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{"created":"2022-01-31T16:58:21.074194+00:00","id":"lit14903","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Hitschmann, Friedrich","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3: 388-397","fulltext":[{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Begr\u00fcndung\neiner Blindenpsychologie von einem Blinden.\nVon\nFriedrich Hitschmann in Wien.\nNicht ohne Z\u00f6gern habe ich mich zu der vorliegenden Arbeit entschlossen, weil ich mir keineswegs verhehlte, welche Schwierigkeiten sich der befriedigenden Durchf\u00fchrung einer Blindenpsychologie entgegenstellten.\nDie philosophische Forschung hat bisher wenig gethan, dieses Gebiet urbar zu machen, ja die Fachm\u00e4nner selbst scheinen von der Unm\u00f6glichkeit einer systematischen Darstellung der hierher geh\u00f6renden Materien \u00fcberzeugt, wenigstens hat der erste internationale Blindenlehrerkongrefs, der 1873 in Wien tagte, von der urspr\u00fcnglich geplanten Preisausschreibung f\u00fcr das beste Lehrbuch der Blindenpsychologie nach reiflicher Erw\u00e4gung der Frage Umgang zu nehmen beschlossen. Das Wenige, was an Vorarbeiten \u00fcber meinen Gegenstand existiert, findet sich verstreut in Zeitschriften, Vortr\u00e4gen und Brosch\u00fcren, so dafs es schwer zu \u00fcberblicken und noch schwerer zu sichten und unter einheitliche Gesichtspunkte zusammenzufassen ist. \u00dcbrigens sind die meisten dieser Ausf\u00fchrungen im Hinblick auf die Tendenzen der Blindenp\u00e4dagogik geschrieben, sie besch\u00e4ftigen sich mit den in Bede stehenden Fragen zun\u00e4chst unter Ber\u00fccksichtigung des praktischen Nutzens umd k\u00f6nnen daher f\u00fcr eine philosophische Behandlung derselben nicht viel mehr als f\u00f6rdernde Einzelheiten und anregende Winke enthalten. F\u00fcr die nachstehenden Untersuchungen sah ich mich demnach im wesentlichen auf die Daten angewiesen, welche","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Begr\u00fcndung einer Blindenpsychologie von einem Blinden. 389\nmir ein eifriges Selbststudium an die Hand gab und die ich durch Beobachtung an anderen Blinden nach Thunlichkeit zu erg\u00e4nzen und zu berichtigen bestrebt war.\nWill man meiner Arbeit daraufhin Mangel an wissenschaftlicher Exaktheit und Allgemeing\u00fcltigkeit der Resultate zum Vorwurf machen, so mufs ich es dulden, ja an der letzteren gebricht es ihr schon deshalb, weil ich nur den vollkommen und von Geburt aus Blinden zum Gegenst\u00e4nde meiner Betrachtungen gew\u00e4hlt und all die mannigfachen Modifikationen von vornherein ausgeschlossen habe, welche durch das Erblinden in sp\u00e4teren Jahren, oder durch einen erheblichen Rest des Lichtsinns hervorgerufen zu werden pflegen. Zu meiner Entschuldigung will ich mich \u00fcbrigens noch darauf berufen, dafs sich das Folgende keineswegs f\u00fcr mehr giebt, als f\u00fcr einen tastenden Versuch, dessen h\u00f6chstes Ziel darin besteht, die Aufmerksamkeit bew\u00e4hrter Forscher auf das bisher so wenig beachtete Gebiet der Blindenpsychologie zu lenken.