesentlich von den wissenschaftlichen Urteilen, auch von den wissenschaftlichen Tiefenurteilen. Es ist etwas Anderes um die Vorstellung, der Mond befinde sich in einer Entfernung von einigen Metern \u00fcber mir, wie ich sie im gew\u00f6hnlichen Leben habe, und der wissenschaftlichen Erkenntnis, seine Entfernung betrage viele tausend Meilen. Nicht hier, wohl aber dort glaube ich die Entfernung zu sehen. Und doch ist jenes Bewufstsein, so gut wie dieses, durch Erfahrung vermittelt, jenes so gut wie dieses Urteil \u00fcber Wahrgenommenes, nicht selbst Wahrnehmung.\nIch verweile bei diesem Punkte einen Augenblick.\nWie innig das Bewufstsein der Tiefe mit Gesichtswahrnehmungen sich verbindet, dies zeigt wohl nichts so deutlich, als der Umstand, dafs selbst hervorragende Psychologen sich Ton dem Glauben, die Tiefe zu sehen, nicht losmachen k\u00f6nnen. Auf Wundt werde ich nachher zur\u00fcckzukommen haben. Hier denke ich beispielsweise an den Verfasser der Abhandlung \u201eThe 'perception of space\u201c im 12. Bandeides \u201eMindIch beweise, so wendet William James gegen die hierauf bez\u00fcglichen Er\u00f6rterungen meiner \u201ePsychologischen Studienu ein, \u201ethat it is logically impossible, we should perceive the distance of anything from the eye by sight. Aber,\u201c so meint er weiter, \u201eno argu-","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nHi. Lipps.\nments in the world can prove a feeling which actually exists to be impossible.\u201c William James glaubt also wirklich die Tiefe zu sehen. Darauf habe ich nichts zu erwidern, blicht dafs James oder irgend jenfand sonst den Glauben habe, wollte ich in meinen \u201ePsychologischen Studien\u201c bestreiten, sondern dafs der Glaube berechtigt sei. James urteilt nach dem unmittelbaren Eindruck. Es geht aber gewifs nicht an, wo der unmittelbare Eindruck eben der Gegenstand der Untersuchung ist, diesen selben unmittelbaren Eindruck zugleich als Beweismittel zu verwenden. Nat\u00fcrlich kann es aber f\u00fcr eine solche Untersuchung keine andere Methode geben, als die \u201elogische\u201c.\nDamit meine ich nicht den Streit \u00fcber die Wahrnehmbarkeit oder Nichtwahrnehmbarkeit der Tiefe beendet zu haben; obgleich ich gestehen mufs, dafs ich ebensowohl mit h\u00f6rbaren Ger\u00fcchen, als mit sichtbaren Tiefendimensionen eine Vorstellung zu verbinden w\u00fcfste. \u2014 Kann ich aber den Streit nicht schlichten, so darf ich doch vielleicht auf ein, in \u00e4hnlichen E\u00e4llen als wirksam anerkanntes Mittel aufmerksam machen, durch welches er leichter geschlichtet werden k\u00f6nnte. Es besteht darin, dafs man den einzelnen Fall nicht isoliert betrachtet, sondern in den Zusammenhang analoger F\u00e4lle bin ein stellt Zahlreich sind ja die F\u00e4lle, in denen wir dem Eindruck unterliegen, als werde von uns unmittelbar wahrgenommen, was wir doch gewifs jetzt eben nicht wahrnehmen, oder \u00fcberhaupt nicht wahrzunehmen verm\u00f6gen. Wir glauben, wenn wir T\u00f6ne h\u00f6ren, den Ort, wo sie erklingen, ja vielleicht gar eine r\u00e4umliche Ausbreitung des Tones mit zu h\u00f6ren. Wird ja auch dieser Glaube von einigen Psychologen in vollem Ernste vertreten. Wir glauben ein ander Mal \u2014 um ein von dem genannten weit abliegendes und doch ihm v\u00f6llig gleichartiges Beispiel zu erw\u00e4hnen \u2014 Freude oder Zorn aus dem Auge eines Menschen uns unmittelbar entgegenleuchten zu sehen. Andere Beispiele habe ich im oben angef\u00fchrten Zusammenh\u00e4nge namhaft gemacht. .Wiederum anders geartete liefsen sich leicht hinzuf\u00fcgen. Zu den belehrendsten geh\u00f6ren schliefslich diejenigen, die uns hier am n\u00e4chsten hegen, die optischen T\u00e4uschungen, die in Wahrheit optische Urteilst\u00e4uschungen sind. Niemand leugnet, wie ich hoffe, dafs es solche giebt. Vor allem kann hier wiederum auf die \u201eoptischen T\u00e4uschungen aus \u00e4sthetischen Gr\u00fcnden\u201c hingewiesen werden. Sieht man aber","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Die Baumanschauung und die Augenbewegungen.\n137\ngenauer zu, so finden sich schliefslich \u00fcberall in unseren Wahrnehmungen Elemente und Elemente der verschiedensten Art, die der Wahrnehmung als solcher fremd, ja mit ihrem Inhalte unvergleichlich, doch f\u00fcr uns so innig damit verbunden sind, dafs wir uns schwer dem Eindruck entziehen, sie geh\u00f6rten dazu. So wenig ist in jedem einzelnen Falle unmittelbar klar, was wir wahrnehmen, dafs wir gut th\u00e4ten, alle vermeintliche Wahrnehmung von vornherein als ein Produkt aus zwei Faktoren zu betrachten, der Wahrnehmung selbst und dem, was wir in sie hineinlegen, darum hineinlegen, weil es nun einmal mit dem Inhalt der Wahrnehmung, auf Grund der Erfahrung, psychisch in ein Ganzes verwoben ist. Niemand, der nur einigermafsen die Menge und Mannigfaltigkeit der hierher geh\u00f6rigen F\u00e4lle \u00fcbersieht, ja der sich auch nur die M\u00fche genommen hat, einige besonders naheliegende F\u00e4lle genauer ins Auge zu fassen, kann in allen F\u00e4llen den unmittelbaren Eindruck des Wahrnehmens zugleich als Beweis seiner Berechtigung nehmen wollen. Hat man aber einmal in einigen oder nur in einem Falle jenen unmittelbaren Eindruck als tr\u00fcgerisch erkannt, so wird man auch in anderen F\u00e4llen \u2014 ich sage nicht, die T\u00e4uschung erkennen, aber doch mit seinem Urteile zum mindesten etwas vorsichtiger sein. Man wird, statt nur blind dem Eindruck zu vertrauen und so geflissentlich in ein System der wissenschaftlichen Selbstt\u00e4uschung sich einzuspinnen, sich entschliefsen, die Bedingungen des Eindrucks zu untersuchen. Man th\u00e4te gut, gleich alle Psychologie und erst recht alle \u00c4sthetik aufzugeben, wenn man auf solche Untersuchung \u00fcberhaupt verzichten wollte.\nDoch gehen wir weiter. Wie das Sehfeld keine Beziehung zur Tiefe, so hat es auch keine Form. Kein Wunder, da die Form, von der wir hier reden, eben in dem Vor- und Zur\u00fccktreten der Teile des Sehfeldes besteht, also das Bewufstsein der Form mit dem Bewufstsein der gleichen, oder von Punkt zu Punkt sich ver\u00e4ndernden Tiefe eine und dieselbe Sache ist. Indem wir den Teilen des Sehfeldes eine bestimmte Tiefe und ein bestimmtes Tiefenverh\u00e4ltnis zuschreiben, schreiben wir zugleich dem Sehfeld eine bestimmte Form zu. Auch die Form des Sehfeldes ist also Sache des Gedankens, der Interpretation, des wirklichen oder vermeintlichen Wissens, kurz des Urteils, nicht Sache der Wahrnehmung.","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"188\nTh. Tipps.\nJenes Urteil \u00fcber die Tiefe und damit zugleich, das Urteil \u00fcber die Form des Sehfeldes beruht nun ohne Zweifel nicht urspr\u00fcnglich, aber f\u00fcr unser ausgebildetes Kaumbewufstsein in erster Linie auf Augenbewegungen; es beruht, genauer gesagt, auf den Konvergenzempfindungen, die wir bei Gelegenheit binokularer Fixationen und der dazu erforderlichen Bewegungen der Augen erleben. Diese Konvergenzempfindungen sind f\u00fcr uns auf Grund der Erfahrung zu Tiefenzeichen geworden. Ich wiederhole nicht meine Auffassung der Art, wie dies zugeht. Es gen\u00fcgt mir zun\u00e4chst, dafs auch hier wiederum die Augenbewegungen, so wichtig sie sind, zur Ausmessung des Sehfeldes in keinerlei Beziehung stehen, \u2014 immer vorausgesetzt, dafs man unter dem Sehfeld \u2014 eben das Sehfeld versteht.\nWundt nun glaubt auch hier wiederum eine unmittelbare Beziehung zwischen Augenbewegungen und Sehfeld konstatieren zu k\u00f6nnen. Wenigstens weifs ich mir den Gedankengang auf S. 109 des 2. Bandes der Physiologischen Psychologie nicht anders zu deuten. F\u00fcr uns ist jede \u201eurspr\u00fcngliche\u201c Form des Sehfeldes, d. h. jede Form, die das Sehfeld als solches bes\u00e4fse und nicht erst auf Grund der Erfahrung gew\u00e4nne, ein vollendetes Unding. F\u00fcr Wundt ist die urspr\u00fcngliche Form des Sehfeldes die Kugelfl\u00e4che. Den \u201enaheliegenden Grund\u201c findet er in der Bewegung des Auges. \u201eBei dieser beschreibt der Fixationspunkt fortw\u00e4hrend gr\u00f6fste Kreise, die einer Hohlkugel-fl\u00e4che angeh\u00f6ren. Als Mittelpunkt des kugelf\u00f6rmigen Sehfeldes, das wir beim Mangel sonstiger Motive erblicken, ist daher der Drehpunkt des Auges zu betrachten. Da nun auch das ruhende Auge sein Sehfeld kugelf\u00f6rmig sieht, so liegt eigentlich hierin schon der Grund f\u00fcr die Annahme, dafs die urspr\u00fcngliche Bauman schauring unter dem Einflufs der Augenbewegungen entstanden ist.\u201c\nDiese Stelle in Wundts ber\u00fchmtem Werke ist mir eines der merkw\u00fcrdigsten Beispiele daf\u00fcr, was in der Psychologie Worte verm\u00f6gen. Ich lege hier noch kein Gewicht darauf, dafs die \u00dcbereinstimmung zwischen ruhendem und bewegtem Sehfeld f\u00fcr den Einflufs der Bewegungen auf das ruhende Sehfeld doch wohl ganz und gar nichts beweisen kann. Im Grunde giebt dies Wundt durch das \u201eEigentlich\u201c selbst zu, in der Wissenschaft hat das \u201eEigentlich\u201c keine Stelle.\nIch stelle aber zun\u00e4chst die Thatsachenfrage. Das ruhende","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Die Baumanschauung und die Augenbewegungen.\n189\nAuge sieht sein Sehfeld urspr\u00fcnglich kugelf\u00f6rmig: f\u00fcr diese Annahme ist der einzige Beweisgrund der, dafs uns das Himmelsgew\u00f6lbe kugelf\u00f6rmig erscheint. Aber die Erdoberfl\u00e4che erscheint uns nicht kugelf\u00f6rmig, sondern eben. Warum sollen wir nicht daraus mit gleichem Hechte schliefsen, dafs die urspr\u00fcngliche Form des Sehfeldes die Ebene sei? Das Sehfeld, so wird vorher allgemeiner gesagt, besitze die Gestalt der Kugelfl\u00e4che, sobald speziellere Gr\u00fcnde fehlen, welche auf eine andere Ordnung seiner Punkte weisen. Aber genau dasselbe gilt auch von der Form das Ebene. Wir leihen \u00fcberhaupt dem Sehfeld immer die Form, f\u00fcr die wir Gr\u00fcnde haben, niemals diejenige, f\u00fcr die die Gr\u00fcnde fehlen. Mag man die einen oder die anderen Gr\u00fcnde speziellere nennen, f\u00fcr die Urspr\u00fcnglichkeit der einen oder der anderen Form folgt daraus nichts.\nEs liegt aber in Wundts Annahme eine weitere unberechtigte Voraussetzung. Das kugelf\u00f6rmige Sehfeld, von dem Wundt redet, ist ein monokulares. Kur vom monokularen Sehfeld ist im Zusammenhang jener Stelle die Rede. Wo aber liegt der Beweis, dafs f\u00fcr das Sehen mit einem Auge ein kugelf\u00f6rmiges Sehfeld \u2014 ich sage nicht urspr\u00fcnglich, sondern \u00fcberhaupt besteht? Wir sehen von vornherein mit beiden Augen. Besteht da nicht wenigstens die M\u00f6glichkeit, dafs das kugelf\u00f6rmige Sehfeld, \u2014 soweit es besteht \u2014 dafs also besonders das kugelf\u00f6rmige Himmelsgew\u00f6lbe dem doppel\u00e4ugigen Sehen sein Dasein verdankt und erst, nachdem es im doppel\u00e4ugigen Sehen entstanden ist, auch im ein\u00e4ugigen festgehalten wird; dafs also Wundt hier mit einer reinen Fiktion operiert? Indem Wundt annimmt, das kugelf\u00f6rmige Sehfeld bestehe schon f\u00fcr das ein\u00e4ugige Sehen, also ohne die \u201espezielleren\u201c Gr\u00fcnde, die aus dem doppel\u00e4ugigen Sehen sich ergeben, setzt er genau das voraus, worauf es eigentlich ankommt.\nUnd endlich, was mir hier das Wichtigste ist: Was ist der \u201eFixations\u201c- oder \u201eBlickpunkt\u201c, den Wundt an der angef\u00fchrten Stelle aufserhalb des Auges umherschweben und gr\u00f6fste Kreise beschreiben l\u00e4fst. Gewifs nicht ein Ding, nicht einmal ein in sich identischer Vorstellungsinhalt ; sondern eine reine Abstraktion, ein blofser verallgemeinernder Name. Blickpunkt ist jedesmal derjenige wahrgenommene Punkt des Sehfeldes, den ich fixiere. Der Blickpunkt beschreibt gr\u00f6fste Kreise, dies","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nTh. Lipps.