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Optische Streitfragen

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{"created":"2022-01-31T12:39:46.700473+00:00","id":"lit14934","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lipps, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3: 493-504","fulltext":[{"file":"p0493.txt","language":"de","ocr_de":"Optische Streitfragen.\nVon\nTh. Lipps.\nI.\nZu Dr. Otto Schwarz\u2019 \u201eBemerkungen \u00fcber die von Lipps und Cornelius besprochene Nachbilderscheinung\u201c.\nIch deute zuerst noch einmal an, um welche Nachbilderscheinung es sich hier handelt, nat\u00fcrlich ohne die im Band I. dieser Zeitschrift, S. 60 ff., gegebene genauere Beschreibung zu wiederholen. Wenn ich meinen Blick von einem leuchtenden Objekte rasch wegwende, so scheint ein heller Lichtstreif aus dem Objekte nach entgegengesetzter Dichtung herauszu-schiefsen; wenn ich dem Objekt den Blick rasch wieder zuwende, so scheint ein ebensolcher Lichtstreif in umgekehrter Dichtung in das Objekt hineinzuschiefsen.\nMeine Erkl\u00e4rung dieser Nachbilderscheinung und ebenso die von Cornelius gegebene meint Schwarz durch seine \u201eBemerkungen\u201c im vorigen Hefte dieser Zeitschrift widerlegt zu haben. Lassen wir dahingestellt, wie es mit der Widerlegung Cornelius\u2019 bestellt ist. Meine Erkl\u00e4rung kann Schwarz schon darum nicht widerlegt haben, weil er da, wo er sich gegen mich wendet, der Hauptsache nach gar nicht von mir redet, sondern von einem mir Unbekannten, dem er nur meinen Namen leiht. Dafs Schwarz die Erkl\u00e4rung dieses Unbekannten gezwungen findet, wundert mich nicht; dafs er sie scharfsinnig nennt, wundert mich sehr. Ich finde sie gedankenlos.\nDer Unbekannte erkl\u00e4rt die fragliche Erscheinung durch die Annahme, \u201edafs die Gr\u00f6fse des Winkels, um die sich bei der raschen Blickbewegung das Gesichtsfeld im Daume verschiebt und damit auch die von diesem Winkel abh\u00e4ngige\n32\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie III.","page":493},{"file":"p0494.txt","language":"de","ocr_de":"494\nTh. Lipps.\nL\u00e4nge des w\u00e4hrend der Blickbewegung entstandenen Nachbild-streifens \u00fcbersch\u00e4tzt werde\u201c etc. Ich erkl\u00e4re, wie jeder Leser meines Aufsatzes weifs, die Erscheinung aus einer nicht angenommenen, sondern thats\u00e4chlichen Untersch\u00e4tzung jenes Winkels, und von einer Sch\u00e4tzung der L\u00e4nge des Streifens, sei sie \u00dcber- oder Untersch\u00e4tzung, ist bei mir mit keiner Silbe die Bede.\nDies d\u00fcrfte zur Charakteristik meines Gegners gen\u00fcgen. Um der Sache willen folge ich Schwarz\u2019 Gedankeng\u00e4ngen noch etwas weiter. Schwarz nennt jenen Streifen einen regelwidrigen und meint, es sei nach meiner Auffassung unerkl\u00e4rlich, warum er wesentlich heller erscheine, als der ordnungsgem\u00e4fse, d. h., als das positive Nachbild, das ihm nach einiger Zeit nachzufolgen pflegt. Darin zeigt sich eine v\u00f6llige Unklarheit \u00fcber das, worum es sich in der ganzen Sache handelt.