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Eine neue Theorie der Lichtempfindungen

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{"created":"2022-01-31T17:02:22.657821+00:00","id":"lit15161","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ladd-Franklin, Christine","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 4: 211-221","fulltext":[{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Lichtempfindungen.\nVon\nChristine Ladd-Franklin in Baltimore, U. S. A.\nBis jetzt weifs man gar nichts \u00fcber das, was in der Netzhaut vorgeht, wenn das objektive Licht in Nervenerregung umgewandelt wird, \u2014 man weifs sogar nicht, ob dieser \u00dcber-tragungsprozefs physikalischer oder chemischer Natur ist. Alle Theorien dar\u00fcber sind notwendigerweise rein hypothetisch ; man kann sie nur als heuristisch wertvoll ansehen. Jede derartige Theorie braucht, um existenz berechtigt zu sein, nur einen solchen Prozefs anzunehmen, welcher die Erscheinungen naturgem\u00e4fs und einfach erkl\u00e4rt, ohne mit unseren anderen wohlbegr\u00fcndeten physiologischen Anschauungen in Widerspruch zu kommen. Die Aufgabe jeder Lichtempfindungstheorie besteht n\u00e4mlich allein darin, einen Netzhautprozefs anzunehmen, welcher ein wenigstens m\u00f6gliches Verbindungsglied zwischen den zwei Bereichen des physikalisch Feststehenden und des psychisch unmittelbar Empfundenen ist.\nEs ist unm\u00f6glich, jemanden f\u00fcr eine neue Theorie der Lichtempfindungen zu interessieren, der nicht von der Unzul\u00e4nglichkeit der bisherigen Theorien \u00fcberzeugt ist.\nJede Theorie der Lichtempfindungen mufs die fehlenden Br\u00fccken zwischen folgenden zwei Reihen paralleler Thatsachen, die f\u00fcr sie von kritischer Bedeutung sind, hersteilen :\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nChristine Ladd-FranMin.\nPhysikalischer Vorgang.\t\tPsychischer Vorgang.\n1. Licht einer bestimmten Wellenl\u00e4nge wirkt auf die Netzhaut.\t\tEin bestimmter Farbenton wird empfunden.\n2. Eine Mischung von Licht zweier verschiedenerWellen-l\u00e4ngen wirkt auf die Netzhaut.\t\tIn den meisten F\u00e4llen entsteht eine gemischte Empfindung, d. h. eine solche, in welcher man verschiedene Bestandteile wahrnehmen kann; sie stimmt jedoch auch, abgesehen von der Weifslichkeit, im Farbenton mit der durch eine zwischenliegende Wellenl\u00e4nge verursachten Empfindung \u00fcberein.\n3. Gewisse Wellenl\u00e4ngenpaare (welche physikalisch nicht besonders\tausgezeichnet sind) wirken auf die Netzhaut.\t\tEs entsteht eine Empfindung, die wir die \u201eGrau- (Weifs-) Empfindung\u201c1 nennen,welche a)\tstets dieselbe ist, und b)\tkeine Spur einer gemischten Empfindung darbietet.\n4. Der Einfall des Lichtes in das Auge unterliegt folgenden Einschr\u00e4nkungen: a)\tDas affizierte St\u00fcck der Netzhaut ist sehr klein. b)\tEs ist weit von der Fovea entfernt. c)\tDas objektive Licht ist sehr schwach. d)\tEs ist sehr stark. e)\tDas betreffende Auge ist \u201etotal farbenblind\u201c (wahrscheinlich krankhafte od. atavistische Anomalie.)\t\tUnter diesen f\u00fcnf Umst\u00e4nden entsteht ohne Ausnahme ebenfalls die Grau-Empfindung.\n5. a) Dasselbe farbige Licht hat lange Zeit auf dieselbe Stelle der Netzhaut eingewirkt.\t\tDas Bild erblafst, wird weifs und nimmt, falls das objektive Licht schw\u00e4cher gemacht wird, sogar die komplement\u00e4re Farbe an, obwohl dasselbe farbige Licht noch weiter einwirkt.