\nVon der Thatsache ausgehend, dafs uns die Erkenntnis der Aufsenwelt ausschliefslich durch die Sinne vermittelt wird, gliedert sich die vorliegende Arbeit von selbst in zwei Teile. In dem ersten habe ich die Hauptpunkte aufzuzeigen, in denen sich das Sinnenleben des Blinden von dem des Vollsinnigen unterscheidet, und sodann in dem zweiten zu untersuchen, welchen Einflufs die so ver\u00e4nderten Elemente der sinnlichen Wahrnehmung auf die Ausgestaltung der Denk- undEmpfindungs-th\u00e4tigkeit des Blinden aus\u00fcben m\u00fcssen. Volle Zuverl\u00e4ssigkeit werden diese Ausf\u00fchrungen nach dem in der Einleitung Gesagten nur da f\u00fcr sich in Anspruch nehmen d\u00fcrfen, wo ich in der gl\u00fccklichen Lage bin, sie durch den Hinweis auf Erfahrungstatsachen zu verifizieren.\nDen weit verbreiteten Irrtum, als ob bei dem Absterben eines Sinnes die anderen von selbst, gleichsam um einen Ausgleich herbeizuf\u00fchren, mit gesteigerter Sch\u00e4rfe funktionierten, brauche ich an dieser Stelle nicht ausf\u00fchrlich zu bek\u00e4mpfen. Er entspringt aus der v\u00f6llig unbegr\u00fcndeten Voraussetzung, dafs eine ganz bestimmte Summe geistiger Kraft in dem Menschen vorhanden sei, die, wenn ihr eine Quelle der \u00c4ufserung verschlossen wird, sich mit um so gr\u00f6fserer Intensit\u00e4t an den Punkten kundgebe, welche ihrem Einflufs noch ausgesetzt geblieben. Ja, mit der geh\u00f6rigen Folgerichtigkeit durchgef\u00fchrt,","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nFriedrich Hitschmann.\nleitete dieser Satz zu der absurden Konsequenz, dafs einem Wesen, dem von allen Sinnen etwa blofs der Geschmack erhalten w\u00e4re, durch diesen allein ann\u00e4hernd gleichviel Empfindungen vermittelt w\u00fcrden, als den andern durch all\u2019 ihre gesunden Sinne zusammen. Kichtig ist nur, dafs infolge steter \u00dcbung und besonders durch ungew\u00f6hnliche Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf sonst minder beachtete Objekte der sinnlichen Wahrnehmung auch das Wahrnehmungsverm\u00f6gen als solches betr\u00e4chtlich gesteigert werden kann.\nHier aber begegnen wir bereits dem ersten und, wie mir scheint, einem hochbedeutsamen Unterschied. Es handelt sich n\u00e4mlich bei dem Blinden nicht blofs um eine Sch\u00e4rfung seiner gesunden Sinnesorgane schlechtweg, welche, um das Geh\u00f6r als das markanteste Beispiel herauszugreifen, ihm etwa die M\u00f6glichkeit gew\u00e4hrt, da noch etwas zu h\u00f6ren, wo der Sehende einfach nichts mehr h\u00f6rt, sondern er besitzt auch ein bisweilen unglaublich verfeinertes Unterscheidungsverm\u00f6gen im pr\u00e4gnanten Sinne des Wortes. Dafs der Grad von Unterscheidungsf\u00e4higkeit f\u00fcr verschiedene Geh\u00f6rsempfindungen auch in ein und demselben Geh\u00f6r verschieden sein kann, daf\u00fcr spricht unter anderem der Bericht eines Ohrenarztes, wonach einer seiner Patienten den Schlag der Uhr nur auf elf Centimeter Entfernung wahrnahm, w\u00e4hrend er gefl\u00fcsterte Worte noch auf dreifsig Meter Distanz verstand. Dieses augenscheinliche Mifsverh\u00e4ltnis kann wohl nur durch die Annahme erkl\u00e4rt werden, dafs der Betreffende in der Apperzeption der einen Art von Schallempfindungen einen h\u00f6heren Grad von \u00dcbung besafs. Ich selbst, obgleich die Sch\u00e4rfe meines Geh\u00f6rs nicht einmal die normale ist, bin im st\u00e4nde, meinem Vorleser auch dann noch zu folgen, wenn Sehende von weit sch\u00e4rferem Geh\u00f6r das Gelesene nicht mehr aufzufassen verm\u00f6gen.