\nWas ist der Streifen, von dem ich rede? Nichts als ein h\u00f6chst einfaches und selbstverst\u00e4ndliches Beispiel der jedermann bekannten und bei allen Lichteindr\u00fccken unvermeidlichen unmittelbaren Nachdauer eben dieser Lichteindr\u00fccke. Jeder weifs, dafs die vor dem ruhenden Auge rasch vorbeibewegte gl\u00fchende Kohle das Bild eines leuchtenden Streifens ergiebt. Genau dasselbe Bild mufs sich ergeben, wenn die gl\u00fchende Kohle ruht und statt ihrer der Blick sich bewegt. Solche Streifen sind es, von denen ich in meiner Abhandlung einzig rede. Das positive Nachbild, das ihnen nach einiger Zeit folgt, und das allerdings viel lichtschw\u00e4cher ist, kommt f\u00fcr das ganze Problem in keiner Weise in Betracht. Auch jene unmittelbare Nachdauer ist freilich ein \u201eNachbild\u201c, und zwar ein positives Nachbild, und ich habe es in meiner Abhandlung gelegentlich ausdr\u00fccklich so genannt. Zugleich aber habe ich es als \u201eunmittelbare Beiznachwirkung\u201c, als \u201eNachbild in diesem Sinne\u201c von allen sonstigen Nachbildern gen\u00fcgend deutlich unterschieden.\nEs ist also der \u201eregelwidrige\u201c Lichtstreifen die ordnungs-gem\u00e4fseste Sache von der Welt und gar keiner Erkl\u00e4rung bed\u00fcrftig. Eine Erkl\u00e4rung fordert einzig die Lokalisation desselben. Meine Erkl\u00e4rung dieser Lokalisation beruht, wie gesagt \u2014 im Gegensatz zu der des \u201eUnbekannten\u201c \u2014 auf der That-sache der Untersch\u00e4tzung rascher Blickbewegungen. Mit solcher Untersch\u00e4tzung geht allemal notwendig die Vorstellung einer","page":494},{"file":"p0495.txt","language":"de","ocr_de":"Optische Streitfragen.\n495\nin entgegengesetzter Richtung geschehenden eigenen Bewegung der im Gesichtsfeld befindlichen Objekte Hand in Hand. Umgekehrt wird durch den Schein dieser eigenen Bewegung die Untersch\u00e4tzung der Blickbewegung bewiesen. Was ich unmittelbar wahrnehme, wenn sich die Entfernung zwischen meinem Blickpunkt und irgend welchen Objekten vergr\u00f6fsert ( oder verringert, ist ja jedesmal nur eben diese absolute Ver-gr\u00f6fserung oder Verringerung. Sie fasse oder deute ich dann als Bewegung des Blickpunktes vom bezw. zum Objekt oder als Bewegung des Objektes vom bezw. zum Blickpunkt, je nachdem mich Erfahrungen zur einen oder anderen Deutung veranlassen; und ich deute sie jedesmal im einen Sinne, in dem Mafse, als ich sie nicht im anderen Sinne deuten kann oder meine deuten zu k\u00f6nnen. Dafs wir insbesondere bei raschen Blickbewegungen von Objekten weg oder nach Objekten hin einen Teil der Bewegung auf die Objekte \u00fcbertragen, ist keine eigens dem Nachbildstreifen zuhebe aufgestellte Hypothese, sondern eine Thatsache, die jederzeit v\u00f6llig unabh\u00e4ngig von jenem Streifen beobachtet werden kann.\nAus diesen beiden Thatsachen, jener Nachdauer aller Gesichtseindr\u00fccke und diesem Schein einer eigenen Bewegung von Objekten ergiebt sich das Wesentliche an der hier in Rede stehenden Nachbilderscheinung von selbst. Indem ich sie darauf zur\u00fcckf\u00fchre, ziehe ich nur die Konsequenz aus bekannten Thatsachen. Es leuchtet ein, dafs gegen eine solche Erkl\u00e4rung blofse Meinungen, es k\u00f6nne auch anders sein, nicht verfangen.\nAber Schwarz f\u00fchrt eine Thatsache an, die mich direkt widerlegen soll. N\u00e4mlich folgende. Man richte bei der raschen Blickbewegung von einem leuchtenden Punkte hinweg die Sache so ein, dafs der Punkt im Anfang der Bewegung durch ein blaues Glas verdeckt ist, im weiteren Verlauf derselben frei hervortritt; es erscheint dann der Streifen in seinem Anfangsteil blau, dann in seiner eigenen Farbe. Schwarz meint, nach meiner Erkl\u00e4rung m\u00fcfste es sich umgekehrt verhalten.