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{"created":"2022-01-31T17:02:16.611617+00:00","id":"lit15080","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Marty, A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 4: 138-145","fulltext":[{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nLitter aturbericht.\nempfindungen vorwiegend zentralen Ursprunges seien, welcher Behauptung, beil\u00e4ufig bemerkt, die Aussagen von Mosso (Die Erm\u00fcdung, S. 99) und Warben P. Lombard (Journal of physiology, February 1892, S. 7) direkt widersprechen, dafs, soweit man auf Grund der Selbstbeobachtung urteilen k\u00f6nne, es leicht sei, die St\u00e4rke der Willensimpulse bis zur Ersch\u00f6pfung des willk\u00fcrlichen Leistungsverm\u00f6gens konstant zu erhalten. Der soeben rekapitulierte, mehr als hypothetische Beweisgang des Verfassers wird dann noch, wie im Verlaufe dieser Besprechung hinl\u00e4nglich gezeigt worden ist, mit einer Schar teilweise recht befremdlicher Vermutungen garniert, die an einzelne Versuchsresultate angekn\u00fcpft werden. Endlich verm\u00f6gen die der Abhandlung beigef\u00fcgte, jeder Ordnung entbehrende \u00dcbersicht \u00fcber die den Muskelsinn betreffende Litteratur, eine kurze Bezugnahme auf die Ausf\u00fchrungen von W. James und das absprechende Urteil, welches Verfasser \u00fcber die den Muskelsinn betreffenden Arbeiten der Kliniker und Psychologen f\u00e4llt, keinen unterrichteten Leser dar\u00fcber zu t\u00e4uschen, dafs Verfasser von eben diesen, von ihm verurteilten, Arbeiten thats\u00e4chlich nur sehr d\u00fcrftig Einsicht genommen hat. Denn sonst w\u00fcrde er z. B. Bemerkungen, wie die folgende (S. 242): We estimate weight and difference of weight chiefly by means of trial efforts by which we ascertain how much our muscles must be contracted in order to lift the weights, nicht so ohne Weiteres gemacht haben. Kurz, uns scheint, dafs Verfasser mit seiner \u201eobjektiven Studie\u201c gezeigt habe, wie man entschieden nicht zu verfahren hat, um zu zuverl\u00e4ssigen Resultaten betreffs des Muskelsinnes zu gelangen.\nG. E. M\u00fcller (G\u00f6ttingen).\nBrown-S\u00e9quard. Sur les influences exerc\u00e9es par les muscles sur les nerfs\nsensitifs qui sont \u00e0 leur int\u00e9rieur ou dans leur voisinage imm\u00e9diat.\nArch, de Physiol., 5. S\u00e9r., 4. T., S. 174 ff.\nVerfasser f\u00fchrt eine Reihe von F\u00e4llen an, in denen Schmerzen, welche innerhalb im erregten Zustande befindlicher Muskeln vorhanden sind, durch Dehnung dieser Muskeln erh\u00f6ht werden. Da nun die Aktionsstr\u00f6me der Muskeln durch Dehnung der letzteren gesteigert werden, so schliefst Verfasser, dafs die Muskelschmerzen vielfach dadurch entst\u00fcnden, dafs die Aktionsstr\u00f6me der Muskelfasern erregend auf die in n\u00e4chster N\u00e4he befindlichen sensorischen Nervenfasern wirken. Auch bei den Erscheinungen des Muskelsinnes soll diese sensorische Wirksamkeit der Aktionsstr\u00f6me der Muskelfasern eine sehr grofse Rolle spielen.\nG. E. M\u00fcller (G\u00f6ttingen).\nA. Marty. \u00dcber Sprachreflex, Nativismus und absichtliche Sprach-bildung. 