\nheilst gar nichts anderes als: die Punkte des Sehfeldes, die ich nacheinander fixiere, sind f\u00fcr mein Bewufstsein in gr\u00f6fsten Kreisen angeordnet, oder: das Sehfeld hat f\u00fcr mein Bewufstsein die Form der Kugelfl\u00e4che. \"Weil mir die Punkte oder Objekte des Sehfeldes kugelf\u00f6rmig angeordnet oder ausgebreitet erscheinen oder vielmehr, wenn oder soweit sie kugelf\u00f6rmig angeordnet oder ausgebreitet erscheinen, sind auch f\u00fcr mein Bewufstsein die bei der Bewegung des Auges nacheinander fixierten Punkte Punkte eines gr\u00f6fsten Kreises oder ist f\u00fcr mein Bewufstsein die Bewegung des Blickpunktes Bewegung in einem gr\u00f6fsten Kreis. Dagegen verliert die Behauptung einer solchen Bewegung jeden angebbaren Sinn, wenn ich jene Voraussetzung zu machen unterlasse. \u2014 Warum scheint das Sehfeld die Gestalt einer Kugelfl\u00e4che zu haben? Darauf antwortet Wundt: weil es dieselbe zu haben scheint. Diese unleugbare Einsicht ist das Fundament der Augenbewegungstheorie.\nGiebt es keine urspr\u00fcngliche Kugelgestalt des Sehfeldes, so ist die Kugelgestalt, soweit sie besteht, so ist insbesondere die scheinbare Form des Himmelsgew\u00f6lbes, die Wundt als \u00dcberrest jener urspr\u00fcnglichen Kugelgestalt fafst, auf Grund der Erfahrung geworden, so, wie \u00fcberhaupt die Form des Sehfeldes geworden ist. Sie ist ein Produkt eben derjenigen Urteilsth\u00e4tigkeit, der jede Form des Sehfeldes ihr Dasein verdankt. Es thut nichts zur Sache, dafs sie ein tr\u00fcgerisches Ergebnis dieser Urteilsth\u00e4tigkeit oder eine optische T\u00e4uschung ist.\nVom Begriff der optischen T\u00e4uschung war oben die Bede; ihre Arten wurden unterschieden. Die scheinbare Form des Himmelsgew\u00f6lbes geh\u00f6rt zu denjenigen, die genauer als optische Urteilst\u00e4uschungen zu bezeichnen sind. Sie mufs zu ihnen geh\u00f6ren, so gewifs es nur f\u00fcr unser Urteil eine Form des Sehfeldes \u00fcberhaupt giebt. Aus gleichem Grunde m\u00fcssen alle T\u00e4uschungen, die die Form des Sehfeldes betreffen, Urteilst\u00e4uschungen sein. Sie sind, genauer gesagt, jederzeit irrt\u00fcmliche Tiefenurteile.\nDamit ist zugleich zugestanden, dafs sie freilich mit Augenbewegungen Zusammenh\u00e4ngen; nur in v\u00f6llig anderer Weise, als Wundt annimmt. Die bei Gelegenheit der Augenbewegungen entstandenen Konvergenzempfindungen, so sagten wir, bedingten","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Die Baumanschauung und die Augenbeivegungen.\t141\ndas Tiefenbewufstsein, -\u2014 durchaus nicht allein; aber ich will mich nun einmal in diesem Zusammenhang darauf beschr\u00e4nken. Dieselben sind auf Grund der Erfahrung \u2014 das N\u00e4here geh\u00f6rt nicht hierher \u2014 zu Zeichen der Tiefe geworden. Verschiedene Konvergenzempfindungen sind zu Zeichen verschiedener Tiefen geworden. Entsprechend m\u00fcssen uns gleiche Konvergenzempfindungen Zeichen gleicher Tiefe sein. Sind wir einmal dazu gelangt, aus Konvergenzempfindungen die Tiefe so zu sagen abzulesen, so k\u00f6nnen wir nicht umhin da, wo wir keinen Unterschied dieser Empfindungen mehr bemerken, an eine gleiche Tiefe zu glauben. Nun ist jene Voraussetzung bei sehr weit vom Auge entfernten Gegenst\u00e4nden erf\u00fcllt, also verlegen wir solche Objekte in unseren Gedanken in gleiche Tiefe, oder wir verlegen sie auf eine Kugeloberfl\u00e4che.\nDamit leugne ich doch nicht, dafs auch von Hause aus der Gedanke der Tiefengleichheit, also die Verlegung des Gesehenen auf eine Kugeloberfl\u00e4che, vor den sonstigen M\u00f6glichkeiten einen leicht verst\u00e4ndlichen Vorzug hat. Das Bewufst-sein der Form des Sehfeldes ist mit dem Bewufstsein der Tiefen und Tiefenunterschiede gegeben. Mit beidem zugleich wiederum ist das Bewufstsein der relativen Gr\u00f6fse der gesehenen Objekte oder ihrer Teile unmittelbar gegeben. Erkennen wir eine Linie als in bestimmter Art in die Tiefe sich erstreckend, so schreiben wir ihr notwendig zugleich die L\u00e4nge zu, die sie haben mufs, wenn sie bei solcher Lage das Gesichtsbild ergeben soll, das sie ergiebt. Wir schreiben ihr eine gr\u00f6fsere L\u00e4nge zu, als der f\u00fcr die Wahrnehmung gleich grofsen, die nicht oder nicht in gleichem Grade in die Tiefe zur\u00fcckweicht. So bedingt \u00fcberhaupt das Bewufstsein verschieden grofser Tiefen eine verschiedene Gr\u00f6fsensch\u00e4tzung der gesehenen Objekte und ihrer Teile, also eine gedankliche Ver\u00e4nderung oder Korrektur der wahrgenommenen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse. Nat\u00fcrlich geschieht diese Korrektur jederzeit im Widerstreit mit der Wahrnehmung. Wahrnehmung fordert hier wie \u00fcberall Anerkennung. Es besteht also f\u00fcr uns jederzeit in gewissem Grade der Zwang das wahrgenommene Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnis zweier in verschiedener Tiefe befindlicher Objekte oder Teile von Objekten anzuerkennen, oder es in unserem Urteil bei ihm zu belassen. Dieser Zwang mufs, wenn die verschiedene Gr\u00f6fsensch\u00e4tzung oder die gedankliche Aufhebung des gesehenen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisses zu","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nTh. l\u00e2pps.\nst\u00e4nde kommen soll, \u00fcberwunden werden. Es ist aber jederzeit die Frage, wie weit er \u00fcberwunden wird, bezw. wie weit die Wahrnehmung ihr Recht zu behaupten vermag.\nDamit ist gesagt, welche besondere Bedeutung auch f\u00fcr uns die Kugelgestalt des Sehfeldes hat oder haben kann. Angenommen, der Zwang der Wahrnehmung w\u00fcrde nirgends \u00fcberwunden, es k\u00e4me also die Forderung der Anerkennung der wahrgenommenen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse \u00fcberall unverk\u00fcrzt zu ihrem Rechte, wir k\u00f6nnten uns aber doch zugleich der Forderung, Tiefe \u00fcberhaupt anzuerkennen, nicht entziehen, dann h\u00e4tte das Sehfeld f\u00fcr uns wirklich die Form der Kugelfl\u00e4che. Obgleich nun jene Voraussetzung f\u00fcr keine Stufe unseres Raumbewufstseins zutrifft, \u2014 da es ja \u201eTiefe \u00fcberhaupt\u201c nicht giebt noch je gegeben hat, \u2014 so k\u00f6nnen wir doch fingieren, sie tr\u00e4fe zu. Wir k\u00f6nnen in unseren Gedanken von der Wirkung der Motive des Tiefenbewufstseins, soweit sie in der Erzeugung eines Bewufstseins verschiedener Tiefen besteht, abstrahieren und verm\u00f6ge dieser Abstraktion uns einen Zustand des Raumbewufstseins, oder eine \u201eForm des Sehfeldes\u201c konstruieren, in der zwar Tiefe, aber noch kein Tiefenunterschied vork\u00e4me. Wir k\u00f6nnen dann zu dieser Form des Sehfeldes jene Wirkungen wiederum successive hinzutreten und so aus der konstruierten oder fingierten Form des Sehfeldes diejenige Form entstehen lassen, die das Sehfeld f\u00fcr unser Bewufstsein that-s\u00e4chlich hat. Jene fingierte Form ist dann auch f\u00fcr uns die \u201eurspr\u00fcngliche\u201c ; d. h. sie ist der Ausgangspunkt unserer Betrachtung; immerhin einer Betrachtung, bei der der ganze Bestand des Sehfeldes und aufserdem das \u201eTiefenbewufstsein \u00fcberhaupt\u201c bereits vorausgesetzt ist.\nDen Wert nun, den die bezeichnete Art des Verfahrens und damit zugleich die Fiktion des kugelf\u00f6rmigen Sehfeldes f\u00fcr die Darstellung des Thatbestandes unserer Raumanschauung haben mag, leugne ich nicht. Ich sehe auch ein, dafs die orientierende Kraft diese Fiktion sich erh\u00f6ht, wenn das kugelf\u00f6rmige Sehfeld mit allerlei Meridianen und Breitekreisen ausgestattet wird. Ich leugne schliefslich auch nicht, dafs es zweckm\u00e4fsig sein mag, verm\u00f6ge einer neuen Fiktion dies Sehfeld durch Bewegungen irgend eines Punktes entstehen zu lassen, der, aufserhalb des Auges befindlich, aber mit dem Auge fest verbunden, nicht umhin kann der Bewegung des","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Die Baumanschauung und die Augenbewegungen.\n143\nAuges zu folgen und gr\u00f6fste Kreise zu beschreiben. \u2014 Nur darf man bei allem dem die Fiktion nicht mit der Wirklichkeit identifizieren, die subjektive Betrachtungs- oder Darstellungsweise nicht f\u00fcr eine Beschreibung oder gar Erkl\u00e4rung des objektiven Hergangs ausgeben.\nAndererseits hindert uns doch auch nichts \u2014 im Interesse der Vermeidung solcher Selbstt\u00e4uschungen \u2014, auf alle solche Fiktionen zu verzichten und dem objektiven Hergang der Entstehung des Raumbewufstseins zu folgen, insbesondere den Motiven des Tiefenbewufstseins von vornherein die konkreten Wirkungen zuzuschreiben, die sie von vornherein \u00fcben. Auch dann beh\u00e4lt noch das kugelf\u00f6rmige Sehfeld f\u00fcr uns eine gewisse Bedeutung. Ist es nicht mehr Ausgangspunkt, so ist es in gewisser Weise Zielpunkt, d. h. es bezeichnet den Punkt, dem sich das Raumbewufstsein n\u00e4hert in dem Mafse, als die Motive des Tiefenbewufstseins hinter der Aufgabe, den Zwang der Wahrnehmung zu \u00fcberwinden, zur\u00fcck bleiben.\nOffenbar kann nun die Wahrscheinlichkeit, dafs dieser Zwang der Wahrnehmung vollkommen \u00fcberwunden werde, in doppelter Weise sich vermindern. Entweder der Gegensatz zwischen dem Wahrnehmungsinhalt und der durch die Erfahrung geforderten Korrektur ist allzu grofs. Oder die Motive, die die Korrektur fordern, besitzen nicht gen\u00fcgenden Nachdruck. Letzteres wiederum kann, sofern diese Motive in Konvergenzempfindungen bestehen \u2014 und andere wollen wir ja hier unber\u00fccksichtigt lassen \u2014 aus doppeltem Grunde der Fall sein. Die Konvergenzempfindungen selbst dr\u00e4ngen sich mit geringerer Sicherheit und Bestimmtheit auf ; oder die Beziehung zwischen ihnen und dem Bewufstsein der Tiefe und damit zugleich der Gr\u00f6fse ist eine weniger innige.\nDaraus ergeben sich verschiedene Arten von optischen T\u00e4uschungen oder genauer optischen Urteilst\u00e4uschungen. Zun\u00e4chst eine Gattung, die darauf beruht, dafs die Konvergenz-empfindungen nicht gen\u00fcgend sicher und bestimmt sich aufdr\u00e4ngen. Konvergenzempfindungen wirken als Zeichen der Tiefe zun\u00e4chst, wenn sie unmittelbar als Empfindungen da sind. Dies ist der Fall, soweit wir die Objekte oder Teile von Objekten binokular fixieren. Sie wirken dann auch und in gleicher Weise, wenn sie nur in der Erinnerung oder Reproduktion gegeben sind. Auf solche blofs reproduktive Konvergenz-","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nTh. Lijops.\nempfindungen sind wir angewiesen, soweit die binokulare Fixation unterbleiben mufs oder aus irgend welchem Grunde thats\u00e4clilich unterbleibt. Wir bemessen dann die Tiefenlagen und die Unterschiede derselben nach den Konvergenzempfindungen, die wir in gleichartigen F\u00e4llen gewonnen haben. Dabei ist unter der Gleichartigkeit der F\u00e4lle das gleiche Verh\u00e4ltnis der Doppelbilder in den verschiedenen F\u00e4llen zu verstehen. Das Genauere geh\u00f6rt wiederum nicht hierher. Kur die Erkl\u00e4rung wiederhole ich hier, dafs Wundts Theorie der totalen Verschmelzung der Doppelbilder nach meiner Erfahrung mit den Thatsachen in direktem Widerspruch steht. Leider erfahren wir von Wundt nicht, welche erneute Pr\u00fcfung des Sachverhaltes ihn veranlafst, bei seiner, auf Grund jener Thatsachen von mir bestrittenen Meinung zu verharren.\nNun haben aber reproduktive Vorstellungen hier wie \u00fcberall nicht die Kraft der unmittelbaren Empfindung. Also wird beim Verzicht auf Augenbewegungen oder bei starrer Fixation die N\u00f6tigung, gesehenen Objekten oder Teilen von Objekten die ihnen erfahrungsgem\u00e4fs zukommende verschiedene Tiefenlage und entsprechende Gr\u00f6fse zuzuschreiben, eine geringere sein. Wir werden darum bei starrer Fixation in gewissem Grade geneigt sein, die Objekte als in gleicher Tiefe liegend oder sich ausbreitend zu betrachten.