\nWiederum brauche ich keinem Leser meiner kleinen Abhandlung zu sagen, dafs es sich nach meiner Erkl\u00e4rung nicht umgekehrt, sondern genau so verhalten mufs, wie Schwarz an-giebt. Nehmen wir der Einfachheit des Ausdrucks halber im folgenden immer an, die rasche Blickbewegung geschehe nach\n32*","page":495},{"file":"p0496.txt","language":"de","ocr_de":"496\nTh. Lipps.\noben. Das Licht sei an sich weif ses Licht. Im Anfangsmoment der Bewegung, d. h. dem Moment der Fixation des Lichtes gewinne ich das Bild eines blauen Punktes. Derselbe geh\u00f6rt meinem Blickpunkt an, wird also, wenn ich den Blickpunkt nach oben verschiebe, nach oben mitgenommen. Auch im zweiten, dritten, vierten Moment etc. der Bewegung gewinne ich jedesmal das Bild eines blauen Punktes. Auch diese Bilder werden, nachdem sie entstanden sind, nach oben mitgenommen. Diese Bilder geh\u00f6ren aber immer weiter unterhalb des Blickpunktes gelegenen Punkten des Sehfeldes an; sie bilden mit jenem ersten Punkte zusammen einen von dem nach oben r\u00fcckenden Blickpunkt aus nach unten zu sich entwickelnden blauen Streifen. Von einem bestimmten Momente an treten an die Stelle der blauen weisse Lichteindr\u00fccke. Nat\u00fcrlich geh\u00f6ren diese noch weiter nach unten liegenden Punkten des Sehfeldes an; d. h., der Streifen, der in seinem zuerst entstehenden oberen Teile blau ist, erscheint in seinem sp\u00e4ter entstehenden unteren Teile weifs. Das ist doch wohl genau das, was Schwarz sagen will.\nVervollst\u00e4ndigen wir das Bild. Der Streifen, so sagte ich, entstehe vom Blickpunkt aus nach unten. Andererseits entsteht er, w\u00e4hrend der Blickpunkt nach oben r\u00fcckt. Jetzt erhebt sich die Frage, wie weit das obere Ende oder der Kopf des Streifens und damit der ganze Streifen nach oben mitgenommen wird. Es fragt sich andererseits, um wieviel die Bewegung nach oben untersch\u00e4tzt wird. Je weiter der Kopf des Streifens mitgenommen wird, um so l\u00e4nger wird der Streifen. Er wird aber, wenn wir von der Intensit\u00e4t des Lichtpunktes absehen, um so weiter mitgenommen, je rascher die Bewegung ist. Zugleich w\u00e4chst aber auch mit der Raschheit der Bewegung die Untersch\u00e4tzung der Bewegungsgr\u00f6fse und damit der Zwang, den Kopf des Streifens und mit ihm den ganzen Streifen als nach unten sich bewegend vorzustellen. Setzen wir den besonderen Fall, das St\u00fcck, um welches der Kopf des Streifens mitgenommen wird, und das St\u00fcck, um welches die Blickbewegung untersch\u00e4tzt wird, seien sich gleich, dann m\u00fcssen wir den Eindruck gewinnen, der Kopf des Streifens bewege sich gar nicht, der Streifen entstehe also von einem ruhenden Punkte aus nach unten. Dieser ruhende Punkt ist nun kein anderer, als derjenige, an dem sich das leuchtende Objekt","page":496},{"file":"p0497.txt","language":"de","ocr_de":"Optische Streitfragen.\n497\nnicht nur tats\u00e4chlich die ganze Zeit \u00fcber befunden hat, sondern an dem es auch vor der Blickbewegung in aller Bestimmtheit und Deutlichkeit wahrgenommen wurde. Der Streifen scheint demgem\u00e4fs aus dem ruhenden Objekte selbst nach unten her-auszuschiefsen.\nDiesen Thatbestand k\u00f6nnten wir auch, obgleich nicht eben sehr klar, in dem ScHWARZschen Satze ausdr\u00fccken, der Streifen werde so lokalisiert, \u201eals ob die Blicklinie noch auf den urspr\u00fcnglichen Fixierpunkt eingestellt w\u00e4re\u201c. Schwarz meint in dem Satze eine eigene, von der meinigen abweichende Erkl\u00e4rung des Ph\u00e4nomens zu geben. In der That giebt er nur den unter den bezeichneten Voraussetzungen stattfindenden und in meiner Abhandlung zur Gen\u00fcge festgestellten Thatbestand. Der Unterschied zwischen Schwarz und mir besteht in Wirklichkeit darin, dafs Schwarz nichts erkl\u00e4rt. Denn auch die sp\u00e4ter zur St\u00fctze seiner Erkl\u00e4rung hinzugef\u00fcgten, v\u00f6llig unbegr\u00fcndeten und unpsychologischen Vermutungen haben mit Erkl\u00e4rung nichts gemein.