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{"created":"2022-01-31T16:35:09.789720+00:00","id":"lit15197","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"T\u00f6nnies, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 4: 393-400","fulltext":[{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n393\nwerden (entsprechend einer funktionellen Sch\u00e4digung der Bahn zu L.s Begriffszentrum) ; im dritten Stadium endlich wurden sie nicht mehr automatisch, sondern in Frageform wiederholt, also zwar nicht begriffen, aber als Worte aufgefafst (\u201eFunktionsherabsetzung des Begriffszentrums\u201c).\nIndes zeigte sich vielmals kein stetig aufsteigender G-ang, sondern ein Schwanken, so dafs P. die Hypothese einer wellenf\u00f6rmig verlaufenden Be-Evolution in Erw\u00e4gung zieht.\nDas Zahlenverst\u00e4ndnis zeigte sich bei sonst noch vorhandener Asymbolie auffallend gut erhalten.\nDie gleichzeitig mit R\u00fcckkehr des Sprachverst\u00e4ndnisses eintretende Wiederherstellung des Gesichtsfeldes zur Norm (\u201eBe-Evolution der Funktionen des Hinterhauptslappens\u201c) belegt P. durch eine Anzahl von Gesichtsfeldaufnahmen.\nP. sieht das Hauptergebnis seiner Beobachtungen in der Sicherung der These, dafs die Be-Evolution in regelm\u00e4fsiger Weise verl\u00e4uft.\nLiepmann.\nGeorg Simmel. Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. In 2 B\u00e4nden. Erster Band. Berlin, Hertz, 1892. 467 S. M. 9.\u2014.\nDie Absicht geht dahin, den h\u00f6chst komplizierten und vielseitigen Charakter der ethischen Grundbegriffe und ferner den \u201eBegriffsrealismus\u201c, mit dem man sie aus nachtr\u00e4glichen Abstraktionen zu wirkenden psychischen Kr\u00e4ften gemacht habe, aufzuzeigen; darzuthun, dafs die Unsicherheit in Sinn und Begrenzung dieser Begriffe ihre Verkn\u00fcpfung zu ganz entgegengesetzten und scheinbar gleich beweisbaren Prinzipien gestatte; endlich auf die Schichtung belastender und entlastender Momente hinzuweisen, die eine einzelne That in der Verzweigtheit ihrer psychologischen Vorbedingungen ebenso wie in der ihrer sozialen Folgen finde. \u2014 Diese Bestimmungen scheinen sich auf das ganze Werk zu beziehen, m\u00fcssen aber insgesamt auch schon in diesem ersten Bande gesucht werden. Vier Kapitel liegen-vor: I. \u201eDas Sollen\u201c ist eine Kategorie, die, zu der sachlichen Bedeutung der Vorstellung hinzutretend, ihr eine bestimmte Stelle f\u00fcr die Praxis anweist, wie sie eine solche auch durch die Begleitvorstellung des Seins, des Nichtseins, des Gewolltwerdens u. s. w. erh\u00e4lt (8); es giebt keine Definition des Sollens ; es ist ein Denkmodus wie das Futurum und das Pr\u00e4teritum, oder wie der Konjunktiv und der Optativ ; durch die Form des Imperativs hat die Sprache diesem Verhalten Ausdruck gegeben (9). Das Sollen ist unerkl\u00e4rlich, es ist immer nur aus einem anderen ableitbar, es ist mit dem Begriff des Sittlichen identisch, die Frage daher sinnlos, weshalb wir sittlich sein sollen (16). Dem praktischen Moral-bewufstsein reifst die Kette der Gr\u00fcnde noch fr\u00fcher ab; die Unerkl\u00e4rtheit tr\u00e4gt zur W\u00fcrde und psychologischen Kraft des Sollens erheblich bei (18). Verstehen k\u00f6nnten wir es nur auf Grund egoistischer Motive ; auch dies Verstehen ist aber nur ein scheinbares; w\u00e4re Altruismus die Begel, so w\u00fcrde Egoismus aus ihm erkl\u00e4rt werden oder unergr\u00fcndlich scheinen.","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nLitteraturberichl.