Open Access
{"created":"2022-01-31T16:57:24.418248+00:00","id":"lit15005","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Tuke, D. Hack","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2: 97-110","fulltext":[{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Zwangsvorstellungen ohne Wahnideen.\nVon\nD. Hack Tuke, M. D., LL. D.\nEs l\u00e4fst sich die Frage aufwerfen, ob wir gewisse krankhafte Geisteszust\u00e4nde, welche dem Irresein mit Wahnideen zwar nahe stehen, aber doch eine Erscheinung f\u00fcr sich darstellen und in ihrer Entwickelung durchaus nicht immer in Wahnideen \u00fcbergehen, gen\u00fcgend erkennen und abgrenzen. Ich meine jene Zust\u00e4nde, in welchen Gedanken von ungewohntem und meist unwillkommenem Inhalte den Geist mit krankhafter Hartn\u00e4ckigkeit beherrschen, oder in denen das Individuum den starken Drang f\u00fchlt, bestimmte Worte auszusprechen, ganz gegen seinen Wunsch und trotz des machtvollen Widerstandes seines Willens. Insbesondere habe ich die F\u00e4lle im Auge, bei welchen man den Patienten nicht als geisteskrank bezeichnen kann, obwohl die geistige St\u00f6rung schliefslich so ausgesprochen sein kann, dafs die Aufnahme in eine Irrenanstalt zu einer Erl\u00f6sung f\u00fcr den Kranken wird, welcher sich seines \u00dcbels nur zu schmerzlich bewufst und in jeder anderen Hinsicht gesund ist. Bei unserer gebr\u00e4uchlichen Einteilung der Geisteskrankheiten hat diese Symptomengruppe keine Ber\u00fccksichtigung gefunden, zum Teil sicherlich, weil sie die Grenzlinie der Gesundheit nicht zu \u00fcberschreiten braucht, zum Teil auch, weil ein solcher Patient h\u00e4ufig geistig deprimiert und dann f\u00fcr einen Melancholiker gehalten wird, oder auch, weil er \u2014 aus blofser Unwissenheit und nicht unter dem Einflufse seiner Krankheit \u2014 seine Eingebungen als teuflische oder g\u00f6ttliche auslegt, und der Fall infolge dessen unter der Rubrik Paranoia untergebracht wird. Der Kranke mag von der Unrichtigkeit seiner Meinung \u00fcberzeugt werden, wird aber darum nicht Zeitschrift f\u00fcr Psychologie II.\t*","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nD. Hach Take.\nweniger von jenen Ideen oder Worten gepeinigt, welche die gesunde Th\u00e4tigkeit seines Geistes \u00fcberw\u00e4ltigen. Aufserhalb der Anstalt kann er vollkommen im st\u00e4nde sein, seine t\u00e4glichen Berufsgesch\u00e4fte zu verrichten; er kann durchaus verst\u00e4ndig in der Unterhaltung, normal in seinem Benehmen sein. Ich bin \u00fcberzeugt, ein offenes Bekenntnis 'vieler Leute, die niemand im Verdacht irgend einer geistigen Unregelm\u00e4fsigkeit hat, w\u00fcrde uns zeigen, wie grofs die Anzahl derer ist, welche an einer krankhaften Zudringlichkeit unwillkommener und abstofsender Gedanken und an dem Drange, unsch\u00f6ne Worte auszustofsen, zu leiden haben.\n\u201e ... Wels Herz ist wohl so rein,\nDafs der und jener sohmutz\u2019ge Zweifel nicht Einmal zu Rat sitzt und Gerichtstag h\u00e4lt Mit rechtsgem\u00e4fser Forschung?\u201c\n(Jago).\nIch pflegte viele Jahre hindurch diesen schmerzlichen Zustand mit dem Namen \u201eBesessenheit\u201c (obsession) zu bezeichnen, und auch franz\u00f6sische Irren\u00e4rzte haben diesen Ausdruck gebraucht, neben einer Anzahl von untergeordneten Bezeichnungen, wie \u201eCoprolalie\u201c u. s. w. Man kann gegen das Wort den Einwand erheben, dafs es den Patienten in dem Glauben best\u00e4rkt, sein Leiden werde durch irgend eine d\u00e4monische Einwirkung verursacht. Die Deutschen besitzen die passende Bezeichnung \u201eZwangsvorstellung\u201c, welche den Begriff einer zwangs-m\u00e4fsig auftretenden Idee gut wiedergiebt.\nEiner meiner Patienten, der sicher der letzte gewesen w\u00e4re, anst\u00f6fsige Beden zu f\u00fchren, konnte sich nur mit der gr\u00f6fsten M\u00fche enthalten, auf Spazierg\u00e4ngen ohne jede Veranlassung laut zu fluchen. Seine Frau beobachtete mit Erstaunen, wie er von Zeit zu Zeit eine hastige Bewegung machte, deren Ursache sie nicht kannte. Wie er mir selbst sagte, machte er diese krampfartigen Bewegungen, um sich von seiner Zwangsidee zu befreien und dem schlimmen Wort keinen lauten Ausdruck zu geben. Solche F\u00e4lle illustrieren die automatische oder Beflex-Th\u00e4tigkeit der grauen Hirnrinde, wie sie zuerst von Laycock gelehrt wurde. Die hemmende Th\u00e4tigkeit der Binde macht bis zu einem gewissen Grade ihren Einflufs auf unwillk\u00fcrliche Aktionen geltend ; in einem geschw\u00e4chten Gehirn jedoch schwebt diese Th\u00e4tigkeit in grofser Gefahr, \u00fcberwunden zu werden und \u00fcberm\u00e4fsiger, regelloser Zellenth\u00e4tigkeit das Feld zu r\u00e4umen.","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Zwangsvorstellungen ohne Wahnideen.