\nWie wichtig eine solche F\u00e4higkeit f\u00fcr den Orientierungssinn des Lichtlosen sein mufs, leuchtet ein. Dafs die menschliche Stimme in einem grofsen oder kleinen, in einem leeren oder mit Ger\u00e4ten \u00fcberf\u00fcllten Raume verschieden klingt, dar\u00fcber ist sich wohl auch der Vollsinnige ohne sonderliche M\u00fche klar, aber er d\u00fcrfte nur selten dahin gelangen, diese und \u00e4hnliche Dinge als Gegenstand unmittelbarer Erfahrung wahrzunehmen, weil f\u00fcr ihn keine N\u00f6tigung vorliegt, seine Aufmerksamkeit auf dergleichen zu richten. Dem Blinden dagegen wird es","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Begr\u00fcndung einer Blindenpsychologie von einem Blinden. 391\nnur durch die Verwertung solcher Beobachtungen m\u00f6glich, jene erstaunliche Sicherheit zu gewinnen, welche ihn etwa in den Stand setzt, weite Strecken in den belebten Strafsen einer Grofsstadt ohne F\u00fchrer zur\u00fcckzulegen.\nIch will, um die Beispiele f\u00fcr eine, wie mich d\u00fcnkt, ziemlich klare Sache nicht allzusehr zu h\u00e4ufen, nur noch auf eine Thatsache hinweisen, die man vielfach mit Mifstrauen und Zweifel betrachtet, f\u00fcr deren Bichtigkeit ich mich jedoch verb\u00fcrgen kann. Es handelt sich um ein Experiment, wobei man verschiedenartige Platten auf einen Tisch wirft und von Blinden hierauf bestimmen l\u00e4fst, nicht blofs welche Form dieselben haben, sondern auch, aus welchem Metall oder welcher Holzart sie bestehen. Dabei mag es nicht ohne Interesse sein zu erfahren, dafs die Zahl der richtigen Antworten mit davon abh\u00e4ngt, an welchem Tisch, ja sogar in welchem Zimmer der Versuch vorgenommen wird.\nWeit weniger als durch das Geh\u00f6r scheint mir das geistige Leben des Blinden durch den Tastsinn beeintlufst, dessen Bedeutung im allgemeinen und, wie ich glaube, auch von Fachm\u00e4nnern vielfach \u00fcbersch\u00e4tzt wird. Der Grund dieses Irrtums liegt wohl in dem Umstande, dafs die Tendenz der Blindenerziehung gegenw\u00e4rtig dahin geht, den Blinden dem Vollsinnigen m\u00f6glichst \u00e4hnlich zu machen. Ich werde sp\u00e4ter zu zeigen suchen, dafs diese Bestrebungen verfehlt sind, da das Seelenleben des Blinden in seiner Entwickelung jenem des Vollsinnigen zwar analog, aber keineswegs mit ihm identisch ist. An dieser Stelle gen\u00fcge der Hinweis, dafs, wenn man mit einem naheliegenden Bilde die Fingerspitzen als die Augen des Blinden bezeichnen will, diese doch als sehr kurzsichtige Augen angesehen werden m\u00fcssen. In der That k\u00f6nnen nur Gegenst\u00e4nde von einfacher Form und geringem Umfang durch das Tastgef\u00fchl unmittelbar von ihm wahrgenommen werden, w\u00e4hrend er alle komplizierten Figuren, so weit er sie sich \u00fcberhaupt vorstellen kann, erst durch die Kombination der durch den Tastsinn vermittelten Elemente gewinnt. Darum kann z. B. die sogenannte Brailleschrift, die auf der verschiedenen Gruppierung von sechs Punkten beruht, viel rascher und leichter gelesen werden, als das in tastbarem Beliefdruck hergestellte lateinische Alphabet.