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{"created":"2022-01-31T17:01:01.592918+00:00","id":"lit15195","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Liepmann","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 4: 389-392","fulltext":[{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n389\nA. Goldscheider, \u00dcber zentrale Sprach-, Schreib- und Lesest\u00f6rungen.\nVortr. gehalten in d. Hufelandges. Herl. Iclin. Wochenschr. 1892. No. 4,\n5, 6, 7, 8.\nVerfasser unternimmt es in seinem Vortrage, die aphasischen St\u00f6rungen im Gegens\u00e4tze zu Wernicke und Lichtheim ohne Annahme besonderer Sprachzentren zu erkl\u00e4ren. Er bekennt sich zu einem dem ERE\u00fcDschen (s. voriges Referat) verwandten Standpunkt unter Aufnahme und fruchtbarer Verwertung GRASHEYScher Anregungen. F\u00fcr G. sind, wie f\u00fcr Ffreud, alle Aphasien bedingt durch Assoziationsst\u00f6rungen. Freud hatte auf Grund einer Kritik der einzelnen gegnerischen Lehren \u00fcber die aphasischen St\u00f6rungen unter vorwiegender Ber\u00fccksichtigung der anatomischen Seite und der klinischen Beobachtungenden Grund zu dem Standpunkt gelegt. G oldscheider dagegen geht von einer psychologischen Analyse der normalen Sprachleistungen aus, st\u00f6fst dabei auf psychische Elemente, denen gegen\u00fcber die allgemeinen Voraussetzungen der Sprachzentrenlehre versagen und deren n\u00e4here Betrachtung seine abweichende Auffassung des Sprachapparates fordert. Die Analyse der normalen Funktion giebt ihm dann die Grundlage f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis der gest\u00f6rten. Demgem\u00e4fs gliedert sich sein Vortrag in zwei Teile, deren erster das normale, deren zweiter das pathologische Sprechen, Schreiben, Lesen behandelt.\nG. beginnt mit dem geh\u00f6rten Wort. Dasselbe besteht aus einer zeitlichen Folge vop Kl\u00e4ngen, von denen jeder einzelne selbst ein Aggregat von Empfindungen darstellt. Bei jedem Vokal m\u00fcssen schon mehrere Zellen angeregt werden, bei manchen Konsonanten (z. B. r) liegt auch noch die zeitliche Folge einer Mehrheit von Empfindungen vor. Da so die zeitliche Folge der Elemente wesentlich ist, schl\u00e4gt G. statt der \u00fcblichen Bezeichnung \u201eWortklangbild\u201c die treffendere \u201eWortlautfolge\u201c vor.\nDiese wird dem Ged\u00e4chtnis eingepr\u00e4gt. Letzteres bezieht sich auf die Empfindungen und auf ihre Aufeinanderfolge. Was die einzelnen Wortlautfolgen voneinander unterscheidet, sind wesentlich die verschiedenen zeitlichen Verkn\u00fcpfung der einfachen Laute. Hieraus geht hervor, dafs die Vorstellungen von einer \u201eDeponierung\u201c von Erinnerungsbildern verfehlt ist. Denn da die einfachen Laute immer an dieselben zentralen Elemente gebunden gedacht werden m\u00fcssen, so bezieht sich das Ged\u00e4chtnis auf die verschiedenartige folgeweise Verkn\u00fcpfung derselben Hirnelemente. W\u00e4re aber eine Reihe solcher Verkn\u00fcpfungen als vorr\u00e4tiger Besitz stabilisiert, so best\u00e4nde ja ein Hindernis f\u00fcr weitere neue Verkn\u00fcpfungen.\nInsbesondere verwirft G. die von Munk begr\u00fcndete Lehre, dafs Wahrnehmungen und Erinnerungen von verschiedenen Gehirnabschnitten Vs eherbergt w\u00fcrden. Er zeigt in h\u00f6chst scharfsinniger Weise, 1. dafs diese Annahme durch Munks Experimente nicht gefordert werde, 2. der Versuch sie auszudenken zu Absurdit\u00e4ten f\u00fchrt, dafs u. a., um das Ged\u00e4chtnis mittelst der \u201eErinnerungszellen\u201c zu erkl\u00e4ren, selbst wieder Ged\u00e4chtnis gebraucht werde. G. kommt daher zu der Ansicht, dafs die Erinnerungen ebendort lokalisiert sind, wo die Wahrnehmungen. Das.","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nLitteraturbericM.