\n99\nSehr mannigfaltig sind die Formen, welche eine Zwangsidee annehmen kann, von den einfachsten und nicht unangenehmen bis zu solchen, welche im h\u00f6chsten Grade qu\u00e4lend sind.\nZu den ersten geh\u00f6rt z. B. jener harmlose Zug, gewisse Dinge, an welchen man h\u00e4ufiger vorbeigeht, jedesmal zu betasten. Den Gegensatz dazu beobachten wir in der Furcht, bestimmte Objekte anzur\u00fchren.\nDie eigent\u00fcmliche Zwangsidee, welche Dr. Johnson in manchen seiner Handlungen beeinflufste, ist oft angef\u00fchrt worden, doch entsinne ich mich nicht, in irgend einem medizinischen Werke eine exakte Beschreibung der betreffenden Thatsachen gelesen zu haben, die eben f\u00fcr unseren Gegenstand von grofsem Interesse sind.\nZun\u00e4chst mufs erw\u00e4hnt werden, dafs Johnsons Vater, Michael Johnson, nicht gesunden Geistes gewesen ist, wenn es auch nicht n\u00f6tig war, ihn in seiner Freiheit zu beschr\u00e4nken. Sein Sohn beschreibt ihn als \u201equerk\u00f6pfig, rechthaberisch und behaftet mit Melancholie.\u201c\nAls seine Werkst\u00e4tte, ein alleinstehendes Geb\u00e4ude, halb eingest\u00fcrzt war, da es ihm an Geld gebrach, sie rechtzeitig ausbessern zu lassen, befliefs er sich deshalb nicht weniger, allabendlich die Th\u00fcre zu verschliefsen, obwohl es ihm klar sein mufste, dafs Jedermann von der anderen Seite hineingelangen konnte. \u201eDies\u201c, sagte sein Sohn, \u201ewar Tollheit, wie man sieht, und diese w\u00fcrde auch in anderen \u00c4ufserungen einer \u00fcberm\u00e4fsigen Einbildungskraft zu Tage getreten sein, wenn nicht die Armut sie gehindert h\u00e4tte, solche Streiche zu spielen, welche der Reichtum und das Wohlleben beg\u00fcnstigen.\u201c 1\nIn seiner Jugend litt Johnson an Chorea. Seine Geistesabwesenheit, sein Hang zur Tr\u00e4umerei zog die Aufmerksamkeit auf sich. Im sp\u00e4teren Leben waren seine drolligen Geb\u00e4rden oft h\u00f6chst merkw\u00fcrdig. W\u00e4hrend eines Besuches bei Richardson, dem Verfasser von Clarissa, bemerkte Hogarth einen Menschen, \u201eder am Fenster stand, mit dem Kopfe wackelte und sich in seltsam komischer Weise hin und her bewegte. Er glaubte, einen Idioten vor sich zu sehen, den seine Angeh\u00f6rigen unter Richardsons Obhut gegeben h\u00e4tten. Zu seiner grofsen \u00dcberraschung jedoch schritt die Gestalt auf seinen und Richardsons\n1 Boswell: Life of Johnson, Edition 1831, vol. I, S. 4.\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nB. Hack Tuke.\nSitz zu, mischte sich pl\u00f6tzlich in die Unterhaltung ein und brach in eine Invektive gegen Georg II aus. Kurzum, er zeigte eine solche Macht der Beredsamkeit, dafs Hogarth ihn ganz erstaunt ansah und wirklich meinte, es sei in diesem Augenblick eine Inspiration \u00fcber den Idioten gekommen.\u201c Das war kein anderer als Samuel Johnson. Zeitweise litt er an einer schweren Depression. Boswell sagt, dafs \u201eer im Alter von 55 Jahren von einem schweren R\u00fcckfall jenes hypochondrischen \u00dcbels betroffen wurde, welches stets \u00fcber ihm schwebte.\u201c\n\u201eEines Tages\u201c, sagt Boswell, \u201efand Dr. Adams ihn in einem bejammernsw\u00fcrdigen Zustande, seufzend, jammernd, mit sich selbst redend \u2014 was eine Eigent\u00fcmlichkeit von ihm war, solange ich ihn kannte \u2014 und ruhelos von Zimmer zu Zimmer wandernd. Er gab damals dem Elend, welches er empfand, folgenden emphatischen Ausdruck: \u201eIch w\u00fcrde mir ein Glied abnehmen lassen*, wenn ich dadurch meine Stimmung verbessern k\u00f6nnte.\u201c Diejenige geistige Absonderlichkeit indessen, auf welche ich aufmerksam machen m\u00f6chte, war nach den Worten seines Biographen \u201eseine peinliche Geflissenheit, eine Th\u00fcr oder einen Durchgang in einer bestimmten Anzahl von Schritten von einem bestimmten Punkte an gerechnet zu durchschreiten oder doch wenigstens so, dafs entweder der rechte oder der linke Eufs ich weiis nicht sicher, welcher \u2014 regelm\u00e4fsig den ersten Schritt that, wenn er an die Th\u00fcr oder an den Durchgang herankam. So vermute ich, denn bei unz\u00e4hligen Gelegenheiten habe ich bemerkt, wie er pl\u00f6tzlich stille stand und dann mit tiefem Ernst seine Schritte zu z\u00e4hlen schien. Hatte er jene gewissermafsen magische Bewegung vers\u00e4umt oder einen Fehler darin gemacht, so sah ich ihn wieder zur\u00fcckgehen und sich in eine angemessene Positur stellen, um die Ceremonie von neuem zu beginnen. Wenn er sie vollendet hatte, rifs er sich aus seiner Geistesabwesenheit los und schritt munter voran, um seinen Begleiter zu erreichen.