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{"created":"2022-01-31T16:59:21.861386+00:00","id":"lit14875","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Kries, Johannes A. von","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3: 257-279","fulltext":[{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das absolute Geh\u00f6r.\nVon\nJ. y. Kries.\nDie F\u00e4higkeit, die absolute H\u00f6he geh\u00f6rter T\u00f6ne jederzeit frei aus dem Ged\u00e4chtnifs zu erkennen, ist bekanntlich keine allgemein verbreitete. Sie wird in Musiker-Kreisen gew\u00f6hnlich kurz als ein absolutes Geh\u00f6r bezeichnet; ich will im folgenden diese Benennung, obwohl sich vielleicht manches gegen sie einwenden liefse, auch beibehalten, da es schwer sein d\u00fcrfte, ihr eine ganz einwurfsfreie von \u00e4hnlicher K\u00fcrze zu substituieren. Auch sei gestattet, das absolute Geh\u00f6r abk\u00fcrzungsweise durch A. G. zu bezeichnen. Dafs das A. G. sich bei musikalisch gut veranlagten Personen nicht gar zu selten findet und keineswegs, wie noch Valentin geglaubt hatte, eine ganz exceptionelle, kaum jemals zu beobachtende Eigent\u00fcmlichkeit des Geh\u00f6rsinnes darstellt, dies ist, so viel mir bekannt, in der sinnesphysiologischen Litteratur erst durch Stumpf1 angegeben und durch eine Anzahl spezieller Mitteilungen belegt worden, w\u00e4hrend es allerdings in den Kreisen der Musiker wohl schon lange bekannt war. Nicht minder aber giebt es auch sehr zahlreiche musikalisch gut, sogar hervorragend beanlagte Personen, welche kein A. G. besitzen. \u201eDie Natur, sagt Stockhausen,2 hat nur wenigen S\u00e4ngern ein absolutes Geh\u00f6r verliehen.............. Ob das relative\nGeh\u00f6r zu einem absoluten herangebildet werden kann, weifs ich nicht. Bei mir selbst habe ich es trotz allen Fleifses nie\nso weit gebracht............So giebt es auch Komponisten, die\nber\u00fchmt geworden sind, ohne ein absolutes Geh\u00f6r zu besitzen.\n1\tStumpf, Tonpsychologie, Bd. I, S. 305 f.\n2\tStockhausen, Gesangsmethode S. 1.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie III.\n17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nJ. v. Kries.\nIch erinnere z. B. an Meyerbeer, der stets eine kleine Stimmgabel oder Pfeife bei sich trug, um damit das Geh\u00f6rte zu vergleichen und zu pr\u00fcfen.\u201c\nDa im ganzen \u00fcber den Gegenstand bis jetzt nur wenig Material vorliegt, und da derselbe, wie ich glaube, nach mehreren Richtungen ein allgemeineres sinnesphysiologisches Interesse besitzt, so m\u00f6chte ich nachstehend meine darauf bez\u00fcglichen Beobachtungen mitteilen. Ich mufs dabei um Entschuldigung bitten, wenn ich \u00fcberwiegend von mir selbst reden werde j allein gerade der Umstand, dafs ich das A. G. in gewissem Mafse besitze (wenn auch keineswegs in der h\u00f6chsten Vollkommenheit, die \u00fcberhaupt vorkommt), hat einerseits schon seit langer Zeit meine Aufmerksamkeit diesem Gegenst\u00e4nde zugewandt, anderseits auch mir gestattet, manche Erfahrungen zu machen, welche durch Beobachtungen an anderen Personen nur schwierig zu gewinnen gewesen w\u00e4ren. Die Sp\u00e4rlichkeit der geeigneten Versuchspersonen und die grofsen individuellen Verschiedenheiten, welche das A. G. bei den Wenigen, die es \u00fcberhaupt besitzen, aufweist, sind in der That grofse Hindernisse f\u00fcr derartige Untersuchungen. Die gegenw\u00e4rtige Mitteilung verfolgt zum grofsen Teile auch den Zweck, \u00e4hnliche anzuregen, damit f\u00fcr das ganze Gebiet ein etwas reicheres Thatsachen-material gewonnen werde.\nEiner Anzahl von Personen, welche mich durch Mitteilung ihrer Erfahrungen, z. T. auch durch Anstellung von Versuchen unterst\u00fctzt haben, sei hier mein verbindlichster Dank gesagt, vor allem Herrn Konzertmeister R\u00f6ntgen in Leipzig, dessen sehr eingehende briefliche Mitteilungen mir in verschiedenen Richtungen \u00e4ufserst wertvoll gewesen sind.\nDas A. G. besteht, um mit einer etwas genaueren Bestimmung und Abgrenzung unsres Gegenstandes zu beginnen, in der F\u00e4higkeit, die H\u00f6he einzelner geh\u00f6rter Kl\u00e4nge ohne weiteres Hilfsmittel anzugeben. Es ist also namentlich von dem Intervallged\u00e4chtnis, dem \u201erelativen Geh\u00f6r\u201c zu unterscheiden. Dieses gestattet die gleiche Angabe nur dann, wenn kurz zuvor ein Ton geh\u00f6rt und dessen H\u00f6he auf andere Weise bekannt gegeben wurde. Man k\u00f6nnte vielleicht meinen, dafs die Unterscheidung des A. G. von dieser Art der Tonh\u00f6hen-Er-kennung nicht ganz sicher und streng durchzuf\u00fchren ist. Thats\u00e4chlich aber besteht hier eine ganz scharfe Grenze, und","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das absolute Geh\u00f6r.\n259\nzwar deshalb, weil die Erinnerung an die zuletzt geh\u00f6rten T\u00f6ne ganz ungemein schnell verschwindet. Es steht dies ganz in Einstimmung mit den Erfahrungen Wolfes.1 An mir selbst kann ich gerade durch die Eigent\u00fcmlichkeiten des A. Gr. \u00e4hnliches konstatieren. Diejenigen Kl\u00e4nge, f\u00fcr welche ich kein A. G. besitze, erkenne ich kurz nach dem H\u00f6ren anderer Kl\u00e4nge von bekannter H\u00f6he verm\u00f6ge der Intervallvergleichung. Diese M\u00f6glichkeit erstreckt sich aber immer nur \u00fcber wenige Minuten. Das A. G. funktioniert dagegen von derartigen Umst\u00e4nden v\u00f6llig unabh\u00e4ngig ; f\u00fcr die Erkennung solcher Kl\u00e4nge, f\u00fcr die ich ein A. G. besitze, ist es also gleichgiltig, ob seit dem H\u00f6ren anderer T\u00f6ne Minuten, Stunden oder Tage vergangen sind. Das A. G. stellt eine dauernde F\u00e4higkeit dar, welche in keiner Weise gerade von den letztgeh\u00f6rten T\u00f6nen abh\u00e4ngig ist.\nDas A. G. ist ferner zu unterscheiden von dem Ged\u00e4chtnis f\u00fcr Klangarten oder Klangkombinationen, verm\u00f6ge dessen ein geh\u00f6rter Accord als Dur-Dreiklang, als Quart-Sext-Accord u. dgl. erkannt wird; es handelt sich bei der uns besch\u00e4ftigenden Art des Ged\u00e4chtnisses darum, dafs er z. B. als E-dur-Accord erkannt wird. Weniger scharf abzugrenzen ist dagegen das A. G. von derjenigen Unterscheidungsf\u00e4higkeit f\u00fcr Hoch und Tief, welche in gewissem Mafse eigentlich jedermann besitzt. Auch Personen von geringster musikalischer Beanlagung und Bildung bezeichnen gewisse T\u00f6ne als hoch, andere als tief und erkennen an einzelnen Instrumenten, besonders wohl an der menschlichen Stimme, ob ein bestimmter Ton der obern oder der untern Grenze ihres Umfanges nahe steht u. dgl. Auch hier liegen ohne Zweifel Urteile \u00fcber die absolute Tonh\u00f6he vor. Wenn man gleichwohl dies noch kein A. G. nennt, so liegt dies, glaube ich, an folgendem. In der Bezeichnung der Tonskala wiederholen sich periodisch dieselben Namen, und es stehen auch die gleichbenannten T\u00f6ne alle in besonderen, durch die \u00dcbereinstimmung einer Keihe von Partialt\u00f6nen bedingten, Beziehungen. Hiermit h\u00e4ngt es ohne Zweifel zusammen, dafs wie ich f\u00fcr mich aufs Deutlichste ausgepr\u00e4gt finde und gewifs auch f\u00fcr andere Personen mit absolutem Geh\u00f6r gilt, alle gleichbenannten T\u00f6ne einen gemeinsamen Charakter zu haben scheinen.\n1 Wundts Philosophische Studien, Bd. Ill, S. 534 ff.\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nJ. v. Kries.