\nb) Wenn man dann die Augen schliefst,\t\tso tritt die Komplement\u00e4rfarbe deutlich hervor.\n1 Der eigentliche Gegensatz zu \u201eFarbe\u201c ist Grau, nicht Weifs. Weifs ist eine besondere Art, n\u00e4mlich die sehr intensive Grauempfindung.","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Lichtempfindungen.\n213\nJede Theorie der Lichtempfindungen mufs in die oben leergelassene Mittelspalte einen fingierten Netzhautprozefs einf\u00fchren, welcher eine nat\u00fcrliche Verbindung oder ein Zwischenstadium zwischen den beiden Seiten bildet.\nDen Anforderungen 1. und 2. wird durch die Young-Helm-HOLTZsche Theorie gen\u00fcgt: ebenso auch dem ersten Teil von 3., d. h. der Thatsache, dafs die Mischung aller jener Farbenpaare gleich aussieht. Die Thatsache aber, dafs man ihre Bestandteile nicht wahrnehmen kann (unser Bewufstsein macht sogar keine andere Aussage mit gr\u00f6fserer Bestimmtheit, als die, dafs die Weifsempfindung nicht eine Mischung der Bot-, Gr\u00fcn-und Blaue mp fin dun g en ist) wird g\u00e4nzlich ignoriert \u2014 d. h. sie wird in das dunkle Gebiet der Urteilst\u00e4uschungen verlegt. F\u00fcr den Psychologen ist also jedenfalls nie ein Grund vorhanden gewesen, diese Theorie anzunehmen, aufser demjenigen, dafs niemand eine bessere aufgestellt hatte. \u2014 Die unter 4. erw\u00e4hnten Thatsachen kann man auf Grund dieser Theorie nur dadurch erkl\u00e4ren, dafs zwar alle drei Farbenempfindungen unter jenen Umst\u00e4nden wirklich hervorgerufen werden, dafs dieses aber \u2014 was auch die objektive Beschaffenheit des Lichtes sein mag \u2014 durch eine ungemeine Boshaftigkeit der Natur stets im gleichen Grade geschieht. Solch eine Erkl\u00e4rung l\u00e4fst nat\u00fcrlich viel zu w\u00fcnschen \u00fcbrig. \u2014 Was die negativen Nachbilder betrifft, so hat Hering durch eine grofse Anzahl h\u00f6chst geschickter Versuche die Unm\u00f6glichkeit bewiesen, sie durch das nach der Erm\u00fcdung noch vorhandene Eigenlicht der Netzhaut zu erkl\u00e4ren, wie dieses die YouNG-HELMHOLTZsche Theorie thut. Es ist also unumg\u00e4nglich eine andere hinreichendere Ursache f\u00fcr die negativen Nachbilder anzunehmen.1\nDen logischen Forderungen einer zul\u00e4ssigen Theorie der Lichtempfindungen ist von Hering in vorz\u00fcglicher Weise gen\u00fcgt worden. Aber, ohne auf seine Anschauungen \u00fcber die Helligkeit n\u00e4her einzugehen, weise ich doch auf die un\u00fcberwindliche Schwierigkeit hin, welche f\u00fcr seine Theorie darin liegt, dafs er den Assimilierungs- und Dissimilierungsprozessen\n1 Dafs Hering dasselbe f\u00fcr Kontrasterseheinungen geleistet hat erw\u00e4hne ich hier nicht; bis jetzt lassen sich diese Erscheinungen mit keiner Theorie in Zusammenhang bringen. Herings sogenannte Erkl\u00e4rung ist blofs eine \u00dcbersetzung der Thatsachen in die Sprachweise seiner Theorie.","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nChristine Ladd-Franklin.\nFunktionen zuschreibt, die mit den grundlegenden \u00dcberzeugungen des Physiologen nicht in Einklang stehen.\nAbgesehen von Herings Theorie, giebt es keine allgemein bekannte Theorie, welche einen irgendwie gelungenen Versuch gemacht hat, den oben aufgestellten Forderungen zu entsprechen. Die folgende Hypothese stelle ich nicht als die endg\u00fcltige Hypothese der Lichtempfindungen auf, sondern vielmehr als eine symbolische Darstellung einer Hypothese von der Form, wie sie unseren logischen Forderungen einigermafsen gen\u00fcgen kann.