\nDaraus erkl\u00e4rt sich eine Thatsache, in der Wundt wiederum einen unmittelbaren Beweis f\u00fcr die Augenbewegungstheorie zu finden scheint. \u201eMan nehme einen Bogen weifsen Papiers, in dessen Mitte man einen schwarzen Punkt anbringt, der als Fixationspunkt dient\u201c. . . . Man bringe \u201eseitlich vom Fixationspunkt zwei schwarze Papierschnitzel an, die genau in einer Vertikallinie liegen, auf demselben Bogen an. Man wird bemerken, dafs dieselben nur dann in einer Vertikallinie zu liegen scheinen, wenn ihre Dichtung entweder mit der durch den Blickpunkt gelegten Vertikalen zusammenf\u00e4llt oder zu der durch den Blickpunkt gelegten Horizontalen senkrecht ist. In den \u00fcbrigen Teilen des Blickfeldes dagegen mufs man den Objekten in Wirklichkeit eine schr\u00e4ge Lage geben, wenn sie im indirekten Sehen vertikal erscheinen sollen, und zwar mufs in allen schr\u00e4gen Lagen das in vertikaler Dichtung vom Blickpunkt entferntere Objekt auch nach der horizontalen weiter vor demselben weggeschoben werden.\u201c \u2014 Solche Erscheinungen sind","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Die Raumanschauung und die Augenbewegungen.\n145\nes, die nach Wundt \u201ezeigen, dafs die Eindr\u00fccke, die wir bei bewegtem Auge empfangen, auf die Abmessungen im Sehfeld des ruhenden Auges \u00fcbertragen werden.\u201c\nIch bekenne zun\u00e4chst, dafs es mir sehr schwer f\u00e4llt, den Zusammenhang zu verstehen, der zwischen diesem Schlufssatz und der Thatsache bestehen soll, aus der er gezogen ist. Gewifs stimmen ja die \u201eEindr\u00fccke\u201c, die wir bei bewegtem Auge gewinnen, mit der Ausmessung des ruhenden Sehfeldes wenigstens innerhalb gewisser Grenzen \u00fcberein. Was wir bei bewegtem und bei ruhendem Auge sehen, stimmt sogar, soweit sich feststellen l\u00e4fst, durchaus \u00fcberein. Das Auge ist nun einmal so zweckm\u00e4fsig eingerichtet, dafs diese \u00dcbereinstimmung bestehen kann. Aber folgt daraus, dafs wir jene \u201eEindr\u00fccke\u201c auf diese Abmessungen \u00fcbertragen? Warum sollen wir nicht umgekehrt diese auf jene \u00fcbertragen? Oder warum schliefst man nicht aus dieser \u00dcbereinstimmung, was doch das N\u00e4chstliegende w\u00e4re, dafs es f\u00fcr die Abmessungen im Sehfeld ganz und gar gleichg\u00fcltig ist, ob das Auge ruht oder nicht, dafs die Bewegungen nicht den Zweck haben, irgend welche Abmessungen erst zu erzeugen, sondern nur uns die vorhandenen deutlicher erkennen zu lassen?\nDie angef\u00fchrte Thatsache beweist aber auch, so viel ich sehe, nicht eine \u00dcbereinstimmung, sondern vielmehr einen Gegensatz, nicht zwischen ruhendem und bewegtem Sehfeld, wohl aber zwischen den \u201eEindr\u00fccken\u201c, die wir bei ruhigem und bewegtem Auge gewinnen. Wundt weist selbst darauf hin; und durch die Art, wie er dies thut, scheint er mir die von ihm behauptete \u00dcbertragung zugleich wieder zu leugnen. Man lege einen der Papierstreifen etwa in die rechte obere Ecke des in der Mitte fixierten Papierbogens und gebe ihm diejenige schr\u00e4ge Lage, in der er f\u00fcr das indirekte Sehen vertikal erscheint. Wendet man dann den Blick von der Mitte des Bogens weg auf eben diesen Papiersti\u2019eifen, so verschwindet die T\u00e4uschung; der Streifen erscheint in seiner wirklichen Lage, also schr\u00e4g, genauer: mit seinem oberen Ende nach aufsen gekehrt. Und wie nun erkl\u00e4rt dies Wundt? Daraus, dafs \u201edie im Blickpunkt und dessen Umgebung befindlichen Objekte immer in das jeweilige Sehfeld mit Biicksicht auf die Lage, welche unsere Vorstellung dem letzteren anweist, verlegt\u201c werden. Also beruht doch ohne Zweifel die scheinbare ver-\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie III.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nTh. Lipps.\ntikale Richtung des Papierstreifens beim indirekten Sehen darauf, dafs bei solchem indirekten Sehen die wirkliche Lage des Sehfeldes, d. h. in unserem Palle des Papierbogens, nicht oder nicht gen\u00fcgend ber\u00fccksichtigt wird. Damit sind wir aber genau bei unserer Erkl\u00e4rung angelangt.\nDie \u201eLage\u201c des Papierbogens, von der hier die Rede ist, ist f\u00fcr mich \u2014 aber gewifs auch ebenso f\u00fcr Wundt \u2014 gleichbedeutend mit der Stellung desselben zum Auge, wie sie durch die Entfernung seiner einzelnen Punkte vom Auge ohne weiteres gegeben ist. Das Bewufstsein jener Lage, also das Bewufstsein dieser Entfernungen dr\u00e4ngt sich uns beim indirekten Sehen nicht oder weniger bestimmt auf. Dafs ich darin mit Wundt zusammentreffe, haben wir eben gesehen. Eben damit nun vermindert sich, wie wir oben sahen, der durch dies Bewufstsein bedingte Zwang der Korrektur der wahrgenommenen G-r\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse. Die Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse erscheinen also im indirekten Sehen den wahrgenommenen angen\u00e4hert. Damit ist die T\u00e4uschung erkl\u00e4rt: Passen wir unter den in Betracht kommenden Gr\u00f6fsen etwa die Gr\u00f6fse des Abstandes zwischen dem fixierten Mittelpunkte des Papierbogens, den wir C nennen wollen, einerseits, und dem oberen und unteren Ende des Streifens, die wir bezw. als e, und e2 bezeichnen wollen, speziell ins Auge. So lange wir die Lage und Form des Papierbogens richtig erkennen, also den Papierbogen als eben, damit zugleich nach den Seiten zu in bestimmter Weise vom Auge sich hinweg erstreckend betrachten, verlegen wir in weitere Entfernung vom Auge als e2, damit vergr\u00f6fsern wir zugleich in Gedanken den gesehenen Abstand Ce1 im Vergleich zum Abstand Ce2. Dagegen vollziehen wir im indirekten Sehen, weil bei ihm jene Bedingung nicht erf\u00fcllt ist, diese relative Vergr\u00f6fserung nicht, oder nicht in gleichem Mafse. Also erscheint im indirekten Sehen der Abstand Ce2 relativ verk\u00fcrzt. Diese Verk\u00fcrzung aber ist gleichbedeutend mit einer Verschiebung des oberen Endes des Streifens nach links oder einer Aufhebung bezw. Verminderung der thats\u00e4chlichen Verschiebung desselben nach rechts, d. h. gleichbedeutend mit einer Ann\u00e4herung des Streifens an die vertikale Lage. \u2014 Zu diesem Resultate gelangen wir, ohne von Augenbewegungen auch nur zu reden.\nSo k\u00f6nnte auch Wundt der Augenbewegungen bei diesem Probleme recht wohl entraten. Es erweist sich aber hier","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Die Baumanschauung und die Augenbewegungen.\n147\nwiederum ein Zug der Augenbewegungstheorie als verh\u00e4ngnisvoll, der uns schon oben so erschien. Deutlicher noch als ehemals das kugelf\u00f6rmige Sehfeld wird hier das ebene Blickfeld \u2014 in Gestalt des ebenen Papierbogens \u2014 einfach als gegeben, also das darin liegende Problem einfach als bereits gel\u00f6st vorausgesetzt. In diesem Problem liegt aber das hier in Bede stehende im Grunde ganz und gar enthalten. \u2014 Wir sehen dann Sehfeld und Blickfeld sich gegeneinander bewegen, in verschiedene Beziehungen zu einander geraten, und dabei auch den Gegensatz zwischen der schr\u00e4gen und der vertikalen Lage des Papierstreifens entstehen. Aber wie der Blickpunkt, durch dessen Bewegungen das kugelf\u00f6rmige Sehfeld entstehen sollte, nicht ein f\u00fcr sich bestehender Inhalt unseres Bewufstseins war, so k\u00f6nnen auch Sehfeld und Blickfeld nicht als solche gelten. Das Blickfeld ist wie das Sehfeld nichts, wenn wir von den konkreten Inhalten unseres Raumbewufstseins absehen. Es giebt insbesondere keine Eorm und Lage des Blickfeldes, ebenso wie des Sehfeldes, die etwas anderes w\u00e4re, als unser Bewusstsein von der Form und relativen Lage dessen, was wir sehen. Entsprechend ist auch der Gegensatz zwischen Form und Lage des Blickfeldes einerseits und des Sehfeldes andererseits nichts anderes, als der Gegensatz zwischen Formen und Lagen gesehener Objekte oder ihrer Teile. Wer diesen Gegensatz aus jenem ableitet, sagt darum nur noch einmal, was er in allgemeiner Weise schon vorher gesagt hat. Wiederum leugne ich damit nicht, dafs man das Recht habe und unter Umst\u00e4nden wohl daran thue, von Blickfeld und Sehfeld und einer Gegeneinanderbewegung beider in abstracto zu sprechen. Dies haben wir ja selbst oben gethan. Insbesondere mag auch die Art, wie Wundt dies thut, recht wohl der Verdeutlichung des Thatbestandes unserer Raumanschauung dienen. Und ich bitte f\u00fcr meine Kritik um Entschuldigung, wenn Wundt nichts anderes als dies beabsichtigt haben sollte. Zun\u00e4chst aber mufs ich annehmen, dafs seine Absicht weiter gehe.\nWie der Papierstreifen, von dem wir eben redeten, bei indirektem Sehen an seinem oberen, vom Auge und dem Blickpunkt entfernteren Ende gegen das Auge und darum gegen den Blickpunkt relativ hergekehrt erschien, ebenso und aus gleichem Grunde mufs jede Linie, die nach beiden Enden zu vom Auge sich entfernt, im indirekten Sehen mit den Enden\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nTh. Lipps.\ngegen, das Auge und den Blickpunkt liergekr\u00fcmrnt bezw. in geringerem Grade von ihm weggekr\u00fcmmt erscheinen. Ist die Linie eine Gerade, so scheint sie gegen das Auge und den Blickpunkt konkav, ist sie gegen beide konvex, so kann sie als eine Gerade erscheinen. F\u00fcr letztere M\u00f6glichkeit verweise ich auf das bekannte von HELMHOLTZsche Schachbrettmuster, in dem uns ein ganzes System von Linien entgegentritt, die sich gegen die Enden zu von dem Mittelpunkte des Systems wegkr\u00fcmmen und um so st\u00e4rker wegkr\u00fcmmen, je weiter sie vom Mittelpunkt entfernt liegen. Die Linien erscheinen bei geeigneter Fixation des Mittelpunktes in der That als Gerade.\nIn den eben ausgesprochenen allgemeinen S\u00e4tzen ist nun freilich noch nicht alles in Ordnung. M\u00fcssen wirklich, so kann man fragen, indirekt gesehene gerade Linien, die gegen das Auge konkav erscheinen, ohne weiteres auch gegen den Blickpunkt konkav erscheinen? Angenommen, der Blickpunkt befinde sich unter einer solchen Geraden, giebt es dann nicht jederzeit einen entsprechenden Punkt \u00fcber der Geraden, gegen den sie genau ebenso konkav erscheinen m\u00fcfste? Und wenn sie nach entgegengesetzten Seiten gleich konkav erscheinen mufs, heifst dies dann nicht, dafs sie weder nach der einen noch nach der anderen Seite so erscheinen kann? \u2014- Hier ergiebt sich eine L\u00fccke, die wir noch auszuf\u00fcllen haben werden.\nLassen wir diese L\u00fccke aber einstweilen unausgef\u00fcllt, und betrachten die Kr\u00fcmmung als das, was sie in jedem Falle ist, d. h. als Kr\u00fcmmung gegen das Auge. Diese hat f\u00fcr uns nichts Verwunderliches. Ich meinte oben, das Problem der scheinbaren Lage des Papierstreitens liege in dem Problem des ebenen Blickfeldes im Grunde ganz und gar enthalten. Dasselbe gilt nat\u00fcrlich vom Problem der scheinbaren Kr\u00fcm-mung gerader Linien. Beide Probleme sind aber nicht minder auch im Problem der geraden Linie schon eingeschlossen. D. h. wir verstehen die scheinbare Kr\u00fcmmung der Geraden, wenn wir verstehen, wie es zugeht, dafs sie unter anderen Umst\u00e4nden nicht gekr\u00fcmmt, sondern als eine Gerade erscheint.\nWundt setzt wie die Ebene, so auch die geraden Linien ohne weiteres als gegeben voraus. Darin liegt wiederum eine Vorwegnahme der Erkl\u00e4rung.\nGerade Linien sind \u2014 wiederum zun\u00e4chst f\u00fcr mich, gewifs aber auch ebenso f\u00fcr Wundt \u2014 nicht urspr\u00fcngliche Inhalte","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Die Raumanschauung uwd die Augenbewegungen.\n149\nunseres Bewufstseins; sondern m\u00fcssen f\u00fcr unser Bewufstsein werden. Die gerade Linie ist nun aber ein nach drei Dimensionen bestimmtes Gebilde. Das Gleiche gilt vom Kreis, der Ellipse u. s. w., kurz von jeder Linie, die in unserem Raum von drei Dimensionen Vorkommen oder von uns in denselben hineingedacht werden mag. Die Form der Linie ist gleichbedeutend mit der Lage ihrer Punkte. Ein Punkt hat aber in unserem Raum von drei Dimensionen eine bestimmte Lage, wenn seine Lage nicht nach einer oder zwei, sondern nach drei Dimensionen bestimmt ist. Es hat also keinen Sinn, in einem blofs il\u00e4chenhaften Raum von einer geraden Linie, ebenso von einem Kreise, einer Ellipse etc. auch nur zu reden, es sei denn, dafs man mit diesen Worten einen v\u00f6llig neuen Sinn verbindet.