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{"created":"2022-01-31T13:54:16.428714+00:00","id":"lit15141","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Pelman, C.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 5: 141-143","fulltext":[{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n141\nFreiheitsentziehung aufser Stand gesetzt werde, sich seinen Lebenslauf zu suchen. Er wird dadurch immer untauglicher f\u00fcr das \u00f6ffentliche Leben, ein immer sicherer Kandidat des Zuchthauses werden, das er als seine eigentliche Heimat betrachten lernt, und so verliert die Strafe f\u00fcr ihn jeden Zweck und jeden Sinn.\nSoll sie dies wieder gewinnen, so mufs sie m\u00f6glichst kurz und m\u00f6glichst strenge sein, wobei nat\u00fcrlich mit besonderer Sorgfalt darauf zu achten ist, dafs die jugendlichen Gefangenen nicht mit den \u00e4lteren Verbrechern Zusammenkommen.\n\"Was Hartmakn sonst noch f\u00fcr Forderungen stellt und was er von der Disciplin des Gef\u00e4ngnisses sagt, wird man im Original nachlesen m\u00fcssen. Es zeugt \u00fcberall von dem praktischen Verst\u00e4ndnisse des Verfassers, und wenn er dabei zu dem Schl\u00fcsse kommt, dafs selbst die Pr\u00fcgelstrafe ihren Nutzen und ihre Berechtigung habe, so wird man ihm auch darin beizustimmen haben. Tr\u00f6stet sich doch auch die Mutter in Hebels pr\u00e4chtigem Gedichte, als sie die Rute an den Weihnachtsbaum h\u00e4ngt und dabei ihrer k\u00fcnftigen Bestimmung gedenkt, mit der Erw\u00e4gung : \u201ees mufs ja nicht sein, wenn du nicht willst\u201c, und volenti non fit injuria.\nSehr zu beachten sind die Bedenken, die Verfasser gegen die Polizeiaufsicht \u00e4ufsert, und er ber\u00fchrt damit einen sehr verbesserungsf\u00e4higen Punkt unserer Strafrechtspflege. Wenn wir daher der kleinen Schrift auch gerne etwas mehr Vertiefung gew\u00fcnscht h\u00e4tten, so wird sie doch den Zweck erf\u00fcllen, eine Frage aufs neue angeregt zu haben, die ihrer endlichen L\u00f6sung mit Sehnsucht entgegensieht.\tC. Pelman.\nMax Nordau. Entartung. I. Band. Berlin, C. Duncker. 1892. 374 S.\nNordau wendet sich mit einer kurzen Widmung an C. Lombroso, der es ihm mit seinen Forschungen angethan. Wie Lombroso die Verbrecher, so will Nordau Kunst und Schrifttum einer Untersuchung unterziehen und die Moderichtungen auf die Entartung der Auktoren hin pr\u00fcfen.\nMan mufs ihm das Zugest\u00e4ndnis machen, dafs er sich dieser Aufgabe mit grofser Gewandtheit hingegeben hat und dafs er den Gegenstand, den er sich erw\u00e4hlt, nach jeder Richtung hin beherrscht.\nDie Sache macht ihm offenbar Spafs, gewaltig geht er mit den armen S\u00fcndern ins Gericht, und es kommt ihm auf einen derben Ausdruck mehr oder weniger nicht an. \u00dcberall aber ist er der Parteig\u00e4nger des gesunden Menschenverstandes, stets trifft er den Nagel auf den Kopf, und da seine Beweise meist unwiderlegbar und seine Vergleiche durchweg vorz\u00fcglich sind, hat er die Lacher auf seiner Seite.\nDafs er sich dabei hin und wieder des Kunstgriffes bedient, das eine oder andere als eine bekannte Thatsache, eine feststehende klinische Behauptung u. s. w. hinzustellen, was nichts weniger als bekannt oder gar feststehend ist, [wollen wir dem gewandten Polemiker nicht allzu hoch anrechnen. Recht hat er trotz alledem, und man wird durch ihn auf manches hingeleitet und \u00fcber vielerlei klar, das man bis dahin nur dunkel herausgef\u00fchlt und peinlich empfunden hatte.","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nLitteraturbericht.