10 Artikel. Vierteljahrschrift fwr wissenschaftliche Philosophie, von R. Avenari\u00fcs. (Art. 1. Bd. VIII, S. 456-478. Art. 2. Bd. X, S. 69 bis 105. Art. 3. ibid., S. 346\u2014364. Art. 4. Bd. XIII, S. 195-220. Art 5. ibid., S. 304-344. Art. 6. Bd. XIV, S. 55-84. Art. 7. ibid., S. 443-484. Art. 8. Bd. XV, S. 251-284. Art. 9. ibid., S. 445-467. Art, 10. Bd. XVI, S. 104\u2014122.) (Selbstanzeige.)","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n139\nNativismus nannte ich in meinem \u201eUrsprung der Sprache\u201c (1875), die Meinung von Steinthal, Lazarus, Wundt u. a., die Entstehung der Sprache lasse sich nicht erkl\u00e4ren ohne die Annahme, dais heim Urmenschen durch die Anschauungen, die er empfing, v\u00f6llig unwillk\u00fcrlich und verm\u00f6ge eines fertig angeborenen psychophysischen Mechanismus eine Anzahl onomatopoetischer (durch sich selbst verst\u00e4ndlicher) Laute und Geherden ausgel\u00f6st wurden (\u201eSp ra chreflexe \u201c). Ich meinerseits suchte ohne diese unerwiesene Annahme auszukommen (Empirismus) und wies schon f\u00fcr die fr\u00fchesten Stadien der Sprachentstehung dem Verlangen nach Verst\u00e4ndigung und der dadurch motivierten absichtlichen Bildung von Bezeichnungsmitteln eine entscheidende Rolle zu (dies nicht blofs im Gegensatz zum Nativismus, sondern auch zu manchen Empiristen \u2014 Geigers Zufallstheorie), doch indem ich es ebenso entschieden ablehnte, jene Wahl und Gestaltung der Sprachzeichen irgendwie plan-m\u00e4fsiger Berechnung und Reflexion zuzuschreiben (Erfindungstheorie). Seither sind mannigfache Versuche gemacht worden, teils die Zufallstheorie zu erneuern, teils den Nativismus irgendwie zu halten : in eingeschr\u00e4nkter Form, unter halben Zugest\u00e4ndnissen oder auch unter dem Schutze von tiefgreifenden \u00c4quivokationen und Begriffsverwirrungen. Die bemerkenswertesten dieser Versuche Revue passieren zu lassen, war die Aufgabe der vorbezeichneten Artikel, und am ausf\u00fchrlichsten sind darin die neueren Publikationen von Steinthal und Wundt zur Sprache gekommen.\nMit Wundt besch\u00e4ftigt sich die zweite H\u00e4lfte des II. und der III. bis VII. Art. Es waren namentlich die 2. und 3. Aufl. der Physiol. Psychologie und die sprachphilosophischen Aufs\u00e4tze der Essays zu ber\u00fccksichtigen, und es zeigte sich, dafs der Autor zwar \u2014 ohne sich dessen bewufst zu sein \u2014 nicht Eine, sondern mehrere, wider-streitende, L\u00f6sungen des Sprachproblems vortr\u00e4gt,1 dafs er jedoch, wenn die Regel gilt: a potiori fit denominatio, heute wie fr\u00fcher zu den Nativisten zu rechnen ist.2 Den Namen \u201eSprachreflex\u201c (den ich neben der Sache getadelt hatte) giebt er auf und warnt auch andere davor; doch die Sache ist geblieben.\nDie Essays erkl\u00e4ren, der Knoten des verschlungenen Problems vom Sprachursprung sei um den Begriff des Willens gesch\u00fcrzt, und in zwei Richtungen betrachtet W. die bisherige Ansicht vom Willen als\n1\tEin Beispiel! Die 2. Aufl. der Physiol. Psychol. 1880 bezeichnet die ersten nachahmenden und hinweisenden Verst\u00e4ndigungsmittel als unwillk\u00fcrliche Affekt\u00e4ufserungen, die gar nicht der Absicht der Mitteilung entstammt, sondern erst nachtr\u00e4glich von dieser in Dienst genommen worden seien. Eine Stelle der Essays 1885 dagegen weist diese Ansicht von zwei derart sich folgenden Stadien der Sprachentwickelung als g\u00e4nzlich erfahrungswidrig zur\u00fcck (nur ohne zu sagen, dafs man seihst sie fr\u00fcher vorgetragen) und lehrt, die Sprache sei von allem Anfang aus der Absicht der Mitteilung hervorgegangen. Doch die 3. Aufl. der Physiol. Psychol. 1888 erneuert wieder w\u00f6rtlich die von den Essays verp\u00f6nte These der zweiten.