\nDarnach giebt es auch im Il\u00e4chenhaften Sehfeld keine solchen Gebilde. Wir d\u00fcrfen sagen: So viele gerade Linien, Kreise u. s. w. wir auch in unserem Leben gesehen haben m\u00f6gen, so haben wir doch in Wahrheit niemals etwas Dergleichen gesehen. Das heifst: wir sahen Linien, die Gerade, Kreise u. s. w. waren, aber die Geradheit, die Kreisform geh\u00f6rte nicht mit zum Inhalte unserer Wahrnehmung. Was wir von der geraden Linie wahrnahmen, war ein Repr\u00e4sentant derselben, aber ein Repr\u00e4sentant, der an sich ebensowohl allerlei Kreislinien, Ellipsen etc. kurz jede m\u00f6gliche, nur immer ebene Kurve repr\u00e4sentierte. Er wurde zum Repr\u00e4sentanten einer geraden Linie und einer bestimmten geraden Linie, wenn wir ihn, schliefslich auf Grund der Erfahrung, als Repr\u00e4sentanten einer solchen deuteten, d. h. wenn wir dem Wahrnehmungsbilde, das als solches zur dritten Dimension keine Beziehung hatte, nicht nur irgendwelche, sondern eine bestimmte Beziehung der Art in unseren Gedanken liehen.\nEs liegt nun aber hier nichts daran, ob man allen diesen Behauptungen zustimme, obgleich mir scheint, dafs es nichts Einleuchtenderes geben k\u00f6nne: \u2014 es gen\u00fcgt mir, dafs in jedem Falle die gerade Linie f\u00fcr unser Bewufstsein entsteht, indem wir den einzelnen Punkten des Gesichtsbildes derselben eine bestimmte relative Tiefenlage anweisen oder einen bestimmten Tiefenunterschied zuschreiben, einen solchen n\u00e4mlich, wie er eben der Natur der geraden Linie entspricht. Oder sollte man auch dies nicht zugestehen, so steht doch fest, dafs es f\u00fcr unser Bewufstsein keine gerade Linie geben kann ohne das Bewufstsein eines","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nTh. Tipps.\nsolchen bestimmten Tiefenunterschiedes ihrer Punkte. Dann steht aber auch ebenso fest, dafs sich eine gerade Linie f\u00fcr mein Bewufstsein in eine gekr\u00fcmmte verwandeln mufs, wenn jenes bestimmte Tiefenverh\u00e4ltnis f\u00fcr mein Bewufstsein sich modifiziert. Jetzt fragt es sich nur noch, wie dies geschehen k\u00f6nne. Nat\u00fcrlich setzt die Beantwortung dieser Frage die Einsicht in die Gr\u00fcnde des Bewufstseins jenes Tiefenverh\u00e4ltnisses voraus. Zeigt sich, dafs die Wirksamkeit dieser Gr\u00fcnde sich modifizieren kann, so ist die scheinbare Kr\u00fcmmung verst\u00e4ndlich geworden. Dagegen verstehe ich nicht, wie vor Untersuchung jener Gr\u00fcnde der Gegensatz der Geradlinigkeit und der scheinbaren Kr\u00fcmmung \u00fcberhaupt in die Diskussion gezogen werden kann.\nIn der That nun liegt es, wie wir sahen, in der Natur jener Gr\u00fcnde, es liegt speziell in der Natur der Konvergenzempfindungen, dafs sie nicht immer die gleiche Wirkung \u00fcben. Also bedarf es zur Erkl\u00e4rung der scheinbaren Kr\u00fcmmung keiner weiteren Faktoren.\nDerselbe Schein der Kr\u00fcmmung gerader Linien scheint nun auch entstehen zu m\u00fcssen, wenn wir eine gerade Linie in der Mitte fixieren. Auch hier werden ja Teile indirekt gesehen. Der Schein entsteht denn auch zweifellos. Nur m\u00fcssen Einschr\u00e4nkungen hinzugef\u00fcgt werden. Eine f\u00fcge ich gleich hier hinzu.\nDabei kommt ein weiterer unter den Faktoren in Betracht, die oben als Gr\u00fcnde f\u00fcr die verminderte Wirksamkeit der Motive des Tiefenbewufstseins, also f\u00fcr den verst\u00e4rkten Einflufs der wahrgenommenen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse geltend gemacht wurden. Beruht die Erkenntnis der Tiefe und damit die Sch\u00e4tzung der wirklichen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse, allgemein gesagt, auf Erfahrung, so ist sie eine Sache, die gelernt werden mufs; und soll sie den Zwang der Wahrnehmung \u00fcberwinden, so mufs sie nicht nur gelernt, sondern in dem Grade einge\u00fcbt sein, dafs sie sich ebenso unmittelbar aufdr\u00e4ngt und die gleiche, ja eine gr\u00f6fsere zwingende Kraft besitzt als die Wahrnehmung. Nur unter dieser Voraussetzung k\u00f6nnen wir glauben wahrzunehmen, was wir nicht nur nicht wahrnehmen, sondern was zur thats\u00e4chlichen Wahrnehmung im Gegensatz steht. \u2014 Nebenbei bemerkt, t\u00e4usche ich mich nicht dar\u00fcber, dafs auch unter dieser Voraussetzung in der \u00dcberwindung des Zwanges der Wahrnehmung durch das Urteil noch ein Problem liegt.","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bamnanscliauung und die Augenbeivegungen.\n151\nSchon, worin diese \u00dcberwindung eigentlich bestehe, ist eine wichtige und nicht so einfache psychologische Frage. Darauf aber kann hier nicht eingegangen werden. Uns gen\u00fcgt, dafs die \u00dcberwindung stattfindet.\nWir pflegen nun, wenn uns an der Erkenntnis der wirklichen Lage, Form und Gfr\u00f6fse eines sichtbaren Objektes gelegen ist, dasselbe nach M\u00f6glichkeit in der ungezwungensten und f\u00fcr uns bequemsten Stellung der Augen zu betrachten. Man kann diese Stellung als Prim\u00e4rstellung oder Prim\u00e4rlage des Auges bezeichnen. Dabei denke ich aber an eine Prim\u00e4rlage des Doppelauges, wie ich \u00fcberhaupt hier das Sehen, das von vornherein ein doppel\u00e4ugiges ist, auch von vorn herein als solches betrachte. Dafs diese Prim\u00e4rlage keine absolut fixierte oder fixierbare ist, thut hier nichts zur Sache. Ebenso spreche ich von einem binokularen \u201eHauptblickpunkt\u201c, wenn ich den Punkt, den wir hei solcher Lage des Doppelauges, also bei ungezwungen \u201egerade aus\u201c gerichtetem Blick, fixieren, als \u201eHaupthlickpunkt\u201c bezeichne. Handelt es sich um genaue Betrachtung einer geraden Linie, so suchen wir zwar nicht successive jeden, wohl aber einen, oder bei gr\u00f6fserer L\u00e4nge der Linie, nacheinander mehrere Punkte der Linie zu Hauptblickpunkten zu machen, um von da aus das Auge nach den Seiten zu wenden.\nDaraus folgt, dafs die Konvergenzempfindungen, die dem Haupthlickpunkt und den ihm benachbarten Punkten entsprechen, oder die Konvergenzempfindungen, die wir bei der in bequemster Stellung der Augen vollzogenen und den davon nicht allzuweit abweichenden Fixationen gewinnen, zu besonders sicheren Zeichen der Tiefe werden oder geworden sein m\u00fcssen. Und daraus wiederum ergiebt sich, unter welcher Voraussetzung wir bei der in der Mitte starr fixierten geraden Linie dem Schein der Kr\u00fcmmung nicht oder in besonders geringem Mafse begegnen werden. Dann n\u00e4mlich, wenn der fixierte Punkt zugleich der Hauptblickpunkt ist oder ihm nahe steht und die Linie keine allzu lange gestreckte ist. Es ist dann vielmehr G-rund zu einem besonders sicheren Bewufstsein der Tiefenlage der einzelnen Punkte der Linie und damit zu einem besonders sicheren Bewufstsein der Form der Linie.\nEs kann nun aber der Schein der Kr\u00fcmmung auch entstehen, wenn die gerade Linie weder ganz noch zum Teile","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nTh. Tipps.\nindirekt gesehen, sondern durchaus mit dem Blick verfolgt wird, sei es ohne, sei es mit Zuhilfenahme der Drehung des Kopfes. Es ist dazu nur erforderlich, dafs die Linie eine gen\u00fcgende L\u00e4nge besitze und gen\u00fcgend weit nach rechts oder links, nach oben oder unten vom Auge hinweg sich erstrecke. Dafs ich mich dem Schein der Kr\u00fcmmung unter dieser Voraussetzung nie entziehen kann, daran mag meine Kurzsichtigkeit mit Schuld sein. Die Gesetze der Augenbewegung sind darum doch bei mir keine anderen. Wohl aber ergiebt sich aus solcher Kurzsichtigkeit eine geringere Bestimmtheit der binokularen Fixation, also eine geringere Sicherheit des Tiefen-bewufstseins.\nIn solcher geringeren Sicherheit des Tiefenbewufstseins hat aber hier, wie in den oben erw\u00e4hnten F\u00e4llen, der Schein der Kr\u00fcmmung seinen Grund. Genauer ist der Grund ein doppelter. Die Tiefenunterschiede wachsen bei der Geraden, die sich nach rechts oder links, oben oder unten vom Auge entfernt, rascher und rascher. Nun schliefst, wie wir wissen, das Bewufstsein gr\u00f6fserer Tiefenunterschiede eine gr\u00f6fsere Korrektur der wahrgenommenen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse in sich. Und dieser gr\u00f6fseren Korrektur begegnet ein entsprechend gr\u00f6fserer Widerstand seitens der Wahrnehmung. Sie vollzieht sich also schwerer und unter im \u00fcbrigen gleichen Umst\u00e4nden unvollkommener.\nDazu kommt dann das vorhin schon herangezogene Moment der Unterschied hinsichtlich des Grades der Ein\u00fcbung. Wir haben zun\u00e4chst Gelegenheit gehabt uns von Tiefen und Tiefenverh\u00e4ltnissen, und damit von wirklicher Gr\u00f6fse und wirklichen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnissen zu \u00fcberzeugen bei geringen oder mittleren Tiefen und Tiefenunterschieden, also geringerer oder mittlerer perspektivischer Verkleinerung oder Verk\u00fcrzung. Ich sah von einem Standorte S aus einen Menschen vor mir in einer Entfernung von 6 m, einen anderen gleich grofsen in einer Entfernung von 3 m. Diese Entfernungen waren mir bekannt oder konnten es werden. Ich hatte vielleicht unmittelbar vorher die Entfernung des einen und des anderen vom Standorte 8 von einem anderen, n\u00e4mlich seitlichen Standorte aus wahrgenommen und beide in unmittelbarer Wahrnehmung miteinander verglichen. Indem ich dann die Vorstellung dieser vorher gesehenen Entfernungen mit den Konvergenzempfin-","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Die Baumanschauung und die Augenbewegungen.\t153\nd\u00fcngen verkn\u00fcpfte, die ich. hatte, wenn ich nachher von S aus erst den einen, dann den anderen betrachtete, wurden die Konvergenzempfindungen zu unmittelbaren Zeichen der Entfernungen und des Entfernungsunterschiedes. Zugleich und in gleicher Weise konnten sie zu Zeichen des wirklichen Gr\u00f6fsenverh\u00e4lt-nisses werden. Auch dies hatte ich ja Gelegenheit unmittelbar wahrzunehmen; ich hatte vielleicht vorher schon dieselben beiden Menschen in gleicher und als gleich erkannter Entfernung gesehen und verglichen. Wiederum verkn\u00fcpfte ich das Ergebnis mit den Konvergenzempfindungen, die ich nachher von S aus hatte. Ich wufste so in Zukunft \u2014 aus unmittelbarer Erfahrung \u2014, dafs die an Gr\u00f6fse verschiedenen, n\u00e4mlich in ihrer linearen Ausdehnung wie 1 :2 sich verhaltenden Gesichtsbilder unter Voraussetzung dieser bestimmten Verschiedenheit der Konvergenzempfindungen gleich grofse Objekte bedeuteten, die nur das eine doppelt so weit wie das andere vom Auge entfernt waren ; vielmehr: ich deutete ohne weitere Reflexion und blind dem Zwange der Vorstellungs-Verkn\u00fcpfung folgend, das, was ich sah, in meinen Gedanken in diesen erfahrungsgem\u00e4fsen Thatbestand um; ich that dies um so sicherer, je fester auf Grund der unmittelbaren Erfahrung diese oder eine gleichartige Vorstellungsverbindung sich hatte kn\u00fcpfen k\u00f6nnen.\nDagegen haben wir bei gr\u00f6fseren Entfernungen und Entfernungsunterschieden zu solcher unmittelbaren Erfahrung, darum zur unmittelbaren Kn\u00fcpfung solcher Vorstellungsverbindungen keine oder wenig Gelegenheit gehabt. Wir sind, um gleich ein extremes, aber darum wohl um so einleuchtenderes Beispiel zu w\u00e4hlen, niemals in der Lage gewesen, die Entfernung zwischen dem Monde und unserem Auge bezw. der Stelle, wo sich unser Auge in einem gegebenen Momente befand, in einem vorangehenden oder folgenden Momente von der Seite, also vom Weltr\u00e4ume aus wahrzunehmen und in der unmittelbaren Wahrnehmung mit einer uns bekannten Entfernung zu vergleichen; und wir haben nie das wirkliche Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnis des Mondes und eines irdischen Gegenstandes, d. h. das Verh\u00e4ltnis der Gr\u00f6fse, wie es sich bei gleicher Entfernung vom Auge darstellen w\u00fcrde, unmittelbar feststellen k\u00f6nnen. Weil es sich so \u2014 nicht nur beim Monde, sondern auch bei sehr viel n\u00e4heren Objekten verh\u00e4lt, darum konnten die Tiefenzeichen, insbeson-","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nTh. Tipps.