\u201c (1. c. vol.l. p.497.) Eines Tages erwartete Sheridan ihn zum Mittagessen und sah ihn von ferne herankommen. Er \u201ebewegte sich einher mit sonderbar feierlichem Gebaren und ungeschicktem, gemessenem Schritte. Gepflasterte B\u00fcrgersteige gab es damals noch nicht in allen Strafsen Londons, und statt dessen waren zum Schutze gegen die Wagen Steinpfosten angebracht. Auf jeden dieser Pfosten legte er im Vor\u00fcbergehen bed\u00e4chtig seine Hand; als er einen verfehlt und sich schon","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Zwangsvorstellungen ohne Wahnideen.\n101\neine Strecke weit von ihm entfernt hatte, schien er sich pl\u00f6tzlich zu besinnen; er kehrte sofort zur\u00fcck, vollzog sorgf\u00e4ltig die gewohnte Ceremonie und schlug dann die fr\u00fchere Richtung wieder ein, ohne einen einzigen Pfosten zu \u00fcbergehen, bis er die Stelle des Strafsen\u00fcbergangs erreicht hatte.\u201c Sheridan versicherte einem Herrn Whyte, welcher den Vorgang erz\u00e4hlt, dies sei bei aller Seltsamkeit Johnsons unwandelbare Gewohnheit (S. 497).\nIch mufs noch erw\u00e4hnen, was Boswell \u00fcber Johnsons eigent\u00fcmliches Benehmen beim Reden und beim ruhigen, nachdenklichen Sitzen mitteilt. \u201eGew\u00f6hnlich hatte er den Kopf auf die rechte Schulter geneigt und sch\u00fcttelte ihn mit zitternder Bewegung, w\u00e4hrend er den K\u00f6rper vorw\u00e4rts und r\u00fcckw\u00e4rts neigte und sich in derselben Richtung sein linkes Knie mit der Hohlhand rieb. W\u00e4hrend der Sprechpausen machte er verschiedene Ger\u00e4usche mit seinem Munde, manchmal in der Art des Wiederk\u00e4uens oder Schmatzens, manchmal, indem er leise pfiff, manchmal liefs er die Zunge vom Gaumendache nach r\u00fcckw\u00e4rts spielen, \u00e4hnlich dem Glucksen einer Henne, manchmal schleuderte er sie nach vom gegen das Zahnfleisch des Oberkiefers, als wenn er das Wort too, too, too schnell und leise ausspr\u00e4che, alles das, bisweilen von einem gedankenvollen Blick, \u00f6fter aber von einem L\u00e4cheln begleitet. Wenn er im Verlaufe eines Disputs eine Periode beendigt hatte und dann durch Heftigkeit und lautes Sprechen erm\u00fcdet war, so pflegte er seinen Atem von sich zu blasen, wie ein Walfisch.\u201c (S. 498.)\nMrs. Thrale beschreibt Johnson im Alter von 56 Jahren und sagt, \u201edafs er den schrecklichen Zustand seines Geistes oft bejammerte, welcher beinahe verst\u00f6rt sei. Er nahm uns, d. h. Thrale und seiner Frau, die feierlichsten Gel\u00f6bnisse ab, diese befremdliche Sache geheim zu halten. Doch als wir ihn eines Morgens besuchten und anh\u00f6rten, wie er den Pfarrer von Lewes, Dr. Delap, der sich gerade von ihm verabschiedete, in den leidenschaftlichsten Ausdr\u00fccken anflehte, f\u00fcr ihn zu beten, da f\u00fchlte ich mich vom tiefsten Schmerz ergriffen, und ich entsinne mich wohl, dafs mein Gatte unwillk\u00fcrlich die Hand an den Mund legte, um ein verletzendes Wort zur\u00fcckzuhalten, das sich ihm aufdr\u00e4ngte, als er einen Menschen in so erregter Weise von Dingen reden h\u00f6rte, die ihm niemand glauben","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nD. Hack Tuke.\nkonnte, und die, selbst wenn sie der Wahrheit entsprochen h\u00e4tten, doch ganz und gar nicht zur Mitteilung geeignet gewesen w\u00e4ren.\u201c (S. 514.) Johnson genas \u00fcbrigens von diesem Anfalle geistiger Depression.\nSeine Erkrankung stellt eine bestimmtere Form von Geistesst\u00f6rung dar, als ich das vor genauerer Pr\u00fcfung des Gegenstandes vorausgesetzt h\u00e4tte, doch liegt durchaus kein Anzeichen daf\u00fcr vor, dafs er an einer systematisierten Wahnidee gelitten hat, und das Hauptinteresse des Falles kn\u00fcpft sich an die zwangsm\u00e4fsige Gewohnheit, die Steinpfosten in der oben beschriebenen Weise zu ber\u00fchren.\nIch gehe jetzt zur Beschreibung der Krankheitserscheinungen einiger h\u00f6chst schlagender Beispiele von Zwangsvorstellungen aus meiner eigenen Erfahrung \u00fcber. Der erste w\u00fcrde sich in dem von Charcot und Magnan aufgestellten Begriff der Onomatomanie unterbringen lassen.