\nIn der letzten Zeit haben die Chemiker es notwendig gefunden, ein neues Moment in ihre Vorstellungen der molekularen Beschaffenheit der Materie einzuf\u00fchren. Es giebt n\u00e4mlich Erscheinungen, die sie ohne die H\u00fclfshypothese einer bestimmten Konfiguration der Atome im dreidimensionalen Baume nicht erkl\u00e4ren k\u00f6nnen. Die Gr\u00fcnde, auf welchen diese chemische Theorie beruht, scheinen genug Gewicht zu haben, um auch f\u00fcr eine neue Theorie des Netzhautprozesses benutzt werden zu k\u00f6nnen.\nDie Hauptpunkte meiner Theorie bestehen in der Annahme folgender Eigenschaften der in der Netzhaut vorkommenden photochemischen Substanzen :\n1. Der Verbindungsprozefs zwischen den physikalischen und psychischen Vorg\u00e4ngen bei der Lichtempfindung vollzieht sich (wenigstens zum Teil) als Dissoziation zweier Arten von Molek\u00fclen, die wir als \u201eGraumolek\u00fcle\u201c und \u201eFarbenmolek\u00fcle\u201c bezeichnen wollen. In den unentwickelten Formen des Gesichtssinnes, wie sie in der Netzhaut der total Farbenblinden, in der Netzhaut-Peripherie der Farbent\u00fcchtigen und h\u00f6chst wahrscheinlich in den Augen vieler niedriger Tiere Vorkommen, sind nur Graumolek\u00fcle vorhanden. Sie bestehen aus einer \u00e4ufseren Schicht, deren Atome viele verschiedene Schwingungs-perioden haben, und einem inneren festen Kern. Die photochemische Zersetzung des Graumolek\u00fcls besteht in dem Los-reifsen dieser \u00e4ufseren Atomschicht, welche nun zu einem Erreger der Nervenendigungen wird und die unmittelbare Ursache der Grau-(Weifs-)Empfindung ist. Diese Zersetzung wird hervorgerufen durch alle \u00c4therschwingungen des \u00fcber-","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Lichtempfindungen.\n215\nhaupt sichtbaren Lichtes, jedoch am st\u00e4rksten durch den mittleren Teil des Spektrums ; man kann vielleicht annehmen, dafs die Anzahl der Molek\u00fcle, die durch Licht von den verschiedenen Wellenl\u00e4ngen zersetzt werden, proportional ist den entsprechenden Ordinaten der Kurve der Intensit\u00e4tsverteilung im Spektrum der total Farbenblinden.\nDie Farbenmolek\u00fcle sind aus den Graumolek\u00fclen durch Differentiierung in der Weise entstanden, dafs die Atome der Aufsenschicht sich nach drei zu einander senkrechten Richtungen verschieden gruppierten. Diese drei Atomgruppen unterscheiden sich durch die mittleren Schwingungsperioden der in ihnen befindlichen Atome, und diese drei mittleren Schwingungsperioden stimmen nun mit denen gewisser drei thats\u00e4chlich vorkommenden Atherbewegungen \u00fcberein (sind gleich, oder Multipla oder aliquote Teile derselben). Durch solches Licht werden die entsprechenden Atomgruppen, und nur diese (oder fast nur diese), losgetrennt ; und die so entstandenen drei Zersetzungsprodukte rufen nun die drei von meiner Theorie anzunehmenden Grundempfindungen hervor. Die F\u00e4higkeit der Lichtbewegungen, eine solche Atomgruppe loszutrennen, h\u00e4ngt von der Genauigkeit der oben erw\u00e4hnten \u00dcbereinstimmung ab. F\u00e4llt Licht einer nicht \u00fcbereinstimmenden Schwingungsperiode auf die Netzhaut, so werden zweierlei Atomgruppen, aber jede in geringer Anzahl, losgerissen, rufen zwei Grundempfindungen hervor und erzeugen so die (f\u00fcr das Bewufstsein auch gemischten) Empfindungen der zwischenliegenden Farbent\u00f6ne.