\nErinnerungsbild entsteht \u201edurch die Reproduktion der Anordnung der Wahrnehmungszellen, ohne den sinnlichen Inhalt, welcher die Erregungen dieser Zellen selbst begleitet.\u201c Das Ged\u00e4chtnis bezieht sich weniger auf die Th\u00e4tigkeit der Zellen selbst, als auf ihre Verbindungen. \u201eGerade in den Bahnen haben wir uns die supponierten Ver\u00e4nderungen vorzustellen.\u201c Bestimmteres \u00fcber diese Ver\u00e4nderungen auszusagen, h\u00e4lt G. f\u00fcr bedenklich, da didaktisch gelegentlich bequeme Wendungen, im Grunde nur Gleichnisse, leicht f\u00fcr das Wesen der Sache gehalten werden.\nFolgt die Beziehung der Wortlautfolge zum Objekt. W\u00e4hlt man ein optisches Objekt, so assoziiert sich die akustische Reihe mit einer optischen. Diese Assoziation ist wieder ein Ph\u00e4nomen des Ged\u00e4chtnisses. Wieder handelt es sich also um die Bahn. Auch hier ist es zur Zeit vergeblich, sich eine Vorstellung von der materiellen Einrichtung machen zu wollen, welc he erm\u00f6glicht, dafseine Zus t\u00e4 ndlich k e it der Seele eine andere hervorruft.\nMit der Wortlautfolge und dem Objektbild assoziiert sich weiterhin die Buchstaben folge. Der Buchstabe ist als Objekt anzusehen, welches optische und akustische Vertretung hat. Die Klangfolge einer Reihe Buchstaben ist nicht identisch mit dem Wortklang derselben Buchstabenfolge. Beim Wortelesen wird eine Reihe von optischen Objekten \u00fcberblickt, und diese Folge ruft eine damit assoziierte Folge von Lauten hervor. Auch f\u00fcr diesen Vorgang ist durch das blofse Vorhandensein von Bahnverbindungen nichts erkl\u00e4rt. Er fordert Ged\u00e4chtnis und Aufmerksamkeit.\nDasselbe gilt f\u00fcr die Ausl\u00f6sung des Begriffes. Der Begriff von den sinnlichen Objekten mufs durch Assoziation zwischen den einzelnen Sinnessph\u00e4ren zu st\u00e4nde kommend gedacht werden.\nDarauf geht G. zum gesprochenen Wort \u00fcber. Um einen Konsonanten oder Vokal auszusprechen, bedarf es einer Mehrheit gleichzeitiger und folgeweise ausgedehnter Impulse, welche ohne Innervationsempfindung einhergehen, aber eine gewisse Folge von Druck-, Spannungs-, Bewegungsempfindungen und die akustischen Eindr\u00fccke hervorrufen. So entsteht eine Verbindung der Impulsfolge mit der Artikulationsfolge und der akustischen Reihe. Dabei spielen die Artikulationsempfindungen eine wesentlichere Rolle als Regulatoren, als die akustischen, weil sie von Anfang an stetig die Lauthervorbringung begleiten.\nIn dem, was man gew\u00f6hnlich \u201eSprachbewegungsvorstellung\u201c nennt, ist also der eine Teil unbewufst, n\u00e4mlich die simultane und successive Ordnung der Impulse d. i. die Innervationsformel. \u2014 Analoge Verh\u00e4ltnisse zeigt das geschriebene Wort. G.s ceterum censeo ist auch hier wieder der Hinweis auf die Beteiligung der Assoziation, des Ged\u00e4chtnisses, der Aufmerksamkeit.\nNach dieser Analyse der normalen Mechanismen wendet sich Verfasser ihren zentral bedingten St\u00f6rungen zu.