\nDas Sollen bedeutet daher vielleicht nur die gef\u00fchlten Triebe in uns, die nicht auf Egoismus zur\u00fcckf\u00fchrbar sind (30), daher die Empfindung auch auf Grund blofser Gewohnheiten nicht-sozialer Natur eintritt. Kein Thun kann sich der Beurteilung an einem Sollen entziehen (35) ; die Vorstellung ist irrig, das sittliche Sollen m\u00fcsse eine Einschr\u00e4nkung zu Gunsten anderer Forderungen erfahren (42) ; dafs das Sollen ein absolutes ist, ist ein identischer Satz (44). Viele Moralprinzipien sind tautologisch, denn das h\u00f6chste Sollen ist an und f\u00fcr sich inhaltlos (53). Seinen Ursprung nimmt das Sollen sehr oft aus einem M\u00fcssen, das seinerseits immer ein zweckm\u00e4fsiges Wollen ist (57). Der Wille pafst sich an das M\u00fcssen derart an, dafs der Zwang \u00fcberfl\u00fcssig wird (58); f\u00fcr die menschliche Natur geht allm\u00e4hlich Macht in \u00dfecht, d. h. M\u00fcssen in Sollen \u00fcber (60), und wenn jenes schon fast immer, so ist dieses vollends eigentlich ein Wollen; wo eine Diskrepanz vorliegt, da bezeichnet das Sollen in der Kegel wohl den Willen der Gattung etc., der doch zugleich unser eigner ist. Auch der Zwang, der von \u00e4ufseren Verh\u00e4ltnissen ausgeht, verinnerlicht sich h\u00e4ufig zur Pflicht (63). In der Sitte zieht das Sollen seinen Inhalt durchaus aus dem Sein, und auch sonst gilt im allgemeinen das Gute als das Selbstverst\u00e4ndliche (65. 75). Das Verh\u00e4ltnis ist aber auch oft das umgekehrte; das Ideal entspricht der Variabilit\u00e4t, wie die Geltung des \u00dcberlieferten der Vererbung (83). \u2014 II. \u201eEgoismus und Altruismus.\u201c Ist jener der ,nat\u00fcrlichere' Trieb? er ist weiter verbreitet; in Wahrheit freilich ist es weit schwieriger, als es scheint, das quantitative Verh\u00e4ltnis festzustellen. Immerhin beh\u00e4lt das Egoismus-Prinzip den Vorzug des rational Einleuchtenden (91)... Sodann ist der Egoismus, nach allgemeiner Annahme, zeitlich fr\u00fcher. Auch dar\u00fcber kann gestritten werden, jedenfalls ist aber das Fr\u00fchere nicht ,nat\u00fcrlicher\u201c (94). Der vorgeblich nat\u00fcrliche Charakter des Egoismus hat seine Beurteilung zum Teil in entgegengesetzter Weise bestimmt, wreil eben das Nat\u00fcrliche bald schlecht, bald gut erscheint (95 if.). Wenn Sittlichkeit auf ,Vernunft, zur\u00fcckgef\u00fchrt wird, so ist auch dies nur ein anderer Ausdruck f\u00fcr ihre Wertsch\u00e4tzung; an und f\u00fcr sich ist nicht einzusehen, wieso ein egoistisches Leben unvern\u00fcnftiger sei, als ein sittliches (101). So gilt denn auch bald die Sinnlichkeit als Gegenstand der Selbstsucht, bald ihr Gegenteil als das eigentliche Ich (103). W\u00e4re der Egoismus die einfachste Erkl\u00e4rung des Handelns, so w\u00e4re er darum nicht die richtige (106). Auch ist ihm die DARwiNsche Lehre nicht ohne weiteres g\u00fcnstig. Sobald eine gesellschaftliche Gruppe als Einheit wirkt, so ist der Individualegoismus als alleiniges Vehikel der Kassenmischung enttront (113). \u00dcbrigens w\u00fcrde aber die Annahme des Egoismus als letzten ethischen Prinzips der Unterst\u00fctzung durch den Beweis, dafs er das geeignetste Mittel