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{"created":"2022-01-31T16:56:38.645064+00:00","id":"lit14812","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Fraenkel","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3: 253-255","fulltext":[{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n253\nTierreich und viele interessanten aus Bevueberichten gesch\u00f6pften Beispiele von G-rufsformen hei wilden V\u00f6lkerschaften.\nGaupp (London).\nA. Mac Donald. Ethics as applied to criminology. Journ. of Mental Science Bd. 37. S. 10\u201418 (Jan. 1891).\nDer Unterschied zwischen eigentlichen Verbrechen und andern Formen pathologischer und abnormer Menschlichkeit ist nur ein Gradunterschied im Schlechten (wrong.); Grade, die bestimmt werden sollen nach der Gefahr oder dem Nachteil (moralischen, intellektuellen, physischen oder finanziellen), den ein Gedanke, ein Gef\u00fchl, ein Wollen oder Handeln der Gesellschaft bringt. Dies Princip sollte auch die Hauptbasis f\u00fcr die Bestrafung der Verbrecher sein; wobei sich Verf. mit der Theorie, die diese Basis in dem Grad der Willensfreiheit oder pers\u00f6nlichen Schuld sieht, auseinandersetzt. Der Best des Aufsatzes besch\u00e4ftigt sich mit der Frage, welches denn jene sch\u00e4dlichen Gedanken, Handlungen etc. seien und durch welche Methode sie festzustellen sind. Die Methode kann nur die scientifische sein, d. h. eine empirische, die sich auf alle festgestellten psychologischen, physiologischen und pathologischen That-sachen st\u00fctzt.\tGaupp (London).\nSighele. La folia delinquente. Arch, di Psichiatria XII (1891), S, 10\u201453 u. 222\u2014267.\nVon dem SpENCERSchen Satz ausgehend, dafs die Haupteigenschaften der Gesellschaft den Haupteigenschaften des (einzelnen) Menschen entsprechen und so die Grundlage der Soziologie bilden, zeigt Verfasser, dafs es bestimmte Ausnahmen von dieser Begel giebt, indem die Klassen, aus denen die Gesellschaft sich herausgebildet hat, in ihrer Eigenschaft als Kollektivindividuen ganz entgegengesetzten Anschauungen unterliegen, als die Individuen, aus denen sie bestehen. Demgem\u00e4fs m\u00fcsse man eine Kollektivpsychologie von der Sozialpsychologie unterscheiden. Der Ausfall der Geschworenen-Verdikte, die h\u00e4ufig gerade das Gegenteil von dem aussprechen, was der Einzelne im Sinne hat, wird als Beispiel angef\u00fchrt.\nKap. 1. F\u00fcr die Menge (folia), namentlich der Delinquenten, d. h. f\u00fcr in Gemeinschaft begangene Verbrechen, sei ein besonderer Mafsstab der Beurteilung anzulegen, hier trete somit eine besondere Psycho-Physiologie in ihr Becht. Die \u00e4ltere Juristenschule, der es gleichg\u00fcltig sei, ob ein Individuum von Epileptischen und Alkoholisten oder von gesunden Eltern abstamme, ber\u00fccksichtige bei der Strafabmessung nur die freie Selbstbestimmung und beachte nicht, ob ein Mensch unter dem Toben einer aufgeregten Menge ein Verbrechen begangen habe; die \u201epositive Schule\u201c dagegen h\u00e4lt die freie Selbstbestimmung f\u00fcr Illusion, die Phrasen von voller oder beschr\u00e4nkter Verantwortlichkeit f\u00fcr veraltet, und forscht nur nach der geeigneten Form der Beaktion gegen das Verbrechen.