\nWenn es keine besonderen Bezirke f\u00fcr die Erinnerungsbilder giebt, so giebt es auch keine spezifischen Sprachzentren in diesem Sinne. Wenn es sich bei den Sprachfunktionen \u00fcberhaupt nicht um Erweckung fertig deponierter Erinnerungen handelt, sondern um Assoziationen zwischen","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n391\nElementen verschiedener Sinnes- und Bewegungsgebiete, so werden Be eintr\u00e4chtigungen dieser Funktionen in St\u00f6rungen der Assoz iations-vorg\u00e4nge begr\u00fcndet sein. Wie Seelentaubheit und Seelenblindheit, so sind auch alle Aphasien Produkte der St\u00f6rungen der Assoziationen zwischen den allgemeinen Zentren oder innerhalb eines solchen. Da die Assoziation leitender Bahnen bedarf, so wird es eine grofse Gruppe von Aphasien geben, welche durch Leitungsunterbrechung verursacht sind. Da aber die Bahnen nur conditio sine qua non f\u00fcr die Assoziation sind, deren Vorhandensein aber letztere durchaus nicht erkl\u00e4rt, da die Assoziation vielmehr die Intaktheit gewisser psychischer Funktionen, namentlich des Ged\u00e4chtnisses, eines materiell zur Zeit nicht fundierbaren Faktors, voraussetzt, so wird es eine zweite Gruppe von Aphasien gehen infolge von L\u00e4sionen, welche, ohne die Verbindung v\u00f6llig zu unterbrechen, ohne daher die Assoziationen g\u00e4nzlich aufzuheben, doch St\u00f6rungen derselben durch Ged\u00e4chnisst\u00f6rungen setzen.\nDie Aphasien der ersten Art durch Leitungsunterbrechung entwickelt G. an der Hand eines Schemas, welches ihm 14 verschiedene Symptomkomplexe, darunter die meisten der bekannten Bilder, liefert. Die kortikale sensorische Aphasie Wernickes entzieht sich der Erkl\u00e4rung durch Leitungsunterbrechung. Auf die originelle Auffassung, welche Verfasser von dieser Form entwickelt, sowie die Charakterisierung der \u00fcbrigen St\u00f6rungen k\u00f6nnen wir leider hier nicht eingehen und m\u00fcssen uns mit Hervorhebung der grunds\u00e4tzlichen Punkte begn\u00fcgen.\nAls Zentren sind nur die Sph\u00e4ren der heim Sprechen und Spracli-verstehen, Schreiben und Lesen gebrauchten Muskel- und Sinnes-Apparate einzutragen. \u201eSubkortikale\u201c Aphasien im Sinne Wernickes gieht es nicht. Unterhalb der Zentren haben wir es nur mit Empfindungs- und Bewegungsleitern zu thun.\nDie Denkvorg\u00e4nge spielen sich nicht im Bereich der wortbildenden Zentren ah. Vorl\u00e4ufig braucht man noch eigene \u201eBegriffskoordinationszentren.\u201c\nDer Weg, auf dem eine Assoziation erlernt ist, wird auch sp\u00e4ter beibehalten werden und darf daher im Schema nicht durch eine \u201ek\u00fcrzere\u201c Bahn ersetzt werden. So geht der Weg vom Begriffszentrum zum motorischen Zentrum der Sprachmuskeln \u00fcber das akustische Zentrum es wird \u00fcber die \u201eWortklangbilder\u201c gesprochen.\nWie gesagt, sind aber lange nicht alle Variationen der Aphasie aus Leitungsunterbrechung herzuleiten. Viele St\u00f6rungen sind durch Herabsetzung der seelischen Funktionen bei bestehender Bahn bedingt. Solche St\u00f6rungen werden namentlich hei anatomischen Ver\u00e4nderungen auftreten. So darf z. B. ein Erweichungsherd nicht nur als durch Bahnunterbrechung wirksam gedacht werden, kann vielmehr Ursache der erw\u00e4hnten Funktionsherahsetzungen sein. Die funk tionellen St\u00f6rungen stehen also keineswegs gegens\u00e4tzlich den organischen gegen\u00fcber. G. unterscheidet St\u00f6rungen der Assoziationen, welche A) die Aufmerksamkeit, B) das Ged\u00e4chtnis, C) das Assoziationsverm\u00f6gen selbst betreffen. Die Erscheinungen des Ged\u00e4chtnisses teilt er in 2 Kategorien : 1. die Andauer einer Vorstellung, 2. die F\u00e4higkeit eine fr\u00fcher gehabte","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nLitteraturbericht.