Open Access
{"created":"2022-01-31T14:36:05.997403+00:00","id":"lit15049","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Verworn, Max","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 4: 88-89","fulltext":[{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nLitteraturberkht.\nInteressant ist die Erkl\u00e4rung, welche auf S. 202 ff. f\u00fcr das G\u00e4hnen und den wohlth\u00e4tigen Eindruck gegeben wird, den das Hecken der Arme heim Zustande der M\u00fcdigkeit macht. \u201eDas G\u00e4hnen wird durch eine leichte, vor\u00fcbergehende Blutarmut des Gehirns hervorgerufen. Wenn wir m\u00fcde und gelangweilt sind, dehnen sich die Blutgef\u00e4fse allm\u00e4hlich aus, und das Blut stagniert, sozusagen, in den Blutgef\u00e4fsen des K\u00f6rpers. Eine erh\u00f6hte Temperatur beg\u00fcnstigt diese Erweiterung der Gefafse, und indem das Blut unter vermindertem Drucke zirkuliert, werden wir unf\u00e4hig f\u00fcr scharfe Geistesarbeit; und es treten M\u00fcdigkeitserscheinungen auf. Es giebt Kranke, welche an Blutarmut des Gehirns oder St\u00f6rungen des verl\u00e4ngerten Marks leiden, die fortw\u00e4hrend g\u00e4hnen .... Die Wohlthat, die uns das Hecken der Arme verursacht, kommt daher, dafs sich bei der Zusammenziehung der Muskeln eine gewisse Menge Blutes, die gleichsam stagnierend in den Adern lag, in Bewegung setzt\u201c.\nManche der in diesem Werke besprochenen Erscheinungen lassen wohl noch andere als die vom Verfasser bevorzugten Erkl\u00e4rungen zu. So kann man z. B. Anstand nehmen, es mit dem Verfasser (S. 220) f\u00fcr sehr wahrscheinlich zu erkl\u00e4ren, \u201edafs die sogenannten nerv\u00f6sen Personen, hei denen sich die Ph\u00e4nomene der Erm\u00fcdung leicht einstellen, mit einem Nervensystem geboren sind, welches zu klein ist im Verh\u00e4ltnis zu den anderen Teilen des K\u00f6rpers, dem es dienen soll\u201c.\nG. E. M\u00fcller (G\u00f6ttingen).\nAlfred Binet. \u201eLa vie psychique des Microorganismes\u201c. (2. Aufl.) Ins Deutsche \u00fcbersetzt von Dr, Wilhelm Medicus. Halle a. d. S., G; Schwetschke, 1892. 114 S. A 1.\u2014\nVor mir liegt im franz\u00f6sischen Original und in deutscher \u00dcbersetzung ein Buch, dessen Inhalt in Bezug auf Oberfl\u00e4chlichkeit nur noch durch die unglaublichen Leistungen des \u00dcbersetzers, durch diese allerdings noch weit \u00fcbertroffen wird. Das franz\u00f6sische Original bringt zwar inhaltlich nur eine nicht gerade verst\u00e4ndnisvolle Zusammenstellung von \u00e4lteren und neueren Beobachtungen anderer Autoren, aber es ist wenigstens flott getrieben und kann bei einem Laien ein gewisses Interesse erregen. Wie sich aber jemand berufen f\u00fchlen kann, eine \u00dcbersetzung zu liefern, der weder einige d\u00fcrftige Pachkenntnisse hat, noch auch eine der beiden Sprachen, die franz\u00f6sische oder deutsche, vollkommen beherrscht^ das darf billigerweise Verwunderung erregen. Die ganze \u00dcbersetzung wimmelt von Fehlern und zeigt deutlich, dafs der \u00dcbersetzer die Objekte, um die es sich handelt, in seinem Leben nicht gesehen haben kann. Dazu gesellt sich ein Stil, der ungef\u00e4hr auf derselben Stufe steht, wie der eines Gymnasiasten, der aus dem \u201ekleinen Pl\u00f6tz\u201c eine zusammenh\u00e4ngende Erz\u00e4hlung \u00fcbersetzt.\nDafs der \u00dcbersetzer einen grofsen Theil dessen, was er \u00fcbersetzt hat, nicht versteht, darf demnach kaum auffallen. Was er z. B. mit Handlungen meint, \u201ewelche als Reflexe von Anpassungen erscheinen\u201c, ist schlechterdings unverst\u00e4ndlich. Die Vorstellung eines Spektrums ferner scheint bei dem \u00dcbersetzer recht verschwommen zu sein; was er sich unter \u201eden Strahlen F und G des Spektrums\u201c denkt, m\u00fcfste er","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"L\u00fcteraturbericht.