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{"created":"2022-01-31T16:55:15.958857+00:00","id":"lit15031","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Pelman, C.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 3: 425-428","fulltext":[{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturberich t.\n425\ndie Wahrnehmung innerer Suggestion geringf\u00fcgigster Art, wie sie besonders bei Hysterischen, Epileptischen u. s. w. sich zeigen, stellen sie auf eine Linie mit dem psychischen Automatismus (Hypnose).\nIn einem zweiten Abschnitt seiner gehaltvollen Arbeit behandelt Verf. die eigentlichen Geisteskrankheiten \u2014 die degenerative Paranoia, periodische und cirkul\u00e4re Manie, ferner Hysterie, Epilepsie, Hypochondrie von obigem Gesichtspunkte aus. Bei ihnen tritt die unbewufste Geistes-th\u00e4tigkeit als zweite Pers\u00f6nlichkeit neben der ersten in den Vordergrund oder verdr\u00e4ngt diese ganz und gar. Bei den Psyc ho neur o s en (Melancholie, reinen Manie) gruppieren sich die psychischen Elemente nicht zu einer neuen Pers\u00f6nlichkeit, sondern es ist die normale unbewufste Th\u00e4tigkeit, die, infolge der Krankheitserreger (Ersch\u00f6pfung \u2014 Intoxikation) gesteigert und verkehrt, entweder als Depression oder als Exaltation sich \u00e4ufsert, d. h. der Schmerz, der jedes leibliche und seelische Unbehagen, und das Wohlgef\u00fchl, das jede lebhaftere Bewegung begleitet, ist ein dem gesunden Zustande analoger Vorgang, der sich blofs in \u00dcbertreibungen Luft macht.\nDie als Bel\u00e4ge beigegebenen Krankheitsgeschichten interessiren mehr den Psychiater. Von gr\u00f6fserem psychologischen Interesse w\u00fcrde die Vorf\u00fchrung und Analyse einfachster F\u00e4lle, von vor\u00fcbergehender Geistesabwesenheit, Willensst\u00f6rung und kontr\u00e4rer Empfindung sein, die bei im \u00fcbrigen Gesunden unter allerlei Umst\u00e4nden Vorkommen, aber freilich nur selten ans Licht gezogen werden.\tFraenkel (Dessau-).\nOtto Snell. Hexenprozesse und Geistesst\u00f6rung. Psychiatrische Untersuchungen. M\u00fcnchen, Lehmann 1891. 130 S. M. 4. \u2014.\nVon jeher haben die Hexenprozesse die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf sich gezogen, und dieses Interesse hat im Laufe der Jahre kaum abgenommen, im Gegenteil, ihre Geschichte verzeichnet gerade aus der j\u00fcngsten Zeit mehrere dankenswerte Beitr\u00e4ge. Eine solche Bereicherung unserer Litteratur bildet die vorliegende Schrift.\nDafs eine so gewaltige und furchtbare Erscheinung, wie sie das pl\u00f6tzliche Anschwellen der Hexenprozesse im 15. und 16. Jahrhundert darstellt, zu Erkl\u00e4rungsversuchen anregen mufste, ist nat\u00fcrlich, und ebenso nat\u00fcrlich war es, dafs man diese Erkl\u00e4rung in einer Geistesst\u00f6rung und zwar in der epidemischen Ausbreitung einer bestimmten Form von Geistesst\u00f6rung suchte. Die Hexen waren Geisteskranke, f\u00fcr deren Krankheit das Mittelalter kein Verst\u00e4ndnis besafs, und die es alsvomTeufel Besessene verbrannte. Diese Erkl\u00e4rung war ebenso einfach, als wie sie anscheinend \u00fcber jede Schwierigkeit hinweghalf. Auch Snell gesteht ein, wie er von vornherein die Erwartung gehegt habe, den Nachweis f\u00fchren zu k\u00f6nnen, dafs ein sehr grofser Teil der Verurteilten geisteskrank war. Im Verlaufe seiner Untersuchung sei er jedoch zu der Einsicht gelangt, dafs seine Voraussetzung eine irrige gewesen. Vielmehr seien verh\u00e4ltnism\u00e4fsig nur wenige Geisteskranke den Hexenprozessen zum Opfer gefallen, dagegen h\u00e4tten sie und besonders die Hysterischen dadurch Veranlassung zu Hexenverfolgungen gegeben, dafs man sie f\u00fcr besessen hielt und den Zauberer zu strafen suchte, der ihre Besessenheit verursacht haben sollte.","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nLitteraturbericht.