\nUm die Beschaffenheit der Farbenmolek\u00fcle ein wenig zu versinnlichen, habe ich sie durch umstehende Figur schematisch dargestellt, in welcher die verschieden grofse Ausdehnung nach den drei Richtungen im Raum die verschiedenen Schwingungsperioden der betreffenden Atomgruppen symbolisch andeuten soll.1\nHat sich die Differentiierung in der \u00e4ufseren Schicht der Farbenmolek\u00fcle nur nach zwei Richtungen vollzogen, so haben wir dichromatisehe Farbensysteme.\n2. Wenn eine Mischung von Licht zweier verschiedenen Wellenl\u00e4ngen auf die Netzhaut f\u00e4llt, so bewirkt jeder Bestand-\n1 Ich lege den gr\u00f6bsten Teil der Masse des Molek\u00fcls in das rote Gruppenpaar, um der Thatsache Ausdruck zu geben, dafs das rote Licht des Spektrums, obwohl es wenig weifses Licht enth\u00e4lt, dennoch einen hohen Grad von Helligkeit besitzt u. s. w.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nChristine Ladd-Franklin.\nteil die ihm eigent\u00fcmliche Zersetzung, und man empfindet im allgemeinen, genau wie in dem einen eben beschriebenen Fall, auch eine Mischung der Grundempfindungen. Die rot-blauen Empfindungen unterscheiden sich von allen anderen Mischempfindungen dadurch, dafs sie nur durch solche Mischungen entstehen.\n3. Es wird jedoch Mischungen von objektivem Lichte geben, welche die Eigenschaft haben, die dreierlei Atomgruppen in gleicher Menge loszutrennen. Hierdurch aber entsteht eine nervenerregende Substanz, welche genau dieselbe Beschaffenheit hat, wie die \u00e4ufsere Schicht der Graumolek\u00fcle; sie bringt also auch dieselbe Empfindung hervor. Die Erreger der Rot-, Gr\u00fcn- und Blauempfindungen sind ja zusammengenommen gleich den chemischen Bestandteilen der \u00e4ufseren Schichten der Graumolek\u00fcle. Sie haben jedoch nie getrennt existiert, bis die differentiierten Farbenmolek\u00fcle ihr selbst\u00e4ndiges Losreifsen erm\u00f6glichten. Dafs also Lichtmischungen von komplement\u00e4ren \"Wellenl\u00e4ngen gleiche Empfindungen hervorrufen, wird auf Grund meiner Theorie (wie jeder Dreifarben-Theorie) dadurch erkl\u00e4rt, dafs in jedem solchen Falle dieselben Hetzhautprozesse vorhanden sind: dafs aber gerade diese (und keine anderen) Mischungen von Hetzhautprozessen keine Spur von einer Mischempfindung wahrnehmen lassen, ist eine Folge davon, dafs in diesen F\u00e4llen die Erreger der Farbenempfindungen genau in solchen Mengen entstehen, dafs sie diejenige chemische Substanz erzeugen, welche die Grauempfindung verursacht.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Lichtempfindungen.\n217\n4.\tDas ausschliefsliche Entstehen der Grauempfindung unter den \u00fcbrigen Umst\u00e4nden l\u00e4fst sich (ungef\u00e4hr ebenso wie bei jeder anderen Theorie, die einen selbst\u00e4ndigen Grauprozefs und einen daraus durch Differentiierung entstandenen Farbenprozefs annimmt) in folgender Weise erkl\u00e4ren. In der Netzhaut der total Farbenblinden und in den exzentrischen Teilen der Netzhaut der Farbent\u00fcchtigen sind nur die unentwickelten Graumolek\u00fcle vorhanden. \u2014 Ist das objektive Licht schwach oder auf einen sehr kleinen Teil des Gesichtsfeldes beschr\u00e4nkt, so werden nur die Graumolek\u00fcle in gen\u00fcgender Menge dissoziiert, um eine Empfindung hervorzurufen. Wenn auch einige Farben-Molek\u00fcle zersetzt werden sollten, so ist doch selbstverst\u00e4ndlich das Vorhandensein einer Erregung \u00fcberhaupt viel leichter wahrzunehmen als die spezifische Natur dieser Erregung. Nur bei Rot ist dies nicht der Fall. Das rote Licht l\u00f6st in sehr geringem Grade den Grauprozefs aus, und sein spezifischer Bestandteil in der von ihm verursachten Gesamtempfindung ist bedeutend. \u2014 Bei sehr intensiver Beleuchtung empfindet man wieder Grau (Weils), da die Farbenmolek\u00fcle, die schon bei mittleren Intensit\u00e4ten leicht zersetzt werden, fr\u00fcher als die Graumolek\u00fcle verbraucht sind. -\u2014 Die drei letzten \u201eErkl\u00e4rungen\u201c sind nur \u00dcbertragungen der Thatsachen in die Sprache meiner Theorie und bilden keinen wesentlichen Teil derselben.