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{"created":"2022-01-31T13:52:34.918117+00:00","id":"lit14899","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Brentano, Franz","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3: 349-358","fulltext":[{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber ein optisches Paradoxon.\nVon\nFranz Brentano\nin Wien.\n1. Ein befreundeter Physiologe machte mich j\u00fcngst mit einem \u00fcberraschenden Falle optischer T\u00e4uschung bekannt, der \u2014 ich erfrug nicht durch wen \u2014 erst k\u00fcrzlich, ohne Beigabe eines Erkl\u00e4rungsgrundes, ver\u00f6ffentlicht worden war. Auf einem Bogen Papier zog er mir zwei gerade Linien. Sie liefen ungef\u00e4hr parallel nebeneinander; ihre L\u00e4nge betrug etwa 3, ihr Abstand 6 cm; dafs sie nahezu gleich sein m\u00fcfsten, war sehr sichtlich. Dann brachte er an ihren Endpunkten je zwei kleine gerade Linien an, bei der einen so, dafs sie spitze Winkel (von etwa 30\u00b0), bei der anderen so, dafs sie stumpfe (von etwa 150\u00b0) mit ihr bildeten. (Figg. 1 u. 2.)\nFig- !\u2022\tFig. 2.\nSofort schien von den zuvor gleichgesch\u00e4tzten Linien die erste betr\u00e4chtlich k\u00fcrzer als die zweite. Wie erkl\u00e4rt sich, frug der Gelehrte, diese h\u00f6chst auff\u00e4llige T\u00e4uschung?\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie in.\n28","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nFranz Brentano.\nMeine Antwort war, das Ph\u00e4nomen sei eine Folge der bekannten Thatsache der \u00dcbersch\u00e4tzung kleiner und der Untersch\u00e4tzung grofser Winkel. Ich erl\u00e4uterte kurz den Zusammenhang, vermochte aber den Physiologen, der sich bereits eine andere Hypothese gebildet hatte, nicht recht zu \u00fcberzeugen. Will ich dem Leser gegen\u00fcber eines besseren Erfolges sicher sein, so werde ich also den Fall wohl etwas umst\u00e4ndlicher er\u00f6rtern m\u00fcssen.\n2. Wie hatte ihn denn der erw\u00e4hnte Forscher seinerseits sich zurechtlegen wollen? Seine Auffassung war folgende: Wenn man die angef\u00fcgten Linien sehe, meinte er, komme einem unwillk\u00fcrlich der Gedanke, dafs sie wie gespannte Striche an den urspr\u00fcnglich gegebenen Linien z\u00f6gen. So associiere sich die Vorstellung eines Zusammengezogen- und Gedehntwerdens, und diese habe dann die ungleiche Beurteilung zur Folge.\nZeigen wir zun\u00e4chst, wie diese Auffassung wenigstens nicht wohl richtig sein kann.\nVor allem. Wenn etwas Dehnbares an entgegengesetzten Enden gezogen wird, so scheint es nicht blofs, sondern wird wirklich verl\u00e4ngert ; wenn aber etwas Undehnbares in \u00e4hnlicher Weise gezogen wird, so ist es \u2014 man mache nur den Versuch mit einem Bleistift oder l\u00e4ngeren Stabe \u2014 nicht richtig, dafs man einer T\u00e4uschung unterliegt, als sei es l\u00e4nger geworden. Offenbar sind die F\u00e4lle, wo Undehnbares gezogen wird, zu h\u00e4ufig, als dafs eine so energische Association der Vorstellung der Dehnung an die Vorstellung des Ziehens, wie sie f\u00fcr die vermutete Suggestion erforderlich w\u00e4re, sich bilden k\u00f6nnte.\nFerner. Damit, dafs etwas zusammengezogen und etwas anderes gedehnt wird, ist noch wenig wahrscheinlich gemacht, dafs das erstere das kleinere sei; es k\u00f6nnte ja urspr\u00fcnglich eine betr\u00e4chtlich gr\u00f6fsere L\u00e4nge gehabt haben. Die Versuchung zur T\u00e4uschung k\u00f6nnte also nur etwa f\u00fcr den bestehen, der die Linien vorher gesehen h\u00e4tte, w\u00e4hrend sich dies \u2014 man blicke nur auf die oben gezeichneten Figuren \u2014 als durchaus gleichg\u00fcltig erweist.