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{"created":"2022-01-31T15:09:45.782635+00:00","id":"lit14714","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Sergi, G.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3: 175-184","fulltext":[{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"(Aus dem Institut f\u00fcr Anthropologie und experimentelle Psychologie der Universit\u00e4t Rom.)\n\u00dcber einige Eigent\u00fcmlichkeiten des Tastsinns.\nVon\nGr. SeKGI.\nBloch machte im Jahre 1875 (bei Gelegenheit von Messungen der Geschwindigkeit des sensitiven Nervenstroms) einige Versuche, die Nachdauer von Tastempfindungen zu bestimmen.1 Er bediente sich dazu mechanischer St\u00f6fse auf die Haut, von verschiedener Geschwindigkeit und auf verschiedenen Teilen des K\u00f6rpers, und fand, dafs die Nachdauer eines Stofses auf den Einger zwischen 0,0210 u. 0,0236 (also 7\u00ab\u2014742) Sekunde betrug. Aufserdem fand er, dafs die Nachdauer gr\u00f6fser zu sein schien, wenn der Stofs pl\u00f6tzlicher war, und dafs sie wuchs, je mehr die Sensibilit\u00e4t des gereizten Teiles abnahm.\nIm Jahre 1877 machte derselbe Bloch neue Versuche und glaubte versichern zu k\u00f6nnen, \u201edafs f\u00fcr mechanische St\u00f6fse die Nachdauer der Empfindung sich vergr\u00f6fsert, je weniger die untersuchte Stelle f\u00fcr gew\u00f6hnliche Ber\u00fchrung empf\u00e4nglich ist.\u201c F\u00fcr das Fleisch der Finger w\u00fcrde sie ein Minimum von 7\u00ab Sekunde erreichen. Als er aber vermittelst einer dazu konstruierten Vorrichtung mit elektrischen Heizen experimentierte, fand er, dafs jene Dauer sich auf 7s3 Sekunde reduzierte.2\nIn den folgenden Jahren verfuhr Bloch nach einer anderen Methode, um die Nachdauer der Tastempfindungen zu ermitteln, indem er n\u00e4mlich eine Reihe successiver St\u00f6fse auf dieselbe Stelle der Haut einwirken liefs und dabei das eben notwendige\n1\tArchives de Physiologie. 1875.\n2\tTravaux du Laboratoire de M. Marey, III, 1876\u201477.","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nG. Sergi.\nIntervall suchte, bei welchem die Fusion solcher Reize eintr\u00e4te. Zu diesem Zwecke liefs er eine Stimmgabel mit beweglichen Gewichten konstruieren, durch deren Verschiebung man die Zahl der Doppelschwingungen und demgem\u00e4fs auch die Zahl der successiven St\u00f6fse auf die Haut von 40 auf 70 per Sekunde variieren konnte.1 Auf diese Weise fand er, dafs die Fusion zwischen successiven, regul\u00e4ren und gleichen Reizen, d. h. den St\u00f6fsen der Stimmgabel, eintrat bei 60 Schwingungen auf Daumenballen und Kleinfingerballen, bei 58 und 59 auf dem Vorderarm, bei 64 auf dem R\u00fccken der zweiten Phalanx, w\u00e4hrend er auf der Volarseite der Finger (letzte Phalanx) die Fusion mit 70 Schwingungen noch nicht erreichen konnte, sein Instrument aber ein Hinausgehen dar\u00fcber nicht gestattete. Auf jeden Fall glaubte er sich, wie vorher, zu dem Schl\u00fcsse berechtigt, dafs die Nachdauer je nach den verschiedenen Stellen der Haut ver\u00e4nderlich und um so geringer ist, je empfindlicher der gereizte Teil. Er fand dann, dafs man je nach den Methoden des Experimentes eine verschiedene Zeit f\u00fcr die Nachdauer bek\u00e4me, wiez. B. zwischen V\u00ab und Vse Sekunde, um die Fusion der Eindr\u00fccke auf den Zehen zu erreichen, und schlofs, dafs es schwer sei, eine Erkl\u00e4rung f\u00fcr diese verschiedenen Resultate zu finden.