\nEin junger Mann von 19 Jahren, Student der Rechte, welcher sich auf der Schule ausgezeichnet hatte und an der Londoner Universit\u00e4t immatrikuliert war, stiefs eines Tages beim Lesen auf den Ausdruck \u201eit was not incompatible\u201c (es war nicht unvereinbar). Kurz darauf las er die deutschen Worte: \u201eIch liebe es nicht.\u201c Nun fiel es ihm auf, dafs das Verneinungswort im ersten Satze vor, im zweiten nach dem wichtigsten Worte stand. Darauf begann er bis zur Verwirrung \u00fcber Negationen im allgemeinen nachzugr\u00fcbeln, Alles, was er las, gab ihm Anlafs, \u00fcber die Konstruktion von S\u00e4tzen zu sinnen, in welchen eine Negation vorkam. Das wurde f\u00fcr ihn ein allbedeutendes, ihn ganz absorbierendes Problem. Es hinderte ihn am Lesen und Arbeiten. Die dr\u00fcckende Sorge seines Lebens war, das Negationswort an die rechte Stelle zu setzen, wo das auch sein mochte. Vor kurzem sagte er zu seinem Vater: \u201eW\u00e4re nicht dieses verw\u00fcnschte Negativum, so k\u00f6nnte ich Blackstone und jedes andere juristische Buch bew\u00e4ltigen.\u201c Eine Zeit lang gr\u00fcbelte er \u00fcber die Frage: \u201eWarum haben nicht auch wir kaltes Blut wie gewisse andere Gesch\u00f6pfe?\u201c Er schwebt in grofser Gefahr, unentschlossen und schwankend in seinem Handeln zu werden, denn jenes Leiden wird im weiteren Verlauf seine Willenskraft schw\u00e4chen und droht seine Beth\u00e4tigung im praktischen Leben g\u00e4nzlich zu l\u00e4hmen, indem sich ihm bei jeder einzelnen Gelegenheit Fragen und Zweifel","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Zwangsvorstellungen ohne Wahnideen.\n103\n\u00fcber den einzuschlagenden Weg erheben werden. Wer zum Spielball unz\u00e4hliger Zweifel und endloser Fragen geworden ist, der wird sich nicht lange mit den sprichw\u00f6rtlichen drei Wegen begn\u00fcgen. Bei seiner krankhaften Vorliebe f\u00fcr Negativa wird die Laufbahn unseres Studenten selbst eine \u201enegative\u201c werden.\nWas die erbliche Belastung betrifft, so leidet sein Vater, ein Mann von trefflicher k\u00f6rperlicher Konstitution, an Anf\u00e4llen von geistiger Depression, w\u00e4hrend ein Oheim von m\u00fctterlicher Seite seit langen Jahren epileptisch ist und somit das Beispiel einer anderen Form cerebraler Reflexaktion und Entladung darstellt. Wir w\u00fcrden es nicht angebracht finden, auf einen Fall, wie ihn dieser Student uns darbietet, die Bezeichnung \u201eIrresein\u201c anzuwenden, und doch k\u00f6nnen wir einen Menschen, der seine Gedanken nicht so zu beherrschen und zu lenken vermag, wie er will, kaum als geistesgesund betrachten. Indessen w\u00fcrde kein \u201eletzter Wille und Testament\u201c aus dem Grunde f\u00fcr nichtig erkl\u00e4rt werden, weil der Testator die unwiderstehliche Neigung hatte, gewisse Gegenst\u00e4nde zu ber\u00fchren, oder einen un\u00fcberwindlichen Abscheu vor der Ber\u00fchrung bestimmter Ger\u00e4tschaften, oder eine unertr\u00e4gliche Vorliebe f\u00fcr ein besonderes Wort, oder weil in seinem Geiste gewisse Ideen mit einem Kleidungsst\u00fcck verkn\u00fcpft waren, die kein anderer Mensch damit in Verbindung gebracht h\u00e4tte. Auch w\u00fcrde diese krankhafte Art zu denken und zu associieren kaum hinreichen, um in einer Kriminalsache einen Antrag auf Erkl\u00e4rung der Unzurechnungsf\u00e4higkeit infolge von Geistesst\u00f6rung zu st\u00fctzen.\nOrdnung: Folie du doute.\nSpecies : Arithmomania (?)\nIch wurde wegen einer Dame zu Rate gezogen, deren bedeutsamstes und qu\u00e4lendstes Krankheitssymptom darin bestand, dafs sie vor jeder, auch selbst der einfachsten Handlung bis zu einer gewissen Zahl z\u00e4hlen mufste. Man kann sich leicht vorstellen, welche geistige Ermattung dieser gebieterische Zwang herbeif\u00fchrte. Auch nur wenige Tage lang von dieser Zwangsidee verfolgt zu werden, w\u00e4re schlimm genug ; eine ganz unertr\u00e4gliche Last aber mufste es sein, etwa sechs Jahre hindurch einer so tyrannischen Zumutung oder Beeinflussung zum Spielball zu dienen, wie es bei dieser Patientin der Fall war. Sie beschrieb, wie sie selbst bei Nacht sich nicht (oder nur mit grofser","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nI). Hack Take.\nGeschwindigkeit) im Bette lierumdrehen, wie sie die Uhr nicht unter ihrem Kissen hervorholen konnte ohne zu z\u00e4hlen. Des Morgens hatte sie gew\u00f6hnlich die gr\u00f6fste Schwierigkeit aufzustehen, wenn sie nicht vorher gez\u00e4hlt hatte. Kam sie zum Fr\u00fchst\u00fcck herunter, so h\u00f6rten ihre Angeh\u00f6rigen, wie sie auf der Treppe Halt machte und dann mehrmals leise mit dem Fufse auftrat. Sie konnte nicht weiter gehen, denn bevor sie die n\u00e4chste Stufe betrat, mufste sie z\u00e4hlen. Sie sagt, wenn jemand hinter ihr st\u00e4nde und ihr zuriefe: \u201eVorw\u00e4rts, Du mufst hinunter gehen!