\nEndlich noch ein experimentum crucis. Man setze statt der angef\u00fcgten geraden Linien, welche gespannten Strichen \u00e4hnlich genannt wurden, kleine flache Bogen mit der konvexen","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Uber ein optisches Paradoxon.\n851\nSeite der Hauptlinie (respektive einer gedachten Verl\u00e4ngerung derselben) zugekehrt. (Figg. 3 und 4.)\nFig. 4.\nFig. 3.\nDie T\u00e4uschung m\u00fcfste schwinden; sie besteht aber that-s\u00e4chlich ungeschw\u00e4cht fort.\n3. Wenn nun dieser Erkl\u00e4rungsversuch nicht durchf\u00fchrbar ist, in was anderem k\u00f6nnte man den Grund der T\u00e4uschung vermuten?\nEin Gedanke liegt nicht fern, und besonders die zuletzt betrachteten Figuren d\u00fcrften manchen darauf f\u00fchren. Wenn die zu vergleichenden geraden Linien in der Weise, wie es hier geschieht, an ihren Enden Ans\u00e4tze erfahren, so ist ihre Grenze nicht mehr so scharf markiert wie sie es fr\u00fcher gewesen. Infolge davon, k\u00f6nnte einer sagen, mag es geschehen, dafs man beim Vergleichen unvermerkt etwas hinzunimmt, was nicht mehr dazu geh\u00f6rt. Und namentlich erscheint es denkbar, dafs die Linie, wo die Ans\u00e4tze oben und unten unter stumpfen Winkeln stattfinden, \u00fcbersch\u00e4tzt wird, w\u00e4hrend f\u00fcr die andere eher das Gegenteil eintreten d\u00fcrfte.\nAber wer hierin den Anlafs der irrigen Sch\u00e4tzung sucht, ist leicht zu widerlegen; denn die T\u00e4uschung besteht fort, auch wenn wir die Linien, deren L\u00e4ngen zu vergleichen sind, l\u00f6schen und die schiefen Ans\u00e4tze allein in der Zeichnung bestehen lassen. Die Abst\u00e4nde der voneinander abgekehrten Winkelspitzen scheinen auch dann noch kleiner als die der einander zugekehrten, und doch kann von dem Zurechnen eines Teiles der Ans\u00e4tze zum Abstande unter diesen Umst\u00e4nden gewifs nicht mehr gesprochen werden. (Figg. 5 und 6.)","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nFranz Brentano.\nNebenbei sei bemerkt, dais der Fortbestand der T\u00e4uschung bei so ver\u00e4ndertem Ph\u00e4nomen nicht blobs diese, sondern als ein viertes und recht schlagendes Argument auch die fr\u00fchere Hypothese zu widerlegen dient. Von einem Zusammenziehen und Dehnen des blofsen Abstandes, dem keine gezeichnete Linie entspricht, an der die Ans\u00e4tze wie Striche angebracht w\u00e4ren, kann ja offenbar keine Hede sein.\nFig. 5.\tFig. 6.\n4. Aber eine dritte Hypothese bedarf noch einer kurzen W\u00fcrdigung. Vielleicht denkt sich einer den Anlafs der T\u00e4uschung auf folgende Weise gegeben. Wenn wir die Linien ihrer L\u00e4nge nach vergleichen, k\u00f6nnte er sagen, so bestreicht sie von einem Ende zum andern unser Blick, und die Muskelgef\u00fchle bei diesen Augenbewegungen dienen unserer Gfr\u00f6fsen-sch\u00e4tzung zum Anhalt. Wird nun die eine Linie in stumpfen Winkeln fortgesetzt, so geschieht es leicht, dafs man, indem die Ans\u00e4tze die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, beim Beginn der Bewegung nicht genau den Anfangspunkt, sondern einen Punkt, der noch aufserhalb der Linie und zwischen den Ans\u00e4tzen liegt, fixiert, und ebenso, dafs man beim Aufh\u00f6ren der Bewegung nicht genau mit der Fixation des andern Endpunktes abschliefst, sondern bis zu einem Punkte fortgleitet, der schon aufserhalb der Linie zwischen den Ans\u00e4tzen gelegen ist. Die Endpunkte der Linie m\u00f6gen dabei den \u00e4ufsersten Fixationspunkten immer noch nahe genug liegen, um gleichzeitig deutlich wahrgenommen zu werden, und so mag es uns vollst\u00e4ndig entgehen, dafs unser erster und letzter Fixationspunkt nicht der eigentlich erste und letzte Punkt der Linie sind. \u00c4hnliches wird da gelten, wo die Linie in spitzen Winkeln","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber ein optisches Paradoxon.