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{"created":"2022-01-31T12:47:36.570773+00:00","id":"lit15038","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Hilbert, Richard","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 4: 74-77","fulltext":[{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntnis des successiven Kontrastes.\nVon\nDr. Richard Hilbert in Sensburg.\nJeder momentan auf die lebende menschliche Netzhaut einwirkende Reiz bewirkt nicht eine gleichfalls momentane Empfindung, sondern es h\u00e4lt letztere noch eine mehr oder weniger lange Zeit (entsprechend der Intensit\u00e4t des Reizes) an: Es entsteht das sogenannte Nachbild.1 Man unterscheidet unter diesen Nachbildern positive und negative: bei den positiven erscheinen die in dem Objekt hellen Stellen ebenfalls hell, die dunkeln ebenfalls dunkel; bei den negativen ist dieses Verh\u00e4ltnis zum Objekt umgekehrt. Diese Bezeichnungen entsprechen mithin denjenigen der photographischen Platten. Dementsprechend k\u00f6nnen farbige Nachbilder mit dem Objekt gleichgef\u00e4rbt sein (positive), oder in der antagonistischen (komplement\u00e4ren) Farbe erscheinen (negative), oder auch, merkw\u00fcrdigerweise, in einer andern, nicht antagonistischen Farbe auftreten, wie weiter gezeigt werden soll.\nPositive Nachbilder kommen am deutlichsten zur Erscheinung, wenn man im Dunkelzimmer ein Objekt, das durch den elektrischen Funken momentan beleuchtet wird, betrachtet hat,2 oder wenn man die Augen einige Zeit hindurch mit den H\u00e4nden bedeckt, dann ohne Ersch\u00fctterung des Kopfes die H\u00e4nde fortzieht, ein Objekt betrachtet und nun wieder die H\u00e4nde vor die Augen h\u00e4lt.3 Positive gleichfarbige Nachbilder treten nach\n1\tDas Nachbild entwickelt sich bereits w\u00e4hrend der Anschauung des Objekts. Vergl. Aubert, Physiologie der Netzhaut. Breslau 1865. S. 347.\n2\tAubert, 1. c. S. 354.\n8 Helmholtz, Physiologische Optik. I. Aufl. S. 359.","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntnis des successiven Kontrastes.\n75\nnur kurzem Betrachten des farbigen Objekts ein. Hierher geh\u00f6rt beispielsweise die Empfindung des roten Kreises, die durch eine schnell umgeschwungene gl\u00fchende Kohle bewirkt wird. \u2014 Dauert die Betrachtung l\u00e4nger, so tritt die antagonistische Farbe auf.1\nDie negativen Nachbilder treten am leichtesten auf und sind auch am meisten untersucht. Sind sie farbig, so ist ihre Farbe normalerweise antagonistisch zu der des fixierten Objekts. Dieselben treten nach einer Dauer der Fixation des Objekts von 30\u201460 Sekunden ein. \u2014 Derartige Versuche lassen sich gut und bequem mittelst des Apparates von N\u00f6rrenberg2 anstellen. \u2014 Die zahlreichsten und genauesten Studien \u00fcber Nachbilder wurden von Plateau3 und Fechner4 gemacht.\nWie nun oben gesagt, ist das negative Nachbild eines farbigen Objekts normalerweise antagonistisch gef\u00e4rbt, doch giebt es hiervon individuelle Ausnahmen. Die bis jetzt bekannten sind in Auberts Physiologischer Optik angef\u00fchrt:5 \u201eBr\u00fccke (Poggendorfs Annalen 1851. Bd. 84. S. 425) giebt an, dafs einer seiner Sch\u00fcler von Bot ein violettes statt eines blaugr\u00fcnen Nachbildes erhalten habe \u2014 auch mein Freund Dr. K\u00e4stner auf Fehmarn, welcher die Farben sehr genau unterschied, gab, ohne von Br\u00fcckes Erfahrung etwas zu wissen, an, dafs das Nachbild von Bot f\u00fcr ihn violett sei; im Journal de physique par Posier 1787, T. 30, p. 407, findet sich die Angabe, dafs das Nachbild von Bot auf weifsem Grund\u00a9 einem Beobachter nicht gr\u00fcn, sondern gl\u00e4nzend weifs (d\u2019un blanc brillant) erschien\u201c.\nDurch Zufall habe ich nun an mir selbst bemerkt, dafs ein bestimmtes Objekt f\u00fcr mein Empfinden zu verschiedenen Zeiten verschieden gef\u00e4rbte Nachbilder lieferte, eine Thatsache, die mithin den Beweis liefert, dafs die Farbe der Nachbilder nicht nur von einzelnen Individuen in abweichender Weise empfunden wird, sondern dafs auch diese Empfindungen bei\n1\tErasm\u00fcs Darwin, Zoonomie I. 2. S. 538.\n2\tJ. M\u00fcller, Lehrbuch der Physik und Meteorologie. 8. Aufl. Bearbeitet von Pfaundler. Braunschweig 1879. Bd. II. Abtl. I. S. 334.\n3\tPlateau, Po g g end or fs Annalen 1839. Bd. XXXII. S. 546.\n4\tEechner, do. 1840. Bd. L. 8. 448.