\nAlle A besitzen f\u00fcr mich etwas besonderes, charakteristisches, was sie von den s\u00e4mtlichen 0, E. etc. unterscheidet. Die Erkennung dagegen, welches C ich h\u00f6re, ist eine Aufgabe ganz anderer Art, als die Unterscheidung von 0 und D.1 Stellen wir uns nun vor, was von Haus aus am wahrscheinlichsten ist, dafs die Erkennung der Tonh\u00f6he bei verschiedenen Menschen einfach mit verschiedenen Graden der Genauigkeit statthat, so wird hiernach begreiflich werden, dafs die haupts\u00e4chlich in Betracht kommende musikalische Verwertung dann v\u00f6llig auf h\u00f6rt, wenn die H\u00f6he mit einer Ungenauigkeit von einer Quart oder mehr erkannt wird; denn dann kann bez\u00fcglich der Benennung eines vorgelegten Tones gar nichts mehr ausgesagt werden. Vielmehr wird, wenn eine Benennung m\u00f6glich sein soll, die Genauigkeit des H\u00f6henurteils eine solche sein m\u00fcssen, dafs der Fehler jedenfalls nicht mehr als 2 oder 3 Halbt\u00f6ne betr\u00e4gt. Die Gewohnheit aber, geh\u00f6rte T\u00f6ne sich sogleich und immer als bestimmte Noten vorzustellen, wird sich sogar voraussichtlich nur da ausbilden, wo eine Erkennung bis auf einen Halbton stattfindet.\nIndem ich vorl\u00e4ufig von theoretischen Erw\u00e4gungen absehe und mich auf rein Thats\u00e4chliches beschr\u00e4nke, konstatiere ich zun\u00e4chst, dafs ich selbst und eine Anzahl mir bekannter Personen, ebenso wie die von Stumpf beobachteten dieses Verm\u00f6gen besitzen. Es wird (allerdings zum Teil unter gewissen noch n\u00e4her zu besprechenden Voraussetzungen) sowohl ein einzelner geh\u00f6rter Ton jederzeit richtig benannt, als auch ganze Accorde in ihrer Tonart erkannt. Da es sich hier, wie bekannt, um eine individuelle Eigent\u00fcmlichkeit handelt, so k\u00f6nnen wir sogleich die Frage aufwerfen, ob es gelingt, diejenigen Umst\u00e4nde anzugeben, von welchen das Vorhandensein oder Fehlen derselben abh\u00e4ngt. Nun ist klar, dafs ein gewisser Grad von musikalischer Ein\u00fcbung jedenfalls dazu erforderlich ist, damit dieses Tonged\u00e4chtnis in der gew\u00f6hnlichen Weise sich bemei-kbar mache und hervortrete; es m\u00fcssen eben die Bezeichnungen der verschiedenen T\u00f6ne erlernt sein. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dafs eine Erkennung auch in einem etwas anderen Sinne stattfindet, etwa ein Ton nicht als b oder d, sondern als\n1 Eine Aufgabe, die z. B. mir auch lange Zeit so wenig gel\u00e4ufig war, dafs ich die Bezeichnungen der verschiedenen Oktaven nicht sicher kannte und oft verwechselte.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das absolute Geh\u00f6r.\n261\n\u00fcbereinstimmend mit dem Ton einer bestimmten, dem H\u00f6rer bekannten Glocke oder Pfeife etc. wieder erkannt werde. Gleichwohl ist ohne Zweifel das Erlernen einer systematischen Bezeichnung der Tonh\u00f6hen f\u00fcr das Erkennen eine aufserordent-liche Unterst\u00fctzung, und eine Erkennung aller m\u00f6glichen verschiedenen Tonh\u00f6hen ohne den Besitz von Benennungen kaum m\u00f6glich. Eine ganz andere Frage ist es aber, ob das A. G. \u00fcberhaupt als ein Erfolg der Ein\u00fcbung, insbesondere l\u00e4ngerer musikalischer Besch\u00e4ftigung anzusehen ist. \u201eAlles h\u00e4ngt hier,\u201c sagt Stumpf, \u201evon der \u00dcbung, vom Ged\u00e4chtnis, eben damit aber auch von einem individuellen Koeffizienten ab.\u201c Ich erw\u00e4hne diesen Punkt haupts\u00e4chlich deshalb, weil meine Beobachtungen der naheliegenden und, wie es scheint, verbreiteten Meinung, dafs die \u00dcbung hier eine erhebliche Bolle spielt, nicht g\u00fcnstig sind. Mir scheint vielmehr von entscheidender Bedeutung eine individuelle Anlage zu sein. Hierf\u00fcr spricht zun\u00e4chst schon die Tatsache, dafs selbst Musiker von Profession nur zum kleinen Teil ein A. G. besitzen. Allerdings l\u00e4fst sich einwenden, dafs die musikalische Ein\u00fcbung grade auf die Erkennung absoluter Tonh\u00f6he nicht wesentlich gerichtet ist. Immerhin giebt es manche Musiker (die \u00c4ufserung Stockhausens in dieser Hinsicht wurde schon erw\u00e4hnt), welche grade auf die Erwerbung eines absoluten Geh\u00f6rs viel M\u00fche verwendet haben, ohne doch dies Ziel zu erreichen. Es scheint ferner auch, dafs diejenigen, die ein A. G. besitzen, sich desselben in der Begel so zu sagen von Anfang an erfreuen, d. h. dafs dasselbe schon in fr\u00fcher Jugend be-merklich wird, sobald die Benennung der T\u00f6ne erlernt worden ist. Es ist bekannt, was in dieser Hinsicht von Mozart berichtet worden ist.1 Herr Konzertmeister B\u00f6ntgen teilt mir mit, dafs sein Sohn (jetzt Konzertmeister in Amsterdam) schon im Alter von etwa 5 Jahren erkannte, dafs eine Stimmgabel nicht, wie ihm gesagt worden war, A, sondern As ang\u00e4be, was in der dem Knaben gel\u00e4ufigen Stimmung richtig war. Die meisten mit absolutem Geh\u00f6r begabten Personen berichten \u00c4hnliches. Die geringe Bedeutung der \u00dcbung zeigt sich noch deutlicher bei einem weniger guten Geh\u00f6r, wie z. B. ich es besitze. Ich habe Klaviert\u00f6ne, wie ich durch bestimmte Erinnerung feststellen kann, als achtj\u00e4hriger Knabe ganz sicher erkannt ; ich\n1 Vgl. Stumpf, Tonpsychologie, I, S. 280.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\n\u25a0J. v. Kries.\nhatte damals erst kurze Zeit (jedenfalls noch nicht 2 Jahre lang) Musikunterricht, auch keineswegs viel Gelegenheit Musik zu h\u00f6ren. Nun ist mein A. G., wie alsbald genauer zu besprechen sein wird, in dem Sinne ein beschr\u00e4nktes, dafs ich nicht jeden Klang, sondern nur gewisse Timbres sicher erkenne. Durch eine lange fortgesetzte und speciell auf das Tonerkennen gerichtete Ein\u00fcbung in den letzten Jahren ist es mir gleichwohl nur in sehr geringem Mafse gelungen, mein Erkennungsverm\u00f6gen in dieser Beziehung zu erweitern. Ich bin daher im Grunde geneigt zu glauben, dafs (wie es eine meiner Versuchspersonen ausdr\u00fcckt) in Bezug auf das Tonged\u00e4chtnis individuelle Anlage alles und \u00dcbung so gut wie nichts ausmacht.1 Mir ist auch trotz manchen Nachforschens kein Fall bekannt geworden, in dem ein wirkliches A. G. nachweisbar durch \u00dcbung erworben worden w\u00e4re. Nat\u00fcrlich kann ich diese Anschauung von der geringen Bedeutung der \u00dcbung nur als Vermutung aussprechen; es w\u00e4re erw\u00fcnscht, sie durch Erfahrungen anderer Beobachter, sei es nun best\u00e4tigt, sei es auch berichtigt zu sehen.\nSehr fraglich scheint mir ferner, um auch diesen Punkt hier gleich zu erledigen, ob das Tonged\u00e4chtnis mit einer besonders hochgradigen Leistungsf\u00e4higkeit des Geh\u00f6rsinns in anderen Beziehungen in einem regelm\u00e4fsigen Zusammenhang steht. Weder die absolute H\u00f6rsch\u00e4rfe, noch der Intervallsinn ist z. B. bei mir besonders hoch. Ich finde vielmehr in Bezug auf die Erkennung kleiner Differenzen dpr Tonh\u00f6he gute Geiger mir meist \u00fcberlegen. Ich m\u00f6chte danach glauben, dafs im Gegensatz zu dem A. G. die Feinheit des Intervallsinnes durch eine hierzu geeignete musikalische Bet\u00e4tigung (namentlich das Spielen von Streichinstrumenten) in hohem Grade gewinnt, und dafs meine geringe Leistungsf\u00e4higkeit in dieser Beziehung dem Umstande zuzuschreiben ist, dafs ich niemals ein Streichinstrument gespielt habe. Als ganz unrichtig mufs ich\n1 Auch Herr R\u00f6ntgen ist der gleichen Ansicht. \u201eEs scheint,\u201c schreibt er mir, \u201edafs die F\u00e4higkeit, die Tonh\u00f6he eines Klanges ohne alle weiteren Hilfsmittel zu bestimmen, manchen Menschen angeboren ist. Es sind oft Versuche gemacht worden, sich dieses Verm\u00f6gen durch \u00dcbung anzu-eignen; die Resultate sind aber immer nur sehr d\u00fcrftig und beschr\u00e4nken sich gew\u00f6hnlich darauf, die relative Tonh\u00f6he, d. h. die H\u00f6he eines Tones in Bezug auf einen andern gegebenen, bestimmen zu k\u00f6nnen.