\n2\tSeine Einsprache gegen diese Bezeichnung zeigt sich als hinf\u00e4llig, sobald man den ausgesprochen relativen Charakter derselben beachtet.","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nLitteraturbericht.\neiner radikalen Korrektur bed\u00fcrftig (Art. II., S. 77\u2014105 und Art. III.). I. Der Zug, wodurch er seine Lehre der fr\u00fcheren ganz besonders \u00fcberlegen glaubt, ist seine Identifizierung von Wille und Apperzeption. Bisher habe man die inneren Willenshandlungen oder \u201eApperzeptionen\u201c ganz \u00fcbersehen (eine ganz unhistorische Behauptung!), und das sei um so verh\u00e4ngnisvoller gewesen, als geradezu alles Wollen, genau besehen, ein nach innen gerichtetes, alle Willenshandlungen eigentlich innere Willenshandlungen oder Apperzeptionen seien, diese aber im psychischen Leben eine so grofse Bolle spielten, dais \u00fcberhaupt alle psychischen Vorg\u00e4nge, die nicht sinnliche Vorstellungen sind, sich auf jene Kategorie zur\u00fcckf\u00fchren liefsen.\nDer Terminus Apperzeption war bekanntlich von seinen Urhebern teils f\u00fcr das innere Bewufstsein, teils \u2014 und in unklarer Vermengung damit \u2014 f\u00fcr das Bemerken gebraucht worden. An letzteren Sprachgebrauch will W. ankn\u00fcpfen, und es bedarf nat\u00fcrlich einer ganzen Beihe von Verwechselungen und Aquivokationen, um von hier aus die Apperzeption f\u00fcr identisch mit dem Willen zu erkl\u00e4ren.\nA)\tMit dem Bemerken und Deuten (von W. klarbewufste Auffassung genannt1) vermengt er vor allem die Aufmerksamkeit (eine das Bemerken vorbereitende und bewirkende Seelenverfassung) und (Art. IV.) mit beidem des weiteren noch alle Vorg\u00e4nge, die gemeinhin unter dem vagen Namen \u201eDenken\u201c zusammengefafst werden: alle Synthesen (oder \u201eVerschmelzungen\u201c) und Analysen von Vorstellungen, alle begrifflichen Gedanken , Urteile, Schl\u00fcsse u. s. w. u. s. w. Alles heifst ihm \u201eApperzeption\u201c, und weil einige von diesen sogenannten Denkakten vom Willen beherrschte Vorg\u00e4nge sind (wie das Nachdenken und Sichbesinnen) und bei anderen (wie beim Aufmerken) der Wille ein Ingrediens, wenn auch keineswegs das Ganze, des Ph\u00e4nomens bildet, erkl\u00e4rt er ohne weiteres alles \u201eDenken\u201c oder \u201eApper-zipieren\u201c f\u00fcr eine innere Willenshandlung.2 Er fafst ferner diesen Zug, der nur eine genetische Zusammengeh\u00f6rigkeit bedeuten w\u00fcrde, als eine innere deskriptive Verwandtschaft, und kommt, indem er endlich auch Willenshandlung mit Wille verwechselt (eine Konfusion, die sich durch alle seine Ausf\u00fchrungen, Verwirrung stiftend, hindurchzieht), dazu das \u201eApperzipieren\u201c abwechselnd nicht blofs f\u00fcr eine Willenshandlung, sondern auch f\u00fcr ein Wollen auszugeben.\nB)\tAber nicht blofs soll jede Apperzeption ein Willensakt oder eine Willenshandlung sein; W. sucht auch zu zeigen, dafs umgekehrt alle Willenshandlungen, auch die sogenannten \u00e4ufseren, nur be-\n1\tEr ist geneigt, das Ph\u00e4nomen mit subjektiv erh\u00f6hter St\u00e4rke der betreffenden Vorstellung zu identifizieren. Seine wahre Natur ist freilich eine ganz andere (Art. IV.).\n2\tAlles \u201eDenken\u201c soll also eine subjektive Verst\u00e4rkung sinnlicher Vorstellungen sein! Die Durchf\u00fchrung dieser Auffassung mifslingt W. freilich so gr\u00fcndlich, dafs sie ihn in endlose Widerspr\u00fcche und Ungereimtheiten verwickelt. Als reich daran erweist sich insbesondere seine Lehre von der Spannung der Aufmerksamkeit und deren Adaptation und diejenige von der Natur der allgemeinen Begriffe.","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n141\nsondere Arten oder Bestandteile oder unmittelbare Folgen von \u201eApperzeptionen\u201c (Denkhandlungen) seien.