\nKap. 2. behandelt die Diagnose des \u00dcbels, gegen das man zu reagieren hat. Dahin geh\u00f6rt alles, was je von politischen, sozialen und religi\u00f6sen Verb\u00e4nden und Parteien an Unthaten im grofsen und kleinen","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nLitteraturbericht.\nver\u00fcbt worden ist \u2014 auf Grund moralischer Kontagion, von der noch heutigen Tages ganze Nationen angesteckt sind. Die Kontagion selbst, die von Zeit zu Zeit wahrhafte Epidemien entwickelt, beruht aber auf dem Gesetz der Nachahmung, dem jeder Mensch mehr oder minder unterworfen ist. (Tarde: Les lois de Vim\u00fcation. 1890). Die Nachahmung und damit auch die moralische Kontagion hat ihrerseits ihren Urgrund darin, dafs die seelische Th\u00e4tigkeit, wie jede andere organische, eine Reflexwirkung ist, die, durch einen \u00e4ufseren Stimulus geweckt, ins Leben tritt. Hier ist der Stimulus die Suggestion, der \u00dfeflex die Nachahmung. \u2014 Den Grund daf\u00fcr, dafs dieser Reflex stets in identischer Richtung erfolgt \u2014 z. B. bei der Selbstmordkontagion, bei dem Doppelwahnsinn, bei Epilepsie, bei den kanadischen Jumpers, bei den Ladahs u. a. m. \u2014 findet Yerf. in dem von Espinas durch Beispiele an Tieren belegten Satz, dafs jede Vorstellung eine entsprechende Begleiterscheinung im Muskel herbeif\u00fchre, indem wir nicht allein mit dem Gehirn, sondern mit unserem ganzen Nervensystem denken und ein pl\u00f6tzlich aufgenommenes Bild unausbleiblich entsprechendeBewegungen hervorruft, die nur ein energischer Gegenbefehl aufzuheben vermag. Je schw\u00e4cher aber das Denkverm\u00f6gen, um so ungest\u00fcmer die Bewegungen. Bei Wespen gen\u00fcgt ein Summen, bei V\u00f6geln ein leichter Fl\u00fcgelschlag, um allgemeine Panik hervorzubringen, bei einer Menschenmenge ist es ein Wort, ein Bild, das sie suggestioniert, bevor noch die Ursache der Erregung bekannt ist.\nKap. 3. Alles dieses zugegeben, ist doch der Einwurf berechtigt, warum eine aufgeregte Menge mehr zu b\u00f6sen, blutigen Thaten neigt, als zum Wohlwollen. \u2014 Die Antwmrt lautet, weil die angeborene tierische Wildheit im Menschen, die Lust an der Grausamkeit, unter dem Schutz der Menge sich leichter entwickelt und zu Verbrechen verleitet, die ein Einzelner zu begehen sich h\u00fcten w\u00fcrde. Mit der Zahl der Menge w\u00e4chst die \"\u00dcberzeugung, dafs man auf richtigem Wege ist. Der von Einem oder Wenigen in die Menge hineingetragene Zorn versetzt die Gem\u00fcter in eine wahrhaft psychische G\u00e4rung und reifst zu Thaten fort, wie die erste franz\u00f6sische Revolution sie in grofsem Mafsstabe zu Tage gef\u00f6rdert hat.\nIm zweiten, praktischen Teil seiner Abhandlung r\u00fcckt Verfasser seinem eigentlichen Zwecke, dem Beweise, dafs bei Massenverbrechen der Einzelne anders als bisher behandelt werden m\u00fcsse, n\u00e4her. Dazu dient ihm die Schilderung spezieller Scenen aus der ersten franz\u00f6sischen Revolution (Septembermorde 1792 \u2014 nicht 1793. Ref.), der Kommune von 1870- 71, des Ausstandes von D\u00e9cazeville 1886 und der Vorg\u00e4nge vom 8. Februar 1889 in Rom. \u2014 Von psychologischem Interesse ist dabei der durch das r\u00fccksichtslose Auftreten der b\u00f6sartigen Elemente