\ndere die Konvergenzempfindungen, die gr\u00f6fseren Entfernungen vom Auge entsprechen, nicht auf Grund unmittelbarer Erfahrung zu Zeichen dieser Entfernungen und der ihnen entsprechenden wirklichen Gr\u00f6fsen werden. Sie mufsten dazu werden, soweit sie es geworden sind, in indirekter Weise, d. h. nach Analogie der Zeichen f\u00fcr relativ geringe Entfernungen und entsprechende Gr\u00f6fsen und Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse. Diese Analogie nimmt aber notwendig an Sicherheit ab, in dem Mafse, als die Entfernungen wachsen.\nSo haben wir denn auch in der That, wenn jetzt ein Mensch 6 m, ein anderer 3 m von uns entfernt steht, von dem EntfernungsVerh\u00e4ltnis ein unmittelbares Bewufstsein oder einen unmittelbaren Eindruck. Und damit ist von selbst der unmittelbare Eindruck ihres wahren Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisses gegeben. Dagegen bleibt der unmittelbare Eindruck der Entfernung vom Auge und des Entfernungsunterschiedes hinter der Wirklichkeit um so weiter zur\u00fcck, je gr\u00f6fser beides in Wirklichkeit ist; und eben damit bleibt zugleich der Eindruck der wirklichen Gr\u00f6fse und des wirklichen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisses entsprechend hinter der Wirklichkeit zur\u00fcck. Niemand wundert sich dar\u00fcber und niemand macht daf\u00fcr Gesetze der Augenbewegungen im W\u00fcNDTschen Sinne verantwortlich. Niemand beruft sich insbesondere auf Gesetze der Augenbewegungen f\u00fcr die Thatsache, dafs der Mond uns nicht so weit entfernt und so grofs erscheint, wie er ist, dafs uns die Differenz zwischen der Entfernung des Mondes und der Entfernung einer Wolke oder zwischen der Entfernung einer Wolke und der eines nahestehenden Baumes verringert erscheint. Dann sollte man es doch auch unterlassen, diese Gesetze der Augenbewegung heranzuziehen in v\u00f6llig gleichartigen F\u00e4llen, insbesondere bei der scheinbaren Kr\u00fcmmung langgestreckter gerader Linien. Auch hier wachsen die Entfernungen und Entfernungsunterschiede. Auch hier m\u00fcssen die gr\u00f6fseren Entfernungen und Entfernungsunterschiede untersch\u00e4tzt werden. Untersch\u00e4tze ich aber die Entfernung des \u00e4ufsersten Endes einer geraden Linie im Vergleich mit der Entfernung n\u00e4her gelegener Punkte, so heifst dies doch wohl, dafs ich die gerade Linie an ihrem Ende gegen das Auge hergekr\u00fcmmt zu sehen meine.\nBei geraden Linien \u2014 oder Fl\u00e4chen \u2014, die sich irgendwie seitlich vom Auge weg erstrecken, l\u00e4fst sich schliefslich f\u00fcr die","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Die Raumanschauung und die Augenbewegungen.\n155\nUnsicherheit des Bewufstseins der Tiefen- und wirklichen Gr\u00f6fsen-verh\u00e4ltnisse noch ein besonderer Grund hinzuf\u00fcgen. Je weiter sie sich seitlich erstrecken, um so spitzer ist der Winkel, den sie mit der Blicklinie einschliefsen. Wir pflegen aber Linien und Fl\u00e4chen, bei denen uns an der Erkenntnis ihrer Lage zum Auge und ihrer wirklichen Gr\u00f6fsenverli\u00e4ltnisse gelegen ist, nicht in allzu spitzem Winkel zu betrachten. Wir vermeiden dies eben darum, weil der Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit bei solcher spitzwinkligen Betrachtung sich versch\u00e4rft, also die Erkenntnis der wirklichen Lage und Gr\u00f6fsen-verh\u00e4ltnisse sich erschwert. Es geschieht darnach relativ selten, dafs wir die wahrgenommenen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse von Linien und Fl\u00e4chen, die zur Blicklinie in sehr spitzem Winkel geneigt sind, in die wirklichen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse \u00fcbersetzen. Die Folge ist, dafs wir auf solche \u00dcbersetzung in geringerem Mafse einge\u00fcbt sind, also sie mit geringer Sicherheit vollziehen, dafs demnach der Zwang der Wahrnehmung, der hier ohnehin schon die Sch\u00e4tzung der wirklichen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse st\u00e4rker als sonst beeintr\u00e4chtigt, noch mehr Gewalt gewinnt.\nWenden wir uns jetzt zu den besonderen, den Schein der Kr\u00fcmmung betreffenden Fragen, die wir im bisherigen offengelassen haben. Zun\u00e4chst, was die in der Mitte fixierte Gerade angeht. Dem Bewufstsein der Geradlinigkeit stehen hier wie \u00fcberall entgegen die wahrgenommenen Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse. Angenommen nun, wir betrachten eine solche gerade Linie v\u00f6llig f\u00fcr sich, d. h. ohne sie in Gedanken auf irgend etwas aufser ihr zu beziehen. Dann kommen nur die Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse innerhalb der Linie selbst, also die Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse ihrer Teile in Betracht. Die Wahrnehmung dieser Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse steht zur Wirklickeit im Gegensatz, und dieser Gegensatz mufs \u00fcberwunden werden, wenn das Bewufstsein der Geradlinigkeit entstehen soll. Dieser Gegensatz aber ist ein geringer bei k\u00fcrzeren geraden Linien. Er besitzt in jedem Falle, da die Teile nicht abgegrenzt gegeben sind, sondern ineinander fliefsen, keine allzu grofse Aufdringlichkeit. Ist die Linie eine l\u00e4ngere, so vermindert aufserdem das indirekte Sehen zun\u00e4chst zw'ar die Sicherheit des Tiefenbewufstseins, zugleich aber auch die Bestimmtheit der Wahrnehmung. Und soweit dies letztere der Fall ist, kommt dann auch noch ein Umstand in Betracht, der sonst aufserhalb unserer Betrachtung liegt, der","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nTh. Lipps.\nUmstand n\u00e4mlich, dafs die gerade Linie \u2014 nicht aus optischen Gr\u00fcnden, sondern an sich einen Vorzug hat, dafs wir sie als die zwischen entgegengesetzten M\u00f6glichkeiten in der Mitte stehende, darum der Vorstellung n\u00e4chstliegende oder nat\u00fcrlichste, aufserdem uns gel\u00e4ufigste anzunehmen von vornherein in gewissem Mafse geneigt sind.\nSo scheint es mir denn nicht verwunderlich, wenn die in der Mitte fixierte gerade Linie unter der angegebenen Voraussetzung keinen bestimmten Eindruck der Kr\u00fcmmung macht. Ja wir k\u00f6nnen es verstehen, dafs es gelingt, auch solche Linien, die keine Geraden sind, aber auch gegen die Deutung als Gerade nicht allzu energischen Protest erheben, so etwa die Verbindungslinie mehrerer einem gr\u00f6bsten Kreis des Himmelsgew\u00f6lbes angeh\u00f6riger Sterne, unter der gleichen Voraussetzung als gerade Linien zu betrachten. Wir thun es, so k\u00f6nnte man kurz sagen, weil diese Annahme die einfachste ist.\nAnders verh\u00e4lt sich nun aber die Sache, wenn es einen Punkt aufserhalb der geraden Linie giebt, auf den ich die Linie beziehen und an dem ich ihre Form messen kann. Nicht nur die Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse in der Linie selbst, sondern die Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse der Abst\u00e4nde jenes Punktes von den Punkten der Linie sind dann die Tr\u00e4ger des Gegensatzes zwischen der Wahrnehmung und dem Bewufstsein der Geradlinigkeit. Diese Abst\u00e4nde sind nebeneinander bestehende, in sich abgegrenzte, untereinander vergleichbare. Gewifs mufs der Gegensatz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, der hier sich geltend macht, eben deswegen als der wirkungsvollere gedacht werden, so dafs es kein Wunder ist, wenn uns die Kr\u00fcmmung der geraden Linie vorzugsweise, sofern sie Kr\u00fcmmung gegen einen solchen Punkt ist, sich auf dr\u00e4ngt, und die Kr\u00fcmmung gegen das Auge, als solche, oder abgesehen davon, dahinter zur\u00fccktritt.\nDamit gelangen wir aber zu der oben bezeichneten Schwierigkeit zur\u00fcck. Die Kr\u00fcmmung gegen das Auge hin, so sahen wir, ist ebensowohl eine Kr\u00fcmmung nach oben wie nach unten, oder ebensowohl eine Kr\u00fcmmung nach rechts wie nach links. Sie scheint darnach jedesmal weder das Eine noch das Andere sein zu k\u00f6nnen. Diese Schwierigkeit nun l\u00f6st sich, wenn wir bedenken, dafs es sich hier nicht um eine wirkliche Kr\u00fcmmung, sondern um den Eindruck einer solchen handelt,","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Die Baumanschauung und die Augenbewegimgen.\n157\ndafs es also darauf ankommt, ob ein Punkt da ist, an welchem wir die Kr\u00fcmmung nicht nur messen k\u00f6nnen, sondern thats\u00e4ch-licher- und nat\u00fcrlicherweise messen. Als Kr\u00fcmmung nach diesem Punkte hin wird uns die Kr\u00fcmmung gegen das Auge erscheinen m\u00fcssen und einzig erscheinen k\u00f6nnen.\nDieser Punkt nun kann in einem gegebenen Falle kein anderer sein, als derjenige, mit Bezug auf den wir \u00fcberhaupt unter den obwaltenden Umst\u00e4nden die Lage von Punkten im R\u00e4ume bestimmen. Und ein solcher Punkt besteht jederzeit, wenn er auch nicht immer gleich eindeutig bestimmt ist. Wir k\u00f6nnen ihn kurz bezeichnen als den Mittelpunkt f\u00fcr unsere Betrachtung der Teile des Raumes und unsere Bestimmung der Lage derselben. Es ist der Punkt, der weder rechts noch links, weder oben noch unten hegt, weil von ihm aus das Rechts, Links, Oben, Unten sich bemifst.\nDieser Raummittelpunkt ist aber nicht immer derselbe. Einen nat\u00fcrlichen Anspruch, als solcher zu fungieren, hat zun\u00e4chst ohne Zweifel der Punkt, den wir bei beliebiger Kopfhaltung in nat\u00fcrlichster und ungezwungenster Stellung der Augen fixieren, also der \u201eHauptblickpunkt\u201c. Dafs dieser Punkt wirklich zugleich als Mittelpunkt der scheinbaren Kr\u00fcmmungen gerader Linien fungiert, davon \u00fcberzeugen wir uns leicht. Ich betrachte in der Nacht vom Fenster meiner Wohnung aus in direktem Sehen eine gerade Reihe von Grasflammen, die sich mir gegen\u00fcber auf der anderen Seite der breiten Strafse befindet. Ich thu6 dies zun\u00e4chst so, dafs der Hauptblickpunkt in die Mitte der Lichtlinie f\u00e4llt. Bei dieser Art der Betrachtung erscheine mir die Lichtlinie wirklich als eine gerade. Nun hebe ich den Kopf, r\u00fccke also den Hauptblickpunkt nach oben. Durchlaufe ich nun die Lichtlinie mit dem gewaltsam abw\u00e4rts gekehrten Blick, so scheint sie mir deutlich nach oben konkav. Sie erscheint mir ebenso nach unten konkav, wenn ich den Kopf senke und mit gewaltsam gehobenem Blick die Lichtlinie fixierend durchlaufe. Der Erfolg ist derselbe, als wenn ich jedesmal den Hauptblickpunkt zum Fixationspunkt machte, und so die Lichtlinie indirekt betrachtete. Die Kr\u00fcmmung erscheint nur bei der indirekten Betrachtung st\u00e4rker, \u2022\u2014 soweit ich n\u00e4mlich \u00fcberhaupt die Lichtlinie indirekt zu betrachten vermag.\nAber nicht unter allen Umst\u00e4nden ergiebt sich ein solcher","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nTh. Lipps.