\nDer Versuch tritt in verschiedenen Formen auf; aber er beruht \u2014 wie im einzelnen nachgewiesen wird \u2014 \u00fcberall auf einer g\u00e4nzlichen Verkennung der Natur jener Vorg\u00e4nge. Den Namen \u201e\u00e4ufsere Willens-handlung\u201c verdienen ja nur solche, wo sich ein Verlangen auf etwas Physisches (auf die wirkliche Bewegung), nicht blofs auf etwas Psychisches (die Vorstellung der Bewegung), richtet, und wo ersteres der Fall ist, besteht schlechterdings keine M\u00f6glichkeit, das Ph\u00e4nomen als eine spezielle Form oder als unmittelbaren Erfolg einer Apperzeption zu fassen. Dies ist so offenkundig, dafs der Verfasser wiederholt zu eklatantem Abfall von sich selbst gedr\u00e4ngt ist.\nII. Doch auch abgesehen von der \u201eApperzeptions\u201clehre erachtet W. eine Verbesserung der bisherigen Fassung des Willensbegriffes f\u00fcr dringend geboten (Art. V.). Bisher habe man n\u00e4mlich durchaus Wille mit Wahl verwechselt (wieder eine ganz unhistorische Behauptung!) und sei dadurch verhindert worden, einzusehen, dafs der Wille die Grundfunktion des Gem\u00fctslebens sei. In Wahrheit seien alle Gem\u00fctsbewegungen Reaktionen des Willens, und es sei jede Bewegung, die sich an ein beliebiges Lust- oder Unlustgef\u00fchl kn\u00fcpft, ja \u00fcberhaupt jede, die nicht rein mechanisch erfolgt, sondern irgendwie psychisch bedingt ist, eine wahre Willens-, nur nicht immer eine Wahlhandlung.\nAllein W. ignoriert bei diesen Behauptungen markante Unterschiede in der Natur der Dinge; so unleugbare, dafs sie ihn zwingen, auch hier wieder gelegentlich sich selbst herzhaft zu desavouieren.\nVon beiden vermeintlichen Verbesserungen des Willensbegriffs macht er nun aber Gebrauch bei der Beantwortung der Frage nach dem Sprachursprung, und beide bringen ihm die offenbar erw\u00fcnschte M\u00f6glichkeit ein, nach Belieben sich der Ausdrucksweise eines Empiristen oder Nativisten zu bedienen und doch beide Male dasselbe zu meinen.\na)\tWaren die ersten nachahmenden und hinweisenden Zeichen unwillk\u00fcrliche Affekt\u00e4ufserungen (Nativismus) oder Willenshandlungen ? W. erwidert: Sie sind beides zumal. Obschon absichtslose Affekt\u00e4ufserungen, sind sie doch zugleich wahre Willens-, nur nicht Wahlhandlungen.\nb)\tWar das Sprechen Ausflufs eines besonderen darauf gerichteten Willens (der Absicht der Mitteilung) oder war es unmittelbar an die inneren Vorg\u00e4nge des Denkens gekn\u00fcpft? W. antwortet (auf Grund seiner Identifizierung von Wille resp. Willenshandlung und Apperzeption) auch hier: Es ist beides zugleich, und die Unterscheidung darf gar nicht gemacht werden. Denn nichs blofs ist alles Denken eine innere Willenshandlung, sondern es sind auch alle sog. \u00e4ufseren Willenshandlungen nur unmittelbare Erfolge und besondere Formen solcher Denkhandlungen. So denn auch das Sprechen von allem Anfang an. Auf Grund dieses Resultates kann W. sich, ohne empiristische Redeweisen aufzugeben, nun sogar den extrem nativistischen Anschauungen von einer inneren Einheit und Verwandtschaft von Sprechen und Denken n\u00e4hern. Aber freilich, wenn er sich konsequent bleiben","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nLitteraturbericht.