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{"created":"2022-01-31T14:20:55.602880+00:00","id":"lit15037","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stumpf, Carl","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 4: 70-73","fulltext":[{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"Zum Begriff der Lokalzeichen.\nVon\nC. Stumpf.\nIn dem k\u00fcrzlich erschienenen dritten Band von Lotzes \u201eKleinen Schriften\u201c bemerkt der Herausgeber Peipers (S. XXIX), dafs Lotze genau denselben Gedanken, dessen Verfolgung er in seiner Mitteilung an mich abgelehnt hatte, sp\u00e4ter in dem Artikel f\u00fcr die Revue philosophique (Kl. Sehr. III. 378) selbst entwickelt habe: dafs n\u00e4mlich R\u00e4umlichkeit (lokale und quantitative Eigenschaften) ebenso wie Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t ein \u201eMoment\u201c der Empfindung sei, eine Abstraktion also, die uns nur darum gelinge, weil wir beobachten, dafs die Empfindung in mehrfacher \"Weise sich ver\u00e4ndere.\nDieses stillschweigende Zugest\u00e4ndnis des hochverehrten Forschers war mir entgangen. Lotze selbst aber ist entgangen, dafs dieser Gedanke (der mir als Grundgedanke eines richtig verstandenen Nativismus erschien und erscheint, der aber mit dem Glauben an eine \u201eeinfache Seele\u201c ebensowenig als mit angeborenen Ideen etwas zu thun hat) mit seinem Begriff von Lokalzeichen sich schwerlich vereinigen l\u00e4fst. Denn das Lokalzeichen sollte eine zweite Empfindung aufser der optischen (bezw. haptischen) Empfindung sein, nicht ein blofses Moment derselben, welches seiner Natur nach von Anfang an aufs Innigste und integrierend mit der Qualit\u00e4t der Empfindung verkn\u00fcpft sein m\u00fcfste. Ich kann daher in der Einf\u00fcgung dieses Gedankens in den allgemeinen Begriff des Lokalzeichens nichts weniger denn eine Verringerung der Schwierigkeiten finden, die Lotze zu immer neuen Darstellungen1 veranlafsten und die er\n1 Im ganzen sechs : B. Wagners Handw\u00f6rterbuch, Mediz. Psychologie, Mikrokosmus, Metaphysik, Mitteilung in meinem \u201e Ursprung der Baumvorstellung'\u201c, Artikel in der \u201eBevue philos.\u201c","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"Zum Begriff der Lokalzeichen.\n71\nselbst auch wiederholt mit h\u00f6chst r\u00fchmlicher Offenheit anerkennt.\nEine dieser \u201eobjections fondamentales\u201c: dafs man die Lokalzeichen nicht im Bewufstsein auftreiben k\u00f6nne und doch auch die Annahme einer ganzen Klasse unbewufster Empfindungen mifslich und willk\u00fcrlich sei, beantwortet er in dem genannten Aufsatz unter ausdr\u00fccklicher Ablehnung der \u201eInnervationsempfindungen\u201c durch Hinweis auf den Musiker, der nach einem momentanen Blick auf die Noten sehr komplizierte Bewegungen macht, die doch auch nur durch entsprechende, aus fr\u00fcherer Ein\u00fcbung stammende Bewegungserinnerungen m\u00f6glich sind.\nAber warum zweifelt hier niemand, dafs Muskelerinnerungen im Spiel sind? Ganz gleich liegt also die Sache doch nicht. Und man braucht die Bewegungen nur etwas langsamer auszuf\u00fchren, um die Muskelvorstellungen mit voller Deutlichkeit wahrzunehmen. Bei schneller Ausf\u00fchrung mufs die Aufmerksamkeit eben zu sehr auf die Ziele der Bewegungen konzentriert bleiben, deren Vorstellung infolge wohleinge\u00fcbter Assoziationen die Muskelvorstellungen und damit die Bewegungen selbst mechanisch nach sich zieht.\nAufserdem besteht der grofse Unterschied, dafs im erw\u00e4hnten Fall ein reproduzierendes Moment vorhanden ist, n\u00e4mlich die Noten, im Fall der r\u00e4umlichen Wahrnehmung aber nicht. Die als Lokalzeichen dienenden Bewegungserinnerungen werden nicht durch die gegenw\u00e4rtigen Farbenqualit\u00e4ten reproduziert \u2014 da ja gleiche Farbenreize die Netzhaut an den verschiedensten Punkten treffen, gleiche Farbenqualit\u00e4ten sich also mit den verschiedensten Bewegungen assoziiert haben m\u00fcfsten \u2014. Durch was also?