\nErfolg. Der ganze eben bezeicbnete Sachverhalt wird ein anderer, wenn ich auf die Strafse herabsteige und mich in gen\u00fcgende N\u00e4he der Laternen, also unter einer der Gasflammen aufstelle. Jetzt scheint mir bei ungezwungenster Betrachtung die Reihe der Flammen nicht mehr in gerader Linie sich zu erstrecken, sondern nach beiden Seiten herabzusinken, und dabei bleibt es, selbst wenn ich meinen Kopf \u2014 nicht allzu hoch \u2014 erhebe und mit abw\u00e4rts gewandtem Blick die Reihe durchlaufe. \u00c4hnliches gilt, wenn ich ein lang gestrecktes eisernes Gitter, dessen vertikale St\u00e4be durch eine fortlaufende horizontale Stablinie \u00fcber und eine ebensolche unter der H\u00f6he der Augen verbunden sind, aus gen\u00fcgender N\u00e4he betrachte. Auch hier scheint die obere Stablinie nach den Enden zu abw\u00e4rts gekr\u00fcmmt, nicht blofs, wenn ich einen Punkt der Mitte zwischen beiden horizontalen Linien, sondern auch wenn ich einen h\u00f6her gelegenen Punkt zum Hauptblickpunkt mache. Ich mufs den Kopf schon ziemlich hoch erheben, wenn es mir gelingen soll, die Kr\u00fcmmung der Enden nach unten in eine solche nach oben Umschlagen zu lassen. Andererseits erscheint mir die untere Stablinie, auch wenn ich einen Punkt derselben zum Hauptblickpunkt mache, nach oben konkav. Endlich habe ich, wenn ich auf einer breiten und geraden Strafse stehe und nach beiden Seiten die Strafse entlang blicke, den deutlichen Eindruck, dafs die Begrenzungslinien \u2014 bei einer Allee die Baumreihen \u2014 sich nach beiden Seiten wechselseitig einander n\u00e4hern, also im ganzen zu einander konkav sind ; und wiederum ist es dabei relativ gleichg\u00fcltig, wo mein Hauptblickpunkt sich befinden mag. Gleichzeitig scheint mir die Strafse deutlich nach beiden Seiten anzusteigen, also im ganzen nach oben konkav.\nWir schliefsen aus solchen Thatsachen, dafs der Hauptblickpunkt zwar der Mittelpunkt unserer Raumbestimmungen sein kann, aber nicht zu sein braucht. Dies leuchtet aber auch ohnehin ein. Der Hauptblickpunkt ist ein nat\u00fcrlicher, aber nur subjektiver, idealer Mittelpunkt unserer Raumbetrachtung. Mit ihm tritt bald mehr bald weniger in Wettstreit der objektive oder reale d. h. durch reale r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse bedingte Mittelpunkt der Raumbetrachtung. Derselbe ist wiederum doppelter Art: Er ist bestimmt durch meine reale Stellung zu Objekten, oder durch das Verh\u00e4ltnis der Objekte bezw. ihrer Teile zu einander. Die Reihe von Gasflammen, vor der ich","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bamnanschauung und die Augenbewegungen.\n159\nunmittelbar stehe, tritt zu mir d. h. zu meinem K\u00f6rper und speziell meinem Auge in bestimmte reale Beziehung. Mag sie unter dem Hauptblickpunkt sein oder nicht, in jedem Falle ist sie \u00fcber mir, also ihre Kr\u00fcmmung gegen mich her eine Kr\u00fcmmung nach unten. Dabei kommt offenbar nicht blofs die N\u00e4he in Betracht, sondern zugleich der Umstand, dafs die Fufsbodenebene, d. h. der Boden der Strafse, auf dem ich stehe, und \u00fcber dem sich die Reihe der Flammen hinzieht, ein direktes, f\u00fchlbares, zugleich in besonderem Mafse gel\u00e4ufiges Verbindungsglied bildet f\u00fcr die Herstellung jener gedanklichen Beziehung zwischen der Flammenreihe und meinem K\u00f6rper.\nDagegen beziehe ich die weiter entfernte und von einem dem Erdboden entr\u00fcckten Standorte aus betrachtete Lichtlinie nicht in solcher Weise k\u00f6rperlich auf mich. Jenes k\u00f6rperliche Oben und Unten ist wegen der gr\u00f6fseren Entfernung, und weil die unmittelbare Verbindung durch den Erdboden fehlt, f\u00fcr mich relativ aufgehoben. An die Stelle des realen Standortes tritt der ideale d. h. eben der Hauptblickpunkt. In ihn versetze ich mich, mich selbst oder den Ort, wo ich stehe, relativ vergessend oder aufser acht lassend, um von dort aus die Form der Linie zu bemessen. \u2014 So sagt es mir nicht irgendwelche Reflexion, sondern mein unmittelbarer Eindruck.\nWiederum anders verh\u00e4lt es sich bei dem Gitter und der Strafse. Sie sind einheitliche Objekte und haben als solche ihren realen Mittelpunkt in sich selbst. Indem ich sie als solche erkenne, anerkenne ich zugleich in meiner Betrachtung diesen Mittelpunkt, beziehe also die Teile auf ihn und bemesse ihre Form mit R\u00fccksicht darauf. Ich mufs ihren realen Mittelpunkt geflissentlich aufser acht lassen, wenn es mir gelingen soll, den Hauptblickpunkt zum Mittelpunkt f\u00fcr die Bemessung oder Beurteilung der Kr\u00fcmmung zu machen. Freilich lasse ich ihn aber um so leichter aufser acht, je mehr ich ihn aus dem \u201eAuge\u201c verliere, und dies geschieht, wenn ich den Hauptblickpunkt gen\u00fcgend weit entferne.\nSo ist der Mittelpunkt f\u00fcr die Betrachtung der Objekte und die Bemessung ihrer Lage und Form ein sehr ver\u00e4nderlicher Punkt und eben damit das Bewufstsein der Kr\u00fcmmung ein sehr wechselndes. Es ist in jedem Falle bedingt \u2014 nicht durch Gesetze der Augenbewegung, sondern durch meine Art der Auffassung. Schliefslich kann ich es dahin bringen, dafs","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nTh. Lipps.\nmir dieselbe Linie von demselben Standort aus nacheinander nach oben, nach unten, und weder nach oben noch nach unten gekr\u00fcmmt erscheint. Mehrere einem gr\u00f6bsten Kreise des Himmelsgew\u00f6lbes angeh\u00f6rige Sterne erscheinen mir, wie ich oben sagte, in einer geraden Linie, wenn ich einen derselben fixiere und die Leihe nach M\u00f6glichkeit f\u00fcr sich betrachte. Das Letztere wird vorzugsweise dann gelingen, wenn der fixierte Punkt zugleich Hauptblickpunkt ist. Beim Schein der Geradlinigkeit nun bleibt es auch, wenn ich mit Pesthaltung des Hauptblickpunktes die Sterne nacheinander fixiere. Ich kann aber den Schein der Geradlinigkeit auch aufheben, vor allem wenn die Linie eine recht lange ist. Ich brauche nur mir meine Stellung auf dem Erdboden, die Oberfl\u00e4che der Erde, den Horizont recht deutlich zu vergegenw\u00e4rtigen und die Sternenreihe darauf zu beziehen; und sie erscheint mir nach unten konkav. Sie erscheint mir nach oben konkav, wenn ich dies alles vergesse und meine Aufmerksamkeit auf den Zenith richte, in ihn mich versetze oder \u201everliere\u201c und darauf die Sternenreihe beziehe. \u2014 Nat\u00fcrlich ist hierbei eine mittlere Lage der Sterne zwischen Horizont und Zenith vorausgesetzt.\nIII. Tiefen- und Gr\u00f6fsensch\u00e4tzungen.\nDer Schein der Kr\u00fcmmung gerader Linien ist ein spezieller Pall der Untersch\u00e4tzung grofser Tiefen und Tiefenunterschiede. Lediglich ein St\u00fcck dieses Scheins ist die scheinbare Verschiebung des Papierstreifens, von der oben die Rede war. Dasselbe kann auch gesagt werden von den T\u00e4uschungen \u00fcber die Lage und Gr\u00f6fse von Fl\u00e4chen, die wir unter sehr spitzem Winkel betrachten. Betrachte ich ein Rechteck, dessen l\u00e4ngere Seiten sich von mir hinweg erstrecken, also im Sehfeld vertikal liegen, in immer spitzerem Winkel, so scheint sich seine vertikale Ausdehnung mehr und mehr zusammenzuschieben. Es wird f\u00fcr meinen unmittelbaren Eindruck zum Quadrat, dann zu einem Rechteck mit verh\u00e4ltnism\u00e4fsig immer gr\u00f6fserer Breitenausdehnung. Das letzte Ende ist, dafs es als einfache horizontale Linie sich darstellt. In diese Linie aber geht es allm\u00e4hlich \u00fcber, also so, dafs es alle Zwischenstufen der scheinbaren vertikalen Ausdehnung durchl\u00e4uft. Diese st\u00e4rkere und st\u00e4rkere Untersch\u00e4tzung der vertikalen Ausdehnung ist eine nat\u00fcrliche Folge der st\u00e4rkeren und st\u00e4rkeren Untersch\u00e4tzung des Tiefenunterschiedes","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Die Raumanschauung und die Augenbewegungen.\n161\nder dem Auge n\u00e4heren und der von ihm entfernteren Punkte. Dafs eine solche Untersch\u00e4tzung stattfindet, beobachten wir auch unmittelbar. Liegt das Rechteck horizontal, ist es etwa das Rechteck einer Tischplatte oder eines auf dem Tische liegenden Buches, so scheint es bei gen\u00fcgend schr\u00e4ger Betrachtung nicht mehr horizontal zu liegen, sondern von mir hinweg anzusteigen. In der That mufs das Rechteck ansteigen, wenn der Unterschied zwischen der Entfernung des vorderen und hinteren Randes der Tischplatte oder des Buches sich vermindert.\nHier ist nun auch der Ort, wo wir das scheinbare Ansteigen der Eufsbodenebene gegen den Horizont hin erw\u00e4hnen k\u00f6nnen. Wundt erkl\u00e4rt dasselbe daraus, dafs wir den Blick \u201eheben\u201c, wenn wir die Pufsbodenebene in dieser Richtung durchmessen. Hierbei tritt uns noch einmal das Bedenkliche der Augenbewegungstheorie deutlich entgegen. Wie die gr\u00f6bsten Kreise, die der Blickpunkt beschreibt, so ist auch die Hebung des Blickes ein leerer Begriff, wenn wir nicht, was dadurch erkl\u00e4rt werden soll, bereits voraussetzen. An sich betrachtet, ist diese Hebung nichts als eine besondere Art der Augendrehung, die ebensowohl als Hebung wie als Senkung bezeichnet werden kann, weil sie in Wirklichkeit keines von beiden ist. Sie besteht f\u00fcr unser Bewufstsein in qualitativ eigenartigen Muskel- und Tastempfindungen, die, an sich ohne Beziehung zum Gesichtsraum, erst auf Grund der Erfahrung eine solche gewinnen k\u00f6nnen. Die Augendrehung, die wir als Blickhebung bezeichnen, wird f\u00fcr uns eine solche, wenn wir wissen, dafs Objekte, \u00fcber die der Blick bei dieser Drehung hingeht, ansteigen oder sich \u201eerheben\u201c. Davon abgesehen, hat der Name keinen irgend angebbaren Sinn.\nVielleicht aber nimmt Wundt an, die fragliche Drehung des Auges habe ihre Beziehung zum Gesichtsraum f\u00fcr uns schon gewonnen, sei also schon als Blickhebung erkannt, nur auf Grund der Betrachtung anderer Objekte. Wir haben, so f\u00fchre ich diesen Gedanken n\u00e4her aus, aufgerichtete und als aufgerichtet erkannte Gegenst\u00e4nde zum \u00f6fteren fixierend durchlaufen und dabei mit der betreffenden Augendrehung die Vorstellung der aufrechten Lage verkn\u00fcpft. Nachdem diese Vorstellungsverkn\u00fcpfung einmal da ist, wirkt sie auch bei Betrachtung thats\u00e4chlich horizontaler Fl\u00e4chen und l\u00e4fst sie uns der aufgerichteten Lage wenigstens angen\u00e4hert erscheinen.\nZeitschrift fiir Psychologie III.\t11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nTh. Lipps.\nIndessen diese Wendung w\u00fcrde die Saclie nicht bessern. Es bliebe auch liier die Frage, wie es denn komme, dafs wir nicht alle Fl\u00e4chen, zu deren Durchmessung eine \u201eBlickhebung\u201c erforderlich ist, d. h. schliefsllch alle Fl\u00e4chen \u00fcberhaupt, als ansteigend betrachten. Warum etwa scheint die Tischplatte, die ich von oben betrachte, als rein horizontal, auch in der Bichtung, in der ich sie verm\u00f6ge genau derselben Bewegung des Auges betrachte, die zur Betrachtung der Fufsbodenebene erforderlich ist? Und \u201ehebe\u201c ich denn nicht auch den Blick, wenn ich auf einem Turme stehend den Blick an den W\u00e4nden des Turmes \u201eheruntergleiten\u201c lasse. Hier bezeichne ich die \u201eHebung\u201c als ein \u201eHeruntergleiten\u201c ; gewifs darum, weil ich weifs, dafs das vom Blick durchlaufene Objekt von oben nach unten sich erstreckt. Nun, genau in derselben Weise kommen wir dazu, in anderen F\u00e4llen genau dieselbe Bewegung als Blickhebung zu bezeichnen. Darnach ist kein Zweifel: die Augenbewegungstheorie vollzieht auch hier die f\u00fcr sie charakteristische Kreisbewegung : das Ansteigen der Fufsbodenebene beruht darauf, dafs die Fufsbodenebene ansteigt. Die Augenbewegung thut hier, wie sonst, nichts zur Sache.\nDagegen ist f\u00fcr uns das scheinbare Ansteigen der Fufsbodenebene wiederum eine selbstverst\u00e4ndliche Folge der Untersch\u00e4tzung von Tiefen und Tiefenunterschieden. Nicht die n\u00e4chsten, wohl aber die entferntesten Teile der Fufsbodenebene werden unter sehr spitzem Winkel betrachtet. Dazu kommt die absolute Gr\u00f6fse der Entfernung der entferntesten Punkte vom Auge. Zum mindesten die Untersch\u00e4tzung dieser Entfernungen giebt doch wohl jeder zu. Damit ist aber der Schein des Ansteigens der Fufsbodenebene immittelbar gegeben.