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{"created":"2022-01-31T17:02:58.370461+00:00","id":"lit14783","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Umpfenbach","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3: 240-243","fulltext":[{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nLitteraturbericht.\naltruistisch ist. Das Problem besteht also darin, das Sittliche in diesem Sinne unter Festhaltung der egoistischen Triebfeder erkl\u00e4rlich zu machen. Diese Problemstellung ist unzweifelhaft richtig und stellt ein entschiedenes, r\u00fcckhaltlos anzuerkennendes Verdienst des Verfassers dar.\nLeider nur gelingt ihm, wie so vielen anderen, die von den gleichen Voraussetzungen aus die nat\u00fcrliche Entstehung der Sittlichkeit nachzuweisen unternommen haben, die L\u00f6sung nicht. Sein L\u00f6sungsversuch hat etwas K\u00fcnstliches und Verschwommenes und l\u00e4fst sich schwer in wenig Worten formulieren. Ihm ist das Gewissen ein universelleres Analogon der Ehre. In den verschiedenen Formen, in denen die Ehre als Triebfeder des Handelns auftritt, Mannesehre, K\u00fcnstler-, Beamten-, Hausfrauenehre u. dgl., ist nach des Verfassers Meinung das Gemeinsame der Trieb zur Behauptung der f\u00fcr die betreffende Obliegenheit eingesetzten Pers\u00f6nlichkeit. Dieser Trieb, von den in den vorstehenden F\u00e4llen vorhandenen Schranken befreit und ins allgemeine Menschliche generalisiert, ist, wenn wir den Verfasser recht verstehen, das Gewissen. Wir glauben nicht, dafs damit das Wesen der Ehre und des Gewissens zutreffend bestimmt ist. Wir glauben, dafs der Verfasser, wenn er sich in der neuesten Litteratur \u00fcber den Gegenstand eingehender umgesehen h\u00e4tte, dort m\u00f6glicherweise auf eine L\u00f6sung gestofsen sein w\u00fcrde, die vielleicht auch ihn selbst mehr befriedigt h\u00e4tte, als dieser eigene unzul\u00e4ngliche L\u00f6sungsversuch.\nAn diesen Hauptpunkt der Schrift schliefsen sich nun noch Betrachtungen \u00fcber das h\u00f6chste Gut, \u00fcber Lebenswerte \u00fcberhaupt u. dgl. an, wobei der Verf. u. a. auch zur Unsterblichkeitsfrage ziemlich positive Erw\u00e4gungen zum besten giebt, die freilich leicht nach Sphinx und Occultismus schmecken. Schliefslicli l\u00e4uft die Betrachtung in allerlei geistreiche Tr\u00e4umereien \u00fcber einen universellen evolutionistischen Weltfortschritt aus, der mehr seinem Geschmacke entspricht, als das ewig sich wiederholende Einerlei des Weltprozesses im Sinne einer rein naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Diese Ausf\u00fchrungen h\u00e4ngen freilich mit dem Grundproblem der Schrift nur noch durch den d\u00fcnnen Faden des eud\u00e4monistischen Grundgedankens zusammen.\nA D\u00f6bing (Grofs-Lichterfelde).\nP. Sollier. Psychologie de l\u2019Idiot et de l\u2019Imb\u00e9cile. Paris, Alcan 1891. 276 S.\n\u2014 Der Idiot und der Imbecille. Eine psychologische Studie. \u00dcbersetzt von Dr. P. Brie. Hamburg, Leopold Voss, 1891.\t226 S.\nS. h\u00e4lt es f\u00fcr unzweckm\u00e4fsig, den psychologischen Zustand der Idioten mit dem gesunder Kinder zu vergleichen. Auch die Intelligenz der Tiere ist nicht verwendbar, weil der Idiot, auch der erzogene, immer ein anormales Wesen ist. Die bisherigen Definitionen des Begriffes Idiotie werden dann kritisiert; keine derselben pafst auf alle F\u00e4lle, es giebt eben keine Idiotie, sondern nur Idioten. S. selbst giebt dann folgende Erkl\u00e4rung: \u201eist die Idiotie eine auf verschiedenartigen Ver\u00e4nderungen beruhende, chronische Gehirnerkrankung, welche charak-","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n241\nterisiert ist durch St\u00f6rungen der intellektuellen, sensitiven und motorischen Funktionen bis zur fast vollst\u00e4ndigen Aufhebung derselben, und die ihren besonderen Charakter, namentlich was die intellektuellen St\u00f6rungen betrifft, nur dem jugendlichen Alter der Individuen entlehnt, die sie bef\u00e4llt.