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{"created":"2022-01-31T17:03:32.860036+00:00","id":"lit15149","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Fraenkel","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 4: 152-155","fulltext":[{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nLitteraturbericht.\nals Bewegungs- oder Lautbild oder beides dem Geiste gegenw\u00e4rtig ist,, es unn\u00f6tig macht, dafs die Innervation der Schreibbewegungen von dem betreffenden Bewegungs- oder Lautbild aus Buchstabe f\u00fcr Buchstabe geschieht, vielmehr die Innervation der ganzen entsprechenden Kombination von Schreibwegungen von dem vollst\u00e4ndig vorhandenen Bewegungs- oder Klangbild des Wortes geschehen lassen kann resp. mufs :\n2.\tdie Thatsache der automatischen Orthographie, der wir beim Ge\u00fcbten selbst beim fl\u00fcchtigsten Spontanschreiben und beim mechanischen Schreiben nach Diktat begegnen :\n3.\tdie Fehler und Auslassungen beim fl\u00fcchtigen Schreiben, welche,, wenn alles Schreiben buchstabierend gesch\u00e4he, s\u00e4mtlich oder wesentlich Gedankenfehler sein m\u00fcfsten, w\u00e4hrend in Wirklichkeit oft genug, so in der Auslassung von W\u00f6rtern, Silben, in den falschen Silbenzusammenstellungen, in der Verschiebung oder Auslassung von Buchstaben etc.,, die Inkongruenz des Gedachten und Geschriebenen deutlich ist;\n4.\tdie Thatsachen des automatischen Schreibens bei Hypnotisierten,, die man dazu bringen kann, dafs sie, ohne es zu beabsichtigen oder zu bemerken, Fragen schriftlich beantworten, w\u00e4hrend man sich mit ihnen \u00fcber beliebige Dinge unterh\u00e4lt, und die automatisch Dinge, an die sie sich willk\u00fcrlich nicht erinnern k\u00f6nnen, niederschreiben.\nPeretti (Herzig).\nGuicciardi. \u00dfli Idioti. Rio. di Freniatr. Vol. XVII, F. 1 und 2 i,1B91)\nS.\t172-189.\nG. geht von Solliers Psychologie del'idiot et de l'imb\u00e9cile (Paris 1891)1 aus und stellt mit ihm, im Gegensatz zu anderen Betrachtungsweisen, die-Aufmerksamkeit als die wesentlichste Bedingung f\u00fcr die geistige Entwickelung in den Vordergrund seiner Er\u00f6rterungen. Danach unterscheidet er: absolute Idiotie, wo die Aufmerksamkeit unm\u00f6glich ist, also g\u00e4nzlich fehlt; einfache, wo sie schwierig und gering; Im-bezilit\u00e4t, wo sie unst\u00e4t und fl\u00fcchtig ist. Xahe liegt es, die physischen Zust\u00e4nde mit denen des Kindes, des Wilden zu vergleichen, auch ihr Verh\u00e4ltnis zu den Degenerativformen der Geisteskrankheit zu betrachten, Morel hat f\u00fcr die Degeneration nur die Erblichkeit als urs\u00e4chliches. Moment gelten lassen. Heuere haben die physikalisch-chemischen, biologischen und sozialen Einfl\u00fcsse und die D.uuvixsche Zuchtwahl herangezogen.\nAls antisoziales Wesen (Tonnisi) rangiert der Idiot einerseitsunter den mit psychischem Defekt belasteten Geisteskranken andererseits ist er ein zur\u00fcckgebliebener Urmensch (primitivo). Die Feuerlandsbewohner, Buschm\u00e4nner, Australier u. s. w. gleichen nicht blofs-dem Kinde, sondern auch dem Idioten; sogar die Affen sind (L\u00fcbbock) dem Menschen \u00e4hnlicher als z. B. die Lappen. Kindisch erregbar, unbek\u00fcmmert um den n\u00e4chsten Tag, mitleidslos, ohne h\u00f6here (religi\u00f6se) Idee, gleicht der sogenannte Wilde selbst in der Sprechweise, in Haltung, und Sch\u00e4delbildung dem Kinde und dem Idioten.\n1 Deutsche Ausgabe: \u201eDer Idiot und der Imbecille.'1 \u00dcbersetzt von1 Paul Brie. Hamburg 1891. L. Voss. (Vgl. diese Zeitschr. Bd. III. S. 240,)","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturberichi.\n153\nIm Anschlufs an Preyers Beobachtung der Kindesseele im Alter von einigen Tagen bis Monaten bis zum dritten Jahre und dar\u00fcber hinaus untersucht Verfasser die psychischen F\u00e4higkeiten des Idioten, sein Sinnesverm\u00f6gen, seine Intelligenz und seinen Willen.\n1.\tBei den hochgradigen Idioten ist der Blick starr und unsicher, 8% sind \u00fcberhaupt blind. Die Lidspalte ist verengt (Tamburtni und Morselli). Die meisten sind hypermetropisch. Nur die mittleren Grades unterscheiden Farben, oft mangelhaft. Eigentlich farbenblind sind jedoch nur wenige. \u2014 Taubstummheit ist seltener als Blindheit. Partielle und scheinbare Taubheit aus Unachtsamkeit kommt oft vor. Der Geschmackssinn ist h\u00e4ufig verkehrt. Vorliebe f\u00fcr Ekelhaftes, Bitteres und f\u00fcr Alkoholika schon im Kindesalter vorhanden, Gefr\u00e4fsigkeit allgemein. Geruchssinn meist stumpf, in Ausnahmsf\u00e4llen \u00fcbertrieben fein (Seguin). Tastsinn im allgemeinen stumpf; bei hochgradiger Idiotie An\u00e4sthesie und Analgesie. Auch bei Idiotie geringeren Grades ist der Temperatursinn wenig entwickelt. Bei kalter Witterung verfallen manche Idioten in Torpor wie die winterschlafenden Tiere. Gemeingef\u00fchl stumpf. Selten fehlen zwar Hunger und Durst, dagegen h\u00e4ufig das Gef\u00fchl f\u00fcr Stuhl- und Harnentleerung, auch Krankheitsgef\u00fchle.\n2.\tIntelligenz. \u2014 Die Aufmerksamkeit des Idioten wird nur durch den Anblick des Essens erregt, starker Lichtreiz und Ger\u00e4usch fesseln sie nicht. Der Idiot mittlern Grades meidet grofse Anstrengung, verlangt angenehme Anregung, liebt besonders Bilder. Bei geringer Idiotie \u00e4ufsert sich die Aufmerksamkeit willk\u00fcrlich, obgleich auch nur intermittierend, unter dem Einflufs lebhafter Befriedigung, bei anderen leichter, ist aber nicht von Dauer, bei wieder anderen ist sie z\u00e4he und wird zur Gewohnheit. Demgem\u00e4fs ist die Erziehungs- und Arbeitsf\u00e4higkeit verschieden. Hochgradige Idioten k\u00f6nnen nicht arbeiten, die mittleren Grades verrichten automatisch, bisweilen vorz\u00fcglich ein bestimmtes und zwar stets dasselbe Werk; die besten begreifen wohl, worauf es ankommt, bestehen aber eigensinnig auf ihren Kopf, verderben alles oder sind geradezu arbeitsscheu, wie die \u00fcbrigen Antisozialen, Prostituierten, Landstreicher und K\u00fcckf\u00e4lligen.\nDie Sprache des Idioten ist wie sein Gang langsam. \u2014 Das normale Kind denkt, bevor es spricht, macht Sprechversuche, \u2014 der Idiot nicht; er wiederholt h\u00e4ufig das letzte Wort (Ecoi.alieX Oft st\u00f6fst er rauhe T\u00f6ne aus, die weder Schmerz, noch Furcht, noch Zorn bedeuten. Die Sprachm\u00e4ngel beruhen (Wildermuth) \u2014 wenn nicht absolute Stummheit herrscht \u2014 auf Ged\u00e4chtnisl\u00fccken, Fehlen und Verwechselung von W\u00f6rtern u. a. m., oder auf mechanischer St\u00f6rung wie Botazismus, Sigmatismus, Auslassen von Konsonanten. Der Idiot liest, wenn er das Lesen mit grofser M\u00fche erlernt hat, monoton, stofsweise und ohne Verst\u00e4ndnis, doch h\u00e4ufig mit Vergn\u00fcgen. Beim Schreiben nimmt er regel-m\u00e4fsig zuerst die Feder in die linke Hand (S\u00e9guin), l\u00e4fst Buchstaben aus, Schreibstottern (Berkhan); die Schrift ist kindlich. Der Idiot ist ein Zeichner, kopiert gewissenhaft, oder \u2014 und zwar die besseren \u2014 phantastisch und abgeschmackt.\nDa seine Sinne und Sprache defekt sind, so erwirbt der Idiot all-","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nI\u00c0tteraturbericht.