\nDiese Schl\u00fcsse Blochs haben mich nicht \u00fcberzeugt, besonders nicht die Behauptung einer um so gr\u00f6fseren Nachdauer, je geringer die Sensibilit\u00e4t der Haut ist. Um daher diese Vorg\u00e4nge und das Verhalten der taktilen Sensibilit\u00e4t besser zu erkennen, beschlofs ich, die Experimente mit successiven Stimm-gabelst\u00f6fsen aufs neue anzustellen. Ich benutzte dazu elektrisch getriebene Schreib-Stimmgabeln konstruiert von K\u00f6nig, an denen ich statt der flexiblen Messinglamelle, welche zum Schreiben dient, eine abgestumpfte starre Messingspitze einsetzte, und zwar von demselben Gewicht wie die Lamelle, um die Oscillation der Stimmgabel nicht zu ver\u00e4ndern. Die Spitze stand aber in lateraler Richtung zum Aste der Stimmgabel, damit sie ihren Zweck besser erf\u00fcllte, sich n\u00e4mlich der Haut applicieren zu lassen. Bisweilen habe ich sie noch mit einer feinen Korkspitze versehen, damit der Stofs sanfter und weniger hart w\u00e4re. Eine Stimmgabel mit beweg-\n1 Travaux etc., IV, 1878\u201479.","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber einige Eigent\u00fcmlichkeiten des Tastsinns.\n177\nliehen Gewichten l\u00e4fst nur ziemlich beschr\u00e4nkte Variationen zu, wie ja in der That die von Bloch nur zwischen 40 und 70 Doppelschwingungen gestattete. Ich benutzte daher eine Reihe von Stimmgabeln mit stabiler Schwingungszahl und w\u00e4hlte folgende sechs, n\u00e4mlich von 50, 100, 250, 435, 500, 1000 Doppelschwingungen in der Sekunde.\nDie Versuche wurden zu verschiedenen Zeiten im Verlauf der beiden Monate Januar und Februar 1891 ausgef\u00fchrt. Die Ergebnisse sind in der folgenden Zusammenstellung enthalten:\nI.\tStimmgabel (K\u00f6nig) von 50 D.-S. mit abgestumpfter starrer Messingspitze.\nDie Frequenz an allen Teilen der Hand wahrgenommen ; deutliche Empfindung der successiven St\u00f6fse.\nAm hinteren Teile des Vorderarmes mufs die Spitze stark in die Haut gedr\u00fcckt werden, damit der successive Stofs zur Wahrnehmung gelangt; dieser wird daher halb kontinuierlich, halb successiv wahrgenommen, d. h. man f\u00fchlt den kontinuierlichen Kontakt, aber auch die Succession der St\u00f6fse, welche tiefer gehen; wenn die Spitze auf die Oberfl\u00e4che der Haut gestellt wird, so wird der Reiz als ganz leicht und successiv empfunden.\nII.\tObige Stimmgabel mit Korkspitze.\nDie Succession der St\u00f6fse deutlich wahrgenommen, an den Fingerspitzen, Daumenballen und Kleinfingerballen, auf der R\u00fcckseite der Finger, auf der Mittelhand.\nIII.\tStimmgabel von 100 D.-S. mit Messingspitze.\nDie Succession deutlich wahrgenommen an den Fingerspitzen Daumenballen, Kleinfingerballen, auf dem R\u00fccken der Fingerglieder, Mittelhand, Handwurzel, auf Vorderarm, Stirn, mittlerem Teil der Glabella, Crista der Schl\u00e4fen, Nasenspitze, Zungenspitze, roten Lippen.\nAm Vorderarm, hintere Mittellinie, wird die Frequenz nicht wahr-genommen.\nAn der Eichel wird, wenn man die vibrierende Spitze der Stimmgabel laufen l\u00e4fst, eine frequente Empfindung von schmerzhaftem Kitzel wahrgenommen; wenn man die Spitze an derselben Stelle l\u00e4fst, wird die Succession nicht wahrgenommen.\nIV.\tStimmgabel von 250 D.-S. mit Messingspitze.\nDie Succession deutlich wahrgenommen an der Volarseite der Hand und der Finger, ferner am Daumenballen, Kleinfingerballen und Handr\u00fccken ; undeutlich wahrgenommen an der Handwurzel.\nAm Vorderarm ist die Empfindung der Succession abgestumpft.\n12\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie III.","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nG. Sergi.