gesteigerte Blutdurst der Massen, besonders der Frauen, und die Charakterschw\u00e4che der besseren, auf die der Schrecken als haupts\u00e4chlichstes Suggestionsmittel wirkt. \u2014 In der Kontagion des Blutdurstes bei Massenerhebungen bew\u00e4hrt sich die traurige Erfahrung, dafs die vieltausendj\u00e4hrigen Schichten der Civilisation, die die Menschheit mit ihrer T\u00fcnche \u00fcberlagern, wie mit einem Rucke \u2014 \u201eund zwar die letzten Schichten zuerst\u201c \u2014","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbeficht.\n255\nabspringen und die Bestie im Menschen in voller Nacktheit zeigen, \u2014 was den Atavismus am besten charakterisiert. \u2014 In einer durch jahrhundertelange Knechtung, Noth und Elend und durch die Erkenntnis ihrer Menschenrechte angestachelten Gesellschaft gewinnen die am meisten exzentrischen Geister und an ihrer Seite die moralisch Irrsinnigen, Halb- und Ganz-Verr\u00fcckten, \u201edie keine Eeue kennen\u201c, den gr\u00f6fseren Einflufs \u00fcber die Besonneren, die nach dem Austoben der Leidenschaft sich der in b\u00f6ser Gesellschaft ver\u00fcbten Unthaten \u201esch\u00e4men\u201c. \u2014 Denn die Suggestion, wie m\u00e4chtig sie auch sei, ist nicht immer im st\u00e4nde, den sittlichen Keim im Menschen g\u00e4nzlich zu zerst\u00f6ren, wie F\u00e9r\u00e9s\u2019, Pittes Experimente an Hypnotisierten sogar beweisen. \u2014 Die Zersetzung des Charakters, die aus einem ehrbaren Menschen einen Gelegenheits-, Gewohnheitsdieb u. s. w. durch Verf\u00fchrung, Umgebung und sonstige Ursachen macht, geschieht langsam, durch \u201eEvolution\u201c, bei der Masse urpl\u00f6tzlich, durch \u201eRevolution\u201c. \u2014 \u2014 Der ehrbare Mensch, der gelegentlich zum Verbrecher aus Leidenschaft wird, der von der Masse sich hinreifsen l\u00e4fst, hat noch ein Gewissen, der geborene Verbrecher nicht.\nDanach nun m\u00fcsse die Strafe \u2014 nein, nicht Strafe (denn sogar das Wort pena ist bei der neuen positiven Rechtsschule, der der Verfasser, ein r\u00f6mischer Jurist, angeh\u00f6rt, verp\u00f6nt), sondern die Reaktion bemessen werden, und zwar je nach der Gef\u00e4hrlichkeit (temibilit\u00e0) des Verbrechers, nicht nach der Gr\u00f6fse des Verbrechens selbst. Der gef\u00e4hrlichste ist selbstverst\u00e4ndlich der geborene (und irre) Verbrecher, der aus blofser Lust mordet und der demnach immer mit der h\u00f6chsten Strafe belegt werden m\u00fcsse. Nicht aber d\u00fcrfe gegen den suggestio-nierten, reuigen, der neben jenem an dem Massenverbrechen beteiligt ist, in gleicher Weise \u2014 durch perp\u00e9tua pena \u2014 reagiert werden.\nEine allgemeine Formel lasse sich \u00fcbrigens bei der R\u00fccksicht auf die noch herrschende klassische Schule nicht geben, h\u00f6chstens etwa die von Pdgliese, dafs Massenverbrechen immer als von halb-verantwortlichen Individuen begangen angesehen werden m\u00fcssen. Verfasser verweist auf die Zukunft.\tFraenkel (Dessau).","page":255}],"identifier":"lit14812","issued":"1892","language":"de","pages":"253-255","startpages":"253","title":"Sighele: La folla delinquente. Arch. di Psichiatria XII, 1891, S. 10-53 u. 222-267","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:56:38.645069+00:00"}