\u201c\nS. stellt drei Kategorien der Idiotie auf:\n1.\tschwere Idiotie : vollst\u00e4ndige Geistesabwesenheit und Unverm\u00f6gen zur Aufmerksamkeit;\n2.\tleichte Idiotie : Schw\u00e4che und Erschwerung der Aufmerksamkeit ;\n3.\tImbecillit\u00e4t : Unbest\u00e4ndigkeit der Aufmerksamkeit.\nEr benutzt also als Grundlage der Einteilung nicht die Sprache, oder die Triebe, oder den Gesamtzustand der geistigen F\u00e4higkeiten, sondern die Aufmerksamkeit, auf die er bei der Entwickelung und Erziehung das Hauptgewicht legt. Aus dem mehr oder weniger ausgesprochenen Mangel an Aufmerksamkeit folgert er die Nichtentwickelung der F\u00e4higkeiten und darum das dauernde Fehlen dieser Entwickelung, d.h. die Idiotie. Die Aufmerksamkeit, d. h. das spontane Aufmerken, scheint stets auf affektiven Zust\u00e4nden zu beruhen, die durch Sinneswahrnehmungen hervorgebracht werden.\nS. beginnt daher mit den Sinneswahrnehmungen und bespricht dann der Reihe nach die Aufmerksamkeit, die Triebe, die Gem\u00fctsbewegungen und ethischen Gef\u00fchle, die Sprache, die eigentliche Intelligenz, das Ged\u00e4chtnis, die Ideenassoziation, das Urteil, den Willen, das Selbstbewufst-sein und die Verantwortlichkeit, immer nur in Bezug auf Idioten und Imbecille, und beide nur ohne weitere Komplikation wie Epilepsie und dergl. Jedes Kapitel bringt eine Menge scharfer Beobachtungen und eine F\u00fclle neuer Gedanken. S. bevorzugt die Idioten, die er \u00fcberall mit grofser W\u00e4rme schildert, w\u00e4hrend er f\u00fcr die Imbecillen nichts \u00fcbrig hat, sie geh\u00f6ren eigentlich alle hinter Schlofs und Riegel! W\u00e4hrend er die ersten als extrasozial bezeichnet, nennt er letztere geradezu antisozial. Ihre wenig entwickelte F\u00e4higkeit benutzen sie nur dazu, um feindlich gegen ihre Mitmenschen vorzugehen. Das zeigt S. \u00fcberall in seinem Buche, namentlich in dem interessanten Kapitel \u00fcber die Gef\u00fchle.\nWie zu erwarten, l\u00e4fst sich S. sehr ausf\u00fchrlich \u00fcber die Aufmerksamkeit aus. Die Intelligenz ist proportional der Entwickelung der Aufmerksamkeit, die wiederum proportional ist der Entwickelung der Stirnlappen. Die letzteren sind bei Idioten nur unvollkommen entwickelt. Die Aufmersamkeit ist ein auf die motorische Kraft \u00fcbertragener Affektzustand. Da beide Faktoren beim Idioten ver\u00e4ndert sind, ist auch die Aufmerksamkeit gest\u00f6rt. Die St\u00f6rungen der Motilit\u00e4t die Schw\u00e4che der Empfindungen, die Unvollkommenheit des Sinneseind r\u00fccke \u2014 alles mindert die F\u00e4higkeit zur spontanen, auf \u00e4ufsere Dinge gerichteten Aufmerksamkeit. Aber auch die willk\u00fcrliche Aufmerksamkeit ist gering und fehlt ganz bei den tiefstehenden Idioten. Sie fehlt auch den wilden V\u00f6lkern, wie sie \u00fcberhaupt nur unter dem Druck der Verh\u00e4ltnisse, erst mit dem Fortschritt der Intelligenz entstanden ist. Die willk\u00fcrliche Aufmerksamkeit folgt der spontanen, sie ist ein soziologisches Ph\u00e4nomen, das Produkt von Disciplin und Gewohnheit.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie III.\n16","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nIritteraturbericM.