\nZudem \u00fcbersieht Schwarz v\u00f6llig die Modifikationen der Nachbilder sch einung, die unter anderen Voraussetzungen sich einstellen. Er erkl\u00e4rt also auf Grund einer halben Kenntnis des Sachverhaltes, obgleich er ihn aus meiner Abhandlung ganz kennen m\u00fcfste. Ist die Bewegung des Auges eine sehr rasche und weite und das Objekt nicht allzu leuchtend, so geschieht es, und mufs es meiner Erkl\u00e4rung zufolge geschehen, dafs der Streifen aus dem Objekt herauszuschiefsen und zugleich das Objekt selbst mit dem Streifen sich nach unten zu bewegen scheint. Hier ist eben das St\u00fcck, um welches die Bewegung untersch\u00e4tzt wird, gr\u00f6fser, als das St\u00fcck, um das die Lichteindr\u00fccke mitgenommen werden. Das Umgekehrte geschieht, d. h., wir haben den Eindruck, dafs der Lichtstreifen zugleich nach oben \u00fcber das Objekt hinaus schiefst, wenn das leuchtende Objekt sehr grofse Leuchtkraft besitzt, und darum die Lichteindr\u00fccke weiter als sonst mitgenommen werden, Bei der leuchtend untergehenden Sonne ist es mir gelungen, auch bei relativ weiten Bewegungen den Streifen bis zum Endpunkte der Bewegung mitzunehmen. In diesem Falle war also von einer falschen Lokalisation des Streifens keine Bede mehr. \u2014 Alle diese Besonderheiten ergeben sich von selbst aus meiner Erkl\u00e4rung, sind also eben-","page":497},{"file":"p0498.txt","language":"de","ocr_de":"498\nTh. Lipps.\nsoviele Best\u00e4tigungen derselben. Dagegen ist zu bedauern, dafs Schwarz nickt daran gedackt kat, sie aus seinen Hypothesen verst\u00e4ndlick werden zu lassen.\nIm Gegensatz zum \u201eherausschiefsenden\u201c Streifen erkl\u00e4rt Schwarz den \u201ehineinschiefsenden\u201c Streifen aus Urteilst\u00e4usckung, also in meiner Weise. Der Gedanke, dafs beide Erscheinungen zwei Seiten derselben Sache sind, also prinzipiell die gleiche Erkl\u00e4rung fordern, scheint ihm fern zu liegen.\nDamit sind die Unverst\u00e4ndlichkeiten der ScHWARzscken Arbeit nicht ersch\u00f6pft. Was soll es heifsen, wenn Schwarz meint, die gelegentlich so auffallend grofse L\u00e4nge des regelwidrigen Streifens spreche gegen meine Auffassung? Was hat \u00fcberhaupt die L\u00e4nge des Streifens mit meiner Auffassung zu thun? \u2014 Dafs der regelwidrige Streifen nicht nur oft, wie Schwarz meint, \u201emehr als ein Drittel des ganzen Streifens\u201c, das soll doch wohl heifsen : mehr als ein Drittel des ihm nachfolgenden positiven Nachbildes betr\u00e4gt, sondern genau so grofs sein kann, wie dieses, haben wir eben gesehen.\nOder welchen Sinn hat es, wenn mir Schwarz zur Widerlegung meiner \u00dcberzeugung, dafs Augenbewegungen nur \u00fcber die Lage des Sehfeldes im Blickfeld orientieren, mitteilt, das Sehfeld sei nicht, wie ich annehme, eine subjektiv bestimmte Abgrenzung des Gesamtraumes. Wo nehme ich dergleichen an? Oder was hat die Bestimmtheit der Abgrenzung mit jener \u00dcberzeugung zu thun ? Im \u00fcbrigen mufs ich mir\u2019s eben gefallen lassen, dafs Schwarz und Cornelius jene meine Einschr\u00e4nkung der Bedeutung der Augenbewegungen unrichtig finden, da ja keiner von beiden meine Gr\u00fcnde entkr\u00e4ftet und seine Gegengr\u00fcnde anf\u00fchrt.