\nZum \u00dcberflufs wird unsere Anschauung noch dadurch best\u00e4tigt, dafs der Schein des Ansteigens sich verst\u00e4rkt, wenn man die Fufsbodenebene von erh\u00f6htem Standort, etwa von einem niedrigen H\u00fcgel aus betrachtet. Vor allem bei Wegen, die in der Fufsbodenebene vom Beschauer sich hinwegerstrecken, ist der Eindruck ein deutlicher. Dies nun hat offenbar seinen Grund darin, dafs von solchem Standort aus dem auf die ferneren Teile der Ebene gerichteten Blick die in der N\u00e4he befindlichen Teile und Objekte der Fufsbodenebene in h\u00f6herem Mafso entr\u00fcckt sind, der Blick also freier durch den leeren Kaum geht. Solchem frei durch den leeren Baum gehenden Blick","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Die Raumanschauung und die Augenbewegungen.\n163\nerscheinen aber, wie wir wissen, Entfernungen geringer, als sie dem Blick erscheinen, der auf seinem Wege allerlei hinsichtlich ihrer Gr\u00f6fse bekannte Gegenst\u00e4nde streift. Und wir begreifen, warum es so sein mufs. Eben dafs die zwischen dem Auge und dem entfernten Punkte befindlichen Gegenst\u00e4nde ihrer Gr\u00f6fse nach bekannt sind, verhindert, dafs die Entfernung f\u00fcr unsere Sch\u00e4tzung allzusehr zusammenschrumpft. Es ist dies der Grund, warum uns der Mond im Zenith n\u00e4her erscheint, als im Horizont. Kein anderer Grund besteht f\u00fcr das scheinbar st\u00e4rkere Ansteigen der Fufsbodenebene bei der Betrachtung von h\u00f6herem Standort.\nAnalog wie mit horizontalen, verh\u00e4lt sich es nun auch mit vertikalen Fl\u00e4chen. Auch die sehr hohe vertikale Turmwand, die ich von unten aus betrachte, n\u00e4hert sich in ihren oberen Teilen scheinbar dem Auge, macht also den Eindruck des \u00dcberh\u00e4ngens. Da hier eine besonders starke \u201eBlickhebunga erforderlich ist, so m\u00fcfste der Augenbewegungstheorie zufolge vielmehr der Eindruck des sich Aufrichtens besonders stark sein.\nEndlich geh\u00f6rt hierher eine Gattung optischer T\u00e4uschungen, auf die M\u00fcnsterberg aufmerksam macht, und an deren Existenz ich nach eigenen Versuchen nicht zweifeln kann. Wenn ich zwei zur Medianebene des Kopfes symmetrisch gelagerte Horizontallinien von nicht zu geringer L\u00e4nge vor mir habe und bei ruhiger Kopfhaltung bald mit dem einen, bald mit dem anderen Auge betrachte \u2014 nat\u00fcrlich aus einer Entfernung, aus der ich \u00fcberhaupt l\u00e4ngere Linien in solcher Weise betrachten kann \u2014, so finde ich, dafs ich bei Betrachtung mit dem rechten Auge die linksliegende, bei Betrachtung mit dem linken die rechtsliegende der beiden Linien untersch\u00e4tze. M\u00fcntserberg erkl\u00e4rt dies Ph\u00e4nomen mit weiterer Ausbildung der W\u00fcNDTschen Theorie durch eine eigens zu dem Zweck angenommene, im \u00fcbrigen noch nicht n\u00e4her bekannt gewordene \u201eSynergie\u201c beider Augen. Da auch M\u00fcnsterberg dieselbe nicht n\u00e4her zu beschreiben weifs, so ist sie \u2014 ein Wort. Eine wirkliche Erkl\u00e4rung ergiebt sich leicht, wenn ich eine der beiden Linien, also die linke oder rechte, abwechselnd mit dem linken und rechten Auge betrachte. Noch besser ist es, wenn ich die Linien durch Fl\u00e4chen ersetze. Ich betrachte etwa zwei an der Wand h\u00e4ngende und sich deutlich von der Wand abhebende Bilder, die so weit voneinander entfernt sind, dafs ich, vor der\n11*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nTh. Tipps.\nMitte derselben stehend, eben noch ohne Bewegung des Kopfes das linke mit dem rechten, das rechte mit dem linken Auge \u00fcbersehen kann. Ich finde dann, ebenso wie andere, dafs die Fl\u00e4che des linken Bildes bei rechts\u00e4ugiger Betrachtung nicht nur deutlich schm\u00e4ler erscheint, sondern zugleich in sehr auffallender Weise mit ihrem vom Auge entfernteren Kande aus der Ebene der Wand herauszutreten, also sich schr\u00e4g zu stellen scheint. Die Fl\u00e4che tritt wiederum relativ in die Ebene der Wand zur\u00fcck und wird zugleich breiter, wenn ich sie gleich daraui mit dem linken Auge betrachte. Dasselbe beobachte ich beim rechten Bilde, wenn ich es erst mit dem linken, dann mit dem rechten Auge betrachte.\nDarnach liegen auch hier verschiedene Sch\u00e4tzungen von Tiefenunterschieden vor. Mit ihnen sind wiederum die verschiedenen Gr\u00f6fsensch\u00e4tzungen ohne weiteres gegeben. Ich untersch\u00e4tze die Unterschiede der Tiefe oder Entfernung vom Auge bei Betrachtung der Bildfl\u00e4che mit dem von ihm entfernteren Auge, oder, was unter Umst\u00e4nden das Bichtigere ist, ich untersch\u00e4tze sie in h\u00f6herem Grade, als bei Betrachtung mit dem n\u00e4heren Auge; damit untersch\u00e4tze ich zugleich die zugeh\u00f6rige Gr\u00f6fse. Ich untersch\u00e4tze aber den Tiefenunterschied, weil die Betrachtung mit dem entfernteren Auge unter spitzerem Winkel und unter der gemachten Voraussetzung unter sehr spitzem Winkel geschieht. Hinzukommen wird noch der Umstand, dafs sich uns bei doppel\u00e4ugiger Betrachtung stark seitlicher oder stark nach der Seite sich erstreckender Distanzen gewifs vorzugsweise das Gesichtsbild des n\u00e4heren Auges aufdr\u00e4ngt, also vorzugsweise dies Gesichtsbild f\u00fcr unsere Sch\u00e4tzung der wirklichen Lage und Gr\u00f6fse den Ausgangspunkt bildet. Dann k\u00e4me f\u00fcr jene Untersch\u00e4tzung das Prinzip der geringeren Ein\u00fcbung noch in besonderer Weise in Frage.\nDas Prinzip der \u201egeringeren Ein\u00fcbung\u201c, oder das Prinzip, demzufolge wir die durch die Erfahrung geforderte Deutung und Umdeutung des Wahrnehmungsbildes um so unvollkommener vollziehen, je weniger wir darauf einge\u00fcbt sind, bildet, so weit-tragend es nach dem Bisherigen ist, doch nur die eine Seite eines allgemeineren Prinzips. Die andere Seite ist gegeben in dem Prinzip, das von Helmholtz aufgestellt und allgemein mit dem Kamen der \u201eGewohnheiten des Sehens\u201c bezeichnet hat. In der Abhandlung \u00fcber die \u00e4sthetischen Faktoren der Baum-","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Die Raumanschauung und die Augenbewegungen.\n165\nanschauung Habe icb dies letztere Prinzip so formuliert: \u201eSind wir in \u00fcberwiegend vielen F\u00e4llen durch die Erfahrung gen\u00f6tigt gewesen, \u00fcber eine wahrgenommene Raumform ein bestimmtes Urteil zu f\u00e4llen, etwa die Gr\u00f6fse eines Gesichtsbildes auf bestimmte Weise in die wirkliche Gr\u00f6fse des gesehenen Objektes zu \u00fcbersetzen, so sind wir geneigt, dies Urteil oder diese Art der \u00dcbersetzung auch auf solche analoge F\u00e4lle zu \u00fcbertragen, in denen die besonderen Gr\u00fcnde, die in jenen F\u00e4llen das Urteil veranlafsten und rechtfertigten, nicht statthaben, das Urteil also ein irriges ist.\u201c\nGem\u00e4fs dieser Formulierung k\u00f6nnten wir das Prinzip auch als Prinzip der \u00dcbertragung gewohnter Deutungen unserer Gesichtswahrnehmungen bezeichnen. Wie gesagt, bildet es nur die andere Seite des Prinzips, demzufolge ungewohnte Umdeutungen eines Wahrnehmungsbildes hinter der Wirklichkeit Zur\u00fcckbleiben. Beide liefsen sich zusammenfassen in ein Prinzip der gewohnheitsm\u00e4fsigen mittleren Deutung oder Sch\u00e4tzung. Darin w\u00e4re das Zur\u00fcckbleiben hinter dem, was in einem gegebenen Falle von der Wirklichkeit gefordert ist, und das Dar\u00fcberhinausgehen zugleich enthalten.\nDem bezeichneten Verh\u00e4ltnis der beiden Prinzipien entspricht es, dafs den Untersch\u00e4tzungen, von denen wir her-kommen, jedesmal eine \u00dcbersch\u00e4tzung gegen\u00fcbersteht. Es sind beide Male Gr\u00f6fsen derselben Art, nur die Bedingungen der erfahrungsgem\u00e4fsen Sch\u00e4tzung oder Beurteilung sind andere geworden. Ich denke hier vor allem an die schon von v. Helmholtz angef\u00fchrten, aufserdem an einen von mir hinzugef\u00fcgten, endlich an einen Fall, den neuerdings M\u00fcnsterberg festgestellt hat. \u2014 F\u00fcr die Augenbewegungstheorie bezeichnet jenes Nebeneinander von Untersch\u00e4tzung und \u00dcbersch\u00e4tzung einen unl\u00f6sbaren Widerspruch. Sie hat denn auch nicht einmal den Versuch gemacht, ihn zu l\u00f6sen.\nWir sahen zuletzt, dafs linke horizontale Distanzen bei rechts\u00e4ugiger, rechte bei links\u00e4ugiger Betrachtung untersch\u00e4tzt werden. Bedingung war, dafs die Distanzen gen\u00fcgend weit seitlich sich erstreckten. Heben wir die Bedingung auf, betrachten also kleinere und unmittelbar nebeneinander liegende Strecken, am besten die H\u00e4lften einer nicht zu grofsen horizontalen Linie, abwechselnd mit dem linken und rechten Auge, so verschwindet bekannten Untersuchungen zufolge jene Unter-","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nTh. Lipps.\nSch\u00e4tzung nicht nur, sondern schl\u00e4gt in \u00dcbersch\u00e4tzung um. Welches das Moment ist, das diese entgegengesetzte Wirkung hervorhringt, hat von Helmholtz gen\u00fcgend deutlich gesagt. Das rechte Auge pflegt die linke H\u00e4lfte horizontaler Linien aus gr\u00f6fserer Entfernung, also kleiner zu sehen, als das linke Auge. Wir deuten aber im doppel\u00e4ugigen Sehen beide Gesichts-bilder auf ein einziges Objekt, vergr\u00f6fsern also in Gedanken das Gesichtsbild, welches das rechte Auge von der linken H\u00e4lfte der Linie gewinnt, im Vergleich mit dem links\u00e4ugigen Gesichtsbild derselben H\u00e4lfte. Ebenso vergr\u00f6fsern wir das links\u00e4ugige Ge-sichtsbild der rechten H\u00e4lfte im Vergleich mit dem rechts\u00e4ugigen Gesichtsbild der gleichen H\u00e4lfte. Indem wir beides immer und immer wieder thun, bildet sich eine entsprechende Gewohnheit aus. Diese Gewohnheit kommt dann auch bei ausnahmsweiser ein\u00e4ugiger Betrachtung zur Geltung. Die optische T\u00e4uschung, von der wir reden, beruht also auf ge-wohnheitsm\u00e4fsiger \u00dcbertragung oder Festhaltung des im doppel\u00e4ugigen Sehen gewonnenen und einge\u00fcbten Gr\u00f6fsenurteils auf das ein\u00e4ugige Sehen.\nEbenso und aus v\u00f6llig gleichartigem Grunde wird die Untersch\u00e4tzung grofser oder unter sehr spitzem Winkel betrachteter vertikaler, ich meine im Sehfeld vertikaler Distanzen, zur \u00dcbersch\u00e4tzung, wenn diese Bedingungen wegfallen. Wir untersch\u00e4tzen die H\u00f6he \u2014 nicht eines sehr grofsen oder sehr stark geneigten, wohl aber eines kleinen und in gew\u00f6hnlicher Weise betrachteten Quadrats. Ich erinnere auch hier wiederum an von Helmholtz\u2019 oder die im Prinzip damit \u00fcbereinstimmende Erkl\u00e4rung meiner \u201eGrundthatsachen des Seelenlebens\u201c: Die Oberfl\u00e4che von Dingen, die wir betrachten, die Tischplatte vor mir, die Teile der Fufsbodenebene, Bilder an der Wand u. dgl. sind in \u00fcberwiegend vielen F\u00e4llen zum Blick so geneigt, dafs sie sich in ihrer vertikalen Ausdehnung, also in der Richtung der \u201eBlickhebung\u201c dem Auge st\u00e4rker verk\u00fcrzt darstellen, als in ihrer Breitenausdehnung. Wir m\u00fcssen sie also, um ihre wahren Gr\u00f6fsenverb\u00e4ltnisse zu erkennen, in Gedanken in dieser Richtung st\u00e4rker vergr\u00f6fsern. Es ist verst\u00e4ndlich, wie daraus allgemein die Neigung einer st\u00e4rkeren gedanklichen Vergr\u00f6fse-rung vertikaler Distanzen sich ergeben kann.\nMit beiden genannten F\u00e4llen sind wir zugleich wiederum auf dem Gebiete angelangt, wo die Augenbewegungstheorie","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Die I\u00ceaurnanschauung und die Augenbewegungen.\n167\nmit der gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Schwierigkeit von Augen-bewegungen operiert. Was dar\u00fcber im allgemeinen zu sagen ist, wurde gesagt. Hier m\u00f6chte ich nur speziell darauf aufmerksam machen, dafs die gr\u00f6fsere Schwierigkeit der Hebung des Blickes doch wohl nicht aufh\u00f6rt, wenn vertikale Distanzen sehr grofse werden.