\u201c, so w\u00fcrde sie es auch ohne die langweilige Prozedur thun k\u00f6nnen. Man stelle sie sich nun am Fr\u00fchst\u00fcckstische vor, sie will die Theekanne nehmen: es vergeht eine geraume Zeit, ehe sie den Griff derselben anr\u00fchren kann, denn der einzige Weg dahin f\u00fchrt durch die erm\u00fcdende Z\u00e4hlarbeit, meist bis 10 oder zu einem Vielfachen von 10, selten bis 100. Lassen wir sie nun einen Spaziergang machen: Sie kann die Th\u00fcr nicht \u00f6ffnen ohne zu z\u00e4hlen, und kaum ist sie auf die Strafse hinausgetreten, so mufs sie wahrscheinlich wieder umkehren, blofs um die Th\u00fcrklinke anzur\u00fchren. Es macht ihr kein Vergn\u00fcgen, Ladenfenster oder Gem\u00e4lde zu betrachten, denn ihr Verfolger gestattet es ihr nicht eher, als sie bis zu einer bestimmten Zahl gez\u00e4hlt hat. Sie mufs h\u00e4ufig ihre Atemz\u00fcge z\u00e4hlen, und sie kann nicht anders, als beim Gehen auf der Strafse ihre Schritte zu z\u00e4hlen. Auch beim Beten kommt sie nicht weit, sehr bald f\u00fchlt sie den schrecklichen Zwang, das ganze Gebet vom ersten Worte an zu wiederholen. In der Kirche ist ihre Not grofs, wie man sich denken kann; ein Buch in die Hand zu nehmen ist f\u00fcr sie eine ersch\u00f6pfende Th\u00e4tigkeit infolge des Z\u00e4hlens, das damit verkn\u00fcpft ist. Manchmal legt sie das Buch wieder hin und nimmt es dann auf eine andere Weise wieder auf. Das \u00d6ffnen einer Schublade ist gleichfalls eine h\u00f6chst ernsthafte Sache f\u00fcr sie.\nEhe sie eine Licht ausbl\u00e4st, mufs sie, wer weifs wie weit z\u00e4hlen und beim N\u00e4hen ist es ihr vorgekommen, dafs sie die Nadel neunzehn Mal in den Stoff einstach, ehe es ihr gelang, den ersten Stich zu machen.\nBeim Lesen qu\u00e4lt sie sich oft mit dem Zweifel, mit welchem Abschnitt der Seite sie beginnen soll.\nDie Frage, ob ihr jemals der Gedanke gekommen, dafs Gift in ihrem Essen sei, verneinte sie, aber die Antwort er-","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Zwangsvorstellungen ohne Wahnideen.\n105\nfolgte in ziemlich unbestimmter Weise. Am folgenden Tage empfing ich einen Brief von ihr des Inhaltes, dafs sie zwar niemals gedacht habe, ihr Essen sei mit Absicht vergiftet worden, aber manchmal eine nerv\u00f6se Furcht hege, es m\u00f6chte durch Zufall etwas in dasselbe hineingeraten sein; sie enthalte sich manchmal des Genusses einer Speise infolge derselben Empfindung, die sie auch bei vielen Gelegenheiten veranlasse, etwas, was sie sagen wolle, nicht auszusprechen. Mit Bezug auf das Gef\u00fchl der Unentschlossenheit und die Gewohnheit zu z\u00e4hlen, sagte sie weiter: \u201eWenn es sehr schlimm ist, ruft es ein Gef\u00fchl geistiger Spannung hervor, welches sehr l\u00e4stig, um nicht zu sagen, schmerzlich ist, und es mir sehr schwer macht, mich irgendwie mit Buhe oder Vergn\u00fcgen zu besch\u00e4ftigen. Dafs ich mit der Gewohnheit des Z\u00e4hlens nicht zu brechen wagte, geschah zum Teil aus Furcht, es m\u00f6chte der Gedanke, der mit dem Z\u00e4hlen verkn\u00fcpft war, \u2014 bald dieser, bald jener \u2014 sich in meinem Geiste festsetzen und ich ihn nie wieder los werden.\u201c\nDas ist eine kurze aber getreue Schilderung der furchtbaren Pr\u00fcfung, unter welcher diese ungl\u00fcckliche Dame leidet und sechs lange Jahre hindurch gelitten hat. Sie ist sich dieser seltsamen Abnormit\u00e4t ihrer Geistes beschaffenheit vollkommen bewufst; sehr lebhaft und intelligent vermag sie dar\u00fcber zu reden und ihre Ansicht \u00fcber die Art des Denkprozesses darzulegen, welcher sie dazu f\u00fchrt, fast jede Handlung ihres Lebens durch Z\u00e4hlen einzuleiten. Sie vergleicht sich mit einem Knaben beim Wettlauf, der nicht eher beginnen kann, bis der Buf ert\u00f6nt ist: \u201eEins, zwei, drei, los!\u201c Dies betrachtet sie als die unmittelbare Quelle ihrer Gewohnheit, sie meint, dafs sie beim ersten Male \u2014 und vielleicht auch jetzt noch \u2014 diesen Zweck mit dem Z\u00e4hlen verband. Dem Psychologen indessen erscheint diese Erkl\u00e4rung einseitig und unzureichend, so interessant sie auch bis zu einem gewissen Grade sein mag. Er wird tiefer nachforschen in der Erwartung, eine St\u00f6rung auf dem Gebiete der Gem\u00fctsbewegungen zu finden. Und er wird in unserem Palle nicht entt\u00e4uscht werden. Als vor ungef\u00e4hr 9 Jahren die Patientin sich in der Kirche befand, trat irgend eine Unordnung am Heizungsapparat ein; es entwich heifse Luft, und es war ihr, als m\u00fcsse sie ersticken, wenn sie l\u00e4nger verweile. Beim Verlassen der Kirche erschien ihr alles","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\n1). Hack Take.