\nFreilich ist auch der Tastsinn bei sorgf\u00e4ltiger Pflege eines","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nFriedrich Hitschmann.\nhohen Grades von Vervollkommnung f\u00e4hig, die dann meistens auch eine entsprechende Vergr\u00f6fserung der manuellen Fertigkeiten im Gefolge hat. So lernen Blinde ziemlich rasch die verschiedenen Fr\u00fcchte und Bl\u00e4tter, wie auch mannigfache Gegenst\u00e4nde des t\u00e4glichen Gebrauchs in Thon oder Wachs nachzubilden; ja den Begabteren unter ihnen gelingt dies auch mit relativ kunstvoll verzierten Vasen und in Ausnahmef\u00e4llen sogar mit K\u00f6pfen. Indessen liegt hier nach meinem Daf\u00fcrhalten weit mehr technische Geschicklichkeit als k\u00fcnstlerische Anschauung und somit eine viel geringere Bereicherung des intellektuellen Lebens vor, als man auf den ersten Blick anzunehmen geneigt sein m\u00f6chte.\nKoch eklatanter zeigt sich dies bei dem kunstgerechtem Zerlegen von Bl\u00fcten, das unter Zuhilfenahme von Lippen und Zunge von technisch besonders beanlagten Blinden oft mit erstaunlicher Pr\u00e4zision ausgef\u00fchrt wird.\nDafs die Vorstellung des Raumes weit mehr von dem Geh\u00f6r als von dem Tastsinn abh\u00e4ngt, habe ich schon oben angedeutet, abgesehen davon, dafs diese Vorstellung im Geistesleben des Blinden eine viel geringere Rolle spielt als in dem des Sehenden. Der Gedanke vollends, Blinde durch Betasten eines Gesichtes Menschen erkennen oder gar ihre Seelenzust\u00e4nde aus ihrem Mienenspiel erschliefsen zu lassen, ein Motiv, das zur Erzielung besonderer Effekte mehrfach in Theaterst\u00fccken verwendet wurde, ist einfach ein Unding. Der Blinde denkt, soviel mir bekannt ist, Personen \u00fcberhaupt nicht, indem er sich ihre k\u00f6rperliche Erscheinung vergegenw\u00e4rtigt, und dies w\u00e4re auch v\u00f6llig unnat\u00fcrlich, da er sich dieselbe erst bewufst und absichtlich aus den zuf\u00e4llig gegebenen Details seiner Erfahrung konstruieren m\u00fcfste und auch dann wohl zu einem Abbild gelangte, das dem Original sehr un\u00e4hnlich w\u00e4re ; er verkn\u00fcpft vielmehr die geistige Pers\u00f6nlichkeit, um die es sich handelt, direkt mit dem sinnlichen Moment, das unmittelbar auf ihn einwirkt, also mit der Stimme.\nSo erkl\u00e4rt es sich, dafs der Blinde h\u00e4ufig und bisweilen sogar gegen seine bessere Einsicht in seiner Neigung oder Abneigung durch den angenehmen oder widerw\u00e4rtigen Klang einer Stimme beeinflufst wird, ganz wie es dem Vollsinnigen mit h\u00e4fs-lichen oder sch\u00f6nen Personen zu ergehen pflegt, und ich weifs in dieser Hinsicht keinen charakteristischeren Zug anzuf\u00fchren","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Uber Begr\u00fcndung einer Blindenpsychologie von einem Blinden. 