\nNeben diesem mehr psychiatrischen Teile geht Snell auch auf die historische Entwickelung n\u00e4her ein, und er sucht die Frage, wie es m\u00f6glich gewesen, dafs sich der Hexenglaube, der doch zu allen Zeiten bestanden, zu einer bestimmten Zeit zu den Prozessen steigern konnte, deren Opfer in Europa nach Millionen z\u00e4hlten, durch das zielbewufste Vorgehen der Kirche zu erkl\u00e4ren, jede ihr entgegentretende Macht und Richtung zu unterdr\u00fccken.\nBis zum Christentum hatte man mehr den durch Zauberei angerichteten Schaden, als diese selber bestraft, und auch die Kirche verharrte zun\u00e4chst, trotz einzelner gegen die Zauberei erlassener Gesetze, im ganzen bei der gleichen Ansicht.\nErst mit dem Siege der Kirche \u00fcber die weltliche Macht (im 13. Jahrhundert) \u00e4nderte sich die Sache, man drehte nun den Spiefs um und ging zun\u00e4chst gegen die Ketzer vor, denen man allerlei Verbrechen vorwarf, insbesondere Zauberei und Teufelsanbetung.\nKetzerei aber war jede Opposition gegen den Klerus.\nMit gewaltiger Tragik tritt diese Auslegung der Begriffe in dem Unterg\u00e4nge der Stedinger zu Tage. Die Stedinger hatten sich gegen die in nichts berechtigten Anspr\u00fcche des Erzbischofs von Bremen aufgelehnt und dieser den Beistand des Papstes angerufen. Gregor IX. erliefs darauf 1232 jene ber\u00fcchtigte Bulle, worin er die Stedinger als Ketzer und dem Teufelskultus ergeben darstellt und die Christenheit zu ihrer Vernichtung auffordert, ein Geistesprodukt von einem so entsetzlichen Aberglauben, dafs es geradezu unfafsbar ist, wie Gregor an solchen Unsinn glauben konnte. Jedenfalls aber war der Unsinn von nun an kanonische Satzung, und jeder Christ zu dem Glauben verpflichtet, dafs alle Ketzerei, d. h. jeder Widerstand gegen kirchlichen Orthodoxismus und geistlichen \u00dcbermut aus einem mit dem Satan geschlossenen Pakt entstehe, und f\u00fcr die grunds\u00e4tzliche Vermengung des Religi\u00f6sen und Politischen wurde dadurch Sorge getragen, dafs noch in demselben Jahre die Reichsacht \u00fcber alle Ketzer in Deutschland ausgesprochen wurde.\nGleichzeitig \u00fcbergab Gregor die Inquisition den Dominikanern und that damit auch den entscheidenden Schritt gegen die Zauberer, die man bisher im ganzen unbehelligt gelassen und mehr als Opfer des B\u00f6sen angesehen hatte.\nVon nun an war der Aberglaube f\u00fcr das Rechtsinstitut der Inquisition die unentbehrlichste Bedingung seines Bestehens. An die Stelle der Anklage trat die Denunziation, an die Stelle des Beweises die Folter, als Strafe Tod und Einziehung der G\u00fcter.\nIm Jahre 1274 loderten in Toulouse die ersten Scheiterhaufen auf, und die Dominikaner begannen ihre grausige Th\u00e4tigkeit mit dem Verbrennen einer Anzahl Weiber, weil sie den Hexensabbath besucht hatten.