\nDeutlich ist die Succession am Tufs an den beiden letzten Gliedern der grofsen, zweiten und mittleren Zehe, dunkel an den andern Zehen (vielleicht wegen der etwas niedrigen Temperatur).\nAm Bein die Succession wahrgenommen auf der Kniescheibe und den umliegenden Teilen, auf der \u00e4ufseren Seite des Beines, auf der Crista des Schienbeins.\nIm Gesicht: auf dem mittleren Teile der Stirn, Crista der Schl\u00e4fen, auf dem Nasenknochen, auf den Wangen, unter der Augenh\u00f6hle die Succession wahrgenommen, aber nicht deutlich; \u2014 auf dem mittleren Teile der Wangen deutlich wahrgenommen ; auf den roten Lippen deutlicher wahrgenommen; auf der Nasenspitze wahrgenommen; \u2014 auf der Zungenspitze gut wahrgenommen.\nV.\tStimmgabel von 435 D.-S.\nDie Frequenz wahrnehmbar an den Enden der letzten Eingerglieder;\n\u2014\tdeutlicher am letzten Gliede des Zeigefingers und dem Daumen; \u2014 wahrgenommen auch um die Finger herum ; \u2014 auf der interdigitalen Fl\u00e4che; \u2014 auf der Handfl\u00e4che, deutlicher auf dem Kleinfingerballen \u2014 am Metakarpus des Daumens und den andern Metakarpen deutlich.\nAn der Handwurzel kaum wahrgenommen, besser auf der Volarseite ungleichm\u00e4fsig auf dem R\u00fccken ; \u2014 an der Apophysis styloides des Cubitus nicht wahrgenommen, aber um sie herum wahrgenommen.\nAm Vorderarm, oberhalb der Handwurzel gar nicht oder kaum wahrgenommen.\nAm Fufs, untere Seite der grofsen Zehe, deutlich wahrgenommen;\n\u2014\tam Knie kaum wahrgenommen ; \u2014 am H\u00fcftgelenke, ebenso an den inneren Tuberosit\u00e4ten wahrgenommen.\nAn den roten Lippen wahrgenommen ; \u2014 an der Zungenspitze mit Kitzelempfindung wahrgenommen; \u2014 an der Nasenspitze nicht wahrgenommen; \u2014 ander Stirn, auf der rechten Augenbraue wahrgenommen, auf dem mittleren Teile nicht wahrgenommen, an der Crista der Schl\u00e4fe wahrgenommen.\nVI.\tStimmgabel von 500 D.-S.\nDie Succession der St\u00f6fse an den Fingerspitzen wahrgenommen; \u2014 auf der ganzen Handfl\u00e4che ; am vorderen Teile der Handwurzel; \u2014 nicht wahrgenommen auf dem R\u00fccken der Finger oder der Hand ; \u2014 kaum wahrgenommen auf der R\u00fcckenseite der Metakarpo-Phalangealgelenke; \u2014 wahrgenommen am zweiten Gliede des Daumens, innen: am Metacarpale des Daumens, \u2014 an der Handwurzel vorn; \u2014 kaum wahrgenommen hinten.\nNicht wahrgenommen am hinteren Teile des Vorderarms.\nWahrgenommen auf den roten Lippen und an der Zungenspitze.;\nVII.\tStimmgabel von 1000 D.-S.\nDie Succession auf der Volarseite der Fingerspitzen wahrgenommen;\n'\u2014 kaum wahrnehmbar an den seitlichen und inneren Partien derselben Fingerglieder; \u2014 kaum wahrnehmbar am Daumenballen; \u2014 nicht wahrgenommen am Kleinfingerballen; nicht wahrgenommen an andern untersuchten Teilen der Hand und des Armes.","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber einige Eigent\u00fcmlichkeiten des Tastsinns.\n179\nAns diesen Daten ergiebt sich als erstes Resultat, dafs auf dem Fingerfleisch die Succession der St\u00f6fse bis zu einem Intervall von Viooo Sekunde wahrgenommen wird, dafs bei Vsoo Sekunde die Frequenz an vielen anderen Teilen der Hand, an der Zungenspitze, an den roten Lippen zur Wahrnehmung kommt, dafs sie bei 7*35 Sekunde an andern Stellen und \u00fcber eine grofse Hautoberfl\u00e4che f\u00fchlbar ist, deren Sensibilit\u00e4t f\u00fcr die Succession der St\u00f6fse zunimmt, je mehr ihre Zahl per Sekunde sich vermindert, bis zu 1/so Sekunde. So beweisen meine Versuche, dafs das zwischen einer