393\nals den, welchen Anna P\u00f6tsch in ihrem feinsinnigen Aufsatz : Der Blinde und seine gesunden Sinne\u201c berichtet. Ein blindes M\u00e4dchen, heifst es dort bel\u00e4ufig, das dem Glesang einer ber\u00fchmten K\u00fcnstlerin wiederholt in stiller Andacht gelauscht und sich, ihrer Neigung folgend, die Pers\u00f6nlichkeit der letzteren aufs Sch\u00f6nste idealisiert hatte, rief, als ein Bekannter so grausam war, sie \u00fcber den schlechten Wandel jener dann aufzukl\u00e4ren, in naivem Schmerze aus: \u201eWenn diese Stimme l\u00fcgen konnte, so ist alles L\u00fcge.\u201c\nDie gleichfalls in jenem Aufsatz betonte Eigent\u00fcmlichkeit des Blinden, Personen nach ihrer Sprechweise beschreiben, ihre k\u00f6rperliche Erscheinung gleichsam aus dem Klang ihrer Stimme heraussch\u00e4len zu wollen, habe auch ich beobachtet, doch mufs ich ausdr\u00fccklich hinzuf\u00fcgen, dafs die so gewonnenen Figuren f\u00fcr mich durchaus nichts Plastisches haben, sondern sich verfl\u00fcchtigen, sobald ich aufh\u00f6re meine Aufmerksamkeit angestrengt auf sie zu konzentrieren. Nur beim Erwachen des Geschlechtstriebes sollen sich auch der Einbildungskraft des Blinden plastische Formen aufdr\u00e4ngen, indes d\u00fcrfte ein genaueres Studium ergeben, dafs auch diese Phantasiegebilde sich von denen des Sehenden wesentlich unterscheiden.\nDie letzten Erw\u00e4gungen geh\u00f6ren bereits dem zweiten Teil meiner Untersuchung an, indem ich mich, wie oben gesagt, mit der Frage zu besch\u00e4ftigen habe, in welcher Weise der Blinde die Elemente der sinnlichen Wahrnehmung in seinem Denk- und Gef\u00fchlsleben verarbeitet. Ich glaube, durch die vorstehenden Ausf\u00fchrungen das Folgende gen\u00fcgend vorbereitet zu haben, um so mehr, als die von mir nicht besprochenen Sinne zwar gleichfalls der Verfeinerung in hohem Grade f\u00e4hig, sonst aber, soviel ich weifs, bei dem Blinden nicht eigenartig entwickelt sind.\nDafs ich mich im Fortgang meiner Untersuchung, noch mehr, als dies bisher geschehen, auf blofse Andeutungen beschr\u00e4nke, erscheint durch Plan und Zweck meiner Arbeit wohl hinreichend motiviert.\nWir haben gesehen, dafs die Menge des Materials, das dem Blinden durch seine Sinne vermittelt wird, unverh\u00e4ltnism\u00e4fsig geringer ist als jenes, das dem Vollsinnigen zu Gebote steht. Abgesehen von jenen Eindr\u00fccken, die wie die Farbe aus-schliefslich durch den Lichtsinn vermittelt werden k\u00f6nnen und","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nFriedrich \u00c6tschmann.\ndem Blinden darum v\u00f6llig verschlossen bleiben m\u00fcssen, entwickeln sich in seinem Geiste naturgem\u00e4fs auch jene Gruppen psychischer Ph\u00e4nomene nur d\u00fcrftig, welche, wenn auch nicht untrennbar mit dem Gesichte verbunden, doch von diesem in wesentlichen Punkten abh\u00e4ngig sind, so dafs auf dem normalen Wege eine freie und reiche Entfaltung des intellektuellen Lebens f\u00fcr den Blinden ausgeschlossen scheint.