\n5\tAubert, Physiologische Optik, Handbuch der gesamten Augenheilkunde von Grafe und S\u00e4misch. Bd. II. S. 562.","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nRichard Hilbert.\neinem einzelnen Individuum nicht stets in derselben Weise percipiert werden.\nDer Vorgang war folgender: Wenn ich, in einem dunkeln Zimmer stehend, die Glocke der im Nebenzimmer entz\u00fcndeten Petroleumlampe betrachtete und das Nachbild in eine dunkle Ecke projizierte, so erschien mir dasselbe stets dunkelblau, entsprechend dem komplement\u00e4ren Gelb der Glocke. So hatte ich das Nachbild schon unz\u00e4hlige Male empfunden und so d\u00fcrfte es auch normalerweise von der Mehrzahl der Individuen empfunden werden. Ich war daher nicht wenig \u00fcberrascht, als es mir eines Abends statt dunkelblau, lichtgr\u00fcn erschien. Selbstverst\u00e4ndlich wiederholte ich den Versuch an jenem Abend noch mehrere Male, aber stets mit dem gleichen Erfolg: Das Nachbild war und blieb lichtgr\u00fcn. An jenem Tage war ich infolge bedeutender k\u00f6rperlicher und geistiger Anstrengung m\u00fcde und angegriffen, und dieses schien mir der Schl\u00fcssel zu meiner abnorm ver\u00e4nderten Empfindung zu sein : In den n\u00e4chsten Tagen empfand ich obiges Nachbild wieder in normaler Weise als blau und so auch die folgenden Tage, bis es mir sp\u00e4ter noch einmal, ebenfalls nach einem anstrengenden Tage, wieder, gleichfalls nur den betreffenden Abend \u00fcber, lichtgr\u00fcn erschien. Die zweite Beobachtung dieses so ver\u00e4nderten Ph\u00e4nomens bei gleichfalls erm\u00fcdetem K\u00f6rperzustande konnte mich nur in meiner oben ausgesprochenen Ansicht best\u00e4rken, und obwohl es seine Schwierigkeit haben d\u00fcrfte, die Relation zwischen Erm\u00fcdung oder sonstiger Affektion des Nervensystems und ver\u00e4nderter Empfindung genau festzustellen, so bietet doch die Pathologie (Ver\u00e4nderung von Geruchs- und Geschmacksempfindungen bei Psychosen, Farben-Empfindungen als toxische Wirkung gewisser chemischer Agentien1 [Gallenfarbstoff, Santonin, Pikrins\u00e4ure, Chroms\u00e4ure, Atropin]) einige Analogien dar.\nSchliefslich m\u00f6chte ich noch auf das sogenannte Abklingen der Farben nach starker und br\u00fcsker Reizung der Netzhaut (Blendung mit Sonnenlicht) exemplifizieren. Sieht man einen Augenblick in die Sonne hinein und schliefst dann schnell die Augen, so bemerkt man etwa folgendes: Zun\u00e4chst erscheint\n1 Hilbert, Zur Kenntnis der pathologischen Farbenempfindungen Ein Versuch einer Pathologie der Farbenempfindungen. Memorabilien. Bd. XXIX. S. 526. (1884.)","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kenntnis des successiven Kontrastes.\n77\nein gelbes Nachbild mit blauem Rande; dasselbe wird schnell blau und der Saum gelb, welches Spiel sich eine Zeit hindurch wiederholt. Schliefslich wird das Nachbild hellblau, dann dunkelblau, dann violett und zum Schlufs karminrot; das karminrote Bild wird immer dunkler, zuletzt braun, bis es schliefslich verschwindet: \u201ees klingt ab\u201c. \u00dcbrigens ist die Reihenfolge der Farben in diesem Versuch bei verschiedenen Individuen eine verschiedene, auch treten andere Farben auf, je nachdem man das Nachbild durch Hinblicken auf eine schwarze, weifse oder farbige Fl\u00e4che dortselbst projiziert.\nAuch bei diesem Versuch bemerkt man zun\u00e4chst das mehrmalige Auftreten antagonistisch gef\u00e4rbter Nachbilder; sp\u00e4ter, wenn das Farbensinnzentrum durch den oftmaligen Reiz der wechselnden Farben erm\u00fcdet ist, treten Nachbilder von solchen Farben ein, die aufserhalb der Reihe des komplement\u00e4ren Farbenwechsels stehen : das Farbensinnzentrum arbeitet unregel-m\u00e4fsig und gehorcht nicht mehr den Gesetzen, welchen es sonst unterworfen ist; in \u00e4hnlicher Weise wie auch andere Organe des K\u00f6rpers nach \u00dcberanstrengung und Erm\u00fcdung in nicht mehr typischer Weise ihre Funktionen fortsetzen.\nSelbstverst\u00e4ndlich halte ich auch diese Thatsache nicht f\u00fcr einen strikten Beweis meiner Anschauung, sondern f\u00fchre ihn ebenfalls nur als Analogie an, um zu zeigen, dafs dergleichen Dinge nicht beispiellos dastehen.","page":77}],"identifier":"lit15038","issued":"1893","language":"de","pages":"74-77","startpages":"74","title":"Zur Kenntnis des successiven Kontrastes","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:47:36.570778+00:00"}