\nDer Idiot hat sehr wenig willk\u00fcrliche Aufmerksamkeit, ist aber harmlos. Der Imbecille hat die Aufmerksamkeit bis zu einem gewissen Grade, aber es ist unm\u00f6glich, sie zu fesseln. Dabei hat der Imbecille eine relative Intelligenz, die auf falsche Bahnen gelenkt wird. Er wird dadurch gef\u00e4hrlich f\u00fcr die Mitmenschen, ist eben antisozial! Die Aufmerksamkeit der Imbecillen ist eine intermittierende, unbest\u00e4ndige. Die Unbest\u00e4ndigkeit der Aufmerksamkeit \u00e4ufsert sich auch in den Handlungen. \"W\u00e4hrend viele Idioten automatisch arbeiten, ohne einen Zweck im Auge zu haben, begreift der Imbecille den Zweck der Arbeit, er erm\u00fcdet aber sehr rasch und vergifst schliefslich die Arbeit. Danach kann man die Imbecillen einteilen in die zerfahrenen Zerstreuten und die vertieften Zerstreuten. Die sog. Vertieftheit fehlt den Idioten ganz.\nEs w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, die einzelnen Kapitel des Buches zu referieren. S. bringt zu viel des Interessanten. Fesselnd ist besonders noch der Abschnitt \u00fcber die Sprache. Intelligenz und Sprache gehen nicht Hand in Hand. Zur Intelligenz geh\u00f6rt, dafs das Gehirn entwickelungsf\u00e4hig ist und der Idiot oder Mensch die Sprache Anderer versteht. Manche Idioten denken weder in Wortgeh\u00f6rsbildern, noch in Wortgesichtsbildern, sondern in Bildern, die Handlungen darstellen. Also kann man auch ohne Worte denken, indem man eben mit H\u00fclfe der eben genannten Bilder denkt. Kinder von 1\u20141B Monat zeigen wirkliche motorische Aphasie. Die ersten Wortbilder sind Geh\u00f6rsbilder, dann kommen die Bewegungsbilder, schliefslich die Gesichtsbilder. Die neugeborenen Kinder leiden an motorischer Aphasie, weil ihr Artikulations-Centrum noch nicht gen\u00fcgend entwickelt ist. Idioten lernen meist erst versp\u00e4tet sprechen. Sie machen dieselben Phasen des Sprechens durch wie normale Kinder, doch folgen die Phasen sich langsamer, oder der Idiot bleibt auf irgend einer Stufe des Sprechenlernens stehen (Dysphasie und Lalopathie). Die Idioten verstehen nicht eher als sie sprechen. Das Zur\u00fcckbleiben der Sprache ist bei ihnen aber nicht eine Folge von Entwickelungshemmung des Artikulations-Centrums, sondern von Entwickelungshemmung des ganzen Gehirns. Der Idiot hat zugleich sensorische Aphasie. Wort und Begriff sind unabh\u00e4ngig voneinander.\nS. unterscheidet 4 Arten von idiotischer Stummheit: Stummheit durch das Fehlen von Begriffen; durch die central bedingte Unf\u00e4higkeit,, sie auszudr\u00fccken; durch die mangelhafte Bildung der Stimmwerkzeuge; und schliefslich Stummheit infolge von Taubheit oder Pseudo-Taubheit. S. erkl\u00e4rt sie durch motorische Aphasie und Worttaubheit. Bei jener versteht der Idiot alles, wms man sagt; bei dieser versteht er kein Wort,, was gesagt wird, kann auch kein Wort sprechen.\nDies Wenige wird gen\u00fcgen, um das Interesse f\u00fcr S. zu erwecken. Er stellt schliefslich Idioten und Imbecille folgendermafsen gegeneinander: \u201eDer Idiot ist vor allem ein zum Handeln und Denken unf\u00e4higes Gesch\u00f6pf; er ist ein unvollkommen entwickeltes Individuum. Der Imbecille dagegen ist ein abnorm, ungleichm\u00e4fsig entwickeltes Individuum, das die F\u00e4higkeiten besitzt zu handeln und zu denken ; diese aber sind notgedrungen meist abnorm, wie das Gehirn, das sie hervorbringt. Der Idiot kann dauernd eine gewisse Gutm\u00fctigkeit zeigen ; der Imbecille i\u00e7t","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturberich t.