\u201c","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Uber das absolute Geh\u00f6r.\n263\ndie, wie ich h\u00f6re, neuerdings unter Musikern mehrfach vertretene Annahme bezeichnen, dafs Geiger im allgemeinen ein A. G. bes\u00e4fsen, Klavierspieler dagegen nicht. Mir sind (aufser mir selbst) noch mehrere andere Personen (nicht Musiker von Fach) bekannt, die ein gutes A. Gr. besitzen, ohne ein Streichinstrument zu spielen, wie ich auch anderseits vortreffliche Geiger kenne, denen jenes Verm\u00f6gen g\u00e4nzlich abgeht.1\nUnter den Bedingungen, von welchen die Erkennung der Tonh\u00f6he sich abh\u00e4ngig findet, giebt es einige, die, wenn auch vielleicht nicht in ganz b\u00fcndiger \"Weise erkl\u00e4rbar, doch zu manchen bekannten Thatsachen in dursichtiger Analogie stehen. Dahin geh\u00f6rt zun\u00e4chst, dafs f\u00fcr die Erkennung eine gewisse St\u00e4rke und Dauer der geh\u00f6rten T\u00f6ne erforderlich ist. Sehr deutlich ausgepr\u00e4gt ist dieser Umstand f\u00fcr mich bei solchen Kl\u00e4ngen, deren Erkennung eine schwierige und unsichere ist, wovon sogleich zu handeln sein wird. Hier finde ich die Erkennung nicht selten unm\u00f6glich, wenn ich einen Ton (z. B. den einer Lokomotiv-Pfeife) einmal kurz habe erklingen h\u00f6ren, w\u00e4hrend nach mehrmaliger Wiederholung des Pfiffs ein sicheres Urteil sich bildet.2 Bei den leicht erkennbaren Kl\u00e4ngen, wie z. B. Klaviert\u00f6nen, gen\u00fcgt eine geringe Intensit\u00e4t und auch sehr kurze Dauer, um das Urteil sogleich festzustellen. Immerhin l\u00e4fst sich konstatieren, dafs bei ganz kurzdauerndem Erklingen in minimaler Intensit\u00e4t, namentlich auch bei Verdeckung des Klanges durch gleichzeitige Ger\u00e4usche, die Erkennung beeintr\u00e4chtigt wird, was im Hinblick auf alle \u00e4hnlichen Urteils-Klassen nicht auffallen kann. Beachtenswerter ist die Thatsache, dafs, wie ich mit Stumpf und dessen Versuchspersonen finde, die Erkennung der Tonh\u00f6he in den mittleren Lagen am leichtesten und sichersten ist, w\u00e4hrend sie bei sehr hohen und noch mehr bei sehr tiefen T\u00f6nen schwieriger erscheint. Ich finde an mir\n1\tHerr R\u00f6ntgen teilt mir zur Illustration der Wirksamkeit des A. G-. mit, es sei Geigern, die ein solclies besitzen, wie z. B. ibm selbst und Herrn Joachim, durchaus unm\u00f6glich, mit einer Geige zu spielen, die um einen Halbton zu hoch gestimmt sei, wie dies z. B. Paganini f\u00fcr die Ausf\u00fchrung seines Es-dur Konzerts vorgeschrieben. Gerade aus der Thatsache, dafs Paganini diese Anweisung gegeben hat, l\u00e4fst sich also wohl schliefsen, dafs er selbst und zahlreiche andere Geiger in solcher Weise spielen konnten, also vermutlich kein A. G. bes\u00e4fsen.\n2\tYgl. \u00fcber die Art, wie bei dem wiederholten H\u00f6ren desselben Klangs verfahren wird, das weiter unten Gesagte.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nJ. v. Kries.\neine deutliche Verminderung der Sicherheit, etwa wenn die Tonh\u00f6he \u00fcber cIV oder unter C geht. Ohne Zweifel wird man diese Thatsache damit in Zusammenhang bringen d\u00fcrfen, dafs \u00fcberhaupt alle musikalischen Beziehungen bei sehr hohen und sehr tiefen T\u00f6nen sich weniger ausgepr\u00e4gt bemerklich machen, als in den mittleren Lagen. So ist es ja namentlich am Klavier schon schwierig, die tiefsten T\u00f6ne genau zu stimmen, und auch der Intervallsinn hat hier eine viel geringere Feinheit als bei den musikalisch haupts\u00e4chlich verwerteten Mittellagen. \u00c4hnliches gilt wohl f\u00fcr die h\u00f6chsten T\u00f6ne auch.\nAm merkw\u00fcrdigsten scheint mir aber die Abh\u00e4ngigkeit zu sein, in welcher die Erkennbarkeit der Tonh\u00f6he von der Klangart steht. Ich m\u00f6chte in dieser Hinsicht zuerst berichten, was ich an mir selbst zu beobachten Gelegenheit hatte, und dann das leider nur d\u00fcrftige Material beibringen, was ich in Bezug auf andere Personen habe zusammenbringen k\u00f6nnen. \u2014 Ich lasse, indem ich hier von verschiedenen Klangarten rede, zun\u00e4chst solche aufser Acht, welche \u00fcberhaupt keine deutlich ausgepr\u00e4gte Tonh\u00f6he besitzen und daher nicht ohne weiteres nachgesungen werden k\u00f6nnen; dies ist z. B. der Fall bei Kl\u00e4ngen, die, wie manche Glockent\u00f6ne, sehr zahlreiche und unharmonische Obert\u00f6ne enthalten, ferner bei starker Beimischung von Ger\u00e4uschen u. dgl. Kann dagegen die H\u00f6he eines Klanges sogleich und mit Sicherheit durch Nachsingen angegeben werden, so liegt nach mancherlei Analogien die Erwartung nahe, es werde hier f\u00fcr denjenigen, der ein A. G. \u00fcberhaupt besitzt, auch die Benennung der betreffenden Tonh\u00f6he als a, cis u. dgl. durchg\u00e4ngig in \u00e4hnlicher Weise m\u00f6glich sein. Es zeigt sich nun, dafs dies durchaus nicht der Fall ist. Ich habe diese Beobachtung an mir schon in meinen Knabenjahren gemacht und mich dar\u00fcber gewundert. Ich teilte damals f\u00fcr mich die Kl\u00e4nge in erkennbare und nicht erkennbare ein. Zu den ersteren geh\u00f6rten die T\u00f6ne des Klaviers und der meisten musikalischen Instrumente (sowohl Streichais Blas-Instrumente), zu den letzteren die Gesangt\u00f6ne der menschlichen Stimme, ferner Stimmgabelt\u00f6ne, die T\u00f6ne vieler Pfeifen, auch die mit der Lippe gepfiffenen T\u00f6ne. Um den Gegensatz, der in dieser Beziehung stattfindet, ganz hervortreten zu lassen, mufs ich bemerken, dass ich z. B. die Klaviert\u00f6ne mit grofser Sicherheit erkannte, so dafs Irrungen","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das absolute Geh\u00f6r.\n265\nfast niemals (und dann h\u00f6chstens um einen halben Ton) vorkamen, w\u00e4hrend hei Gesangt\u00f6nen ein Erkennen \u00fcberhaupt gar nicht stattfand. Die Erkennung der Tonh\u00f6he steht, wie hieraus hervorgeht, unter ganz anderen Bedingungen, als die Vergleichung zweier geh\u00f6rter T\u00f6ne oder auch eines geh\u00f6rten mit einem zuvor nur vorgestellten Tone, da in dieser Beziehung wenigstens innerhalb der hier eingehaltenen Grenzen die Klangart keine erhebliche Kolle spielt. Es mufs daher zuv\u00f6rderst festgehalten werden und ist in der That f\u00fcr die richtige Auffassung des ganzen Gebietes fundamental, dafs die Tonerkennung nicht auf der Vergleichung mit einem im Ged\u00e4chtnis aufbewahrten und unabh\u00e4ngig von dem geh\u00f6rten Tone existierenden oder hervorzurufenden Erinnerungsbilde irgend einer bestimmten Tonh\u00f6he zu beruhen braucht. Bes\u00e4fse ich eine richtige und jederzeit hervorrufbare Vorstellung von jedem beliebigen Tone oder auch nur von einem einzigen und beruhte die Erkennung geh\u00f6rter T\u00f6ne auf der Vergleichung mit solchen Erinnerungsbildern, so w\u00e4re ein derartiger Unterschied der Erkennbarkeit je nach der Klangart ganz undenkbar. Thats\u00e4chlich nun ist auch nichts dergleichen der Fall. Gegen\u00fcber der Aufgabe, einen bestimmten Ton mir frei aus der Phantasie vorzustellen und etwa durch Singen anzugeben, bin ich im h\u00f6chsten Mafse unsicher, und wenn ich es versuche, so gelingt es mir nur in Ausnahmsf\u00e4llen. Die ganze Tonerkennung hat also, wenigstens bei mir, mit einem durch Vergleichung sich bildenden Urteil nichts zu thun.