\nAufser in den Sekten erwuchs der p\u00e4pstlichen Macht ein anderer, nicht minder gef\u00e4hrlicher Gegner in dem Erwachen der wissenschaftlichen Forschung, wie sie sich namentlich unter dem Einfl\u00fcsse der arabischen Hochschulen verbreitete. Grund genug zum Einschreiten auch nach dieser Seite. \u2014 Innocenz VII. bedrohte in seiner Bulle vom","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n427\n5. Dez. 1484 jeden, der den Hexenglauben als Aberglauben erkl\u00e4rte, als Ketzer mit Bann und Interdikt.\nSchon 1209 waren die Schriften des Aristoteles auf Befehl des Konzils von Paris verbrannt worden, Boger Baoo (1214\u201494) wurde zweimal eingekerkert, und der Prozefs gegen die Templer 1308 lieferte den Beweis, wie weit die Kirche gewillt war, weltlicher Rachsucht und Habgier ihre Unterst\u00fctzung zu gew\u00e4hren.\nSo war der Boden vorbereitet, und der famose Hexenhammer konnte 1487 in die Welt treten, ein Machwerk von einer so unglaublichen Nichtsw\u00fcrdigkeit, von solcher Verblendung und Thorheit, dafs wir ihm verst\u00e4ndnislos gegen\u00fcberstehen. Von nun an war schon der einfache Zweifel an der Wahrheit des Hexentums Ketzerei und ein Beweis, dafs der Zweifler mit dem Satan in Verbindung stehe. Besonders gef\u00e4hrliche Individuen waren die Hebammen, da sie die neugeborenen Kinder dem Teufel gelobten, und wir sehen, wie 8\u201410j\u00e4hrige Kinder dem Feuertode \u00fcberantwortet w\u2019erden. Nahm sich das verzweifelnde Opfer das Leben, so war dies nur ein neuer Beweis seiner Verruchtheit und f\u00fcr die Macht, die der B\u00f6se \u00fcber dasselbe ausge\u00fcbt. Der Gipfel der Niedertracht aber wird in dem Satze erreicht, dafs man einem Gest\u00e4ndigen mit gutem Gewissen Gnade versprechen k\u00f6nne, wenn man nur dabei an Gnade gegen, sich oder den Staat denke, zu dessen Erhaltung alles, was geschehe, gn\u00e4dig sei.\nDie Reformation \u00e4nderte an diesem Treiben nichts, den Teufel wagte kein Reformator anzutasten. H\u00f6chstens nannten die Katholiken Luther ein Kind des Teufels, was ihnen dieser mit gleicher M\u00fcnze an die P\u00e4pste heimzahlte, verbrannt aber wurde h\u00fcben und dr\u00fcben mit demselben Eifer.\nNur hin und wieder erhob sich eine vereinzelte Stimme dagegen, aber sie verhallte wie die Weiers (1563) ungeh\u00f6rt, und erst mit Spee (1631) wird der Widerspruch heftiger, und die Prozesse werden gegen Ende des XVII. Jahrhunderts seltener, um dann allm\u00e4hlich abzuklingen.\nDiesem geradezu wahnsinnigen Treiben gegen\u00fcber fragen wir uns heute, ob es denn \u00fcberhaupt mit der Annahme geistiger Gesundheit vereinbar, und wer von beiden, Henker oder Opfer, geisteskrank gewesen sei.\nDafs die Mehrzahl der Hexenrichter aus \u00dcberzeugung und in dem guten Glauben gehandelt habe, ein gottwohlgef\u00e4lliges Werk zu thun, kann gar nicht bezweifelt werden, und ebensowenig ist ihnen ein Vorwurf daraus zu machen, dafs sie als Kinder ihrer Zeit in den Ideen derselben befangen waren. Ein wissenschaftlicher Irrtum ist noch lange keine Wahnidee, und geisteskrank waren sie nicht. Das Gleiche gilt f\u00fcr die Hexen. Aus den Prozefsakten ergiebt sich nichts, was auf eine wirkliche Geistesst\u00f6rung schliefsen liefse, die 200 Verurteilten Spees beteuerten ihre Unschuld, und wenn hin und wieder eine melancholische Kranke durch ihre Selbstanklagen Veranlassung zur Einleitung eines Prozesses gegeben hat, so kann dieser Bruchteil der ganzen grofsen Masse gegen\u00fcber doch nur sehr gering sein.