\nWundt h\u00e4lt aber auch in beiden F\u00e4llen die HELMHOLTZsche Erkl\u00e4rung f\u00fcr den Thatsachen widersprechend. Ich verstehe nicht, mit welchem Hechte. Wir ziehen, so meint er, bei Betrachtung eines Quadrates die Lage desselben jederzeit in Rechnung. Mit dieser Regel wird es seine Richtigkeit haben, soweit nicht eben die Gewohnheit des Sehens modifizierend eingreift. Der Sinn dieser Gewohnheit besteht doch eben darin, dafs Sch\u00e4tzungen, die bei gewisser Lage von Fl\u00e4chen am Platze sind, auch auf solche F\u00e4lle \u00fcbertragen werden, bei denen diese Berechtigung fehlt. So werden die meisten Gewohnheiten von Hause aus ihre Berechtigung haben oder irgend welcher \u201eLage\u201c angepafst gewesen sein. Ich gew\u00f6hne mich vielleicht an starke Getr\u00e4nke, weil mir solche meiner Gesundheit wegen verordnet worden sind; oder an \u00fcberlautes Sprechen, weil ich Verkehr mit Halbtauben hatte. Ich trank oder sprach \u00fcberlaut zun\u00e4chst mit R\u00fccksicht auf diese \u201eLage\u201c der Dinge. Habe ich mich aber einmal daran gew\u00f6hnt, dann thue ich es \u00fcberhaupt. Mein Trinken oder lautes Sprechen w\u00e4re sonst eben kein gewohnheits-m\u00e4fsiges. Ohne Zweifel mufs, was hier m\u00f6glich ist, auch bei unseren r\u00e4umlichen Sch\u00e4tzungen m\u00f6glich sein. Darum hat doch Wundt in gewisser Weise Recht, wenn er meint, dafs wir bei Betrachtung eines Quadrates jedesmal die Lage desselben in Rechnung ziehen. Wir korrigieren das gesehene H\u00f6hen- und Breitenverh\u00e4ltnis zun\u00e4chst mit R\u00fccksicht auf seine Lage. Aber dazu kommt in jedem Falle die hiervon unabh\u00e4ngig entstandene Gewohnheit des Korrigierens hinzu, und verschiebt f\u00fcr unser Bewufstsein die Korrektur, die wir, nur durch das Quadrat selbst veranlafst, vollzogen haben w\u00fcrden.\nNoch in anderem Sinne aber besteht eine Abh\u00e4ngigkeit zwischen der Sch\u00e4tzung der H\u00f6he des Quadrates und seiner Lage. Die Gewohnheit des Sehens, um die es sich hier handelt, hat sich ausgebildet bei Fl\u00e4chen von bestimmter mittlerer Neigung zur Blicklinie. Wir haben die vertikale Ausdehnung der Fl\u00e4chen in Gedanken st\u00e4rker vergr\u00f6fsert als die Breiten-","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nTh. Tipps.\nausdehnung, eben weil wir sie als zum Blick geneigte erkannten. Hat sich nun aus der H\u00e4ufigkeit jener Vergr\u00f6fserung eine Ge-wofinheit der Vergr\u00f6fserung ergeben, so wird man erwarten d\u00fcrfen, dafs zugleich und aus gleichem Grunde auch eine Gewohnheit entstanden sei, gleichartigen Fl\u00e4chen in Gedanken eine gewisse Neigung zu geben. Dies nun ist, soviel ich sehe, wirklich der Fall. Hm mich davon zu \u00fcberzeugen, klebe ich auf einen Spiegel einen schmalen Papierstreifen, halte den Spiegel so, dafs der Streifen im Sehfeld vertikal steht, und fixiere die Mitte des Streifens. Zugleich suche ich den Spiegel in solche Stellung zu bringen, dafs ich den Eindruck habe, die Fl\u00e4che des Spiegels stehe zu meinem auf die Mitte des Streifens gerichteten Blick genau senkrecht. Ich bemerke dann leicht, dafs die Spiegelfl\u00e4che in Wahrheit mit ihrem oberen H\u00e4nde etwas gegen mich her gekehrt ist. Ich brauche nur auf das Spiegelbild meiner Augen zu achten; dasselbe befindet sich nicht unbetr\u00e4chtlich \u00fcber der Mitte des Streifens. Nat\u00fcrlich scheint mir dann die Spiegelfl\u00e4che, wenn sie wirklich zur Blicklinie senkrecht steht, zu ihr nicht senkrecht zu stehen, sondern oben etwas zur\u00fcckzuweichen. Ich \u00fcbersch\u00e4tze also die Entfernung ihres oberen Randes vom Auge oder gebe ihr in Gedanken eine geneigte Lage. \u2014 Man sieht leicht, wie damit unsere Er-kl\u00e4rung der \u00dcbersch\u00e4tzung der H\u00f6henausdehnung sich best\u00e4tigt. Die \u00dcbersch\u00e4tzung des Tiefenunterschiedes schliefst die \u00dcbersch\u00e4tzung der Gr\u00f6fse ohne weiteres in sich.\nDoch darf ich hier auch nicht unterlassen zu bemerken, dafs zu dem hier angenommenen Grund der \u00dcbersch\u00e4tzung vertikaler Distanzen andere treten, und dafs es auch an gegenwirkenden Faktoren nicht fehlt. So sehr ist dies der Fall, dafs nicht ausgemacht werden kann, wie weit die Wirkung der be-zeichneten Gewohnheiten des Sehens reicht. Davon habe ich in der Arbeit \u00fcber die \u201e\u00e4sthetischen Faktoren der Raumanschauung\u201c gesprochen. Hier gen\u00fcge die Bemerkung, dafs verm\u00f6ge der Wirkung dieser Faktoren die H\u00f6he eines Quadrates in sehr verschiedenem Grade \u00fcbersch\u00e4tzt und dafs sie auch wohl untersch\u00e4tzt werden, dafs aufserdem das Quadrat alle m\u00f6glichen scheinbaren Verschiebungen erleiden kann. Weil es so ist, so w\u00fcrde ich in dem hier in Rede stehenden Falle an jeder Wirkung der Gewohnheitendes Sehens zweifeln, wenn nicht jene \u00dcberst\u00e4tzung des Tiefenunterschieds und aufserdem die Wirkung der Ge-","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Dis Ilaumanschauung und die Augenbewegungen.\n169\nwohnheiten des Sehens in analogen F\u00e4llen mich doch wiederum n\u00f6tigte, daran zu glauben Dafs nicht jede \u2014 kleinere \u2014 vertikale Ausdehnung \u00fcbersch\u00e4tzt wird., steht ja ohnehin fest. Der Kreis scheint uns nicht h\u00f6her als breit.\nMit der \u00dcbersch\u00e4tzung der H\u00f6he eines Quadrates hat zugleich die \u00dcbersch\u00e4tzung der oberen H\u00e4lften kleiner und in gew\u00f6hnlicher Art betrachteter vertikaler Distanzen \u2014 soweit sie besteht und nicht wiederum aus \u00e4sthetischen Gr\u00fcnden in ihr Gegentheil umschl\u00e4gt \u2014 ihre Erkl\u00e4rung gefunden. Ich verweise daf\u00fcr auf meine \u201e Grundthatsachen des Seelenlebens\u201c und die oben erw\u00e4hnte Schrift. Hier erinnere ich nur daran, dafs auch diese \u00dcbersch\u00e4tzung in der Untersch\u00e4tzung der oberen H\u00e4lfte gr\u00f6fserer vertikaler Distanzen ihr Gegenst\u00fcck hat. Wenn ich einen hohen Thurm von unten betrachte, so scheint sich die obere H\u00e4lfte vielmehr zusammenzuschieben.\nAuch daran erinnere ich nur, dafs ich dieser Art der optischen T\u00e4uschungen ehemals eine neue, v\u00f6llig analoge Art hinzugef\u00fcgt und dafs ich dieselbe aus dem gleichen Prinzip abgeleitet habe. Wenn man eine horizontale Linie in drei gleiche Teile zu teilen versucht, so macht man in der Regel den mittleren Teil zu grofs. Man \u00fcbersch\u00e4tzt also die seitlichen Distanzen im Vergleich zur mittleren. Auch diese \u00dcbersch\u00e4tzung seitlicher Distanzen schl\u00e4gt, wenn dieselben sehr weit nach der Seite sich erstrecken, in ihr Gegenteil um.\nDagegen verweile ich zum Schl\u00fcsse dieses Aufsatzes noch einen Augenblick bei einer Art von T\u00e4uschungen, die M\u00fcnster-bbrg aufgezeigt hat und die ich wiederum bei eigenen Versuchen best\u00e4tigt fand. Linke horizontale Distanzen werden von M\u00fcnsterberg und ebenso von mir und anderen, die ich zur Sch\u00e4tzung aufforderte, gegen rechte \u00fcbersch\u00e4tzt. Die M\u00fcnster-BERGsche Erkl\u00e4rung gr\u00fcndet sich wiederum auf das Prinzip der schwierigeren oder weniger schwierigen Augenbewegungen. Wir pflegen, so meint M\u00fcnsterberg, beim Lesen und Schreiben mit unserem Blick in gerader Linie von links nach rechts zu gehen, dagegen in der uns bequemsten Art, also im Bogen, von rechts nach links zur\u00fcckzukehren. Daraus soll sich eine gr\u00f6fsere Leichtigkeit der Hechtswendung des Auges ergeben, und daraus wiederum die Untersch\u00e4tzung rechter horizontaler Distanzen erkl\u00e4rlich werden.\nAngenommen nun, es w\u00e4re gegen jenes Prinzip im all-","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nTh. Lipps.\ngemeinen nichts einzuwenden, so m\u00fcfste doch der Versuch seiner Anwendung in diesem speziellen Falle als unzul\u00e4ssig erscheinen. Voraussetzung der Erkl\u00e4rung ist, dafs wir bei der Sch\u00e4tzung oder Vergleichung zweier horizontaler Distanzen die rechte nur in der Richtung von links nach rechts, die linke nur in der Richtung von rechts nach links durchlaufen. Wie ich es anfangen sollte, dieser Voraussetzung zu gen\u00fcgen, ist mir nicht recht deutlich. Jedenfalls pflege ich mir nicht die M\u00fche einer so k\u00fcnstlichen Betrachtungsweise zu nehmen. Ich gehe statt dessen \u00fcber beide Linien abwechselnd in der einen und anderen Richtung hinweg. Oder vielmehr, ich springe -\u2014 zumal wenn mir an genauer Vergleichung liegt \u2014 von einem Punkt in der Mitte der einen zu einem Punkt in der Mitte der anderen \u00fcber, um da einen Augenblick zu verweilen und ohne Regel meinen Blick nach der einen und anderen Seite schwanken zu lassen. So nur gewinne ich ein Bild der Linien und damit die M\u00f6glichkeit des sicheren Vergleichs. Das eigentliche Durchmessen der Linien, das die Augenbewegungstheorie vorschreibt, w\u00e4re dazu ein m\u00f6glichst ungeschicktes Mittel. Die besondere Art vollends, wie sie M\u00fcnsterberg hier fordert, m\u00fcfste, wenn sie ausf\u00fchrbar w\u00e4re, viel eher die Folge haben, dafs ich das Bild der einen Linie wieder verl\u00f6re, indem ich das der anderen zu gewinnen suchte.\nEine wirkliche Erkl\u00e4rung der fraglichen optischen T\u00e4uschung scheint sich mir wiederum nur aus den \u201eGewohnheiten des Sehens\u201c ergeben zu k\u00f6nnen. Und zwar denke ich dabei an Folgendes: Wir nehmen in vielen F\u00e4llen Gegenst\u00e4nde, die wir genau betrachten und mit anderen vergleichen wollen, in die Hand; und zwar ergreifen wir sie, wenn wir Rechtsh\u00e4nder sind, in der Regel mit der rechten Hand und bringen sie dabei naturgem\u00e4fs dem rechten Auge n\u00e4her als dem linken. Jedesmal nun, wenn dies geschieht, vergr\u00f6fsern wir Bilder der rechten H\u00e4lfte des Sehfeldes in Gedanken in geringerem Mafse als solche, die der linken H\u00e4lfte des Sehfeldes angeh\u00f6ren. Daraus k\u00f6nnte wiederum eine Gewohnheit, links befindliche Gegenst\u00e4nde gr\u00f6fser zu sch\u00e4tzen, sich herausgebildet haben.\nObgleich nun diese Erkl\u00e4rung f\u00fcr mich einstweilen die einzige ist, so w\u00fcrde ich ihr doch wenig Vertrauen schenken, wenn sie mir nicht durch eine anderweitige Beobachtung best\u00e4tigt w\u00fcrde. Die fragliche Beobachtung ergiebt sich bei","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Die Daumanschauung und die Augenbewegungen.\n171\neiner Modifikation des oben angef\u00fchrten Spiegelversuchs. Ich erg\u00e4nze den vertikalen Streifen, von dem oben die Kede war, zu einem rechtwinkligen Kreuz, fixiere den Kreuzungsmittelpunkt und bem\u00fche mich wiederum, den Spiegel so zu halten, dafs ich den Eindruck habe, mein Blick stehe zu dem Kreuze, also zur Spiegelfl\u00e4che, genau senkrecht. Ich bemerke dann, dafs das Spiegelbild meiner Augen sich nicht nur \u00fcber dem Kreuzungsmittelpunkt befindet, sondern zugleich nicht unerheblich nach links verr\u00fcckt ist. Es ergiebt sich daraus, dafs ich die Entfernung des linken Kreuzarmes vom Auge \u00fcbersch\u00e4tze. Die \u00dcbersch\u00e4tzung seiner Gr\u00f6fse ist davon die nat\u00fcrliche Folge. Ich weifs aber f\u00fcr jene \u00dcbersch\u00e4tzung der Entfernung des linken Kreuzarmes keinen anderen Grund, als den Umstand, dafs in einer Mehrzahl von F\u00e4llen linke Objekte von meinem Auge weiter entfernt waren.\nSchliefslich mufs sich diese Theorie, wenn sie richtig ist, durch eine einfache Probe erh\u00e4rten lassen. Linksh\u00e4nder m\u00fcssen statt der linken vielmehr rechte Distanzen \u00fcbersch\u00e4tzen. In der That scheint es sich so zu verhalten. Ich mufs indessen in diesem Punkte demjenigen j\u00fcngeren Psychologen das Wort lassen, der es unternommen hat, dar\u00fcber genauere Untersuchungen anzustellen. Eine Mitteilung \u00fcber die Ergebnisse derselben wird, wie ich hoffe, in K\u00fcrze in dieser Zeitschrift erfolgen. Einstweilen mufs ich mein Urteil vertagen. Wie es aber auch schliefslich lauten m\u00f6ge: die Theorie der Augenbewegungen findet in der \u00dcbersch\u00e4tzung linker Distanzen ebensowenig eine St\u00fctze, wie in irgend welcher sonstigen Thatsache.","page":171}],"identifier":"lit14712","issued":"1892","language":"de","pages":"123-171","startpages":"123","title":"Die Raumanschauung und die Augenbewegungen","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:02:23.735001+00:00"}