Empfindung und der anderen gef\u00fchlte Intervall ver\u00e4nderlich ist, je nach den verschiedenen Punkten der Hautoberfl\u00e4che, dafs es aber bedeutend kleiner ist als das von Bloch gefundene, bis es ganz winzig, n\u00e4mlich Viooo Sekunde wird. Hier\u00fcber hinaus bin ich nicht gegangen, weil ich glaube, dafs dies das Minimalintervall taktiler Reize ist, welches eine intermittierende Empfindung hervorrufen kann, da die Succession bei einem so kleinen Intervall kaum noch wahrgenommen wird, und auch hier nicht immer, wenn einmal f\u00fcr einen Augenblick die Hauttemperatur sich nicht auf einer gewissen H\u00f6he befindet.\nAus dieser ersten Thatsache glaube ich nun aber nicht, dafs man mit Bloch schliefsen kann, die Nachdauer der Empfindung vermindere sich mit der Vermehrung der Sensibilit\u00e4t, und die Fusion der Reizungen (der St\u00f6fse) werde leichter erreicht an einem weniger empfindlichen Punkte der Haut und mit einer geringeren Zahl von St\u00f6fsen in der Sekunde. Um hier\u00fcber zur Klarheit zu gelangen, mufs man vor allem zwei Bedingungen ins Auge fassen, n\u00e4mlich:\n1.\tdie Intensit\u00e4t der Reize;\n2.\tdie spezielle Sensibilit\u00e4t des gereizten Organs.\nBeide Bedingungen geh\u00f6ren zusammen, um eine Nachdauer zu bestimmen, und besonders eine Nachdauer von einiger Erheblichkeit. Es ist bekannt, dafs die Nachdauer des Eindruckes ohne eine gewisse Intensit\u00e4t des Reizes nicht m\u00f6glich ist, und nach Richet entspricht die Gr\u00f6fse der Nachdauer der Gr\u00f6fse des Reizes.1 Das Faktum ist evident nachgewiesen f\u00fcr die Eindr\u00fccke der Retina: Helmholtz schreibt, dafs das\n1 Ch. Eichet, Recherches exp\u00e9rim. et cliniques sur la sensibilit\u00e9. Paris 1877, S. 192.\n12*","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nG. Sergi.\npositive Nachbild desto heller ist und desto l\u00e4nger andauert, je gr\u00f6fser die Intensit\u00e4t des prim\u00e4ren Lichtes ist, und dafs beim Verschwinden der positiven Nachbilder die weniger hellen Objekte zuerst verschwinden, die helleren l\u00e4nger beharren, dafs folglich wenig beleuchtete Gegenst\u00e4nde im positiven Nachbild oft absolut dunkel werden, w\u00e4hrend die helleren allein f\u00fcr l\u00e4ngere Zeit sichtbar bleiben.1 Dies Ph\u00e4nomen gilt nicht ausschliefslich f\u00fcr das Gesichtsorgan, sondern ist allen andern Sinnesorganen gemeinsam; es w\u00fcrde kein Grund vorliegen f\u00fcr die Annahme, dafs der Tastsinn eine Ausnahme mache.\nUm die Intensit\u00e4t der Heize kennen zu lernen, haben wir in unserm Falle ein sehr einfaches Mittel, weil sie durch Oscillationen von Stimmgabeln mit einer bestimmten Schwingungszahl in der Sekunde hervorgerufen werden. Diese Vibrationen besitzen n\u00e4mlich eine mefsbare Amplitude, und die Amplitude mifst in diesem Falle die Intensit\u00e4t des Stofses und demnach des Reizes. Graphisch ist diese Gr\u00f6fse ersichtlich an der Linie, welche die Stimmgabeln zeichnen, wenn man sie auf geschw\u00e4rztem Glas oder Papier schreiben l\u00e4fst, die Stimmgabel mit 50 Doppelschwingungen in der Sekunde beschreibt eine Linie mit gr\u00f6fseren Ausbuchtungen als die mit 100 Schwingungen, und die Stimmgabel mit 1000 Schwingungen eine dem unbewaffneten Auge nur als gerade erscheinende Linie.