\n89\nwenigstens erst etwas erl\u00e4utern. Mit dem Wort \u201eraies\u201c bezeichnet man im Franz\u00f6sischen n\u00e4mlich nicht Strahlen, sondern Linien, Streifen, und vom Autor gemeint sind die FRAUNHOFERSchen Linien. Aus der Wirbeltierphysiologie \u00fcberrascht der \u00dcbersetzer mit der folgenden ersch\u00fctternden Wahrheit: \u201eUnter dem Einflufs von giftigen Agentien stirbt zuerst das Gehirn, dann folgt das R\u00fcckenmark und zuletzt die Zirbeldr\u00fcse\u201c. Das w\u00e4re zwar sehr sch\u00f6n, aber leider ist das franz\u00f6sische \u201ebulbe\u201c nicht die Zirbeldr\u00fcse, sondern die Medulla oblongata, eine Kenntnis, die man allerdings bei einem nicht fachkundigen \u00dcbersetzer kaum voraussetzen darf. Yon solchen Fehlern wimmelt das Buch.\nEinige Worte seien mir noch \u00fcber den Inhalt gestattet. Es werden in 4 Kapiteln die Bewegungsformen und Bewegungskomplexe in popul\u00e4rer Form beschrieben, welche bei den verschiedenen Lebensth\u00e4tigkeiten einer Anzahl von Protisten von den Spezialforschern beobachtet worden sind. Dabei erfahren im ersten Kapitel die Bewegungsorgane, das Nervensystem und die Sinnesorgane eine kurze Ber\u00fccksichtigung. Im zweiten und dritten Kapitel werden die Bewegungserscheinungen beschrieben, die bei dem Aufsuchen der Nahrung und bei den Pr\u00e4liminarien der Konjugation beobachtet worden sind. Das vierte Kapitel enth\u00e4lt eine Darstellung der Funktionen des Zellkerns, die den Zweck hat, den Grad seiner Beteiligung am Seelenleben zu beleuchten. Die Zusammenstellungen sind s\u00e4mtlich kritiklos und nur f\u00fcr Laien berechnet.\nDie Betrachtungen \u00fcber das Seelenleben beschr\u00e4nken sich auf kurze gelegentliche Bemerkungen, indem einfach gesagt wird: Diese Bewegungen sind mit Bewufstsein und Willen verbunden, jene sind unwillk\u00fcrliche Reflexbewegungen. Begr\u00fcndet werden diese Behauptungen nicht weiter. An einer Stelle wird aber gesagt \u201ewir verm\u00f6gen nicht zu entscheiden, ob diese verschiedenen Th\u00e4tigkeiten von Bewufstsein begleitet sind oder ob sie als einfache physiologische Prozesse entstehen. Das ist eine Frage, deren Beantwortung man vorl\u00e4ufig noch aussetzen mufs\u201c. In einem f\u00fcnften, dem Schlufskapitel, endlich gelangt der Verfasser zu dem Resultat: \u201eDas Seelenleben ist, wenn man n\u00e4her zusieht, nach dem Muster seines Substrats, der lebendigen Materie, ein aufserordentlich kompliziertes Ding. Das ist bei mir eine festgewurzelte \u00dcberzeugung\u201c, \u00fcnd \u2014 ich m\u00f6chte hinzusetzen \u2014 eine ebenso \u00fcberw\u00e4ltigende, wie bedeutungsvolle Wahrheit.\nBinet hat sonst ganz anregende Essays \u00fcber andere psychologische Fragen geschrieben. Es ist schade, dafs er sich auch an einem Problem versucht hat, bei dem, wie aus der Arbeit hervorgeht, seine auf eigene Anschauung gest\u00fctzten Erfahrungen nur ganz gering sind.\nWie aber eine Arbeit, wie die vorliegende, noch eine deutsche \u00dcbersetzung finden, und wie der Verleger gerade auf einen \u00dcbersetzer wie Herrn Medicos verfallen konnte, wird sich jeder wissenschaftlich gebildete Leser fragen, der das Buch durchsieht, wovon \u00fcbrigens von vornherein durchaus abzuraten ist.\tVerworn (Jena).","page":89}],"identifier":"lit15049","issued":"1893","language":"de","pages":"88-89","startpages":"88","title":"Alfred Binet: \"La vie psychique des Microorganismes\"","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:36:05.997409+00:00"}