\nWie verh\u00e4lt er sich nun aber gegen die F\u00fclle von Eindr\u00fccken, welche ihm durch Gespr\u00e4ch, Lekt\u00fcre etc. vermittelt werden, und f\u00fcr deren Perzeption seine sinnliche Wahrnehmung ihn gar nicht oder doch nur in unzureichendem Mafse vorbereitet? Dafs er sich mit ihnen abfindet, beweist der Umstand, dafs wir selten oder nie einem Blinden begegnen, der nicht f\u00fcr weit mehr Dinge Interesse und Verst\u00e4ndnis bes\u00e4fse, als wozu seine Sinne ihn zu bef\u00e4higen scheinen. Diese Assimilation des wesentlich Fremden besteht in einem psychischen Vorgang, den ich kurz als das Bilden von Surrogatvorstellungen bezeichnen m\u00f6chte. Im wesentlichen decken sich diese Surrogatvorstellungen mit dem, was Professor Meinong in seinen Hume-Studien als indirekte Vorstellungen bezeichnet hat. Indessen ziehe ich es im Hinblick auf die Funktion, welche diesen Ph\u00e4nomenen im psychischen Organismus des Blinden zukommt, vor, an dem von mir gew\u00e4hlten und auch von Fr\u00fcheren \u00f6fter gebrauchten Terminus festzuhalten, und will versuchen, an einem Beispiel klar zu machen, was ich mir darunter denke. Wenn man den Namen einer bestimmten Stadt, etwa London, aussprechen h\u00f6rt, denkt man, vorausgesetzt, dafs man London nicht vor sich liegen oder noch lebhaft in Erinnerung hat, nicht an die vielen Einzelvorstellungen, aus denen logisch genommen dieser Vorstellungskomplex besteht, auch nicht an charakteristische Einzelheiten, wie etwa an die geographisch bestimmte Lage Londons, wie sie uns von der Karte her gel\u00e4ufig ist, sondern all\u2019 dies tritt erst hervor, wenn wir unsere Aufmerksamkeit besonders auf diese Gegenst\u00e4nde richten. F\u00fcr gew\u00f6hnlich dagegen operieren wir mit dem Worte London, ohne uns ein auch nur insoweit anschauliches Bild der Stadt zu entwerfen, wobei \u00fcbrigens diese Unterlassung f\u00fcr den Verlauf unseres Denkens keine nachteiligen Folgen hat. Die Zahl solcher Surrogatvorstellungen nun ist f\u00fcr den Lichtlosen unverh\u00e4ltnism\u00e4fsig gr\u00f6fser als f\u00fcr den Vollsinnigen,","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Begr\u00fcndung einer Blindenpsychologie von einem Blinden. 395\nund er kommt weit h\u00e4ufiger als jener in die Lage, die so gewonnenen Begriffe gegebenenfalls nur mangelhaft realisieren, das heifst, auf eigentliche Vorstellungen zur\u00fcckf\u00fchren zu k\u00f6nnen. Wenn er, um bei dem fr\u00fcheren Beispiel zu bleiben, die Surrogatvorstellung Stadt in eine wirkliche zu verwandeln strebt, so wird ihm das nur unvollst\u00e4ndig gelingen, denn dieser Komplex setzt sich zwar auch f\u00fcr ihn aus dem Ger\u00e4usch der Wagen, dem Dr\u00e4ngen der Passanten, der mit Staub und Bauch erf\u00fcllten Atmosph\u00e4re und einer Menge \u00e4hnlicher Eindr\u00fccke zusammen, die beim Durchwandern einer Stadt auf seine Sinne eindringen, und die Einzelheiten m\u00f6gen ihm sogar mit gr\u00f6fserer Lebhaftigkeit und sch\u00e4rfer gesondert entgegentreten als andern, aber das, was f\u00fcr den Sehenden den Kern des Bildes ausmacht, der zusammenfassende Gesichtseindruck f\u00e4llt f\u00fcr ihn weg, und seine Vorstellung mufs daher notwendig unvollst\u00e4ndig bleiben.