\nDas Bild, das Nokdau von der fin de si\u00e8cle entwirft, ist im Grunde genommen ein tr\u00fcbes. Das Alte sinkt, und was neu aus den Ruinen entstellt, weifs zur Zeit niemand. \u00dcberall ist Unsicherheit, Ungewifs-heit, Zittern und Zagen. Man erhofft Aufschlufs voh den K\u00fcnstlern, und wer am dreistesten orakelt, am tollsten wahrsagt, der hat den gr\u00f6fsten Erfolg. Doch nur wenigen ist es damit Ernst, der grofse Haufe folgt, wie gew\u00f6hnlich, seinem F\u00fchrer. Alles hascht nach Effekt in Kleidung, Haltung und Geschmack. Alles mufs scheinen, nicht'-sein, packen, nicht fesseln. Nie darf man ahnen, wie sich die Sache entwickelt, kein Accord darf ausklingen, Nervenkitzel und Nervenrausch in Poesie und Kunst, in Theater und Welt.\nDer Grund liegt in der Entartung der heutigen Rasse, die zu einer allgemeinen Ausbreitung hysterischer Nervenschw\u00e4che gef\u00fchrt hat. Das gesamte fin de si\u00e8cle-Publikum ist hysterisch, f\u00fcr Suggestion empf\u00e4nglich, zur Nachahmung und zum Mysticismus geneigt und in sich selbst verliebt.\nDer Zwangsbasessene geht voran, die anderen folgen, und die \u201eSchule\u201c ist fertig. So bauen sich die Sekten auf, die Zwangsvorstellung steckt an, dann kommt der Hysteriker und mit ihm der ganze Trofs der Schwachk\u00f6pfe und Streber.\nUnzweifelhaft findet sich in diesem Haufen hin und wieder ein Genie, aber, wenn man die Begabung von ihm fortnimmt, bleibt nur der Tollh\u00e4usler \u00fcbrig, w\u00e4hrend beim wahren Genie noch der t\u00fcchtige, verst\u00e4ndige Mensch verbleiben w\u00fcrde.\nDie Anspr\u00fcche an das Nervensystem sind heute 5\u201425fach gestiegen, seine Ern\u00e4hrung ist dieselbe geblieben, und daher der Zusammenbruch der Nervenkraft, die Neurasthenie, die sich am ersten und st\u00e4rksten in Frankreich geltend macht. Bei aller Entwickelungsf\u00e4higkeit konnte das Nervensystem mit dem rasenden Fortschritte der Daseinsbedingungen nicht gleichen Schritt halten, und daher Erm\u00fcdung, rasches Altern, Hysterie. Als \u00c4ufserung dieser Neurasthenie haben wir die neue \u00e4sthetische Richtung anzusehen.\nEine besondere Erscheinung innerhalb dieser neuesten Richtung ist der Mystizismus, ein Hauptmerkmal der Entartung. Dem Entarteten mangelt die Aufmerksamkeit, der Unterschied zwischen starken und schwachen Vorstellungen,, wodurch es bei ihm zu den wunderbarsten Verbindungen, Beziehungen und \u00c4ufserungen kommt; der Mystiker sieht die Dinge nicht, wie sie sind, sondern, wie sie ihm scheinen, und sie scheinen ihm anders, in steter Beziehung zu dem eigenen Ich, unverstanden und unverst\u00e4ndlich, erkl\u00e4rlich nur durch das Hereinragen \u00fcberirdischer Gewalten in den eigenen Lebenskreis, durch die Beziehung unbekannter Erscheinungen zur eigenen Person.\nDem mystischen Denken ermangelt nie die erotische F\u00e4rbung, die sich bis zur Exstase steigern kann, und die in dem Leben der Heiligen eine so hervorragende Rolle spielt. Es ist eine absonderliche Verquickung sinnlich-erotischer Vorstellungen mit diesen \u00fcberirdischen, die uns hier entgegentritt, und die besser als alles andere den Entartungscharakter dieser Richtungen beweist.","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n143\nNord au geht nun, seinem Versprechen gem\u00e4fs, auf die Tr\u00e4ger dieser Richtungen n\u00e4her ein, und er pr\u00fcft seine Theorie zun\u00e4chst an den sog\u00ebnanntenPr\u00e2raphaelitenin England und den Symbolisten in Frankreich. Es sind merkw\u00fcrdige Menschenkinder, die uns Nordau hier mit gewandter Hand vorzeichnet, und mehr als einmal wird man an des grofsen Friedrich Ausruf nach der Schlacht hei Zorndorf erinnert: \u201eSieh er, mit solchem Gesindel mufs ich mich herumschlagen.