\n5.\tDie negativen Nachbilder aber erfordern zu einer Erkl\u00e4rung im vollen Sinne des Wortes die Aufstellung einer Theorie von der Art der meinigen. Die partiell dissoziierten Molek\u00fcle n\u00e4mlich, deren losgerissener Teil schon eine Farbenempfindung verursacht hat, sind unf\u00e4hig, in diesem besch\u00e4digten Zustand fortzubestehen, und das allm\u00e4hliche Freiwerden der \u00fcbrigen Teile der \u00e4ufseren Schicht hat das Entstehen derjenigen Empfindung, welche die schon empfundene Farbe zum Weifs h\u00e4tte erg\u00e4nzen k\u00f6nnen, zur notwendigen Folge. Um dies durch ein Beispiel deutlicher zu machen, nehme man an, dafs rotes Licht eine Zeit lang auf die Netzhaut wirkt; dann haben viele Molek\u00fcle ihre die Rotempfindung hervorbringenden Atomgruppen verloren ; als solche unvollst\u00e4ndig zersetzte Molek\u00fcle bestehen sie einige Zeit, doch ist ihr Zustand jetzt h\u00f6chst labil. Durch das allm\u00e4hliche Auseinanderfallen ihrer blau- und gr\u00fcnwirkenden Atomgruppen bekommen wir die Erscheinung, dafs die Rotempfindung sich allm\u00e4hlich in eine Weifsempfindung umwandelt","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nChristine Ladd-Franklin.\nund sogar, wenn das objektive Licht herabgesetzt wird, \u2014 noch mehr aber, wenn man die Augen schliefst, \u2014 in eine Blaugr\u00fcnempfindung \u00fcbergeht. Die Komplement\u00e4rfarbe des Nachbildes wird also durch den allm\u00e4hlichen \\ erbrauch verst\u00fcmmelter Molek\u00fcle hervorgebracht, welche nun nutzlos geworden sind, deren F\u00e4higkeit aber, in diesem halbzerrissenen Zustand wenigstens eine Zeit lang fortzubestehen, eben die Ursache davon ist, dafs wir \u00fcberhaupt die verschiedenen Teile des Spektrums verschieden empfinden.\nDies sind die Erkl\u00e4rungen, die meine Theorie f\u00fcr die oben angegebenen kritischen Thatsachen der Lichtempfindung liefert. In folgenden beiden Beziehungen \u00fcbertrifft sie aber noch die \u00fcbrigen bisher aufgestellten Theorien.\na) Die Netzhautelemente bestehen aus St\u00e4bchen und Zapfen, die zwar verschieden aussehen, denen wir aber bis jetzt keine verschiedene Funktion haben anweisen k\u00f6nnen. Die Schwierigkeit, dies zu thun, liegt darin, dafs die Zapfen, da sie in der Fovea allein vorhanden sind, ausreichen m\u00fcssen, um alle Lichtempfindungen hervorzurufen, dafs aber die St\u00e4bchen auch eine wichtige Bolle spielen m\u00fcssen, da sie eine sehr \u00e4hnliche Struktur haben wie die Zapfen, und diese Zapfen in der Netzhautperipherie fast g\u00e4nzlich fehlen. Wenn man aber annimmt, dafs die Zapfen Farbenmolek\u00fcle von der beschriebenen Art enthalten und also Grauempfindungen sowie Farbenempfindungen hervorbringen, dafs aber in den St\u00e4bchen nur Graumolek\u00fcle vorhanden sind, also hier nur Grauempfindungen entstehen, so wird die Anordnung der Elemente der Netzhaut ganz verst\u00e4ndlich. Sehr interessante Versuche von Eugen Fick1 erlauben uns, folgende Beziehungen zwischen Netzhautstruktur und eben wahrnehmbaren Erregungen festzustellen :\nIn der Fovea:\tIn den anliegenden Netz-hautzonen:\tIn der weiter entfernten Peripherie:\nNur Zapfen;maximalen \u201eFarbensinn\u201c und nicht \u2014 maximalen \u201eGrausinn\u201c.