\nwill, nur n\u00e4liern. Gilt ja doch auf seinem Standpunkt vom Sprechen nicht mehr als von allem Handeln, dafs es der \u00e4ufsere Bestandteil von Denkhandlungen sei. Jene mystische Sprachphilosophie dagegen liebte es, die Eigenschaft, unmittelbar aus dem Denken hervorzugehen, als etwas dem Sprechen allein Charakteristisches hiu-zustellen. Und siehe da ! W. macht auch diese Definition der Sprache ohne weiteres zur seinigen \u2014 ungeachtet der Inkonsequenz, die f\u00fcr ihn darin liegt, und der neuen Widerspr\u00fcche, die sie gebiert. Neue Widerspr\u00fcche! Denn der Autor sieht sich jetzt \u2014 schon um begreiflich machen, warum die Tiere keine Sprache wie wir besitzen \u2014 gen\u00f6tigt, sie f\u00fcr den Ausflufs aktiver Apperzeptionen oder Wahlhandlungen zu erkl\u00e4ren, w\u00e4hrend er zuvor gerade umgekehrt: einfache Willenshandlung, nicht Wahlhandlung \u2014 als das Losungswort der richtigen Anschauung hingestellt hatte. All\u2019 diesen Widerstreit scheint er aber nicht zu bemerken, und ergeht sich, sorglos die neue Parole weiter verfolgend, in dithyrambischen Aufserungen dar\u00fcber, wie die Sprache nicht blofs ein Zeichen, nicht blofs eine \u00e4ufsere Form des Gedankens, sondern diesem verwandt und gleichartig sei und darum f\u00e4hig, die Gesetze des Denkens nach aufsen zu tragen, so dafs sie in ihr anschaulich, ja Gegenstand eines objektiven und experimentellen Studiums werden k\u00f6nnten, gleich einem Werke der Natur. Die Illustrationen freilich, die er daf\u00fcr bietet, sind nur eine Sammlung von Beispielen einer Vermengung von Sprachlichem und Logischem, wie sie offenkundiger noch selten zu Tage getreten ist.\nDoch noch einmal (Art VI.) mufsten wir zu der, von W. schon fast wieder vergessenen Parole: Die Sprache sei nicht als Wahl-, sondern als Willenshandlung entstanden \u2014 zur\u00fcckkehren. Ist, wenn wir dem Namen \u201eWillenshandlung\u201c die \u00fcbliche Bedeutung gehen, damit die Devise eines haltbaren Empirismus gewonnen? Es ergab sich mir das Gegenteil. Es ist \u2014 wenn auch in W.\u2019s Psychologie kein Baum daf\u00fcr besteht \u2014 ein Unterschied zwischen W\u00e4hlen \u00fcberhaupt und vern\u00fcnftig berechnendem W\u00e4hlen. Letzteres hat allerdings bei der Bildung der Volkssprache gar keine Bolle gespielt. Aber in einem anderen Sinne sind doch ihre Bezeichnungsmittel zweifellos gerade aus einer Summe von Wahlhandlungen hervorgegangen, und nicht \u201ewahllos\u201c, sondern planlos ist das Wort des B\u00e4thsels, welches pr\u00e4gnant den Unterschied zwischen dem richtigen Empirismus und der unhaltbaren Erfindungstheorie bezeichnet. Wichtig war nun ah er, die intellektuelle Grundlage dieses planlos zweckm\u00e4fsigen Thuns eingehend klar zu legen. Ich suchte zu zeigen, wie die Sprache, obwohl gar nicht das Werk kombinierender Beflexion, doch in anderem Sinne sehr wohl als Ausflufs des spezifisch menschlichen Denkens bezeichnet werden kann, so dafs sich aus dem Mangel der Ahstraktionsgahe heim Tier, wie seine Unf\u00e4higkeit, uns zu verstehen, so auch diejenige zur Bildung von Sprach-zeichen in unserem Sinne vollkommen begreift. Zum Schl\u00fcsse wird untersucht, inwieweit die Sprache ihrerseits F\u00f6rderungsmittel des","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"L\u00fcteraturbericht\n143\nDenkens sei, und konstatiert, dafs, wie grofs auch immer dieser Nutzen ist, doch menschliches Denken in