\nNebenbei bemerkt, w\u00e4re hier der Punkt, an den der P\u00e4dagog anzukn\u00fcpfen h\u00e4tte, um den Anforderungen gerecht zu werden, welche aus der eigent\u00fcmlichen Disposition des Blinden entspringen, denn gerade in den Surrogatvorstellungen liegt der Schwerpunkt seines geistigen Lebens, und von der Freiheit und Baschheit ihres Spieles weit mehr als von seiner Fertigkeit, die ihnen entsprechenden eigentlichen Vorstellungen aufzurufen, h\u00e4ngen die Fortschritte seiner Entwickelung ab. Kommt es doch gar nicht selten vor, dafs dem Blinden die Bealisierung einer Vorstellung ganz unm\u00f6glich bleibt, w\u00e4hrend ihm ihr Surrogat v\u00f6llig gel\u00e4ufig ist, so sind die Worte: Licht und Dunkel, Schwarz und Weifs etc. f\u00fcr ihn nicht, wie man vielleicht anzunehmen geneigt w\u00e4re, leerer Schall, sondern er kommt ihnen sozusagen nur von der verkehrten Seite bei, indem er sich zun\u00e4chst ihrer bildlichen Bedeutung bem\u00e4chtigt, von den lichten Tagen der Kindheit oder von der schwarzen Seele eines Verbrechers spricht. Ja, ich erinnere mich, Blinde mehrfach von hellen und dunklen T\u00f6nen reden geh\u00f6rt zu haben, \u00e4hnlich wie ja auch in der Malerei von Farbent\u00f6nen die Bede ist.\nDafs ein solches zum grofsen Teil nur mit Surrogatvorstellungen operierendes Denken auf die Ausgestaltung der gesamten geistigen Pers\u00f6nlichkeit von gr\u00f6bstem Einflufs sein mufs, leuchtet ein. Besonders l\u00e4fst sich ein solcher Einflufs auf dem Gebiete der \u00e4sthetischen Phantasie voraussetzen, und","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nFriedrich Hitschmann.\nin der That best\u00e4tigt die Erfahrung, dafs der Blinde zu den verschiedenen K\u00fcnsten in einem ganz eigenartigen Verh\u00e4ltnis steht. Blofs in dem Bereiche der Musik, welche ausschliefslich auf Klangwirkung beruht, weshalb es zu ihrem Verst\u00e4ndnis f\u00fcr den Blinden keiner Surrogatvorstellungen bedarf, ist er so gut, ja unter sonst gleichen Bedingungen besser als andere zum Geniefsen und wohl auch zum Schaffen bef\u00e4higt. Im Gegensatz hierzu ist ihm die Malerei nat\u00fcrlich vollst\u00e4ndig und, was nach dem fr\u00fcher \u00fcber den Tastsinn Gesagten nicht befremden kann, fast in gleichem Grade auch die Plastik verschlossen. Am eigent\u00fcmlichsten gestaltet sich seine Beziehung zur Poesie; da ich mich jedoch an geeigneter Stelle ausf\u00fchrlich \u00fcber diesen Gegenstand auszusprechen gedenke, m\u00f6gen hier wenige Andeutungen gen\u00fcgen. Der Blinde verm\u00f6chte nur solche Dichtungen ganz zu geniefsen, welche von Blinden und f\u00fcr Blinde geschrieben w\u00e4ren und die daher im Gegenstand wie in den Mitteln ihrer Darstellung auf seine Besonderheit R\u00fccksicht nehmen. In der Litteratur, wie sie ist, begegnet er auf Schritt und Tritt solchen Stellen, die er nicht klar aufzufassen oder doch nicht lebhaft nachzuempfinden vermag. Einen wie verschiedenen Eindruck m\u00fcssen beispielsweise die folgenden Verse in dem Gem\u00fct eines sehenden und eines blinden Lesers hervorrufen:\n\u201eIm Walde sali ich ein Bl\u00fcmchen steh\u2019n,\nWie Sternlein leuchtend, wie \u00c4uglein sch\u00f6n.\u201c\noder:\n\u201eF\u00fcllest wieder Busch und Thal Still mit Nebelglanz,\nL\u00f6sest endlich auch einmal Meine Seele ganz.\u201c\nAuch auf die poetische Sch\u00f6pferkraft des Blinden wirkt dieser Umstand l\u00e4hmend ein, und es ist in dieser Hinsicht charakteristisch, dafs verschiedene Litteraturen zwar mehrere, sp\u00e4t erblindete, aber meines Wissens keinen einzigen von Geburt auf blinden Dichter aufzuweisen haben.