\u201c\nDie Bezeichnung \u201el\u00e4cherliche Kr\u00fcppel\u201c, womit Nordau sie beehrt, ist eine wohl verdiente.\nAuch Tolstoi kommt schlecht weg, da er in Nebel, Unverstand und hohlem Wortschwall aufgeht.\nKeinem aber ergeht es schlechter, als dem \u201eMeister\u201c, als Richard Wagner. \u201eDer eine R. Wagner ist allein mit einer gr\u00f6fseren Menge von Degeneration vollgeladen, als alle anderen Entarteten zusammen, die wir bisher kennen gelernt haben.\u201c\nDie Ausf\u00fchrungen Nordaus wird man mit gemischten Empfindungen hinnehmen, je nachdem man f\u00fcr den Meister schw\u00e4rmt oder ihm mit k\u00fchleren Empfindungen gegen\u00fcbersteht. Von den ersteren meint Nordau, dafs die meisten Wagner-Fanatiker seinen Thorheiten folgten, von seiner Musik verst\u00e4nden sie nichts. Das ist \u00e4ufserst grob, aber, wie ich bef\u00fcrchte, auch \u00e4ufserst richtig.\nDen Parodieformen der Mystik, den Occultisten, einem Sar Pei.adan, MaetErlink und anderen bl\u00f6dsinnigen Faselh\u00e4nsen gleicher Sorte, wird bei uns kaum ein Verteidiger erstehen.\nDie Beispiele, die Nordau angeblich in wortgetreuester \u00dcbersetzung anf\u00fchrt, sind doch gar zu entsetzlich, dagegen ist die vielberufene Friederike K\u00e4mpner doch ein harmloser S\u00e4ugling.\nNordaus Buch enth\u00e4lt reichen Stoff zum Nachdenken, wohl auch zum Widerspruch. Sicherlich wird man von seiner \u201eNaturgeschichte der \u00e4sthetischen Schule\u201c manches abzustreichen haben, wie dies ja auch hei Lombrosos \u201eVerbrecher\u201c unvermeidlich war, die Grundlage aber wird- man gelten lassen und dem k\u00fchnen Schriftsteller Dank sagen m\u00fcssen, dafs er es gewagt hat, dem gef\u00e4hrlichsten Feinde, der Mode-thorheit, mit offenem Visier entgegenzutreten. Wer den ersten Band gelesen hat, wird dem zweiten mit Spannung entgegensehen. Pelman.\nC. Lombroso. Les applications de l\u2019anthropologie criminelle. Paris, F. Alcan. 1892. 224 S. (Biblioth. d. philosophie contemp.)\nLombroso wendet sich hier gegen diejenigen seiner Gegner, die ihm vorwerfen, dafs er mit seinen Ansichten in den Wolken schwebe und keinen festen Boden unter den F\u00fcfsen habe. Es ist ihm um den Nachweis der praktischen Verwertbarkeit seiner Lehre zu thun, und er tr\u00e4gt mit dem an ihm. bekannten Riesenfleifse eine Menge von Material zusammen, das diesen praktischen Nutzen beweisen soll.\nZun\u00e4chst wendet er den von ihm aufgestellten Typus des geborenen Verbrechers auf die Revolution\u00e4re und Anarchisten an, und w\u00e4hrend die ersteren, die Revolution\u00e4re, ihn nur in 0,57% zeigen, weisen ihn letztere in 40% auf. Hierbei ist zu beachten, dafs die Revolution eine physio-","page":143}],"identifier":"lit15141","issued":"1893","language":"de","pages":"141-143","startpages":"141","title":"Max Nordau: Entartung, I. Bd. Berlin, C. Duncker, 1892","type":"Journal Article","volume":"5"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:54:16.428720+00:00"}