seinen ersten Anf\u00e4ngen ohne H\u00fclfe der Sprache m\u00f6glich war, somit kein Zirkel droht und W. mit Unrecht bezweifelt, ob ein Zustand denkbar sei, wo der Mensch die Sprache noch nicht besafs und doch f\u00e4hig war, sie zu schaffen. \u2014 Es er\u00fcbrigte endlich (Art. VII., S. 443\u2014459), den geringsch\u00e4tzigen Tadel zu pr\u00fcfen, den die Essays bei Aufstellung ihrer drei Prinzipien der Ausdrucksbewegungen gegen das Gesetz der Gewohnheit aussprechen; gegen eine Erscheinung, die wir unsererseits als eine weitreichende, nicht blofs reproduktive, sondern produktive Kraft (Assoziation des Analogen!) und als den m\u00e4chtigsten Faktor beim Aufbau der Sprache erkannt hatten. Der Angriff liefs sich um so vollst\u00e4ndiger zur\u00fcckweisen, als sich zeigte, dafs, soweit das 2. und 3. der genannten W.\u2019sehen Prinzipien \u00fcberhaupt etwas Verst\u00e4ndliches und auch nicht ein blofses idem per idem besagen, sie nichts anderes als eine (dem Autor selbst unbewufste) Anwendung eben des Gesetzes der Gewohnheit sind!\u2014-Insbesondere diese Ausf\u00fchrungen des 6. und 7. Artikels werden vielleicht manchem Leser meines Ursprungs der Sprache eine willkommene Erg\u00e4nzung sein.\nUnumwunden am nativistischen Standpunkt h\u00e4lt H. Paul (Prinzipien der Sprachgesch., 2. 1886), fest und sucht zu beweisen, dafs die Annahme einer, wenn auch geringen, Anzahl artikulierter und onomatopoetischer Lautreflexe durch die Erfahrung berechtigt und zudem in mehrfacher Richtung ganz unentbehrlich sei. Die Er\u00f6rterung seiner bez\u00fcglichen Argumente ist Gegenstand der 2. H\u00e4lfte des Art. VII., S. 461 bis 484.1\nL. Tobler in seiner 1877 erschienenen Rezension meines \u201eUrsprung der Sprache\u201c (Zeitschr. f. V\u00f6lkerpsych., IX.), ist bestrebt, die Differenz zwischen meiner und der nativistischen Anschauung m\u00f6glichst gering erscheinen zu lassen. Ich suche zu zeigen, dafs eine Vermittelung und Verwischung des Unterschieds nur auf Kosten der Klarheit und Wahrheit m\u00f6glich ist, und dafs T. insbesondere v\u00f6llig irrt, wenn er glaubt, mit der Annahme der Onomatop\u00f6ie, die auch ich mache, sei der STEixTHAi.sche \u201eReflex\u201c als deren \u201etiefere Begr\u00fcndung\u201c unabweislich gegeben. (Art. VIII., S. 251\u2014263).\nWenn Toblers vornehmster Tadel gegen mich der ist, dafs ich h\u00e4tte bemerken sollen, wie wenig schroff der Abstand zwischen mir und meinen nativistischen Gegnern (z. B. Steinthal) sei, so urteilt ganz anders Steinthal selbst in den neueren Auflagen seines Ursprungs der Sprache. Mit seiner Haltung besch\u00e4ftigt sich der I. und die 1. H\u00e4lfte des II. Art., sowie \u2014 da inzwischen abermals eine neue Auflage des genannten Buches erschienen war \u2014 nochmals ein Teil des VIII. und der IX. Art. In dieser neuesten (4.) Auflage, 1888, erkl\u00e4rt St. meine Ansicht vom\n1 Zwei diesem Abschnitte vorausgehende Seiten, 459 und 460. handeln kurz von Kussmauls Stellung zu unserem Problem, in seinem bekannten Werke \u00fcber \u201eDie Storungen der Sprache\u201c 1887.","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nLitteraturbericli t.\nSprachursprung f\u00fcr v\u00f6llig antiquiert, f\u00fcr eine solche, die in seinen Augen ein f\u00fcr allemal keinerlei Berechtigung mehr habe. Auch schon fr\u00fcher sei er dieser Ansicht gewesen, und aus diesem Grunde habe er in der 3. Auflage meiner gar nicht gedacht und nur mit Tiedemaxntjs re-divivus gelegentlich auf mich hingedeutet. In der That nennt die\n3.