\nEine zutreffendere Auffassung des Vorganges uns zu bilden werden wir dagegen in Ankn\u00fcpfung an die neuerlichen Er\u00f6rterungen der Assoziationsvorg\u00e4nge versuchen k\u00f6nnen. Die Erkennung der Tonh\u00f6he k\u00f6nnen wir mit Lehmann1 als eine Wiedererkennung durch Benennung bezeichnen, ja sogar als eines der einfachsten und reinsten Beispiele f\u00fcr diese Art der Erkennung ansehen.\nAllerdings gehen ja hinsichtlich der genaueren Auffassung dieser Vorg\u00e4nge die Anschauungen noch weit auseinander. Ob wir indessen hier eine reine \u201eBer\u00fchrungsassoziation\u201c oder zun\u00e4chst die Koproduktion eines Erinnerungsbildes fr\u00fcher stattgefundener \u00e4hnlicher Empfindungen anzunehmen haben, ist f\u00fcr\nLehmans, Wundts Philosophische Studien, 1889.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nJ. v. Kries.\nuns hier nicht von wesentlichem Belang. Jedenfalls h\u00e4tten wir in der Entstehung des Benennungsurteils einen, in den allgemeinen B,ahmen der assoziativen Verbindungen fallenden Effekt der jeweils das Ohr affizierenden Kl\u00e4nge zu erblicken. Wir k\u00f6nnten nun demgem\u00e4fs sagen, daf's gewisse Kl\u00e4nge einen bestimmten Namen reproduzieren, andere aber nicht. Darin ferner, dafs ein Klang dies thut, andererseits aber die Vorstellung des Ton-Namens keineswegs ausreicht, um die Vorstellung der betreffenden Tonh\u00f6he hervorzurufen, w\u00fcrde man ein ganz interessantes, aber keineswegs vereinzeltes Beispiel f\u00fcr \u25a0den allgemeinen Satz finden, dafs Assoziationswege nicht allemal in der einen und in der entgegengesetzten Dichtung gleich gangbar sind. So kommt es ja z. B. beim Erlernen einer fremden Sprache sehr h\u00e4ufig vor, dafs wir ein Wort derselben verstehen (seine Bedeutung kennen), sobald wir es h\u00f6ren, es uns aber nicht einf\u00e4llt, wenn wir es suchen; es wird also der zugeh\u00f6rige Begriff durch das Wort reproduziert, nicht aber umgekehrt.\nIndessen glaube ich, dafs die Vorstellung, von der soeben ausgegangen wurde, doch noch einiger Modifikationen bedarf. Wir konnten uns ihr zufolge wohl denken, dafs gewisse Kl\u00e4nge einen Ton-Namen reproduzierten und andere nicht, vielleicht auch, dafs die einen dies stets, andere nur gelegentlich unter besonders g\u00fcnstigen Bedingungen thun u. dgl. Doch w\u00fcrde diese Auffassung keineswegs ausreichen, um die Mannigfaltigkeit der Vorg\u00e4nge, die thats\u00e4chlich beim Erkennen stattfinden, zu decken. Wir m\u00fcssen aber auch bedenken, dafs es doch notwendig ist, das Benennungsurteil von einer blofsen Koexistenz der beiden Bewufstseinsinhalte (der gegenw\u00e4rtigen Geh\u00f6rsempfindung und des Namens), wie sie die einfachste Eolge einer Assoziation w\u00e4re, zu unterscheiden, ein Punkt, der, wie ich glaube, in den Theorien und Er\u00f6rterungen \u00fcber Assoziation vielfach nicht gen\u00fcgend ber\u00fccksichtigt wird. Selbstverst\u00e4ndlich ist das Erkennen, die Entstehung des Urteils \u201edieser Ton ist cu nicht dadurch zu ersetzen, dafs ich gleichzeitig mit dem H\u00f6ren des betreffenden Tones etwa willk\u00fcrlich mir die Bezeichnung c vorgestellt habe. Es geh\u00f6rt also zu der Entstehung des Benennungsurteils neben der Koexistenz der in dasselbe eingehenden Vorstellungen (Empfindung und Name) doch noch etwas weiteres ; es bleibe zun\u00e4chst dahin-","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das absolute Geh\u00f6r.\n267\ngestellt, was. Auf dieser Basis erst werden eine Reihe von Besonderheiten verst\u00e4ndlich, welche (bei mir) die Tonerkennungen zeigen. Erstlich kann es Vorkommen, dafs das H\u00f6ren eines Tones mir sogleich eine gewisse Benennung, sagen wir c, reproduziert, trotzdem aber ich schliefslich in Zweifel bleibe, oh ich c oder d h\u00f6re. Anderseits aber ist die Erkennung auch dadurch noch nicht ausgeschlossen, dafs sich mir beim H\u00f6ren des Tones nicht sogleich eine bestimmte Bezeichnung aufdr\u00e4ngt. Die Erkennung wird unter diesen Umst\u00e4nden ge-wissermafsen Sache eines Probierens, eines Tatonnements. Ich versuche also z. B. (ganz willk\u00fcrlich), den Ton mir als ein c vorzustellen und konstatiere (ich weifs keinen treffenderen Ausdruck daf\u00fcr zu finden), ob dies geht, ob die Benennung pafst. Sehr oft empfinde ich dann aufs deutlichste, dafs das nicht der Fall ist, und gelange auch weiter, nach einigem Herumprobieren, bei einem andern Namen zu dem entgegengesetzten Ergebnis und somit zu der ganz sichern \u00dcberzeugung, dafs eine bestimmte Tonh\u00f6he vorliege, worin ich mich dann auch fast niemals t\u00e4usche. Man wird ohne Zweifel vermuten, dafs hier nun doch die Einmischung des umgekehrten Assoziationsweges vorhege, dafs ich mir z. B. unabh\u00e4ngig von dem geh\u00f6rten Tone die Tonh\u00f6he C mea sponte vorzustellen versuche, um diese alsdann mit dem geh\u00f6rten Tone zu vergleichen. Ich glaube indessen kaum, dafs dies der Fall ist. Die Aufgabe, einen bestimmten Ton mir vorzustellen, ist f\u00fcr mich, wie oben schon erw\u00e4hnt, eine sehr schwierige ; von dem ganzen, mir sehr wohl bekannten Verhalten, welches dabei eintritt, ist hier gar keine Spur vorhanden. So kommt es auch gar niemals vor, dafs etwa der willk\u00fcrlich vorgestellte Name eine andere Tonvorstellung hervorriefe und nun deren Nicht\u00fcbereinstimmung mit dem eben geh\u00f6rten Tone erkannt, der letztere dann etwa durch das Intervall bestimmt w\u00fcrde. Dieser indirekte Weg der Tonerkennung, der bei manchen Personen eingeschlagen werden mag, kommt bei mir nicht vor. Es handelt sich vielmehr, wie mir scheint, lediglich darum, dafs die Entstehung des Urteils durch die, zun\u00e4chst etwa rein willk\u00fcrlich hervorgebrachte Vorstellung des zutreffenden Namens beg\u00fcnstigt und erleichtert wird. Diese Thatsache findet auf zahlreichen G-ebieten des Ged\u00e4chtnisses in ganz \u00e4hnlicher Weise statt. Wenn uns z. B. der Vorname irgend einer Person ganz gel\u00e4ufig ist, so dokumentiert sich","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nJ. v. Kries.\ndies darin, dafs die ganze Vorstellung der Pers\u00f6nlichkeit sogleich den richtigen Vornamen reproduziert, sobald wir nur unsere Aufmerksamkeit darauf richten. Ist aber dies in geringerem Mafse der Fall, so f\u00e4llt uns h\u00e4ufig, auch wenn uns der Zuname erinnerlich ist, der richtige Vornamen nicht ein; wir k\u00f6nnen alsdann ein Probieren beginnen, welches oft genug zum gew\u00fcnschten Resultat f\u00fchrt, indem eine Anzahl von Vornamen, mit dem betreffenden Geschlechtsnamen zusammengef\u00fcgt, unverz\u00fcglich als falsch erkannt werden, schliefslich aber wir an einen kommen, bei dem ebenso unmittelbar die Richtigkeit der Verbindung erkannt wird. \u00c4hnliches findet sich, wenn wir die Jahreszahl eines historischen Ereignisses suchen, und d\u00fcrfte wohl \u00fcberhaupt sehr vielfach und besonders da Vorkommen, wo die Zahl der in Betracht kommenden Verkn\u00fcpfungen eine beschr\u00e4nkte und dadurch jenes Probieren sehr erleichtert wird.