\tAllm\u00e4hlich zunehmende Anzahl von St\u00e4bchen und abnehmende Anzahl von Zapfen; zunehmenden \u201eGrausinn\u201c und abnehmenden \u201eFarbensinn\u201c.\tFast ausschliefslich St\u00e4bchen ; fast gar keinen \u201eFarbensinn\u201c.\n1 Eugen Fick, Studien \u00fcber Licht- und Farbenempfindung. Pfl\u00fcgers Archiv. Bd. XLIV., S. 441.1888.","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Lichtempfindungen.\n219\nEin besseres Beispiel von St. Mills \u201eMethod of concomitant Variation\u201c w\u00e4re schwer zu finden. \u2014 Die Netzhaut eines total Farbenblinden ist bis jetzt nie untersucht worden. Sollte es sich ergeben, dais eine solche Netzhaut nur St\u00e4bchen und keine Zapfen enthielte, so w\u00e4re dies eine gl\u00e4nzende Best\u00e4tigung meiner Vermutung; wenn nicht, so k\u00f6nnte man doch annehmen, dafs hier auch in den Zapfen keine Farbenmolek\u00fcle, sondern Graumolek\u00fcle vorhanden sind. Der atavistische Zustand bez\u00f6ge sich also nicht auf die Form der Netzhautelemente, sondern auf die in letzteren enthaltenen Molek\u00fcle. \u2014 Es ist noch zu erw\u00e4hnen, dafs, wenn diese Verteilung der Netzhautprozesse richtig ist, die Beschaffenheit des Auges in dieser Hinsicht eine genaue Wiederholung derjenigen des Geh\u00f6rsorganes ist; auch im Ohre haben wir vermutlich einen phylogenetisch sehr alten, im Charakter sehr einfachen Bestandteil des Organs und neben ihm einen hochentwickelten Apparat zum Zerlegen der affizierenden Schwingungen.\n\u00df) Licht von Schwingungsperioden, die zwischen denen der Grundempfindungen liegen, zersetzen, wie ich schon bemerkt habe, eine verh\u00e4ltnism\u00e4fsig geringe Zahl von Farbenmolek\u00fclen; dieses k\u00f6nnte zur Erkl\u00e4rung der sonst nicht erkl\u00e4rten That-sache benutzt werden, dafs die Mischungen von Rot und Gr\u00fcn und von Gr\u00fcn und Blau weniger ges\u00e4ttigt aussehen, als die Grundempfindungen.1\nAufser Herings Theorie sind zwei andere (die aber wenig Aufmerksamkeit erregt haben) ver\u00f6ffentlicht worden, die dasselbe erreichen wollen, wie die vorliegende Theorie. Es sind dies diejenigen von Donders2 und von G\u00f6ller.3 Letztere ist eine physikalische Theorie. Die von Donders ist eine chemische und der vorliegenden sehr \u00e4hnlich; in ihr ist aber die Voraussetzung von vier Grundfarben (neben der Weifsempfindung) ein wesentlicher Bestandteil. Um den psychischen Thatsachen v\u00f6llig zu gen\u00fcgen, scheint es zwar n\u00f6tig zu sein, vier Grundfarben anzunehmen, denn Gelb sieht nicht wie eine Mischfarbe aus ; \u2014 doch giebt es einige Thatsachen, die sich bis jetzt nur mit einer\n1\tHelmholtz, Handbuch der physiol. Optik. S. 332.\t2. Aufl.\n2\tDonders, Noch einmal die Farbensysteme. Gr\u00e4fes Archiv f\u00fcr Ophthalmologie. Bd. 30 (1), 1884.\n3\tG\u00f6ller, Die Analyse der Lichtwellen durch das Auge. Hu Bois-Reymonds Archiv. 1888.","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nChristine Ladd-Franklin.