\tAuflage 1877 meinen Namen nirgends; doch hat der Verfasser f\u00fcr gut gefunden, wie aus eigenem Antrieb (aber zum guten Teil mit analogen Gr\u00fcnden, wie ich sie vorgebracht), an seinen nativistischen Aufstellungen scharfe Kritik zu \u00fcben. Eine Thatsache zwar sollen die Sprachreflexe nach wie vor sein. Aber ihre Zahl wird gewaltig eingeschr\u00e4nkt, und die Freigebigkeit, die in dieser Beziehung im Abrifs 1871 geherrscht hatte, wird ordentlich mit Spott als ebenso unpsychologisch als unhistorisch zur\u00fcckgewiesen (Art. I.). Ja! einmal im Zuge, eifert St. nun sogar gegen die Leistungsf\u00e4higkeit der Onomatop\u00f6ie \u00fcberhaupt \u2014 sie, die er fr\u00fcher weit \u00fcbersch\u00e4tzt hatte, jetzt unbillig untersch\u00e4tzend. (Art. II., S. 69\u201476). Mit den Reflexen aber r\u00e4umt noch energischer die\n4.\tAuflage auf. Nicht mehr f\u00fcr \u201ejede besondere Anschauung\u201c einen besonderen, ihr \u00e4hnlichen, und wohl artikulierten Reflexlaut (Abrifs), auch nicht mehr achtzig bis hundert solcher,1 nein! blofs etwa 20 bis 30 soll der Urmensch geschaffen haben. Doch (Art. VIII, S. 264\u2014284) ein Erfahrungsbeweis ist f\u00fcr diese geringe Zahl so wenig als einst f\u00fcr die weit gr\u00f6fsere gef\u00fchrt (ja die 4. Auflage verzichtet eigentlich auf jeden V ersuch eines solchen), und ebenso fehlt, jetzt so gut wie fr\u00fcher, durchaus ein stringenter Nachweis f\u00fcr deren Unentbehrlichkeit. Seine Psychologie des \u201eDenkens durch Sprache\u201c, d. h. die Lehre, dafs die Lautreflexe das Mittel f\u00fcr jede kl\u00e4rende Analyse der sinnlichen Eindr\u00fccke und die Stellvertreter aller begrifflichen Gedanken waren, h\u00e4lt St. fest, ja er versch\u00e4rft die Behauptung wom\u00f6glich noch. Aber sie bleibt eben eine blofse Behauptung, und der Verfasser k\u00fcmmert sich z. B. nicht im geringsten darum, wie denn in aller Welt das so arg eingeschrumpfte H\u00e4uflein der Reflexe es anfangen sollte, die viel gr\u00f6fsere Zahl von Begriffen vor dem Bewufstsein zu vertreten und so dieselbe Aufgabe zu leisten, die er einst einer weit ansehnlicheren Menge derselben zugewiesen hatte. \u00dcberhaupt ist sein Zur\u00fcckweichen von der fr\u00fcheren Position ein gezwungenes, halbes und wid er s pr u c h s voll es. Auch fehlt in beiden neueren Auflagen des Ursprungs der Sprache wie anderw\u00e4rts bei St. jedes klare Wort dar\u00fcber, welchen Kr\u00e4ften die Bildung der Sprach-mittel, soweit sie nicht reflektorisch ge\u00e4ufsert wurden, denn nun eigentlich zuzuschreiben sei. Bald soll es (3. Aufl.) die Apperzeption gewesen sein \u2014 die Apperzeption, die der Autor sonst ausdr\u00fccklich als eine theoretische Seelenth\u00e4tigkeit definiert ; bald (Ethik 1885) ein \u201egeistiger Instinkt\u201c w\u00e4hrend St. fr\u00fcher selbst die Zuflucht hierzu als ein Spiel mit Worten verspottet hatte; bald (4. Auflage) der Mitteilungstrieb, bei dem aber beileibe nicht an Absi cht gedacht werden soll \u2014 als ob das eine\n1 F\u00fcr diese, wie f\u00fcr die unmittelbare vorher genannte Annahme hatte St. nur Eine Beobachtung an einem Kinde als direkten Beweis aus der heutigen Erfahrung vorgebracht. Art. I besch\u00e4ftigt sich u. a. auch damit, den Wert dieser Erz\u00e4hlung und ihre Deutung zu pr\u00fcfen.","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n145\nohne das andere eine verst\u00e4ndliche psychologische Kategorie w\u00e4re! Und sogar bei Noire eine Anleihe zu machen, ist St. neuestens in seiner H\u00fcll- und Ratlosigkeit geneigt, obwohl das Geborgte zu den wichtigsten Bestandst\u00fccken seines eigenen bisherigen Hausrates in schreiendem Kontrast steht.