\nIn einem f\u00fcr den Begriff der Lokalzeichen wesentlichen Punkte mufs ich der Erl\u00e4uterung des Herausgebers widersprechen. Er sagt (XXVIII), \u201eZeichen\u201c bedeute f\u00fcr Lotze hier nichts anderes als Index im analogen Sinne wie in der Mathematik. Sonst gleiche Farbenempfindungen sind im Bewufstsein mit einem Lokal-Index versehen, durch ihn unterschieden : und dies w\u00e4re das LoTZEsche Lokalzeichen. Zu dieser Auslegung sieht sich Peipers durch das mehrfach in dem franz\u00f6sischen Artikel gebrauchte Wort \u201eindice\u201c veranlafst, obgleich Lotze auch hier sonst \u201esigne\u201c gebraucht. Bedeutete","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nC. Stumpf.\nnun das Lokalzeichen wirklich nichts weiter, so w\u00e4re die ganze Lehre lediglich eine Beschreibung des unzweifelhaften psychologischen Thatbestandes, nicht aber, was sie sein will, eine Erkl\u00e4rung. Lotze hat gerade in diesem Aufsatz noch deutlicher als sonst gesagt, dafs es sich um eine zu postulierende Nebenempfindung handle, durch welche der Ort der optischen (haptischen) Empfindung in unserem Bewufstsein erzeugt wird (Kl. Sehr. III. 388\u2014389: \u201eCe qui se passe dans les nerfs ne peut servir de mobile qu\u2019 \u00e0 une rotation, c\u2019est-\u00e0-dire \u00e0 un ph\u00e9nom\u00e8ne du monde physique; les affections psychiques, qui en proviennent, m\u00e9ritent seules le nom de signes locaux, car elles seules peuvent provoquer la localisation.\u201c) Also nicht die Lokalit\u00e4t der Empfindung im Gesichtsraum selbst, nicht ihr Lokalindex, sondern die psychische Ursache dieser Lokalit\u00e4t soll das Lokalzeichen sein. Darum erlaubte ich mir diese Lehre als \u201eTheorie der psychischen Beize\u201c zu bezeichnen, und darf wohl in Lotzes ebenerw\u00e4hnter Definition eine nachtr\u00e4gliche authentische Best\u00e4tigung daf\u00fcr erblicken. Aber allerdings ist es nicht ohne Interesse, zu sehen, wie Lotze auch hier in den Ausdr\u00fccken, auf welche sich Peipees st\u00fctzt, der \u201eTheorie der psychologischen Teile\u201c oder der Empfindungsmomente sich ann\u00e4hert.\nEine andere, noch merkw\u00fcrdigere Wendung findet sich in der zwei Jahre sp\u00e4ter (1879) erschienenen Metaphysik (S. 563). W\u00e4hrend Lotze im obigen Aufsatz noch ausdr\u00fccklich betont, dafs die Lokalzeichen in sich selbst dem Begriff des Orts durchaus fremd sind (Kl. Sehr. III 380: \u00e9trangers eux-m\u00eames \u00e0 toute notion de lieu), f\u00fchrt ihn jetzt das Bestreben, sie im Bewufstsein nachzuweisen, zu dem Ausspruch: \u201eF\u00fcr meine sinnliche Anschauung der gesehenen Punkte p und q hat die Behauptung, sie seien entfernt voneinander, gar keinen anderen Sinn als diesen, dafs eine bestimmte Bewegungsgr\u00f6fse n\u00f6tig ist, um den Blick von einem auf den anderen zu richten.\u201c Das w\u00e4re denn schliefslich nach allem der Grundgedanke der BERKELEY-BAiNschen Lehre: Baum ist f\u00fcr unsere Empfindung nichts anderes als eine Summe von Bewegungsgef\u00fchlen. Es bedarf nicht der Bemerkung, das auch diese Wendung mit der Theorie der psychischen Beizung, mit dem urspr\u00fcnglichen Begriff der Lokalzeichen im vollen Widerspruch steht.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Zum Begriff der Lokalzeichen.\n73\nEs schien mir lehrreich, diese Ans\u00e4tze zu Umformungen von Seiten des grofsen Psychologen, wodurch der von ihm eingef\u00fchrte Begriff sichergestellt werden sollte, sch\u00e4rfer ins Auge zu fassen: denn sie zeigen nur aufs neue, dafs man die Schwierigkeiten der Lehre nicht \u00fcberwinden kann, ohne sie zu verlassen.1\nVgl. auch: Abhandl. d. bayr. Akad. d. Wiss. 1. KL 1891. S. 485\u2014486.","page":73}],"identifier":"lit15037","issued":"1893","language":"de","pages":"70-73","startpages":"70","title":"Zum Begriff der Lokalzeichen","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:20:55.602886+00:00"}