\nIch habe von meinen, durch eine galvanische Batterie in Schwingung gesetzten Stimmgabeln diese Linien aufzeichnen lassen, habe aber von den sechs, mit welchen ich experimentiert habe, nur die beiden ersten von 50 und 100 Doppelschwingungen und die beiden letzten von 5\u00fc0 und 1000 Doppelschwingungen per Sekunde ausgew\u00e4hlt. Diese beiden letzten geben, mit unbewaffnetem Auge gesehen, eine anscheinend gerade und nicht gewundene Linie, zeigen aber ihre Wellenform, wenn mit der Linse oder unter dem Mikroskop ver-gr\u00f6fsert. Wenn man also bei diesen 4 Stimmgabeln die Schwingungsamplituden nach den auf den Gl\u00e4sern hinterlassenen Spuren mifst, so findet sich in abgerundeten Zahlen:\nStimmgabel\tvon\t50 D.-S.\tmm.\t8.\t,12\nn\tn\t100 \u201e\tn\t1.\t(30\nn\tn\t500\t\u201e\tn\t0.\t,26\n7)\t7)\t1000 \u201e\tV\t0\t,104.\n1 v. Helmholtz, Physiol. Optik.1 S. 358\u2014360.","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber einige Eigent\u00fcmlichkeiten des Tastsinns.\n181\nNat\u00fcrlich mufs der Schlag oder Stofs, welcher von der an dem Aste der Stimmgabel befestigten Spitze der Hautoberfl\u00e4che erteilt wird, der Schwingungsamplitude entsprechen; es mufs also eine Stimmgabel von 50 Doppelschwingungen per Sekunde einen st\u00e4rkeren Schlag geben als eine andere von 100 Doppelschwingungen, da letztere schw\u00e4chere Exkursionen macht. Bei der Stimmgabel von 1000 Doppelschwingungen, deren Amplitude wenig mehr als Vio mm betr\u00e4gt, ist der Stofs auf die Haut h\u00f6chst schwach, und zwar so schwach, dafs der leiseste Druck auf die Hautoberfl\u00e4che die Oscillation fast augenblicklich aufhebt, w\u00e4hrend die Stimmgabeln von 50 und von 100 Doppelschwingungen bis zu einer gewissen Tiefe in die Haut eindringen k\u00f6nnen, ohne ihre Hin- und Herbewegung zu verlieren, und die Succession der gleichen St\u00f6fse f\u00fchlbar machen.\nEs ist also sicher, dafs die Heizungen, welche von den vibratorischen Bewegungen der Stimmgabeln von 50 bis 1000 Doppelschwingungen hervorgerufen werden, durchaus nicht von gleicher Intensit\u00e4t sind, und dafs man diejenigen der Stimmgabel von 1000 Doppelschwingungen als das Minimum ansehen kann, welches f\u00fcr die Unterseite der Fingerspitzen noch eben f\u00fchlbar ist. Nun scheint es mir unm\u00f6glich, dafs so winzige Intensit\u00e4ten noch eine Nachdauer der Empfindungen hinterlassen k\u00f6nnen. Ich glaube- vielmehr, dafs es nicht der Effekt der Fusion der kleinen Heizungen in eine einzige durch die Nachdauer der Eindr\u00fccke sei, wenn selbst die Fingerspitzen die Succession von St\u00f6fsen mit einem kleineren Intervall als Viooo Sekunde nicht mehr wahrnehmen, sondern der Effekt der Unempfindlichkeit gegen kleinere Reize als solche St\u00f6fse von Vio mm Amplitude. Dies Faktum wird evident, wenn wir die zweite Bedingung, d. h. die Sensibilit\u00e4t des gereizten Organs, in unserem Falle der Haut, in Erw\u00e4gung ziehen.\nDafs die taktile Sensibilit\u00e4t nicht auf der ganzen Hautoberfl\u00e4che gleich ist, daran ist nach den grundlegenden Arbeiten 'Webers nicht zu zweifeln ; aber ich m\u00f6chte die Aufmerksamkeit auf ein an sich ziemlich einfaches Faktum lenken, das gleichwohl sehr instruktiv f\u00fcr die Natur der eigentlichen taktilen Sensibilit\u00e4t ist, n\u00e4mlich auf die Feinheit des Tastsinnes auf einigen sehr begrenzten Gebieten, wenn sie nur durch eine abgestumpfte Spitze ohne irgendwelchen Druck gepr\u00fcft wird, und auf die Stumpfheit dieses Sinnes auf der gr\u00f6fseren \u00fcbrigen Oberfl\u00e4che","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nG. Sergi.