\nEs ist Schwarz in seiner Abhandlung gelungen, mich in allen wesentlichen Punkten sagen zu lassen, was ich nicht sage, oder wovon ich das Gegenteil sage, und \u00fcberall gegen mich geltend zu machen, was unmittelbar zu meiner Anschauung geh\u00f6rt, oder gar keinen Bezug darauf hat.\nII.\nZu Franz Brentanos \u201e\u00dcber ein optisches Paradoxon\u201c,\nBrentano erkl\u00e4rt im vorigen Heft dieser Zeitschrift gewisse \u00dcbersch\u00e4tzungen und Untersch\u00e4tzungen von Distanzen","page":498},{"file":"p0499.txt","language":"de","ocr_de":"Optische Streitfragen.\n499\naus der \u00dcbersch\u00e4tzung kleiner und der Untersch\u00e4tzung grofser \"Winkel. Ich finde die thats\u00e4chlichen Mitteilungen und die Art der Anordnung der F\u00e4lle sehr dankenswert. Hinsichtlich der vorgeschlagenen Erkl\u00e4rung aber erlaube ich mir folgendes zu bemerken.\n1. Angenommen, es habe mit der \u00dcber- oder Untersch\u00e4tzung der Winkel in jedem der von Brentano mitgeteilten F\u00e4lle seine Richtigkeit, so folgt daraus doch nicht die von Brentano daraus abgeleitete \u00dcbersch\u00e4tzung oder Untersch\u00e4tzung von Distanzen. Eine scheinbare Verk\u00fcrzung der vertikalen Linie in Brentanos Fig. 1 etwa ergiebt sich nicht dann, wenn ich die Schenkel der oben und unten angef\u00fcgten spitzen Winkel irgendwie in G-edanken auseinanderbiege, sondern nur, wenn ich dies so thue, dafs zugleich der Scheitel des oberen Winkels nach unten, der des unteren nach oben r\u00fcckt. Und dies geschieht, wenn ich etwa die Schenkel um einen als unbeweglich vorgestellten Punkt ihre Mitte sich drehen lasse. In der That macht Brentano diese Annahme. Man sehe S. 357 und insbesondere Fig. 20 seines Aufsatzes. Diese Annahme beruht aber auf einer falschen Voraussetzung.\nEin richtiger Gedanke freilich bildet den Ausgangspunkt. \u00dcbersch\u00e4tzung eines Winkels ist \u00dcbersch\u00e4tzung der Divergenz der Winkelschenkel; und diese wiederum ist zun\u00e4chst nichts anderes, als immer st\u00e4rkere \u00dcbersch\u00e4tzung der Distanzen zwischen den aufeinanderfolgenden Punkten der Winkelschenkel. Angenommen nun, es h\u00e4tte dabei \u00fcberall sein Bewenden, so w\u00e4re von einer scheinbaren Verk\u00fcrzung der vertikalen Linie in Fig. 1 nach Brentano nat\u00fcrlich keine Rede. In der That aber hat Brentano v\u00f6llig Recht mit der Annahme, dafs wir den Abstand weiter vom Scheitel entfernter Punkte der Winkelschenkel nicht in dem Mafse \u00fcbersch\u00e4tzen, wie es bei einer konsequenten Divergenz\u00fcbersch\u00e4tzung der Fall sein m\u00fcfste. Die \u00dcbersch\u00e4tzung h\u00f6rt vielmehr, wie von vornherein erwartet werden mufs, auf in dem Mafse, als wir, eben wegen der gr\u00f6fseren Entfernung vom Winkelscheitel, dem Einflufs der Wahrnehmung des Winkels entr\u00fcckt sind. Aber, so frage ich, was heilst dies anderes, als dafs wir an die Divergenz der Winkelschenkel im weiteren Verlauf derselben nicht mehr glauben, dafs diese Divergenz mit der Entfernung der Winkelschenkel vom Scheitel allm\u00e4hlich","page":499},{"file":"p0500.txt","language":"de","ocr_de":"500\nTh. Tipps.