\nSo gut wie den Nativismus, haben wir auch die Erlindungstheorie des vorigen Jahrhunderts von jeher abgelehnt und \u2014 obschon uns St-als Ti e bemanne.s redivivus abzuthun sucht \u2014 die wirklichen Fehler der damaligen Sprachphilosophie stets offen bek\u00e4mpft. Da aber dieser Autor sich in allen seinen Schriften nicht genug darin thun kann, die sprach-philosophischen Anschauungen des vorigen Jahrhunderts schlechtweg und in allen Teilen als \u201eroh\u201c, \u201eoberfl\u00e4chlich\u201c undunbrauchbar herabzusetzen, um auf dieser Folie Humboldt und seine Erkl\u00e4rer ebenso mafslos zu erheben (letzteres so \u00fcberschwenglich, dafs die That-.Sachen ihn zwingen, sich selbst ein ums andere Mal zu widersprechen) so hielten wir f\u00fcr angezeigt, hier einmal Lob und Tadel den Thatsachen, entsprechend zu verteilen und das von St. h\u00fcben und dr\u00fcben gef\u00e4lschte historische Bild richtig zu stellen. Damit besch\u00e4ftigt sich der IX. Art.\nDer X. Artikel endlich handelt von P. Regnauds Origine et philosophie du langage, 1887 und 1889 (dem einzigen bemerkenswerten Buch, das seit Renan in Frankreich \u00fcber unser Problem erschienen ist) und dem darin enthaltenen eingehenden Versuch, nicht blofs die nativistischen Annahmen, sondern auch die Lehre von der Absichtlichkeit der Sprachbil dung (jegliche cause finale) g\u00e4nzlich zu umgehen. Zum letzteren ist R. gef\u00fchrt durch die irrige Meinung, gewollt (voulu) sei identisch mit vorbedacht (r\u00e9fl\u00e9chi, pr\u00e9m\u00e9dit\u00e9) und Absicht gleichbedeutend mit planm\u00e4fsigem Thun (propros d\u00e9lib\u00e9r\u00e9). Er sieht sich infolgedessen gen\u00f6tigt, die Onomatop\u00f6ie, \u00fcberhaupt jede Wahl besonderer Zeichen f\u00fcr besondere Bedeutungen zu leugnen und die Zufa Ils theo rie zu erneuern. Die Pr\u00fcfung ergiebt bei ihm analoge Unklarheiten, verwunderliche Inkonsequenzen und Unm\u00f6glichkeiten wie bei Geiger und dient nur dazu, es ins hellste Licht nzsetzen, dafs Nativismus und absichtliche S prac h bil dung ein aut \u2014 aut bilden, aus dem keinEntrinnen ist.\nWarren P. Lombard. Some of the influences which affect the power of voluntary muscular contractions. The Journal of physiology. Vol. XIII, February 1892, S. 1 ff.\nVerfasser stellte ausschliefslich an sich selbst Versuche an, die in der Weise ihrer Ausf\u00fchrung ganz den bekannten Versuchen Mossos mit den Ergographen glichen. Nur war die Schreibvorrichtung, deren sich Verfasser f\u00fcr die Aufzeichnung der Hubh\u00f6hen bediente, anderer Art als die von Mosso benutzte Vorrichtung. Auch brachte Verfasser eine zweckm\u00e4fsige Vorrrichtung an, welche den Gesamtwert der w\u00e4hrend einer Versuchsreihe geleisteten mechanischen Arbeit ohne weiteres ab-Zeitschrift f\u00fcr Psychologie IV.\t10","page":145}],"identifier":"lit15080","issued":"1893","language":"de","pages":"138-145","startpages":"138","title":"\u00dcber Sprachreflex, Nativismus und absichtliche Sprachbildung, Selbstanzeige. Vierteljahresschrift f\u00fcr wissenschaftl. Philosophie, von R. Avenarius","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:02:16.611622+00:00"}