\nder Haut. Man nehme einen Bleistift mit abgestumpfter Spitze und untersuche die Fingerspitzen auf der Volarseite; man wird eine h\u00f6chst genaue Empfindung, eine ganz klare Perzeption der Spitze finden. Viele andere Partien der Hand sind in gleicher Weise empfindlich. Man untersuche aber mit derselben Spitze und mit derselben Sorgfalt den Vorderarm oder den Arm, und man wird eine dumpfe oder verschwindende Empfindung mit dunkler Perzeption der Spitze haben; um eine deutlichere zu gewinnen, mufs man die Spitze in die Haut ein-dr\u00fccken, dies aber verwandelt die Tastempfindung in die des Druckes.\nWir stehen also vor dem sicher konstatierten Faktum, dafs die taktile Sensibilit\u00e4t nicht in gleichartiger Weise auf der Hautoberfl\u00e4che entfaltet ist, und besonders die Sensibilit\u00e4t, welche eine klare und deutliche Perzeption giebt. Unterwerfen wir nun eine weniger empfindliche Partie der Haut dem Experimente mit den Stimmgabeln von verschiedener Schwingungszahl und folglich verschiedenen Graden der Intensit\u00e4t des Stofses, so gelangen wir offenbar zudemBesultat, dafs, wenn die Oscillation die die Reizung bewirkende Spitze um mehr als 1 mm entfernt und n\u00e4hert und demnach diese Spitze in die Haut eindringen kann, die Succession der St\u00f6fse wahrgenommen wird; wenn dagegen die Spitze nur um den Bruchteil eines Millimeter oscilliert und also stets auf der \u00e4ufsersten Oberfl\u00e4che der Haut bleiben mufs, dafs dann die Succession nicht wahrgenommen wird. Mit der Stimmgabel von 50 Doppelschwingungen nimmt man die Succession der St\u00f6fse am Vorderarm wahr, wenn man die starre Spitze in die Oberfl\u00e4che der Haut einst\u00f6fst, und man hat eine halb kontinuierliche, halb successive Empfindung ; eine kontinuierliche, weil die Spitze immer in Kontakt steht; eine successive, weil dieser Kontakt nicht gleichm\u00e4fsig in der Succession der St\u00f6fse ist, bald tiefer, bald oberfl\u00e4chlicher, je nach dem Kommen und Gehen der oscillierenden Spitze, was in diesem Palle mit einer Amplitude von mehr als 3 mm geschieht. Mit der Stimmgabel von 500 Doppelschwingungen hat man die alleinige deutliche Empfindung einer unbeweglichen Spitze, wenn sich diese ein wenig in die Haut des Vorderarmes selbst einbohrt; denn dies l\u00f6scht fast augenblicklich die winzige Oscillation der Stimmgabel aus. Oder man hat eine beinahe verschwindende Wahrnehmung wieder nur allein von der Spitze, wenn diese an der","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber einige Eigent\u00fcmlichkeiten des Tastsinns.\t183\n\u00e4ufsersten Oberfl\u00e4che der Haut erhalten wird, denn die geringe Intensit\u00e4t des Stofses einer Spitze, welche nur um 7* mm oscilliert, ist in diesem Falle ungen\u00fcgend, um eine Empfindung hervorzurufen. Bei einer f\u00fcr eine Empfindung so ungen\u00fcgenden Intensit\u00e4t ist dann auch eine Nachdauer unm\u00f6glich, welche doch eine bestimmte Empfindung von einer gewissen Intensit\u00e4t verlangt.\nAus diesen Ergebnissen geht hervor, dafs die Minimalgrenze des Reizes ver\u00e4nderlich ist je nach der verschiedenen Sensibilit\u00e4t der Hautpartien. Und wie bei den Fingerspitzen die Minimalgrenze nach meinen Ergebnissen der von einer Oscillation von 0,104 mm herr\u00fchrende kleine Stofs ist, entsprechend einem Intervall von Viooo Sekunde, so liegt f\u00fcr andere Hautpartien diese Grenze bei h\u00f6heren Werten, n\u00e4mlich bei 0,25, 0,50, 1,00, 2,00, 3,00 mm Amplitude. Dies w\u00fcrde die taktile Sensibilit\u00e4t der Haut messen, wie der Zirkel Webers je nach den verschiedenen \u00d6ffnungen ihre Raumempfindung mifst.