\nsich zu vermindern, also in relative Konvergenz umzuschlagen scheint? In der That verh\u00e4lt es sich so. Wir entgehen dem Widerspruch zwischen der \u00dcbersch\u00e4tzung der Divergenz und der von der Wahrnehmung des Winkels immer weniger beein-flufsten, also immer richtigeren Sch\u00e4tzung der Abst\u00e4nde zwischen den vom Scheitel entfernteren Schenkelpunkten durch die Vorstellung einer Kr\u00fcmmung der Winkelschenkel. Das Z\u00f6llner-sche Muster zeigt dieselbe deutlich. Damit ist die Brentan osche Hypothese, die auf der Voraussetzung beruht, dafs die Winkel-\nschenkel fortfahren, als gerade Linien zu erscheinen, hinf\u00e4llig.\n2. Es ist, wie ich in meinen \u201e\u00c4sthetischen Faktoren der Kaumanschauung\u201c gezeigt habe, ein Irrtum, zu meinen, spitze Winkel w\u00fcrden als solche \u00fcbersch\u00e4tzt, stumpfe untersch\u00e4tzt. Vielmehr haben solche \u00dcber- oder Untersch\u00e4tzungen jedesmal,\nwenn sie stattfinden, besondere Gr\u00fcnde. Und diese Gr\u00fcnde sind so geartet, dafs sie Brentanos Versuch, aus Winkelsch\u00e4tzungen die Distanzsch\u00e4tzungen unmittelbar abzuleiten, unm\u00f6glich machen.\n3. Es befinden sich aber auch unter den BRENTANOschen F\u00e4llen solche, bei denen zweifellos nicht die von Brentano vorausgesetzte, sondern die entgegengesetzte Winkelsch\u00e4tzung stattfindet. Und da Brentano mit Kecht alle angef\u00fchrten F\u00e4lle unter den gleichen Gesichtspunkt stellt, so ist damit \u00fcberhaupt seine Erkl\u00e4rung hinf\u00e4llig. Man vergl. etwa mit Brentanos Figg. 12\u201414 nebenstehende Fig. I. Nach Brentano m\u00fcfsten die stumpfen Winkel untersch\u00e4tzt werden. Die Neigung aber, welche die einander parallelen Mittelst\u00fccke der 5 Liniensysteme zu einander zu haben scheinen, beweist vielmehr eine \u00dcbersch\u00e4tzung derselben. Oder man vergleiche speziell Brentanos Fig. 13 mit unserer Fig. II. In dieser Figur sind die mittleren Linien, d. h., alle aufser den frei endigenden, einander","page":500},{"file":"p0501.txt","language":"de","ocr_de":"Optische Streitfragen.\n501\ngleich. Die \"Winkel, welche die Schr\u00e4gen miteinander ein-schliefsen, sind rechte, die Winkel, welche die mittlere Vertikale mit den Schr\u00e4gen einschlierst, danach Winkel von 135\u00b0. Die rechten Winkel werden nicht \u00fcbersch\u00e4tzt, sondern ziemlich erheblich untersch\u00e4tzt, die stumpfen Winkel also entsprechend \u00fcbersch\u00e4tzt. Trotz dieser \u00dcbersch\u00e4tzung der stumpfen Winkel werden die rechten Schr\u00e4gen im Vergleich zu den linken \u2014 bei denen zu einer falschen Sch\u00e4tzung, in jedem Falle zu einer Untersch\u00e4tzung kein Grund vorliegt \u2014 \u00fcbersch\u00e4tzt, w\u00e4hrend sie nach Brentano untersch\u00e4tzt werden m\u00fcfsten. Und trotz der erheblichen Untersch\u00e4tzung der Rechten bleibt es bei der \u00dcbersch\u00e4tzung der mittleren Vertikalen, die Brentano in seiner Fig. 2 auf \u00dcbersch\u00e4tzung der spitzen Winkel zur\u00fcckf\u00fchrt, die also, zufolge seiner Theorie, hier in Untersch\u00e4tzung Umschlagen m\u00fcfste. Dafs der Eindruck der T\u00e4uschung in unserer Fig. II wesentlich geringer ist, als in den BRENTANOschen Figuren, wird nat\u00fcrlich niemand verwundern. Die Bedingungen der T\u00e4uschung sind hier, auch abgesehen davon, dafs den \u00dcbersch\u00e4tzungen der Linien keine Untersch\u00e4tzungen gegen\u00fcberstehen, wesentlich ung\u00fcnstiger, weil die Bedingungen des Vergleichs wesentlich g\u00fcnstiger. Aber es gen\u00fcgt, dafs die T\u00e4uschungen trotzdem nicht fehlen. \u00dcbrigens thut man gut, die Figur von verschiedenen Seiten zu betrachten und ihre Teile in verschiedener Weise zu vergleichen. Der