\nwachzurufen, und zwar a) durch eine homologe Empfindung, b) durch Assoziation, c) durch Selbstbesinnung (Bastian). Er nimmt an, dafs jede Kategorie f\u00fcr sich gest\u00f6rt, und dafs a), b), c) in ungleichem Grade benachteiligt sein k\u00f6nnen. Ebenso wird die successive Assoziation leichter gest\u00f6rt sein als die simultane. Verfasser betrachtet nun die Folgen, welche St\u00f6rungen dieser einzelnen psychischen Funktionen f\u00fcr das Sprachverm\u00f6gen geben m\u00fcssen, und zeigt, dafs sich so eine grofse Mannigfaltigkeit aphasischer St\u00f6rungen erkl\u00e4ren lasse. Meist kombinieren sich diese St\u00f6rungen mit den Folgen der Leitungsunterbrechung, indem eine L\u00e4sion einerseits eine Beihe von Bahnen g\u00e4nzlich unterbricht, andererseits in den erhaltenen benachbarten Bahnen Funktionsherabsetzung bewirkt. Auf die einzelnen Ableitungen bekannter Symptomkomplexe aus Beeintr\u00e4chtigungen der seelischen Funktion \u2014 entsprechend deren besprochenem Anteil an dem normalen Sprachvollzug \u2014 kann leider im Bahmen dieses Beferates nicht eingegangen werden.\nAls prinzipiell wichtigstes Ergebnis f\u00fcr den Psychologen ist es anzusehen, dafs G. die Selbstt\u00e4uschung enth\u00fcllt hat, der man sich hingiebt, wenn man durch Deponierung von Erinnerungen in Zellkomplexen glaubt f\u00fcr das Ged\u00e4chtnis einen materiellen Apparat gewonnen zu haben, dessen grob lokalisierte Sch\u00e4digungen s\u00e4mtliche pathologische Modifikationen jenes seelischen Ph\u00e4nomens herleiten liefsen, so dafs man nun das Ged\u00e4chtnis als psychischen Faktor gewissermafsen losgeworden sei und einfach mit zerst\u00f6rten Zellen und abgebrochenen Verbindungen operieren k\u00f6nne. Dem gegen\u00fcber zeigt G., dafs zur Zeit das Ged\u00e4chtnisph\u00e4nomen als nicht weiter reduzierbarer und nicht zu entbehrender psychischer Faktor in der Betrachtung der normalen wie gest\u00f6rten Sprachleistungen seinen Platz behalten m\u00fcsse.\nMit der Hervorhebung dieses einen Punktes soll nat\u00fcrlich nicht ausgeschlossen werden, dafs der Psychologe noch sehr viel anderen Gewinn aus des Verfassers lichtvoller Arbeit werde ziehen k\u00f6nnen.\nLiepmann (Berlin).\nA. Pick. \u00dcber die sogenannte Re-Evolution (Hughlings-Jackson) nach epileptischen Anf\u00e4llen nebst Bemerkungen \u00fcber transitorische Wort-taubheit. Arch. f. Psychiatr. XXII., 3. (25 S.)\nP. giebt einen ausf\u00fchrlichen Bericht \u00fcber die Wiederherstellung der psychischen Funktionen (Be-Evolution) bei einem Epileptiker nach den Anf\u00e4llen, wie sie durch genaues Examen in einer gr\u00f6fseren Anzahl solcher ziemlich gleichm\u00e4fsig festgestellt wurde. Der Fall erinnert an einen von demselben Autor fr\u00fcher beschriebenen ( Jahrb. f. Psychatr. VIII).\nEr unterscheidet sich von der Mehrheit der beobachteten durch die starke Beteiligung sensorischer St\u00f6rungen: Worttaubheit und Gesichtsfeldeinschr\u00e4nkung.\nP. konnte, wie im fr\u00fcheren Falle, mit ziemlicher Regelm\u00e4fsigkeit die Aufeinanderfolge dreier Stadien der Worttaubheit beobachten: Zun\u00e4chst fehlte jedes Sprachverst\u00e4ndnis (von P. als v\u00f6llige Ersch\u00f6pfung von Lichtheims Klangbildzentrum gedeutet) dann wurden die Worte perzipiert und automatisch wiederholt (Echolalie), ohne begriffen zu","page":392}],"identifier":"lit15195","issued":"1893","language":"de","pages":"389-392","startpages":"389","title":"A. Goldscheider: \u00dcber zentrale Sprach-, Schreib- und Lesest\u00f6rungen, Vortrag gehalten in der Hufelandgesellschaft. Berl. klin. Wochenschr., 1892","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:01:01.592923+00:00"}