\n353\nAns\u00e4tze erf\u00e4hrt. Indem diese Ans\u00e4tze unwillk\u00fcrlich die Aufmerksamkeit auf sich lenken, macht man unvermerkt einen Punkt, der innerhalb der Linie, zwischen den beiden Schenkeln liegt, zum ersten und wieder einen solchen zum letzten Fixationspunkte.\nDafs aber auch diese Hypothese nicht ausreicht, zeigt folgende einfache Variation des Experimentes. Statt unter schiefen, setze man die kleinen Linien unter rechten Winkeln an und f\u00fcge an die Ans\u00e4tze selbst noch weitere kleine gerade Linien, ebenfalls unter rechten Winkeln, bei der einen Figur nach innen, bei der anderen gabelf\u00f6rmig nach aufsen gekehrt.\n(Figg. 7 u. 8.)\nW\u00e4re der Grund der T\u00e4uschung derjenige, welchen die Hypothese vermutet, so m\u00fcfste sie bei dieser Variation ungeschw\u00e4cht sich erhalten. Aber das Gegenteil ist der Fall; die Versuchung zur T\u00e4uschung ist, wenn sie \u00fcberhaupt noch besteht, jedenfalls wesentlich geringer, so zwar, dafs, wie ich fand, selbst wenig ge\u00fcbte Beobachter bei einiger Aufmerksamkeit ihr nicht mehr erliegen, sondern alsbald f\u00fcr die Gleichheit der Linien sich aussprechen. Der allgemeinere und haupts\u00e4chliche Anlafs der T\u00e4uschung ist also jedenfalls ein anderer. Man sieht aus dieser Variation, dafs die schiefe Richtung der Linien von Belang ist.\n5. Dies f\u00fchrt auf das, was ich sogleich als den Erkl\u00e4rungsgrund der T\u00e4uschung bezeichnet hatte. Ich will nun den Gedanken ein wenig erl\u00e4utern. Zuvor aber verdient es wohl kurz bemerkt zu werden, dafs die optische T\u00e4uschung, um welche es sich handelt, auch in folgender, einfacherer Weise anschaulich gemacht werden kann. Man ziehe eine gerade Linie (am besten in einer Richtung, die weder horizontal noch vertikal ist), halbiere sie und bringe an dem einen Ende die kleinen geradlinigen Ans\u00e4tze in spitzen, an dem anderen parallel mit ihnen, also in stumpfen Winkeln an. In der Mitte endlich mache man ebenfalls zwei kleine geradlinige Ans\u00e4tze, unter denselben Winkeln, aber so, dafs keiner den ihm gleichseitigen Ans\u00e4tzen parallel ist. (Figg. 9 u. 10.)\nSofort tritt die Versuchung der T\u00e4uschung auf und zeigt sich ebenso stark wie fr\u00fcher. Und auch jetzt ist es nicht von\nm\nLJ\nLU\nh\nFigg. 7 u. 8.","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nFranz Brentano.\nBelang ob man die L\u00e4ngen wirklich gezogener Linien oder nur die von leeren Abst\u00e4nden der Winkelspitzen zu vergleichen unternimmt.\nFig. 10.\nDoch mehr noch und wesentlicher k\u00f6nnen wir die Figur vereinfachen, wenn wir die Zahl der kleinen Ans\u00e4tze unter schiefen Winkeln vermindern. Es ist interessant zu sehen, wie auch dann schon eine Versuchung zu gleichartiger T\u00e4uschung, aber in geringerer1 Kraft besteht. (Figg. 12\u201415.)\nFigg. 12\u201415.\nHiernach m\u00fcssen wir erwarten, dafs in abermals verminderter Kraft die Versuchung zu \u00e4hnlicher T\u00e4uschung auch\n1 Diese Abschw\u00e4ohung ist etwas, was sich als ein besonderes Argument gegen die unter Nr. 3 von uns widerlegte Hypothese verwenden liefse. W\u00fcrden die Ans\u00e4tze \u00fcberall nur einseitig angebracht, so w\u00e4ren die Endpunkte der zu messenden Linien nicht mehr, sondern eher weniger markiert, als in dem Falle, wo sie auf beiden Seiten angef\u00fcgt werden. Die Versuchung zur T\u00e4uschung m\u00fcfste also auf Grund jener","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber ein optisches Paradoxon.