\ndunkel und undeutlich. Im Anschlufs an diese geistige Ersch\u00fctterung war sie eine Woche lang niedergedr\u00fcckt, und aus dieser Depression, meint sie, sei all\u2019 ihr sp\u00e4teres Leiden entsprungen. Mit dieser nerv\u00f6sen Furcht verband sich die schreckliche Angst, lebendig begraben zu werden, an welcher sie schon fr\u00fcher gelitten hatte; und seit der Zeit des Unfalles in der Kirche f\u00fcrchtete sie, sie w\u00fcrde im Schlafe auf irgend einen Kirchhof wandeln und f\u00fcr tot gehalten werden, w\u00e4hrend sie sich nur im Zustande des Sonnambulismus bef\u00e4nde. Sie malte sich alle Schrecken des Lebendigbegrabenwerdens aus. Zweifellos war sie als Kind nerv\u00f6s. Geisteskrankheiten in der Familie sind nicht bekannt, jedoch ist es von grofsem Interesse, dafs einer ihrer Br\u00fcder als Epileptiker gestorben ist, und eine Schwester, die noch lebt, epileptische Anf\u00e4lle hat.\nIn einem bemerkenswerten Artikel in den Annales m\u00e9dico-'psychologiques (Jan. 1890) weist Dr. Cullerre mit Nachdruck auf den Zusammenhang von Onomatomanie und Epilepsie hin. In dem Falle, welchen ich Ihnen beschrieben habe, kamen keine Anf\u00e4lle irgend welcher Art vor. Die Patientin hat nie an Ohnm\u00e4chten gelitten; einmal wurde sie totenblafs, als sie von dem Tode des Gedankenlesers Bishop erz\u00e4hlen h\u00f6rte, bei welchem der Verdacht rege wurde, dafs die Sektion gemacht worden sei, als er noch nicht wirklich tot war. Ich kann mich nicht davon \u00fcberzeugen, dafs sie Anf\u00e4lle von petit-mal gehabt hat, jedoch entlockte ich ihr die Thatsache, dafs sie zu Zeiten ein Gef\u00fchl hatte wie: \u201eIch m\u00f6chte wissen, ob ich das wirklich thue oder nicht.\u201c Sie hat nie an Schwindel gelitten. Sie hat auch die, \u00fcbrigens nicht ungew\u00f6hnliche Empfindung gehabt, sich fr\u00fcher bereits unter genau denselben Umst\u00e4nden und an demselben Orte befunden zu haben. Ich habe bereits gesagt, dafs sie ein nerv\u00f6ses Kind war, doch versichert sie mir, dafs sie von Hause aus nicht unentschlossen gewesen sei, und, wenn sie auch ihre Entschl\u00fcsse nicht sehr schnell zu fassen pflegte, doch keine Anlage zum Wankelmute gehabt habe. Hallucinationen irgend eines Sinnes oder Wahnideen sind nicht vorgekommen.\nIch m\u00f6chte jetzt noch kurz \u00fcber einen Fall berichten, der beinahe \u00fcber mein Thema hinausgeht, da die geistige St\u00f6rung weit mehr entwickelt war. Nichtsdestoweniger ist er von hohem Interesse, weil er die weitere Entwickelungsstufe einer Krankheit zeigt, welche vorher ebensowenig den Charakter","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Zwangsvorstellungen ohne Wahnideen.\n107\ndes \u201eIrreseins\u201c trug, wie die eben besprochenen F\u00e4lle. Aufserdem ist er bedeutsam als Illustration des in diesen F\u00e4llen so oft nachweisbaren Zusammenhangs von Ber\u00fchrungsfurcht (folie du toucher) und Zwangsvorstellungen, die sich an Worte kn\u00fcpfen.\nIn diesem Falle zeigt sich deutlich, wie wichtig es ist, einen zwangsartigen \u201eintellektuellen Impuls\u201c sorgf\u00e4ltig zu analysieren.\nEine Dame giebt beim Lesen eines Buches oder einer Zeitung Zeichen von Gereiztheit und Ekel zu erkennen, und man mufs die Schrift augenblicklich entfernen, um ihren Arger zu beschwichtigen. Es stellt sich heraus, dafs ein bestimmtes \"Wort die Quelle der Erregung war. In dem Worte selbst hegt nichts, was eine solche Wirkung erkl\u00e4ren k\u00f6nnte. Nur eine vollkommene Kenntnis der Vorgeschichte des Falles enth\u00fcllt uns das Geheimnis. Die Erkl\u00e4rung ist n\u00e4mlich folgende: Eine Silbe eines zusammengesetzten Wortes bildet zuf\u00e4llig den Namen eines Menschen, gegen den die Patientin vor vielen Jahren eine starke Abneigung gefafst hatte, trotzdem sie ihn nur oberfl\u00e4chlich kannte und er nur gelegentlich in ihres Vaters Haus kam. Damals betrat sie nie ein Zimmer, in welchem er sich befand. Er ist l\u00e4ngst tot, aber noch immer mag sie kein Wort h\u00f6ren oder lesen, welches seinen Namen oder auch nur einen Teil