\ngemeine Begriffe nur in beschr\u00e4nktem Grade, konkrete Begriffe leichter. Er begreift , was viereckig, glatt oder rauh ist, t\u00e4uscht sich aber bei Berechnung der Entfernungen; von Farben unterscheidet er insbesondere das Rot. Das Ged\u00e4chtnis, namentlich f\u00fcr Zahlen, ist bisweilen enorm erh\u00f6ht (Wunderkinder und Rechenmeister). Das Vergleichen der Gegenst\u00e4nde ist l\u00fcckenhaft. \u00c4hnlichkeiten findet der Idiot leichter als Unterschiede, besonders beim Sehen. Er generalisiert, nennt jede Frucht z. B. Apfel, unterscheidet aber nicht die Spezies. Er gewinnt den Zahlenbegriff von Mehr oder Weniger, aber nicht den der Teilung (Division). Auch der Raumbegriff ist mangelhaft, der der Unendlichkeit ist ihm unfafslich. \u2014 Das Urt eil ist wegen der geringen Aufmerksamkeit und Unsicherheit der Auffassung meist falsch, bei den Imbezillen oft mit hartn\u00e4ckigem Festhalten an einer vorgefafsten Meinung. Einen logischen Schlufs zu ziehen, gelingt selbst den Begabteren nicht, er wird immer verkehrt und verkr\u00fcppelt sein. Sch\u00f6pferische Einbildungskraft besitzen auch sie nur selten, daf\u00fcr haben sie um so h\u00e4ufiger phantastische kindische Tr\u00e4ume, improvisieren dem-gem\u00e4fs wunderbare Erz\u00e4hlungen und sind Meister im L\u00fcgen. Die hochgradigen Idioten tr\u00e4umen und l\u00fcgen nicht absichtlich.\n3. Der Wille. \u2014 Der Idiot lernt sp\u00e4t seine Muskeln gebrauchen, im 2. und 3. Jahre gehen, oder auch niemals, \u2014 aus Schw\u00e4che, L\u00e4hmung, zumeist aus mangelnder Koordination; er bleibt stets ungeschickt und t\u00e4ppisch. Viele sind unbeweglich, manche vergn\u00fcgen sich automatisch an rhythmischen Schaukelbewegungen des Rumpfes, Kopfes, der Arme und Beine. Besondere Beachtung verdienen die Kletterer (besonders die unter den affen\u00e4hnlichen Mikrokephalen. Fr.). \u2014 An den Bewegungstrieb reihen sich zun\u00e4chst die Instinkte. Am lebhaftesten ist der Trieb der S el b s t er liai t un g ; daher die Gefr\u00e4fsigkeit. Unter den sozialen Instinkten ist der perverse Geschlechtstrieb hervorragend, Onanie bei den hochgradigen Idioten, Wollust bis zur Wut \u2014 Stuprum und Mord bei den besseren. Die Idiotin ist weniger brutal, aber ebenso schamlos. \u2014 Nachahmungstrieb ist bei den besseren Idioten st\u00e4rker entwickelt, h\u00e4ufig aber pervers; sie sind f\u00fcr schmutzige Dinge besonders gelehrig. F\u00fcr Zeichnen und Skulptur zeigen sie wenig Talent, desto mehr f\u00fcr Zahlen und Musik, die sie nach dem Geh\u00f6r, \u00f6fter auf mehreren Instrumenten erlernen. Die musikalischen Wunderkinder und Zahlenk\u00fcnstler bleiben sp\u00e4ter in der Entwickelung zur\u00fcck. \u2014 Zers t\u00f6 rungs trieb ist eine gew\u00f6hnliche Erscheinung beim Idioten wie beim Kinde, bei letzterem aber daneben die Lust am Aufbauen.\nGem\u00fctsstimmung. \u2014 Bewufstes Verlangen bestimmt das Wesen des Menschen (Spinoza). Erf\u00fcllung des Verlangens stimmt ihn zui Freude, Nichterf\u00fcllung zur Trauer. Hochgradige Idioten \u00e4ufsern weder die eine noch die andere. Der kindliche Gesichtsausdruck der Besseren zeigt bisweilen Bosheit mit Mifstrauen oder Gleichgiltigkeit gemischt. Bricht die angeborene ^ erkehrtheit durch, so erscheinen sie zynisch, prahlerisch, boshaft. Das Lachen kommt sie \u00f6fter als das Weinen an. Teilnahme f\u00fcr Personen und dann meist f\u00fcr h\u00f6herstehende ist selten; eben so wahre Freundschaft untereinander, auch kein