\n355\nschon bestehen werde, wenn wir nur zwei von den Punkten\nnehmen und von dem einen aus eine kleine Linie ziehen, mit\nwelcher eine zwischen den beiden Punkten\ngedachte Gerade einen spitzen oder stumpfen\nWinkel bilden w\u00fcrde. Sobald die kleine Linie\ngezogen ist, wird im ersten Pall der Abstand\nder beiden Punkte verkleinert, im zweiten \u2022\nvergr\u00f6fsert scheinen m\u00fcssen. Und diese\tFigg- 16 \u201c\u202211 \u25a0\nErwartung wird durch den Versuch best\u00e4tigt. (Figg- 16\nu. 17.)\nAber die kleine gerade Linie hat zwei Endpunkte, und f\u00fcr jeden von ihnen hat der eben ausgesprochene Satz gleich-m\u00e4fsig Geltung. Somit besteht f\u00fcr den Abstand des einen wie anderen von dem isolierten Punkte eine Neigung, ihn anders zu sch\u00e4tzen, als wenn die beiden Punkte, um deren Abstand es sich handelt, allein gegeben w\u00e4ren.\nBei dem einen ist man geneigt, seinen Abstand f\u00fcr kleiner, bei dem andern, seinen Abstand f\u00fcr gr\u00f6fser zu halten als in jenem Falle.\nHaben wir so das einfache Element, aus dessen Vervielf\u00e4ltigung die m\u00e4chtige Versuchung zur T\u00e4uschung erw\u00e4chst, gefunden, so ist es auch nicht mehr schwer, sie zu erkl\u00e4ren und deutlich zu\nMg. IS.\nHypothese bei einseitigen Ans\u00e4tzen gr\u00f6fser oder doch jedenfalls nicht\ngeringer sein. Auch'folgende Ab\u00e4nderung des Versuches kann dagegen\nverwertet werden. Man nehme drei Punkte, von welchen der zweite in\ngerader Richtung mitten zwischen dem ersten und dritten liegt, und\nf\u00fcge an jeden eine kleine gerade Linie, welche eben dieselbe Richtung\nhat. Von den angef\u00fcgten Linien sollen die erste und zweite zwischen\ndem ersten und zweiten Punkte, die dritte aber \u00fcber den dritten Punkt\nhinaus liegen. (Fig. 11.) Nach der be-\ntreffenden Hypothese w\u00e4re zu erwarten,\ndafs die Versuchung zur T\u00e4uschung hier\nebenso wie bei dem Anf\u00fcgen unter schiefen\nWinkeln best\u00e4nde, sie besteht aber that- ^\ns\u00e4chlich gar nicht, oder doch in viel ge-\tFlo- lu\nringerem Mafse. Selbst wenig ge\u00fcbte Beobachter sah ich leicht zu\neiner richtigen L\u00e4ngensch\u00e4tzung gelangen.","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nFranz Brentano.\n!\nmachen, wie sie sich in der That als Folge des Gesetzes der \u00dcbersch\u00e4tzung kleiner und der Untersch\u00e4tzung grofser Winkel erweist. Ich darf das Gesetz seihst beim Leser als bekannt voraussetzen, und auch das wird ihm erinnerlich sein, wie sich aus ihm schon verschiedene merkw\u00fcrdige F\u00e4lle optischer T\u00e4uschung begreiflich machen liefsen. So scheint in der folgenden Figur (Fig. 18) wegen \u00dcbersch\u00e4tzung von ab g nicht sowohl, wie es wirklich der Fall ist, c d, als vielmehr e f\nin der geradlinigen Fortsetzung von ab zu liegen. Und bei den sogen. Z\u00f6tLNERschen Figuren (Fig. 19) scheinen die durch kleine Linien schiefwinkelig geschnittenen Parallelen nicht mehr parallel zu sein, sondern abwechselnd nach der einen oder anderen Seite sich einander zu n\u00e4hern ; die ver\u00e4nderte Beurteilung der Bich-Fig. 19.\ttungen findet offenbar im Sinne der\nder \u00dcbersch\u00e4tzung der spitzen und Untersch\u00e4tzung der stumpfen Winkel statt.\nIn unserem Falle, in seiner einfachsten Gestalt, wo (vgl. Fig. 17) ein isolierter Punkt und eine kleine Linie einander gegen\u00fcberstehen, und der Abstand eines ihrer Endpunkte von dem isolierten Punkte gesch\u00e4tzt wird, haben wir nun auch einen schiefen Winkel, welchen die kleine Linie mit derjenigen bildet, die wir, den Abstand sch\u00e4tzend, in Gedanken zwischen ihrem einen Endpunkte und dem isolierten Punkte ziehen. Dieser Winkel wird falsch gesch\u00e4tzt, und infolge davon scheint uns die Lage der kleinen Linie im Verh\u00e4ltnis zur Lage einer zwischen dem Endpunkte und dem isolierten Punkte zu ziehenden Geraden ver\u00e4ndert.