desselben enth\u00e4lt. Dieser Abscheu ist so g\u00e4nzlich mit ihrem Dasein verwachsen, dafs es manchmal sehr schwer ist, eine bestimmte Handlung auf denselben zur\u00fcckzuf\u00fchren, doch darf man annehmen, dafs er unausgesetzt existiert. Deutlich zeigt er sich in der Vorstellung, dafs sie sich bei der Ber\u00fchrung gewisser Gegenst\u00e4nde einer gef\u00e4hrlichen Befleckung aussetzt. Sie weigert sich, gewisse Menschen zu ber\u00fchren, mit welchen das t\u00e4gliche Leben sie zusammenf\u00fchrt, und bei genauer Pr\u00fcfung erweist sich auch dies als ein Teil ihrer un\u00fcberwindlichen Abneigung gegen jenes eine Individuum. Aus diesem Grunde fordert sie, dafs gewisse Sachen f\u00fcr sie gewaschen werden sollen. Wenn sie von einem Spaziergang heimkehrt, w\u00e4scht sie sich stets H\u00e4nde und Gesicht. Eine Zeit lang pflegte sie vielfach ohne Not an ihren Kleidern zu n\u00e4hen, und als man sie daran verhinderte, arbeitete sie mit den Spitzen ihrer Scheere oder mit Nadeln an eingebildeten L\u00f6chern im Kleide. Gegenw\u00e4rtig beobachtet man bei ihr von solchen Handlungen vornehmlich das Staubabwaschen. Sie","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nD. Hack Take.\nst\u00f6fst manchmal Verw\u00fcnschungen aus und beginnt dann H\u00e4nde und Arme in heftigster Weise zu waschen. Zuweilen kommt ihr ein Wort in den Sinn; zum Beispiel sagt sie pl\u00f6tzlich zu einer Person, die bei ihr ist: \u201eGr\u00fcnspan\u201c und f\u00e4hrt dann in eindringlicher Weise fort: \u201eDas Denken macht keinen Gr\u00fcnspan, nicht wahr?\u201c Auch stellt sie fort und fort Fragen, die auf ihre Befleckungsfurcht Bezug haben, zum Beispiel: \u201eLafs es mich noch einmal sagen, hat der und der mein Kleid anger\u00fchrt?\u201c\nWas ihre Familiengeschichte betrifft, so finden sich keine Spuren von Geisteskrankheit oder Epilepsie weder auf v\u00e4terlicher noch auf m\u00fctterlicher Seite, in beiden Familien war Gesundheit und lange Lebensdauer vorherrschend. Indessen war ein Vetter der Patientin beinahe Idiot; ein Onkel war gel\u00e4hmt, aber von trefflicher Geistesbeschaffenheit. Die Patientin selbst hatte in fr\u00fchester Jugend eine sehr schwere Krankheit \u00fcberstanden, aber sie hatte das Kindesalter schon \u00fcberschritten, als sich die unvern\u00fcnftige Abneigung gegen den Besucher ihres v\u00e4terlichen Hauses entwickelte. Von Charakter ist sie impulsiv, gem\u00fctvoll, edelm\u00fctig in der Gesinnung, aber selbstisch im Handeln. Sie besitzt ein entwickeltes religi\u00f6ses Empfinden und Pflichtgef\u00fchl, \u00fcbertr\u00e4gt es aber nicht immer ins praktische Handeln. Sie ist aufserordentlich wahrhaftig und frei von Argwohn. Intellektuell wird sie als vollkommen gesund betrachtet, sie ist h\u00f6chst witzig, liebt Wissenschaften und Musik und besitzt ein ausgezeichnetes Ged\u00e4chtnis. Dagegen macht sich ein grofser Mangel an Fleifs und Geduld geltend. Hallucina-tionen irgend eines Sinnes sind nicht vorhanden.\nIch wiederhole: ein Fall wie dieser letzte veranschaulicht jene schwierigen Krankheitszust\u00e4nde des Geistes, welche mit der Befleckungsfurcht einhergehen, d. h. mit der Furcht, sich an Gegenst\u00e4nden zu beflecken, die an und f\u00fcr sich vollkommen rein sind, aber durch eine Zuf\u00e4lligkeit oder eine eigensinnige Laune des Geistes sich mit irgend einem Menschen oder l\u00e4ngst vergangenen Ereignisse im Leben des Patienten zu associieren pflegen. Welcher Art die Association ist, kann nur durch eine geschickte Analyse jeden einzelnen Falles ermittelt werden.\nIch will nur noch einige wenige Bemerkungen hinzuf\u00fcgen, die als Kommentar der mitgeteilten F\u00e4lle dienen m\u00f6gen, und dann meine bereits allzu langen Betrachtungen schliefsen.\n1. Ich habe grofsen Nachdruck auf die erbliche Belastung","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Zwangsvorstellungen ohne Wahnideen.\n109\njener Patienten gelegt. Einige Irren\u00e4rzte betrachten sie sogar als einen wesentlichen Teil des Begriffs der Zwangsvorstellung. Ich kann nicht ganz soweit gehen, aber zweifellos ist sie sehr h\u00e4ufig vorhanden.\n2.\tEs ist wohl klar, dafs allen diesen F\u00e4llen der Umstand gemeinsam ist, dafs der Patient zwangsm\u00e4fsig eine bestimmte triviale oder unangenehme Gedankenrichtung verfolgt, mit welcher sich oft gewisse Ausrufe oder Bewegungen verbinden, w\u00e4hrend er im \u00fcbrigen mehr oder weniger gesund ist. Daher Esquirols Bezeichnung Monomanie raisonnante, die sich auf einen einigermafsen \u00e4hnlichen Zustand bezieht. Professor Balls Ausdruck \u201eintellektuelle Impulse\u201c ist ein recht passender, jedoch mufs ich bemerken:\n3.