\nHiernach ist nun f\u00fcr den Grad der Erkennbarkeit, den ich irgendwelchen Kl\u00e4ngen zuschreiben kann, der Umstand, ob sie eine Benennung reproduzieren oder nicht, zwar auch von Bedeutung, aber nicht allein mafsgebend : vielmehr kommt es vor allem auf Art und Genauigkeit des schliefslich zu erzielenden Urteils an. \"Wenn ich die verschiedenen Kl\u00e4nge nach ihrer Erkennbarkeit rangiere, so mufs ich an die Spitze die Klaviert\u00f6ne stellen. Bei diesen ist die Erkennung der H\u00f6he eine ganz unmittelbare ; der richtige Name tritt sofort in die Vorstellung; ich bedarf hier keiner merkbaren Zeit der \u00dcberlegung, auch ist hier f\u00fcr mich mit derartigen Versuchen nicht die geringste geistige Anstrengung verbunden. Was den hier erreichten Genauigkeitsgrad anlangt, so m\u00f6chte ich glauben, dafs er, der Natur des Sinnesorganes nach, wohl \u00fcber die Erkennung von Halbtonstufen noch hinausgehen k\u00f6nnte, dafs aber verschiedene Umst\u00e4nde dem hinderlich entgegenstehen. Wenigstens kommt es ab und zu vor, dafs mir ein Ton z. B. anf\u00e4nglich als c erscheint, ich dann unsicher werde, ob er nicht vielleicht cis ist, woraus ich dann den richtigen Schlufs ziehe, dafs ich es mit einem im Vergleich zu der mir gel\u00e4ufigen Stimmung zu hoch stehenden c zu thun habe. Dafs die Erkennung der kleinen Differenzen der Tonh\u00f6he sich in dieser eigent\u00fcmlichen Art merkbar macht, liegt ohne Zweifel daran, dafs unser Benennungssystem keine kleineren Stufen als Halbt\u00f6ne kennt. Dieser Umstand erschwert naturgem\u00e4fs die Gewinnung von Sicherheit","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das absolute Geh\u00f6r.\n269\nin der Erkennung kleiner Tonstufen. In der gleichen Richtung ist wohl auch der \u00dcbelstand wirksam, dafs wir keine allgemein verwirklichte Normalstimmung besitzen und daher nicht in die Lage kommen, eine wirklich bestimmte Tonh\u00f6he immer wieder als a, c etc. dem Ged\u00e4chtnis einzupr\u00e4gen. So habe ich z. B. Jahre hindurch an meinem eigenen Klavier eine merklich niedrigere Stimmung als diejenige der zumeist geh\u00f6rten Orchestermusik gehabt. Die verschiedenen Klaviere, auf denen ich selbst gelegentlich spiele oder spielen h\u00f6re, stehen wieder alle mehr oder weniger ungleich. Es kommen hier im ganzen Differenzen vor, die sich dem Werte eines Halbtones ann\u00e4hern, und es ist begreiflich, dafs dieser Umstand einer genauen Ausbildung des Tonged\u00e4chtnisses hinderlich entgegensteht.\nIch finde nun, um zu anderen Klangarten \u00fcberzugehen, ann\u00e4hernd die gleiche Erkennbarkeit bei den durch Streichen hervorgebraehten Geigent\u00f6nen. Dagegegen ist die Genauigkeit eine schon etwas geringere z. B. bei Klaviert\u00f6nen, die ich durch Anreifsen der Saiten mit dem Finger hervorbringe; hier kommen mir (auch an meinem eigenen Fl\u00fcgel und in den Mittellagen) Irrungen von einem Halbton nicht ganz selten vor ; \u00e4hnlich wird es sich ohne Zweifel f\u00fcr die Pizzicato-Geigent\u00f6ne verhalten, wor\u00fcber ich keine Versuche angestellt habe. Bei den meisten Blasinstrumenten ist das Urteil in \u00e4hnlicher Weise etwa um einen Halbton unsicher, noch unsicherer bei den Zungenpfeifen, wie sie z. B. in den ApP\u00fcNschen Oberton-Apparaten benutzt werden, wo ich oft um einen ganzen oder anderthalb T\u00f6ne schwankend bin. Bei all diesen Kl\u00e4ngen reproduziert aber die Empfinduug, sobald ich \u00fcberhaupt darauf achte, die betreffende Benennung, wenn auch h\u00e4ufig in der unbestimmten Weise, dafs ich sogleich zwischen zwei benachbarten Bezeichnungen schwanke. An dem untersten Ende der Erkennbarkeits-Skala stehen nun jene oben erw\u00e4hnten nicht erkennbaren Kl\u00e4nge, welche zun\u00e4chst eine Benennung nicht sozusagen von selbst hervorrufen und bei welchen auch das oben erw\u00e4hnte Probieren ganz resultatlos bleibt. Ich kann also hier von einem Tone mir eben so gut einbilden, dafs er c als dafs er f ist etc. Ich glaubte nun fr\u00fcher, dafs zwischen diesen nicht erkennbaren und den erkennbaren T\u00f6nen eine ganz scharfe Grenze zu ziehen sei ; doch ist mir neuerdings sehr wahrscheinlich geworden, dafs dies nicht der Fall ist. Erstlich finden schon in Bezug","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nJ. v. Kries.\nauf die unmittelbare Reproduktion eines Ton-Namens mancherlei \u00dcberg\u00e4nge statt, sofern manche Kl\u00e4nge dies wohl ab und zu, aber nicht ganz regelm\u00e4fsig thun. Aufserdem scheint aber auch die Urteilsbildung alle m\u00f6glichen Grade der Genauigkeit aufzuweisen. Denn ich linde einerseits Kl\u00e4nge, welche nur \u00e4ufserst ungenau erkannt werden, anderseits scheint es naheliegend, anzunehmen, dafs das mich fr\u00fcher besonders frappierende Verhalten mancher Kl\u00e4nge, welche gar nicht erkennbar sind, seine Erkl\u00e4rung in dem schon oben ber\u00fchrten Umstande findet, dafs sich die Ton-Namen periodisch wiederholen und die gleich benannten in gewissen ausgezeichneten Beziehungen untereinanderstehen. Es wurde oben bereits ausgef\u00fchrt, dafs aus diesem Grunde die Erkennung, sobald sie unterhalb eines gewissen Genauigkeitsgrades bleibt, g\u00e4nzlich zu mangeln scheinen kann.\nAufserdem wird hier der Ort sein, zu erw\u00e4hnen, dafs ich das Gebiet dieser unerkennbaren Kl\u00e4nge durch eine lange dauernde Uebung in gewissem Betrage habe einschr\u00e4nken k\u00f6nnen. So erkenne ich jetzt namentlich Stimmgabelt\u00f6ne mit leidlicher Sicherheit,1 noch besser die Kl\u00e4nge hoher Pfeifen, wie z. B. die von Lokomotiven und anderw\u00e4rts benutzten Dampfpfeifen. Doch ist auch hier die Reproduktion des Tonnamens oft keine unmittelbare, und ich bin dann auf das vorhin geschilderte Probieren angewiesen, auch bin ich meist um mindestens einen Halbton unsicher. Ich erkenne also diese Kl\u00e4nge zwar entschieden besser als fr\u00fcher, aber noch jetzt nicht ann\u00e4hernd mit der Leichtigkeit und Sicherheit, wie ich sie gegen\u00fcber Klavier- und Geigent\u00f6nen besitze. Namentlich bedarf ich hier fast immer einer l\u00e4ngeren \u00dcberlegung. Die T\u00f6ne von Glocken und Gl\u00e4sern, selbst solchen, die keine merklichen unharmonischen\n1 Um in irgend einer Weise ein zahlenm\u00e4fsiges Material zu geben, will ieb erw\u00e4hnen, dafs z. B. in 20 Versuchen mit Stimmgabeln (ich benutzte 12 die chromatische Tonleiter a bis a1 darstellende Gabeln) 7 Urteile richtig, 8 um einen Halbton, 3 um einen ganzen, eines um zwei ganze T\u00f6ne falsch waren. Der Unterschied im Vergleich mit Klaviert\u00f6nen, bei welchen in dieser Lage Irrungen niemals (h\u00f6chstens bei einer von der gewohnten abweichenden Stimmung um einen Halbton) Vorkommen, ist also sehr deutlich. Der Hauptunterschied \u00fcbrigens tritt in solchen Zahlen nicht hervor; er besteht darin, dafs die Erkennung der Stimmgabelt\u00f6ne unmittelbar als eine viel schwierigere empfunden wird, l\u00e4ngerer \u00dcberlegung bedarf, das Urteil unsicher bleibt, zuweilen gar nicht abgegeben werden kann etc.","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber das absolute Geh\u00f6r.