Eindruck wird dann, obgleich die Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnifse sich scheinbar verschieben, deutlicher. Die T\u00e4uschung hinsichtlich des Gr\u00f6fsenverh\u00e4lt-nisses der rechten und linken Schr\u00e4gen wird nat\u00fcrlich st\u00e4rker, wenn man nicht die unmittelbar nebeneinander befindlichen Schr\u00e4gen, sondern mit der unteren rechten die obere linke, mit der unteren linken die obere rechte Schr\u00e4ge vergleicht. Unmittelbare Nachbarschaft korrigiert \u00fcberall die falschen Sch\u00e4tzungen.\n4. Brentano widerlegt sich selbst durch seine Figg. 7, 8, 23,","page":501},{"file":"p0502.txt","language":"de","ocr_de":"502\nTh. Tipps.\n24; auch durch Fig. 4, wenn man hier die Bogen so zeichnet, dafs die vertikale Linie zur gemeinsamen Tangente derselben wird, also von einem Winkel keine Bede ist. Oder haben wir hier doch den Eindruck eines Winkels? Dann bleiben wenigstens die anderen Figuren als Gegeninstanzen bestehen. Brentano findet bei ihnen die T\u00e4uschung wesentlich geringer. Ich finde sie deutlich genug. In jedem Falle fordert die T\u00e4uschung hier ein eigenes von dem BRENTANOschen abweichendes Erkl\u00e4rungsprinzip. Und dies Erkl\u00e4rungsprinzip k\u00f6nnte so geartet sein, dafs daraus auch die T\u00e4uschung in den anderen F\u00e4llen und zugleich die gr\u00f6fsere St\u00e4rke dieser T\u00e4uschung notwendig folgte. In der That ist es so.\n5.\tEs ist leicht, BRENTANOsche F\u00e4lle so zu modifizieren, dafs die T\u00e4uschung bleibt, Brentanos Erkl\u00e4rungsprinzip aber \u2014 ganz abgesehen von seiner Richtigkeit \u2014 unanwendbar wird. Man vergr\u00f6fsere in Brentanos Fig. 6 die beiden Winkel allm\u00e4hlich, bis sie zu rechten werden. Dann bleibt, wie wir schon gesehen haben, die T\u00e4uschung bestehen. Rechte Winkel k\u00f6nnen aber im Grunde nach Brentano, da nach ihm spitze \u00fcbersch\u00e4tzt, stumpfe untersch\u00e4tzt werden, nur richtig gesch\u00e4tzt werden. Oder sollte ich darin irren, so treibe man die Yergr\u00f6fserung der Winkel weiter, bis zu 120\u00b0. Auch jetzt noch bleibt die \u00dcbersch\u00e4tzung der vertikalen Distanz bestehen, sie schl\u00e4gt nicht etwa in Untersch\u00e4tzung um. Und die \u00dcbersch\u00e4tzung besteht, mag man die Figur mit der in gleicher Weise modifizierten Fig. 5 vergleichen oder eine einfache Punktdistanz zum Vergleich daneben stellen. Nat\u00fcrlich ist im letzteren Falle die T\u00e4uschung geringer. Ganz genau dasselbe gilt von Figg. 1 und 2. In Fig. 2 sind, wenn der Winkel zwischen den Schr\u00e4gen 120\u00b0 betr\u00e4gt, alle Winkel einander gleich, es kann also von einer verschiedenen Sch\u00e4tzung gr\u00f6fserer und kleinerer Winkel keine Rede sein; die vertikale Linie wird aber auch unter dieser Voraussetzung \u00fcbersch\u00e4tzt, und zwar, wie ich ausdr\u00fccklich betone, auch im Vergleich mit einer gleich grofsen einfachen Linie.\n6.\tAngenommen, Brentanos ganze Auseinandersetzung w\u00e4re \u00fcberall unwiderlegbar, so giebt es doch zweifellos andere Gr\u00fcnde optischer T\u00e4uschungen, und unter diesen einen der alle BRENTANOschen F\u00e4lle miterkl\u00e4rt, also Brentanos Erkl\u00e4rungsprinzip gegenstandslos macht. Man verl\u00e4ngere zwei parallele Seiten","page":502},{"file":"p0503.txt","language":"de","ocr_de":"Optische Streitfragen.