wirkliches Mitleid","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n155\nf\u00fcr Tiere. Bei den Imbezillen ist die Geschlechtsliebe nie platonisch, stets lasciv. Sie bilden p\u00e4derastische M\u00e9nages. \u2014 Der hochgradige Idiot ist feig, der Imbezille f\u00fcrchtet in der Erregung nichts ; daher Wagest\u00fccke, sogar Selbstmordversuche, Angriffe auf Personen, w\u00e4hrend der hochgradige in der Wut nur Sachen besch\u00e4digt. \u2014 \u00c4sthetisches Gef\u00fchl. Der Kunstsinn der Idioten beschr\u00e4nkt sich mehr auf Nachahmung als auf erkl\u00e4rende Darstellung der Natur. In der Musik lieben sie die Orgel und die Streichinstrumente, in der Deklamation wie \u00fcberhaupt den Rhythmus, das Kolossale und das Groteske. \u2014 Der Lerntrieb ist bei ihnen sehr gering. Sie sind \u00e4ufserst leichtgl\u00e4ubig, fragen sehr viel, warten aber die Antwort nicht ab. Die Wahrheit gilt ihnen nur insofern, als sie ihr Interesse ber\u00fchrt, das sie meist zur L\u00fcge und T\u00e4uschung verleitet.\nMoralische Gef\u00fchle kennen sie nicht. Mitleid ist ihnen fremd. Die Begabteren \u00e4ffen die Bewegungen der Leidenden nach, zeigen sogar Vergn\u00fcgen, Schadenfreude an dem Ungl\u00fcck ihrer Genossen. Noch fremder ist ihnen (die weiblichen Idioten ausgenommen) die F\u00fcrsorge f\u00fcr andere und das Genossenschaftsgef\u00fchl. Dagegen ist die Liebe am Besitz sehr ausgebildet bei geringer Achtung fremden Eigentums (Neigung zum Stehlen).\nSoziale Gef\u00fchle f\u00fcr Hecht und Pflicht fehlen entweder ganz, sind gering oder werden in verkehrter Weise beth\u00e4tigt. Der Idiot gehorcht nur dem Zwang, ist empf\u00e4nglicher f\u00fcr Z\u00fcchtigung, Schmerz und Tadel als f\u00fcr Belohnung, Vergn\u00fcgen und Lob. Daher die Schwierigkeit, ihn in der Familie zu erziehen. Ebenso fehlt das religi\u00f6se Gef\u00fchl entweder ganz oder \u00e4ufsert sich, oft in excentrischer Weise, in den \u00c4ufserlich-keiten der Kultusgebr\u00e4uche. Die Frauen namentlich betreiben dieselben auf Anregung ihrer Eitelkeit.\nDie Willensth\u00e4ti gkeit , deren Beschr\u00e4nktheit nach S\u00e9guin den Grundzug der Idiotie ausmacht, \u00e4ufsert sich auf den untersten Stufen automatisch beim Ergreifen der Nahrung, bewufster in den Hemmungsbewegungen (Beherrschen der Sphinkteren) und in freiwilliger Aufmerksamkeit. Aber auch die Hemmung geschieht mehr impulsiv als aus vern\u00fcnftiger \u00dcberlegung, instinktm\u00e4fsig. Die Idioten der untersten Stufe sind willenlos, die besseren fehlen entweder in der Wahl der Mittel in folge zu starker Impulse oder wegen Zerstreutheit und Unentschlossenheit. Daher sind die Imbezillen mehr als die anderen suggestionsf\u00e4hig.\nVon einer Pers\u00f6nlichkeit ist bei den hochgradigen Idioten keine Bede ; bei denen milderen Grades ist das Selbstgef\u00fchl, das Ich, bisweilen enorm verkehrt bis zur Selbstverst\u00fcmmelung, bei den Imbezillen hypertrophisch bis zum Gr\u00f6fsenwahn.\tFraenkel (Dessau).\nG. H. Savage. The Influence of Surroundings on the Production of Insanity. Journ. of Ment. Science. Bd. 37. No. 159. S. 529\u2014535. (Oktbr. 1891).\nS. wendet sich mit diesem in der psychiatrischen Sektion der British medical association gehaltenen Vortrage gegen die weit ver-","page":155}],"identifier":"lit15149","issued":"1893","language":"de","pages":"152-155","startpages":"152","title":"Guicciardi: Gli Idioti. Riv. di Freniatr., Vol. XVII, F.1 u. 2, 1891, S.172-189","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:03:32.860042+00:00"}