\n271\nObert\u00f6ne haben, sch\u00f6n und rein klingen und leicht nachzusingen sind, erkenne ich auch jetzt fast nie; doch macht sich bei ihnen, ebenso bei den mit den Lippen gepfiffenen T\u00f6nen und in noch h\u00f6herem Mafse bei den Gesangt\u00f6nen der menschlichen Stimme das eigent\u00fcmliche Verh\u00e4ltnis bernerklich, dafs Kl\u00e4nge von ganz gleicher Art zuweilen erkannt und zuweilen nicht erkannt werden. Ein junger Musiker (Herr W.) findet an sich ganz das Gleiche. Der Grund hierf\u00fcr liegt ganz zweifellos nicht blofs an den allgemeinen Verh\u00e4ltnissen der geistigen Disposition (Erm\u00fcdung u. dgl.); eher m\u00f6chte ich glauben, dafs es sich um geringf\u00fcgige, nicht unmittelbar bemerkbare Unterschiede des Timbres handelt, die die Erkennbarkeit beeinflussen. Vielleicht auch kommt es darauf an, ob die geh\u00f6rte Tonh\u00f6he mit einem Tone der dem H\u00f6renden gel\u00e4ufigsten Stimmung genau zusammenf\u00e4llt oder zwischen zwei hinein.1 Demgem\u00e4fs nun erkenne ich ab und zu den Ton einer Singstimme ganz sicher und genau (d. h. mit einer Irrung von h\u00f6chstens einem Halbton), doch ist das ein Ausnahmefall. Soprant\u00f6ne erkenne ich eher als die T\u00f6ne von M\u00e4nnerstimmen, von diesen aber hohe Tonlagen auch am ehesten. Im ganzen aber sind mir die T\u00f6ne der menschlichen Stimme immer noch die schwerst erkennbaren. T\u00f6ne, die ich selbst singe oder pfeife erkenne ich niemals.2\nEndlich mufs hier noch einiges \u00fcber die Erkennung von Ton-Komplexen angef\u00fcgt werden. Ich finde in dieser Hinsicht, dafs ganz unharmonische Zusammenf\u00fcgungen schwerer erkennbar\n1\tF\u00fcr diese letztere Auffassung spricht die Thatsache, dafs Kinder zuweilen die Untertasten des Klaviers sicherer als die Obertasten erkennen und hei dem Anschl\u00e4gen einer der letzteren nicht blofs, wie man zun\u00e4chst vermuten sollte, Fehler von einem Halbton, sondern von einer Quart machen, fis f\u00fcr cis halten u. dgl., was bei den T\u00f6nen der Untertasten nicht vorkommt. Solches berichtet Stumpf von einem achtj\u00e4hrigen M\u00e4dchen, das er zu pr\u00fcfen Gelegenheit hatte. Ich erinnere mich, dafs bei den fr\u00fchesten Versuchen in meiner Knabenzeit \u00c4hnliches stattfand.\n2\tDie vielfach gemachte Annahme, dafs das Erkennen der Tonh\u00f6he auf Empfindungen beruhe, welche die zum Singen des betr. Tones erforderliche Einstellung der Kehlkopfmuskulatur begleiten, wird hierdurch in zweifellosester Weise ausgeschlossen. Sie ist \u00fcberhaupt schon dem Umstande gegen\u00fcber unhaltbar, dafs die Erkennbarkeit der Kl\u00e4nge an ganz andere Bedingungen gekn\u00fcpft, ist als die M\u00f6glichkeit des Nachsingens.","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nJ. v. Kries.\nsind, als die einzelnen Elemente. Aus unharmonischen Kombinationen von 4 oder 5 Klaviert\u00f6nen kann ich zwar h\u00e4ufig, aber doch nicht ganz sicher die einzelnen T\u00f6ne angeben, am wenigsten in den tiefen Lagen und wenn die einzelnen T\u00f6ne nahe aneinanderliegen. Weit bemerkenswerter aber als diese Thatsache ist die Erleichterung, welche die Erkennung bei harmonischen Zusammenkl\u00e4ngen erf\u00e4hrt. Mir ist in dieser Einsicht von jeher besonders auff\u00e4llig gewesen, dafs mir jeder mehrstimmige Gesang (ohne Begleitinstrumente) sofort den Eindruck einer bestimmten Tonh\u00f6he macht, namentlich wenn die Intervalle mittlerer Konsonanz (Quinten, Quarten oder Terzen) darin Vorkommen. So gen\u00fcgt auch oft, wenn ich eine Stimme h\u00f6re und den Ton nicht erkenne, das Hinzutreten einer zweiten, sich eine Terz tiefer bewegenden Stimme, um das Urteil \u00fcber die Tonh\u00f6he festzustellen. Diese Thatsache ist sehr auff\u00e4llig, wenn man bedenkt, dass doch bei der Erkennung eines Accordes auch stets die H\u00f6he aller (oder wenigstens mehrerer) T\u00f6ne implicite erkannt wird. Bei einer von verschiedenen Instrumenten ausgef\u00fchrten Orchestermusik erkenne ich dem-gem\u00e4fs auch stets sicher die Tonart und zugleich, wenn nicht alle, jedenfalls die am meisten hervortretenden einzelnen T\u00f6ne.\nWas die Erscheinungen des A. G. an anderen Personen angeht, so habe ich wenigstens einige F\u00e4lle aufgefunden, welche zeigen, dafs der bei mir so ausgesprochene Einfluls der Klangart auf die Erkennbarkeit nichts ganz Exceptionelles ist. Am meisten \u00c4hnlichkeit mit dem meinigen hat das A. G. des Herrn Er. P. Dieser (guter Klavierspieler) schreibt mir dar\u00fcber folgendes: \u201eIch finde unmittelbar erkennbar nur die Klaviert\u00f6ne, und zwar derartig, dafs der Ton sofort und ohne irgend welche Vermittlung, auch ohne Hilfe der Verstandesth\u00e4tigkeit... erkannt wird. Dagegen habe ich diesen unmittelbaren Eindruck von allen anderen Arten der T\u00f6ne, also von T\u00f6nen der Streich-und Blasinstrumente, des Gesanges, Pfeifens, der Glocken etc. nicht.\u201c Zwar gelingt es Herrn P. meist, diese T\u00f6ne auf dem Umwege festzustellen, dafs er aktiv die Vorstellung irgend einer bestimmten Tonh\u00f6he hervorruft und diese mit dem geh\u00f6rten Ton vergleicht; doch ist dieses Verfahren nicht ganz sicher, weil bei jener aktiven Hervorrufung einer gew\u00fcnschten Tonvorstellung Irrt\u00fcmer unterlaufen. Die direkte Erkennung ist also bei Herrn P. noch beschr\u00e4nkter als bei mir, dagegen","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das absolute Geh\u00f6r.\n273\nist der Assoziationsweg vom Namen zur Tonvorstellung bei ihm entwickelter als bei mir, wenn aucb nicht ganz fehlerlos funktionierend.\nBei einem bekannten Berliner Musiker, der wegen der Sicherheit, mit der er Klaviert\u00f6ne auch in unharmonischen Zusammenkl\u00e4ngen erkannte, renommiert war, hatte ich zuf\u00e4llig Gelegenheit zu konstatieren, dafs er den Ton einer (geschulten und sehr klangvollen) M\u00e4nnerstimme um eine Quart falsch bezeichnete. Es ist mir leider nicht m\u00f6glich gewesen, gerade in diesem Fall genaue Beobachtungen anzustellen.\nBei einer jungen Dame, die sich eines guten, aber nicht gerade hervorragenden A. G. erfreut und neben Klavierspiel sehr viel Gesang getrieben hat, zeigten mir die Versuche auch eine entschiedene Bevorzugung der Klaviert\u00f6ne vor Stimmgabelund Gesangt\u00f6nen. Dieselbe trat namentlich darin hervor, dafs jene weit schneller und sicherer erkannt wurden, diese z\u00f6gernd und nach einiger \u00dcberlegung, wobei das Bed\u00fcrfnis bestand, sie \u201einnerlich nachzusingen.\u201c\nDer schon oben erw\u00e4hnte junge Geiger, Herr W., besitzt f\u00fcr Klavier- und Geigent\u00f6ne ein sehr vollkommenes A. G. Pfeifent\u00f6nen gegen\u00fcber funktioniert dasselbe in der dort angegebenen Weise unsicher, so dafs die Erkennung nur zuweilen stattfindet.\nFerner w\u00e4re hier die Thatsache anzureihen, dafs manche Personen zwar Accorde und die Tonart eines ganzen St\u00fcckes, nicht aber einzelne T\u00f6ne erkennen. Solches berichtet u. a. Stumpf von B,. Franz. Dieser war einzelnen T\u00f6nen gegen\u00fcber stets unsicher, w\u00e4hrend er bei Accorden oder St\u00fccken die Tonart beim Klavier oder Orchester stets richtig erkannte, nicht dagegen an der Orgel.\nIm Gegensatz hierzu kann nun allerdings leicht konstatiert werden, dafs es zahlreiche Personen auch giebt, f\u00fcr welche das A. G. nicht auf besondere Klangarten beschr\u00e4nkt ist. Als Beispiel hierf\u00fcr kann zun\u00e4chst Mozart angef\u00fchrt werden, von welchem sein Vater ank\u00fcndigte, \u201eer werde in der Entfernung alle T\u00f6ne, die man einzeln oder in Accorden auf dem Klavier oder auf allen nur denkbaren Instrumenten, Glocken, Gl\u00e4sern, Uhren etc. aufzugeben im st\u00e4nde ist, genauest erkennen\u201c.