\nAnders verh\u00e4lt es sich mit den Besessenen.","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nLitteraturbericht.\nDer Glaube an die Besessenheit ist seines biblischen Ursprunges halber schwer zu bezweifeln und findet ja noch bis auf den heutigen Tag seine Verteidiger (Vilmar, Baumgarten)- Bei den meisten Besessenen aber, von denen uns genauere Nachrichten erhalten sind, wird die hysterische Natur der Krampfanf\u00e4lle durch die Beschreibung aufser Zweifel gesetzt.\nEs waren demnach Hysterische, die in den meisten F\u00e4llen den Ausgangspunkt der Prozesse bildeten, und da man sie f\u00fcr besessen hielt, suchte man stets nach der Ursache der Besessenheit, d. h. nach denjenigen, die diesen Zustand durch Zauberei hervorgerufen hatten. Die Opfer waren durchweg Geistesgesunde. Wir sehen, wie die fr\u00f6mmsten und harmlosesten Menschen verfolgt werden, nicht nur Weiber, und oft gen\u00fcgte irgend eine Abweichung von dem Gew\u00f6hnlichen, sogar besondere Sch\u00f6nheit, um den Verdacht auf sich zu lenken. Schon der Verdacht war t\u00f6tlich, und das ge\u00e4ngstigte Volk hatte jahrhundertelang nur die Wahl, von den einen behext oder von den andern verbrannt zu werden.\nDafs die Angeklagten gestanden, was man von ihnen verlangte, daf\u00fcr sorgte die Folter, und die \u00dcbereinstimmung ihrer Aussagen erkl\u00e4rt sich auf einfache Weise durch die \u00dcbereinstimmung der ihnen vorgelegten Fragen.\nDer Richter handelte im Sinne seiner Zeit, zuerst mehr bewufst im Dienste der Kirche gegen Ketzer und Widerspenstige, und sp\u00e4ter instinktiv im Banne seines Aberglaubens. Niemand zweifelte an der Besessenheit und an der Existenz des Teufels, und da diese Besessenen als mit dem Teufel im Bunde den Feuertod verdienten, so fand man ein verdienstliches Werk darin, sie diesem Tode zu \u00fcbergeben.\nWenn demnach auch nur ein geringer Teil der Hexen geisteskrank war, so ist doch alles, was damals geisteskrank und hysterisch war, als Hexe verbrannt worden.\nDies ist im wesentlichen der Inhalt des SxELLSchen Buches, und der Verfasser hat auf kleinem Raume ein grofses Material angeh\u00e4uft. Eine besondere Beachtung verdient seine Zergliederung des Malleus maleficorum, \u201eeines der merkw\u00fcrdigsten Werke, die je aus Menschenh\u00e4nden hervorgegangen sind. Kein vorweltliches Tier, keine Keilschrift, kein Ger\u00e4t des unbekanntesten Volksstammes mutet uns heute so fremdartig an, bleibt uns so g\u00e4nzlich unverst\u00e4ndlich, wie dieses Buch. Es ist gar nicht zu begreifen, dafs es vor 400 Jahren hier in unserem Deutschland Menschen geben konnte, die in der Verblendung, Urteilslosigkeit und Roheit so tief standen, wie es der Hexenhammer auf jeder Seite bezeugt.\u201c\nAber auch die \u00fcbrigen Kapitel geben Kunde davon, wie eingehend Snell auf die Quellen zur\u00fcckgegangen ist, so dafs selbst die, denen die gr\u00f6fseren Werke von Roskoff, Sold au u. a. nicht unbekannt sind, in der kleinen Schrift Snells, ganz abgesehen von der psychiatrischen Beweisf\u00fchrung, auch an historischen Angaben manches Neue und Interessante finden werden.\tPelman (Bonn).","page":428}],"identifier":"lit15031","issued":"1892","language":"de","pages":"425-428","startpages":"425","title":"Otto Snell: Hexenprozesse und Geistesst\u00f6rung, Psychiatrische Untersuchungen. M\u00fcnchen, Lehmann 1891","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:55:15.958863+00:00"}