\tWenn man solche F\u00e4lle genau analysiert, so findet man, dafs sie gew\u00f6hnlich aus einer St\u00f6rung auf dem Gebiete der Gem\u00fctsbewegungen hervorgehen. R\u00e9gis ist hiervon so ganz \u00fcberzeugt, dafs er den Ausdruck D\u00e9lire \u00e9motif anwendet und den Grund der Geistesst\u00f6rung in einer Erkrankung des Gangliensystems der Eingeweide erblickt. {Areh.gen.de Med. 1866.)\n4.\tWiewohl ich gegen eine unn\u00f6tige Vermehrung der Nomenklatur der Geistesst\u00f6rungen protestieren w\u00fcrde, glaube ich, dafs wir uns gegen Charcots Bezeichnung \u201eOnomatomanie\u201c nicht zu str\u00e4uben brauchen. Nur w\u00fcrde ich ihn nicht auf die F\u00e4lle beschr\u00e4nken, die Charcot speciell dabei im Auge hat, also die F\u00e4lle \u201evon marterndem Suchen nach einem Namen oder Ausdruck, oder von Wortbesessenheit, die so schwer auf der Seele lastet, dafs sie den Menschen mit unwiderstehlichem Zwange treibt, das Wort wieder und wieder auszusprechen\u201c; ich w\u00fcrde vielmehr auch F\u00e4lle wie der verneinungss\u00fcchtige Student und die zuletzt erw\u00e4hnte Dame, darin einschliefsen. Dagegen w\u00fcrde ich die Dame, welche vor jeder ihrer Handlungen z\u00e4hlen mufste, nicht mit dazu rechnen, obgleich ihr Leiden mit jenem nahe verwandt ist, weil f\u00fcr solche F\u00e4lle die Franzosen den Ausdruck \u201eArithmomanie\u201c erfunden haben.\n5.\tDiesen Zwangsvorstellungen ist nahe verwandt die krankhafte Zweifelsucht, die Sucht, unausgesetzt in erm\u00fcdender Weise nach den allernutzlosesten Dingen zu forschen. So stellte sich der Student, abgesehen von seiner Wortmanie, die Frage, warum die Menschen kein kaltes Blut in den Adern h\u00e4tten u. s. w.","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nD. Hack Tuke.\n6. Mit Hinsicht auf die psychische Behandlung dieses qu\u00e4lenden und ersch\u00f6pfenden Leidens ist hervorzuheben, dafs die davon betroffenen Personen sehnlichst w\u00fcnschen, von ihrer t\u00e4glichen Plage befreit zu werden, und dafs es daher h\u00f6chst wichtig f\u00fcr uns ist, klar dar\u00fcber zu sein, wie wir ihre dringende Bitte um Hilfe beantworten sollen. Nun w\u00e4re es meiner \u00dcberzeugung nach verfehlt, dem Patienten anzuraten, seinen Feind zu bek\u00e4mpfen und verzweifelte Anstrengungen zu machen, denselben zu vertreiben. Denn .einem tiefen psychologischen Gesetze gem\u00e4fs f\u00fchrt eine solche Th\u00e4tigkeit des Geistes nur dazu, die krankhafte Vorstellung st\u00e4rker zu machen. Ich halte es f\u00fcr weit besser, nicht viel Aufhebens von der Sache zu machen, dar\u00fcber zu l\u00e4cheln, sich den Anschein zu geben, als messe man dem Eindringling keine Bedeutung zu, ihn so zu behandeln, wie der grofse Hund den unversch\u00e4mten kleinen K\u00f6ter: mit w\u00fcrdevoller Gleichgiltigkeit. Ich glaube sicher, wenn man ihn derart ignoriert, wenn man mit der verdienten g\u00e4nzlichen Verachtung auf ihn herabsieht, so mag er es schliefs-lich m\u00fcde werden, sein Opfer zu peinigen, er entdeckt, dafs er nur eine Null ist, wo er gehofft hatte, ein M\u00e4rtyrer und ein Held zu sein, und r\u00e4umt das Feld. Eine Analogie zu diesem Vorgang bildet das so h\u00e4ufig beobachtete Verhalten irrsinniger junger M\u00e4dchen von bester Erziehung und reiner Sinnesart, welche in ihrer Krankheit in schmutzigeren Ausdr\u00fccken reden k\u00f6nnen, als irgend ein m\u00e4nnlicher Patient in der Anstalt. Die Betreffende hat wohl in gesunden Tagen einmal ein obsc\u00f6nes Wort geh\u00f6rt, sie war entsetzt dar\u00fcber und hat mit aller Macht gerungen, dasselbe von der Tafel ihres Ged\u00e4chtnisses auszuwischen. Schon durch das Entsetzen pr\u00e4gte sich das Wort ihrem Ged\u00e4chtnis nur um so tiefer ein, und diese Wirkung wurde verzehnfacht durch den nachfolgenden inneren Kampf gegen dasselbe.\n7. Die Prognose ist gew\u00f6hnlich nicht g\u00fcnstig; aber selbst wenn der Patient seine Zwangsvorstellung nicht los wird, so ist es doch m\u00f6glich, dafs er in den Kreisen, in welchen er sich bewegt, sein Leben lang f\u00fcr gesund gehalten wird.","page":110}],"identifier":"lit15005","issued":"1891","language":"de","pages":"97-110","startpages":"97","title":"Zwangsvorstellung ohne Wahnideen","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:57:24.418253+00:00"}