\nAber es scheint \u00fcberhaupt die F\u00e4higkeit, alle Kl\u00e4nge bez\u00fcglich ihrer H\u00f6he zu erkennen, nicht gar zu selten zu sein.\n18\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie III.","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nJ. v. Kries.\nHerr Konzertmeister R\u00f6ntgen findet alle \u201erein musikalischen\u201c Kl\u00e4nge (d.h. solche, die von Ger\u00e4uschen und von unharmonischen Obert\u00f6nen frei sind) gleich gut erkennbar, namentlich auch die T\u00f6ne der menschlichen Stimme. Auch an zwei hiesigen Musikern \u00fcberzeugte ich mich, dafs sie Gesang- und Stimmgabelt\u00f6ne sogleich richtig benannten; beide sagten, wie \u00fcberhaupt die meisten der in dieser Hinsicht befragten Personen, dafs ihnen irgend ein Unterschied der Erkennbarkeit zwischen den verschiedenen Klangarten niemals aufgefallen sei.\n\u00dcbrigens mufs wohl bemerkt werden, dafs, wenn auch alle Kl\u00e4nge richtig benannt werden und die betreffenden Personen einen Unterschied der Klangarten in dieser Beziehung nicht bemerkt haben, damit doch noch keineswegs konstatiert ist, ob ein solcher nicht doch besteht und der Genauigkeitsgrad der Erkennung bei verschiedenen Kl\u00e4ngen ungleich ist. Erst eine genaue systematische Untersuchung, deren Ausf\u00fchrung aber leider mit sehr grofsen Schwierigkeiten verkn\u00fcpft ist, k\u00f6nnte dies zeigen.\nW\u00e4hrend die Personen der zuletzt besprochenen Kategorie die h\u00f6chste Leistung des A. G. darstellen, scheint der geringste Grad desselben, der \u00fcberhaupt noch als A. G. bezeichnet werden darf, sich so zu pr\u00e4sentieren, dafs, \u00e4hnlich wie ich es an mir gewissen Kl\u00e4ngen gegen\u00fcber beobachte, die Erkennung eine unsicher funktionierende ist: sie findet gelegentlich statt, gelegentlich nicht, ohne dafs ein bestimmter Grund daf\u00fcr zu konstatieren w\u00e4re. Personen dieser Art pflegen, was sehr charakteristisch ist, von einem \u201eErraten\u201c der Tonh\u00f6he zu sprechen.\nVon den hier mitgeteilten Thatsachen d\u00fcrfte nun namentlich die, in manchen F\u00e4llen zweifellos vorhandene Abh\u00e4ngigkeit des Urteils \u00fcber die Tonh\u00f6he von der Klangart einer genaueren Er\u00f6rterung wert sein. Es erscheint n\u00e4mlich nicht recht verst\u00e4ndlich, weshalb f\u00fcr das H\u00f6henurteil nicht der Grundton allein mafsgebend ist, um so weniger, wenn man bedenkt, dafs bei der Vergleichung der H\u00f6he zweier, schnell nacheinander geh\u00f6rter Kl\u00e4nge thats\u00e4chlich blofs die \u00dcbereinstimmung der Grundt\u00f6ne in Betracht kommt. Zieht man ferner in Erw\u00e4gung, dafs alle m\u00f6glichen Kl\u00e4nge gleichen Grundtons mit demselben Namen benannt werden, so sollte man um so mehr erwarten, dafs die Benennung sich nur mit der Empfindung des Grund-","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das absolute Geh\u00f6r.\n275\ntones verkn\u00fcpfen, die begleitenden Partialt\u00f6ne aber daf\u00fcr irrelevant sein w\u00fcrden, ganz \u00e4hnlich, wie wir z.B. die M\u00f6glichkeit des Nachsingens auch thats\u00e4chlich innerhalb weitester Grenzen nur durch den Grundton bedingt, von der Klangart aber unabh\u00e4ngig finden. Im Gegensatz hierzu sehen wir in vielen F\u00e4llen Assoziation und Urteilsbildung nur ein treten, wenn ganz bestimmte Klangarten vorhanden sind, also jedenfalls nicht den Grundton allein daf\u00fcr mafsgebend.\nSuchen wir nach einer Erkl\u00e4rung, so wird sich wohl als n\u00e4chstliegend der Gedanke darbieten, dafs hier eine Folge der be-sondern Richtung vorliege, welche die Ein\u00fcbung genommen habe. Jedermann, kann man denken, h\u00f6rt gewisse Arten von Kl\u00e4ngen vorzugsweise h\u00e4ufig, er verkn\u00fcpft daher auch die Ton-Namen ganz vorzugsweise mit diesen besonderen Kl\u00e4ngen, und es erscheint nicht unverst\u00e4ndlich, dafs sie von diesen leichter und sicherer hervorgerufen werden als von andern. In der That k\u00f6nnte es nicht \u00fcberraschen, dais wenn eine Vorstellung (wie hier der Ton-Name) immer mit einem ganzen Empfindungs-Komplex zusammen vorkommt, alsdann auch f\u00fcr ihre Reproduktion der ganze Komplez erforderlich, nicht aber ein einzelner Teil desselben ausreichend ist. Ich glaube indessen nicht, dafs die Thatsachen sich in diesem Sinne gen\u00fcgend erkl\u00e4ren lassen. Nur die dominierende Stellung, welche die Klaviert\u00f6ne bez\u00fcglich ihrer Erkennbarkeit f\u00fcr mich und einige andere einnehmen, entspricht vielleicht jener Anschauung. Aber die besondere Schwierigkeit, welche ich bei den T\u00f6nen der menschlichen Stimme finde, l\u00e4fst sich danach nicht verstehen. Zuf\u00e4llige Verh\u00e4ltnisse haben es mit sich gebracht, dafs ich von meinem zw\u00f6lften Jahre an lange Zeit fast unausgesetzt sehr viel Gelegenheit gehabt habe, Singstimmen zu accompag-nieren. Nun giebt es nichts, was so geeignet w\u00e4re, das Tonerkennen zu \u00fcben, als das Begleiten, weil man immer auf die Prinzipalstimmen Acht geben und ihre Bewegung verfolgen mufs. Gleichwohl geh\u00f6ren die Gesangt\u00f6ne mir noch jetzt zu den am schwersten erkennbaren. Mit Geigern zusammen zu musizieren, habe ich dagegen erst viel sp\u00e4ter angefangen, und ich kann mit Sicherheit konstatieren, dafs ich die Geigent\u00f6ne erkannte, als ich noch keine erhebliche Ein\u00fcbung auf sie besitzen konnte. Auch kann man wohl kaum sagen, dafs die\n18*","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nJ. v. Kries.\nGeigent\u00f6ne den Klaviert\u00f6nen besonders \u00e4hnlich w\u00e4ren.1 Die hiernach schon unwahrscheinlich gewordene Annahme wird aber vollends unhaltbar gegen\u00fcber den Erscheinungen der Zusammenkl\u00e4nge. Einzelne Singstimmen h\u00f6rt man ja unendlich viel h\u00e4ufiger als mehrstimmigen Gesang. Findet man also in diesen und, wie es scheint, auch in andern \u00e4hnlichen F\u00e4llen die Accorde leichter erkennbar als einzelne T\u00f6ne, so kann dies ge-wifs nicht auf Unterschiede der \u00dcbung zur\u00fcckgef\u00fchrt werden.\nDagegen legen gerade diese Thatsachen eine andere Auf. fassung nahe. Man k\u00f6nnte n\u00e4mlich wohl geneigt sein, hier eine Art des Zusammenhanges psychischer Effekte anzunehmen, wie wir ihn in der That auf andern Gebieten nicht ganz selten finden. Es handelt sich dabei um die wechselseitige Unterst\u00fctzung verschiedener Assoziationsvorg\u00e4nge, allgemein formuliert darum, dafs zwar der Effekt a vorzugsweise an a und der Effekt \u00df vorzugsweise an b gekn\u00fcpft ist, gleichwohl a allein durch a nicht hervorgerufen werden kann, sondern nur a und \u00df zusammen durch a und b. Beispiele hierf\u00fcr sind namentlich bei pathologischer Behinderung der Assoziationsvorg\u00e4nge bekannt. So kommt es vor, dafs jemand die Worte eines Liedes nicht zu sprechen, sondern nur zu singen vermag.2 Auch der von Ehreneels3 angef\u00fchrte Fall, dafs jemand sich bestimmte Tonh\u00f6hen nur durch die Imagination eines bestimmten Musikst\u00fcckes vorzustellen vermochte, w\u00fcrde hierher geh\u00f6ren, und \u00fcberhaupt finden sich wohl auch innerhalb normaler Verh\u00e4ltnisse so manche \u00e4hnliche Erscheinungen.