\nDie Hauptresultate dieser experimentellen Beobachtungen \u00fcber den Tastsinn k\u00f6nnen folgendermafsen formuliert werden:\n1.\tDie Hautoberfl\u00e4che ist nicht \u00fcberall in gleicher Weise empfindlich gegen Tastreize von geringer Intensit\u00e4t; die empfindlichsten Teile sind immer die Fingerspitzen auf der Volarseite , wo auch die schw\u00e4chste Reizung deutlich empfunden wird.\n2.\tViele Teile der Haut geben zwar eine bestimmte Tastempfindung, geben sie aber nicht so klar und deutlich wie die Fingerspitzen.\n3.\tDas Minimum der Energie des Reizes ist ver\u00e4nderlich je nach den verschiedenen Punkten der Hautoberfl\u00e4che, und bei den successiven isochronen Reizen, wie denen der Stimmgabel, ist die einheitliche Empfindung, welche etwa daraus hervorgeht, nicht die Wirkung der Fusion der Eindr\u00fccke durch ihre Nachdauer, sondern die Wirkung der Unempfindlichkeit gegen schwache St\u00f6fse; daher wird die Spitze gleichsam als feststehend empfunden, wenn sie in unmittelbarem Kontakt mit der Haut steht.\n4.\tBei den eigentlichen Tastempfindungen, d. h. den an der Oberfl\u00e4che ausgel\u00f6sten, scheint keine Nachdauer der Eindr\u00fccke zu bestehen, wenn die Reize begrenzt und hervorgerufen sind von einer stumpfen Spitze; auch scheint keine Summation kleiner Eindr\u00fccke zu einem einzigen Effekt stattzufinden, wie bei einigen anderen Sinnen und f\u00fcr die Haut auch bei elek-","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nG. Sergi.\nfrischer Reizung konstatiert ist (Richet). Diese Ph\u00e4nomene treten hingegen ein, wenn man die Tastempfindung in Druckempfindung umgewandelt hat, wenn man n\u00e4mlich durch Druck eine abgestumpfte Spitze in die Hautoberfl\u00e4che eindringen l\u00e4fst, und wenn also ein breiter, \u00fcber eine grofse Oberfl\u00e4che ausgedehnter Reiz von speziellem Charakter vorliegt.\n5.\tEs scheint, dafs f\u00fcr Tastreize jenes prim\u00e4re Stadium einer mehr oder weniger langen Entwicklung, wie man es z. B. als Anklingen der Gesichtsempfindungen kennt, nicht vorhanden ist. Vielmehr scheint es, dafs ein Reiz von rein mechanischem Charakter hier den Effekt unmittelbar hervorbringt, und dafs, wenn er ihn nicht im ersten Augenblick hervorbringt, \u00fcberhaupt gar kein .Nutzeffekt zu st\u00e4nde kommt. So w\u00fcrde auch das Fehlen der Nachdauer, abgesehen von der Schw\u00e4che der Reizung, noch durch die Abwesenheit eines Entwicklungsstadiums in den Endorganen der Tastnerven erkl\u00e4rlich werden.\nWenn aber doch eine Art Anklingen im Spiele ist, so kann es nur eine geradezu unmefsbare Zeitdauer in Anspruch nehmen, da man eine Reihe von Empfindungen noch bei einem Intervall von Viooo Sekunde wahrnehmen kann.\n6.\tAuf der Schleimhaut der Eichel giebt es keine Empfindung von rein taktilem Charakter, wie sie sich auf der \u00fcbrigen Haut findet.1\n1 Diese meine Beobachtungen waren im Druck, als ich von den Versuchen von Rumpf und Schwaner in Marburg erfuhr, welche zu klinischen Zwecken mit der Stimmgabel-Methode angestellt wurden. Ich habe sogleich von den Versuchen Schwaners (die Pr\u00fcfung der Haut-sensibilit\u00e4t vermittelst Stimmgabeln bei Gesunden und Kranken, Marburg, 1890) Kenntnis nehmen k\u00f6nnen und habe gefunden, dafs sie mir zu einer Ab\u00e4nderung meiner Schl\u00fcsse keinen Anlafs geben.","page":184}],"identifier":"lit14714","issued":"1892","language":"de","pages":"175-184","startpages":"175","title":"\u00dcber einige Eigent\u00fcmlichkeiten des Tastsinns","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:09:45.782640+00:00"}