\n503\neines Quadrats \u00fcber die Ecken, hinaus. Diese Seiten scheinen dann l\u00e4nger; das ganze Quadrat scheint in der betreffenden Richtung gestreckt. Das Erkl\u00e4rungsprinzip ist das in den \u201e\u00c4sthetischen Faktoren der -Raumanschauung\u201c entwickelte. Obgleich ich dasselbe bei den Lesern dieser Zeitschrift \u2014 etwa aus der Selbstanzeige, S. 219 ff. dieses Bandes \u2014 als bekannt voraussetzen darf, deute ich es doch, soweit es hier in Betracht kommt, an. Die Quadratseiten \u201everlaufen\u201c, \u201estrecken sich\u201c, kurz, repr\u00e4sentieren eine Bewegung. Diese Bewegung erscheint in dem reinen Quadrat an den Ecken abgeschnitten, angehalten, gehemmt. Sie scheint von solcher Hemmung frei und frei aus sich herausstrebend, wenn die Seiten sich fortsetzen. Solche frei, \u201esiegreich\u201c aus sich herausgehende Bewegung nun wird \u00fcberall in ihrem Erfolg, d. h., hinsichtlich der Weite des Weges, der durch sie durchmessen wird, \u00fcbersch\u00e4tzt, die gehemmte \u00fcberall untersch\u00e4tzt. Wir glauben, allgemein gesagt, an den Erfolg einer Bewegung in dem Mafse, als wir dem Eindruck der Bewegung ohne den Gedanken an eine Hemmung oder Gegenbewegung unterliegen. In allen von Brentano angef\u00fchrten Beispielen der \u00dcbersch\u00e4tzung unterliegen wir aber, und zwar \u2014 aus hier nicht auszuf\u00fchrenden Gr\u00fcnden \u2014 in besonderem Mafse dem Eindruck einer frei aus sich heraus oder in die Weite gehenden, von einer Mitte fortstrebenden, in allen F\u00e4llen der Untersch\u00e4tzung dem Eindruck einer in sich zur\u00fcckkehrenden, einer Mitte zustrebenden Bewegung; und in dem Malse, als jenes oder dieses der Fall ist, besteht die \u00dcber- oder Untersch\u00e4tzung.\n7. Diese Erkl\u00e4rung ist nicht mit der von Brentano unter No. 2 seines Aufsatzes zur\u00fcckgewiesenen identisch. Bei seiner Fig. 2 etwa an \u201egespannte Stricke\u201c zu denken, geht gewifs nicht an. Vielmehr ist hier, wie \u00fcberall, nur dies in Frage welche Vorstellung einer Bewegung bei Betrachtung der Linien uns beherrscht. Eben dieser herrschenden Bewegungsvorstellung, oder eben dieser in unserer Vorstellung herrschenden Bewegung geben wir in unserer Vorstellung oder unserer Sch\u00e4tzung nach und modifizieren danach das Gr\u00f6fsenurteil, das wir abgesehen davon, also aus der blofsen Wahrnehmung gewinnen w\u00fcrden. \u2014 Auch die falschen Sch\u00e4tzungen von Winkeln -\u2014 die aber, wie wir gesehen haben, weit entfernt sind, dem von Brentano geglaubten \u201eGesetz\u201c zu gehorchen\u2014erkl\u00e4ren sich erst aus dieser Anschauung.","page":503},{"file":"p0504.txt","language":"de","ocr_de":"504\nTh. Idpps.\n8. Es mufs schliefslich allgemein als ein gef\u00e4hrliches Unternehmen bezeichnet werden, wenn man versucht, einzelne optische T\u00e4uschungen oder Gruppen von solchen f\u00fcr sich zu erkl\u00e4ren, statt die grofse Mannigfaltigkeit der F\u00e4lle im Zusammenhang zu betrachten. Optische T\u00e4uschungen sind ja nicht Ausnahmen, sondern finden \u00fcberall statt. Vor allem besteht \u00fcberall bei unseren r\u00e4umlichen Gr\u00f6fsenurteilen der Einflufs der Faktoren, die ich mit Absicht, obgleich f\u00fcr manchen vielleicht paradox, als \u201e\u00e4sthetische Faktoren der Raumanschauung\u201c bezeichnet habe.","page":504}],"identifier":"lit14934","issued":"1892","language":"de","pages":"493-504","startpages":"493","title":"Optische Streitfragen","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:39:46.700478+00:00"}

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