\n1 Als jedenfalls nicht zutreffend kann auch die Annahme bezeichnet werden, dafs die Erschwerung des Erkennens auf der Beimischung von Ger\u00e4uschen oder unharmonischen Obert\u00f6nen beruhe. Beide sind bei den schwer erkennbaren Kl\u00e4ngen oft gar nicht vorhanden. Eine Beimischung von Ger\u00e4uschen aber, wenn sie nicht sehr stark ist, behindert die Erkennung thats\u00e4chlich sehr wenig. Ich habe, seit Jahren auf die Erkennbarkeit verschiedener Kl\u00e4nge achtend, in dieser Hinsicht oft die auffallendsten Erfahrungen gemacht und in sehr stark mit Ger\u00e4uschen vermischten Kl\u00e4ngen, z. B. dem Schall einer Kreiss\u00e4ge oder eines knarrenden Hemmschuhs, sogleich die richtige Tonh\u00f6he erkannt.\n8 Vgl. \u00fcber F\u00e4lle dieser Art Wallaschek, \u00dcber die Bedeutung der Aphasie f\u00fcr den musikalischen Ausdruck. Vierteljahrsschrift f\u00fcr Musikwissenschaft, VII., 1891, S. 61.\n3 \u00dcber Gestaltqualit\u00e4ten. Vierteijahrsschrift f\u00fcr wissenschaftliche Philosophie 1890.","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das absolute Geh\u00f6r.\n277\nWenn von ganzen Accorden jeder einzelne Ton richtig benannt wird, jeder f\u00fcr sich allein aber nicht erkannt werden kann, so hat dies ohne Zweifel eine gewisse Analogie mit solchen Erscheinungen. Man k\u00f6nnte dann weiter vermuten, dafs bei einzelnen Kl\u00e4ngen ein gewisser Reichtum an Obert\u00f6nen diese den Accorden \u00e4hnlicher macht und die Erkennung beg\u00fcnstigt, dafs dagegen vorzugsweise schwer die nahezu oder ganz obertonfreien Kl\u00e4nge erkannt werden.\nMir scheint in der That dieser Erkl\u00e4rungsversuch noch am meisten Anspruch auf Beachtung zu haben, obwohl sich ohne Frage auch ihm manche Schwierigkeiten entgegenstellen. Erstlich sind doch auch bei Klaviert\u00f6nen die Obert\u00f6ne relativ schwach. Wenn ich, wie es der Fall ist, einen einzelnen kurz angeschlagenen Ton durch mehrere geschlossene T\u00fcren hindurch nur ganz schwach vernehme und gleichwohl \u00fcber die H\u00f6he keinen Augenblick im Zweifel bin, so erscheint es schwierig, da an eine Mitwirkung der Obert\u00f6ne zu denken; ein Heraush\u00f6ren derselben ist unter solchen Bedingungen v\u00f6llig unm\u00f6glich. Auf der anderen Seite sind auch die T\u00f6ne der menschlichen Stimme ja keineswegs frei von Obert\u00f6nen, im Gegenteil jedenfalls reicher daran als Stimmgabelt\u00f6ne. Trotzdem finde ich die Erkennung der ersteren viel schwieriger.\nOb hier die besondere Natur des Stimmklanges und die sich einmischende Erkennung der Vokale eine Rolle spielt? Ich habe nicht finden k\u00f6nnen, dafs es f\u00fcr die Erkennbarkeit von grofsem Einflufs ist, auf welchen Vokal ein Ton gesungen wird. Auch die mit geschlossenem Munde hervorgebrachten summenden T\u00f6ne, welche keinen Vokalcharakter haben, sind ebenso schwierig oder noch schwieriger, als die auf einen Vokal gesungenen zu erkennen. Wenn \u00fcbrigens, wie die Untersuchungen Hermanns ergeben, zwischen dem charakteristischen Ton des U und dem des 0 eine nur sehr geringe Differenz besteht (Uc2\u2014d2, Od2\u2014e2), so ist die Sicherheit, mit der die beiden Vokale unterschieden werden, und zwar von allen Menschen, im Hinblick auf die sonstigen Leistungen betr. Erkennung der Tonh\u00f6he sicher sehr merkw\u00fcrdig.1\n1 Versucht man, auf anderen Sinnesgebieten analoge Erscheinungen\nzu finden und einer genaueren Pr\u00fcfung zu unterziehen, so bietet sich hierzu in erster Linie das absolute Augenmafs, die Erkennung bestimmter, dem Ged\u00e4chtnisse eingepr\u00e4gter absoluten Gr\u00f6fsen. \u00dcber","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nJ. v. Kries.\nDie Auffindung einer ganz befriedigenden und sicher begr\u00fcndeten Erkl\u00e4rung der mitgeteilten Tatsachen mufs ich somit der Zukunft \u00fcberlassen. Eine systematische experimentelle Behandlung der Frage k\u00f6nnte wohl am ehesten dazu f\u00fchren. Mir ist es bis jetzt nicht m\u00f6glich gewesen, zu einer solchen zu schreiten, da ich mich nicht in den Besitz der umfangreichen Hilfsmittel habe setzen k\u00f6nnen, die zu einer systematischen Variirung sowohl der Klangfarben als der Tonh\u00f6hen erforderlich sind.\nAbgesehen von dem, was eine solche Erkl\u00e4rung etwa lehren w\u00fcrde, scheinen mir die Eigenheiten des absoluten Geh\u00f6rs in mancher Hinsicht interessant zu sein. Dafs von zwei T\u00f6nen, deren H\u00f6hengleichheit unmittelbar erkannt wird, der eine bez\u00fcglich seiner absoluten H\u00f6he sicher beurteilt wird, der andere aber nicht : dies kann als ein gewisser Mangel von Logik im psychischen Geschehn bezeichnet werden. In der That hat die Erscheinung wohl manche Analogie mit denjenigen, die Fleischl1 zu dem Ausspruche veranlafsten, \u201edafs die Gesetze der Logik, insbesondere der Satz des Widerspruchs nur G\u00fcltigkeit haben f\u00fcr Gedanken und Vorstellungen, nicht aber f\u00fcr unmittelbare Empfindungen\u201c, ein Satz, dessen Formulierung zwar wohl diskutierbar ist, der aber ohne Zweifel eine Anzahl theoretisch sehr wichtiger Thatsachen zum Ausdruck zu bringen w\u00fcnscht. Die Bedeutung derselben liegt, wie mir scheint, darin, dafs sie ein\neinige Thatsachen desselben habe ich von dem hier gegebenen Gesichtspunkte aus an anderer Stelle berichtet. Im Anschlufs an die besprochene Vermutung einer Beg\u00fcnstigung des Erkennens durch das Zusammenwirken vieler Elemente k\u00f6nnte man fragen, ob z. B. die Gr\u00f6fse ganzer Kreise genauer erkannt wird als der Abstand eines einzelnen Punktpaares. Ich habe hier\u00fcber Versuche in der Weise angestellt, dafs ich mir eine Anzahl von Punktpaaren herstellte, welche teils 49,5 teils 50,5 mm Abstand hatten, ebenso eine Anzahl von Kreisen von teils 49,5, teils 50,5 mm Durchmesser. Es wurde dann in zuf\u00e4lligem Wechsel eines der Punktpaare herausgegriffen und seine Gr\u00f6fse beurteilt. Die Versuche erstreckten sich \u00fcber viele Tage, da bei jedem Versuch der Einflufs des vorigen m\u00f6glichst verschwunden sein sollte, also t\u00e4glich nur eine m\u00e4fsige Zahl von Versuchen angestellt werden konnte. Analog wurde bei den Kreisen verfahren. Die noch nicht ganz abgeschlossenen Versuche haben aber schon herausgestellt, dafs die prozentische Zahl der richtigen Urteile bei Punktpaaren und bei ganzen Kreisen jedenfalls eine erhebliche Differenz nicht zeigt.\n1 v. Eleischl, Physiologisch-optische Notizen. Wiener Sitzungsberichte Math.-phys. CI, Bd. 86. 1882.","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das absolute Geh\u00f6r.\n279\nLicht darauf werfen, mit welcher Unmittelbarkeit und Zwangs-m\u00e4fsigkeit nicht selten Urteile sich an physiologische Vorg\u00e4nge von derselben Art kn\u00fcpfen, die wir sonst nur Empfindungen im strengsten Sinne des Wortes bewirken sehen. Doch w\u00fcrde die genauere Verfolgung dieses Gesichtspunktes zu sehr aufserhalb des Rahmens der gegenw\u00e4rtigen Mitteilung fallen und mag daher einer sp\u00e4tem Gelegenheit Vorbehalten bleiben.","page":279}],"identifier":"lit14875","issued":"1892","language":"de","pages":"257-279","startpages":"257","title":"\u00dcber das absolute Geh\u00f6r","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:59:21.861391+00:00"}