\nDies hat nun sehr nat\u00fcrlich einen Einflufs auf die Sch\u00e4tzung der Distanz selbst, denn, wo nicht zwei isolierte Punkte, sondern ein isolierter Punkt und der Endpunkt einer kleinen Linie in der Erscheinung vorliegen, hat nicht blofs die Lage der Punkte selbst, sondern alles, was, zur Erscheinung geh\u00f6rig, irgendwie ein Anhalt zur Sch\u00e4tzung des Abstandes werden kann, unwillk\u00fcrlich und so zu sagen instinktartig darauf einen Einflufs. Dies gilt also von der ganzen kleinen Linie bis zu ihrem anderen Endpunkte. Wenn nun die Richtung","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Uber ein optisches Paradoxon.\n357\nder Linie falsch, beurteilt wird, so mufs dieser Einflufs ein st\u00f6render sein. W\u00fcrde die Entfernung des einen Endpunktes vom isolierten Punkt richtig gesch\u00e4tzt werden, so m\u00fcfste bei falscher Sch\u00e4tzung der Winkel die des anderen sogar noch unrichtiger gesch\u00e4tzt werden, als es jetzt der Fall ist; nun aber wirken dieselben Ursachen, welche uns die Entfernung des einen Endpunktes unrichtig sch\u00e4tzen lassen, auch zur unrichtigen Sch\u00e4tzung der Entfernung des anderen. Und so zerteilt sich die Kraft, die zur optischen T\u00e4uschung f\u00fchrt, indem sie die Entfernung des entfernteren Punkts als geringer, die Entfernung des n\u00e4heren Punktes als gr\u00f6fser beurteilen l\u00e4fst, als wenn wir ihn nur isoliert mit dem isolierten in Vergleich gebracht h\u00e4tten. Auf der folgenden Eigur wird die Art der Wirkung der falschen Beurteilung der Lage der kleinen Linie durch die punktierte Linie angedeutet. (Eig. 20.)\nIst dies klar geworden, so ergiebt alles Weitere\tJ\nsich von selbst. Wir haben in der urspr\u00fcnglich vorgelegten Figur das gleiche t\u00e4uschende Moment achtfach gegeben; nat\u00fcrlich wird dadurch die Wirkung eine viel auff\u00e4lligere.\n\u00ae\t\u00f6\tPig q\nZur Best\u00e4tigung unseres Nachweises, dafs die T\u00e4uschung aus der \u00dcbersch\u00e4tzung kleiner und Untersch\u00e4tzung grofser Winkel entspringt, m\u00f6gen auch noch folgende vier\nVariationen des Versuches dienen. (Eig. 21\u201424.)\t\n< >\t\nFig. 21.\tFig. 22.\nC\ti>\tn u n w\nFig. 23.\tFig. 24.\nDie erste und\tzweite Figur zeigen die T\u00e4uschung in be-\nsonders hohem Grade, weil die Zerlegung der kleinen Winkel in noch kleinere die Ursache, die zur T\u00e4uschung f\u00fchrt, verst\u00e4rkt. Die dritte Eigur zeigt, dafs kleine Kreisbogen rechtwinkelig angesetzt, ungleich schw\u00e4cher wirken als spitze Winkel, w\u00e4hrend die vierte mit ihren geradlinigen rechten Winkeln","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nFrans Brentano-\n\u00fcberhaupt kaum zu einer T\u00e4uschung Anlafs geben kann; wenn aber, so aus einem ganz anderen, nur bei wenig vorsichtigen Beobachtern gegebenen Grunde, der unter Nr. 4 in Vorschlag gebracht, aber von uns als zur Erkl\u00e4rung des Ph\u00e4nomens ungen\u00fcgend befunden worden ist.\nDas Ergebnis unserer Untersuchung zeigt also, dafs der uns vorgelegte Fall optischer T\u00e4uschung nichts anderes ist, als was auf Grund eines schon bekannten Gesetzes konsequent erwartet werden mufste, so dafs man das neu beobachtete Ph\u00e4nomen, weit entfernt sich dar\u00fcber zu verwundern, eigentlich mit logischer Sicherheit h\u00e4tte Voraussagen k\u00f6nnen.","page":358}],"identifier":"lit14899","issued":"1892","language":"de","pages":"349-358","startpages":"349","title":"\u00dcber ein optisches Paradoxon","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:52:34.918122+00:00"}