\nDagegen sind dem Blinden die Wissenschaften, zumal die abstrakten, leicht zug\u00e4nglich, wie \u00fcberhaupt die Durchschnittsintelligenz derjenigen Blinden, welche einer systematischen Ausbildung teilhaft geworden, als eine \u00fcberraschend hohe bezeichnet werden mufs.","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber Begr\u00fcndung einer Blindenpsychologie von einem Blinden. 397\nH\u00f6chlich gef\u00f6rdert wird dies nun auch durch ein vortreffliches Ged\u00e4chtnis, und zwar ist die aufserordentliehe Leistungsf\u00e4higkeit des letzteren aufser der fortgesetzten \u00dcbung dieser Geisteskraft wohl auch dem Umstande zuzuschreiben, dafs auf den Blinden weit weniger Eindr\u00fccke einst\u00fcrmen, als auf den Sehenden, weshalb sie sch\u00e4rfer ausgepr\u00e4gt und daher leichter zu reproduzieren sind. Hierbei mufs jedoch auch darauf hingewiesen werden, dafs die Entwickelung dieser Anlage meistens einseitig erfolgt; so habe ich z. B. selbst ohne sonderliche M\u00fche an 20000 Verse auswendig gelernt, w\u00e4hrend ich eine fremde Melodie, auch wenn sie noch so einfach ist, kaum 24 Stunden festzuhalten vermag. Auch habe ich Blinde gekannt, die mit grofser Sicherheit an 100 Ziffern aus dem Ged\u00e4chtnis wiederholen konnten, aber aufser st\u00e4nde waren, einen l\u00e4ngeren Satz nach einmaligem Vorlesen fehlerlos nachzusprechen, ohne dafs als die entscheidende Ursache f\u00fcr dieses auff\u00e4llige Mifsverh\u00e4ltnis Exklusivit\u00e4t des Interesses f\u00fcr ein bestimmtes Wissensgebiet angenommen werden k\u00f6nnte. Schliefslich sei noch bemerkt, dafs der Blinde mit den k\u00fcnstlichen St\u00fctzen, welche die sogenannte Mnemotechnik an die Hand gibt, in der Eegel nicht viel anzufangen weifs, vermutlich darum, weil diese auf die psychischen Funktionen des Normalmenschen berechnet ist, von welchen, wie wir gesehen haben, das intellektuelle Leben des Blinden infolge seiner Sonderentwickelung in wesentlichen Punkten abweicht.\nIch glaube im Vorstehenden diejenigen Momente bezeichnetzu haben, von denen eine zu begr\u00fcndende Wissenschaft der Blindenpsychologie auszugehen h\u00e4tte, und es er\u00fcbrigt nur noch, meinen bescheidenen Versuch dem Urteil bew\u00e4hrter Forscher zur Berichtigung und Weiterbildung zu empfehlen. Eine solche Weiterbildung scheint mir um so w\u00fcnschenswerter, als die Ankn\u00fcpfung an einzelne der hier ber\u00fchrten Thatsachen, wie etwa der erw\u00e4hnten Surrogatvorstellungen, vielleicht zu allgemein interessanten, psychologischen Aufschl\u00fcssen f\u00fchren k\u00f6nnte und jedes-falls die Beleuchtung einer Sonderentwickelung, wie sie der Blinde zweifellos durchmacht, f\u00fcr die Kl\u00e4rung der mannigfachen Vorg\u00e4nge im Menschengeist \u00fcberhaupt nicht ohne Wert sein d\u00fcrfte.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie III.\n26","page":397}],"identifier":"lit14903","issued":"1892","language":"de","pages":"388-397","startpages":"388","title":"\u00dcber Begr\u00fcndungen einer Blindenpsychologie von einem Blinden","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:58:21.074199+00:00"}