\nDreifarbentheorie vereinigen lassen. Dieses sind: 1. die Trennung der dichromatischen Farbensysteme in zwei bestimmte Gruppen (Rot- und Gr\u00fcnblindheit);1 2. dafs es, wie A. K\u00f6nig und C. Dieterici bewiesen haben, Farbent\u00f6ne giebt, durch deren Wegfall aus dem normalen Farbensysteme sich die Farbenverwechselungen der Kotblinden und der Gr\u00fcnblinden erkl\u00e4ren lassen.2\nDie zwei letzterw\u00e4hnten Thatsachen sind aber sehr wichtig; darum scheint es nicht zweifelhaft zu sein, dafs in dem jetzigen Zustand unserer Kenntnisse eine Dreifarbentheorie \u2014 unter sonst gleichen Umst\u00e4nden \u2014 einer Vierfarbentheorie vorzuziehen ist.\nIch erlaube mir, die Punkte zu rekapitulieren, worin meine Theorie sich von den jetzt herrschenden unterscheidet. Sie nimmt \u2014 wie die YouNG-HELMHOLTZsche Theorie \u2014 drei Grund-(farben-)empfindungen an; die Weifsempfindung aber erkl\u00e4rt sie nicht als eine Mischung von Farbenempfindungen, sondern a is durch einen selbst\u00e4ndigen Prozefs verursacht, der jedoch auch entsteht, sobald die farbigen Prozesse in gleicher Menge vorhanden sind. Von der HEKiNGschen Theorie ist sie dadurch verschieden, 1. dafs die Grundfarbenprozesse physiologisch begreifbar sind, 2. dafs sie sich zum Weifsprozefs zusammensetzen, anstatt sich einander aufzuheben und diesen dann \u00fcbrig zu lassen, und 3. dafs sie (wof\u00fcr ich in dieser vorl\u00e4ufigen Mitteilung die n\u00e4here Begr\u00fcndung leider unterlassen mufs) nicht unsere s\u00e4mtlichen Helligkeitsbegrifie in Verwirrung bringt, wie es durch die HERiNGsche Theorie zu leicht geschieht.\nW\u00e4re Hillebrands Beweis3 g\u00fcltig, dafs in weifs aussehenden Farbenmischungen die Farbenprozesse sich einander aufheben, so w\u00e4re meine Theorie von vornherein widerlegt. Zur Vervollst\u00e4ndigung seines Beweises fehlt aber der Nachweis f\u00fcr die Kichtigkeit zweier von ihm stillschweigend angenommenen\n1\tA. K\u00f6nig, \u00dcber den Helligkeitswert der Spektralfarben bei verschiedener absoluter Intensit\u00e4t ; in : Beitr\u00e4ge zur Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane (Helmholtz-Festschrift). Hamburg und Leipzig 1891 S. 370.\n2\tA. K\u00f6nig und C. Dieterici, Sitzungsberichte da- Berl. Akad. vom 29. Juli. 1886.\ns F. Hii.lebrand, Wiener Sitzungsber., Bd. 98., Sitzung vom 21. Febr 1889, Seite 48 des Sep.-Abdr.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Theorie der Lichtempfindungen.\n221\nVoraussetzungen: 1. dafs bei niedrigen Intensit\u00e4ten die Farbenprozesse, auch wenn sie eine spezifische Farbenempfindung nicht hervorrufen, nichts zu dem Helligkeitseindruck beitragen; 2. dafs die spektrale Verteilung des Weifsprozesses sich nicht mit der objektiven Intensit\u00e4t \u00e4ndert.1\nDer einzige Einwand, der, soviel ich voraussehe, gegen meine Theorie gemacht werden kann, besteht neben demjenigen, dafs Gelb nicht ganz wie eine Mischfarbe aussieht, darin, dafs das Dasein der angenommenen Molek\u00fcle nicht bewiesen ist. Ich mufs aber nochmals ausdr\u00fccklich erw\u00e4hnen, dafs sie nur als fingierte Molek\u00fcle gedacht sind, \u2014 d. h. nur als Bild von dem. was die wirklich existierenden Molek\u00fcle leisten m\u00fcssen \u2014 wenn der Netzhautprozefs \u00fcberhaupt ein chemischer ist, \u2014 und dafs die ihnen hier ferner zugeschriebenen Eigenschaften unwesentlich sind.\nBerlin, den 18. Juli 1892.\nAuf diesen Gegenstand beabsichtige icli sp\u00e4ter n\u00e4her einzugehen.","page":221}],"identifier":"lit15161","issued":"1893","language":"de","pages":"211-221","startpages":"211","title":"Eine neue Theorie der Lichtempfindungen","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:02:22.657826+00:00"}

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