\n243\nEgoist, oft boshaft, selbst gegen die, welche es gut mit ihm meinen. Beim Idioten erreicht man mehr durch Milde, beim Imbecillen mehr durch Furcht. Jener ist sch\u00fcchtern, dieser anmafsend; jener arbeitsam, dieser ein verstockter Faulenzer ; jener ist gutm\u00fctig, dieser b\u00f6sartig. Bei jenem ist das Urteil schwach, bei diesem falsch; bei jenem der \"Wille schwach, bei diesem unbest\u00e4ndig. Der Idiot ist f\u00fcr die Suggestion kaum, der Imbecille sehr zug\u00e4nglich.\u201c\nMan mufs die Idioten, meint S., pflegen, wie die mit chronischen Krankheiten Behafteten, w\u00e4hrend man die Imbecillen als sch\u00e4dliche und gef\u00e4hrliche Gesch\u00f6pfe unsch\u00e4dlich machen mufs !\nMeistens wird man S. bei seinen Deduktionen Hecht geben m\u00fcssen, auch in seinem Bedauern, dafs f\u00fcr die Imbecillen die rechtliche Verantwortlichkeit nicht besteht, und dafs viele Imbecillen besser in Besserungsanstalten als in Krankenanstalten untergebracht w\u00e4ren. \u2014\nBitiE-Bonn sind wir zu Danke verpflichtet, dafs er durch seine wohlgelungene \u00dcbersetzung Solliee uns n\u00e4her ger\u00fcckt hat.\nUmpfenbach (Bonn).\nV. Magnan. Psychiatrische Vorlesungen. I. Heft. \u00dcber das \u201ed\u00e9lire chronique \u00e0 \u00e9volution syst\u00e9matique (Paranoia chronica mit systematischer Entwickelung oder Paranoia compl\u00e9ta). Deutsch von P. J. M\u00f6bius. Leipzig, Thieme, 1891. 63 S. Jt. 1.20.\nDie Ansichten des franz\u00f6sischen Psychiaters \u00fcber diejenige Form von Geistesst\u00f6rung, die wir auf deutsch Paranoia nennen, sind bekannt, und sie verdienen unsere volle Beachtung, wenn sie auch nicht von allen geteilt werden.\nNach Magnan hat die Paranoia, wie sie sich bei Entarteten zeigt, nichts mit jener, in Entwickelung und Verlauf streng systematischen Form gemein, hier System und Unheilbarkeit, dort Systemlosigkeit bei besserer Prognose.\nDie Paranoia compl\u00e9ta, wie sie M\u00f6bius nennen m\u00f6chte, ist eine Erkrankung des reiferen Alters und des r\u00fcstigen Gehirns, also nicht des entarteten. Sie zeigt eine lange Dauer, manchmal 50 Jahre und mehr, und ihr methodischer, stetig fortschreitender Verlauf l\u00e4fst deutlich 4 Abschnitte erkennen.\n1.\tPeriode der Vorbereitung; Illusionen, wahnhafte Auslegungen und stetig zunehmende Unruhe. Die Vorstellungen von Beeintr\u00e4chtigung und Verfolgung sind noch unbestimmt und treten mehr als Verdacht auf.\n2.\tPeriode der Verfolgung, Halluzinationen verschiedener Sinne, meist des Geh\u00f6rs. Der Kranke h\u00f6rt Zischeln, einzelne Worte, dann ganze S\u00e4tze und endlich vollst\u00e4ndige Dialoge.\n3.\tPeriode der Gr\u00f6fsenvorstellungen. Der \u00dcbergang geschieht entweder auf dem Wege der \u00dcberlegung oder ganz instinktiv durch Halluzinationen. Der Wahn ist verschieden und je nach Zeit und Bildungsstufe gef\u00e4rbt.\n4.\tDie Periode des Schwachsinnes.\nMit der fortschreitenden Erkrankung entzieht sich die erste Schl\u00e4fenwindung der Herrschaft des Vorderhirns, sie wird selbst\u00e4ndig, die in ihr zur\u00fcckbehaltenen Klangbilder der Worte gewinnen Leben und Laute,\n16*","page":243}],"identifier":"lit14783","issued":"1892","language":"de","pages":"240-243","startpages":"240","title":"P. Sollier: Psychologie de l'Idiot et de l'Imb\u00e9cile. Paris, Alcan 1891, Der Idiot und der Imbecille: Eine psychologische Studie. \u00dcbersetzt von Dr. P. Brie. Hamburg, Leopold Voss, 1891","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:02:58.370467+00:00"}