f\u00fcr die Wohlfahrt der Gesamtheit sei, nicht bed\u00fcrfen (119). Das Sollen in den Egoismus zu verlegen, ist Sache starker, das Umgekehrte schw\u00e4chlicher Naturen (124). Der Altruismus l\u00e4fst einen entsprechenden Unterschied zu (125). Auch der praktische Solipsismus w\u00fcrde den Wertunterschied von Handlungen gar nicht ber\u00fchren; ebensowenig die Umkehrung: Alleinheitslehre (129). Unklarheit umgiebt den Begriff des Ich, mithin auch den des Egoisten und ebenso ist das Moralprinzip leer, dafs man den ,Menschen\u201c immer","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n395\nzugleich als Zweck betrachten solle (134 f.). Auch der Gegensatz zur Sittlichkeit ergiebt keinen Inhalt f\u00fcr den Egoismus: wir thun vieles rein Sittliche in Bezug auf andere, wovon wir entschieden nicht m\u00f6chten, dafs es uns geschehe. Das sonst durchf\u00fchrbare Moralprinzip: Erf\u00fcllung eines Maximums von Willen \u00fcberhaupt, w\u00fcrde durch den Pessimismus aufgehoben werden (145). \u2014 Indem das Gewollte Mittel zum Zweck wird, schl\u00e4gt Egoismus in Altruismus um; derselbe Vorgang entspringt aus der Beurteilung anderer, die sich in uns reflektiert (148). Das \u201esachliche Interesse\u201c kann \u00fcber das egoistische wie \u00fcber das altruistische gleich-m\u00e4fsig hinausf\u00fchren (152). So giebt es unz\u00e4hlige F\u00e4lle der Mischung und des \u00dcberganges zwischen beiden; die einzelne That beruht im Ganzen der Pers\u00f6nlichkeit (157). Der engere soziale Kreis ist sowohl Objekt meines Altruismus wie meines Egoismus (162). Die vielen Teile des Ich in ihrem Verh\u00e4ltnisse zu ihm sind h\u00f6chst mannigfach, wor\u00fcber die Gleichheit des Possessivpronomens leicht hinwegt\u00e4uscht (171). \u2014 Grad sittlicher Kultur: das Mafs, in dem die \u00e4ufseren Verpflichtungen die psychologische Form einer Pflicht gegen uns selbst annehmen (175). Der Egoist ist eine sittliche Gemeinschaft im Kleinen (180). Demnach wird die Pflicht gegen uns selbst immer nur als sachlicher oder psychologischer Umweg der Pflicht gegen die Gesamtheit erscheinen (182). Dies gilt von der Selbsterhaltung, weshalb auch das Verbot des Selbstmordes kein absolutes sein darf (1S7); gilt von der Ehre: der Ehrenkodex ist eine zweckm\u00e4fsige Erg\u00e4nzung des Kriminalkodex (192). In einem engern Sinne wird die Ehre genommen in Bezug auf die Frau; aber Verlust der ,weiblichen1 Ehre gilt als Verlust der Ehre dieses Weibes schlechthin. Dies hat z. T. nur Grund in der Wortgleichheit, aber doch auch in der Thatsache, dafs das Wesen der Frau viel einheitlicher ist als das des Mannes (197 f.). In Wahrheit sind sogar die Gr\u00fcnde f\u00fcr das Urteil \u00fcber Prostitution sehr mannigfacher Natur (208). \u2014 III. \u201eSittliches Verdienst und sittliche Schuld.\u201c Verdienst setzt Kampf gegen die Versuchung voraus (215). Aufopferung entspringt nicht nur aus Liebe, sondern bringt auch Liebe hervor (219). Was nur Mittel war, gewinnt dann selbst\u00e4ndigen Wert : so in der Askese Schmerz und \u00dcberwindung (222 ff.). Dafs aber umgekehrt gerade die leicht vollbrachte Sittlichkeit h\u00f6her gesch\u00e4tzt wird, ist der Bewunderung vergleichbar, die ein Virtuose erregt : die M\u00fchen liegen hinter ihm. Auch beruht es auf sozialer Prophylaxis (230). Die Sch\u00e4tzung der Gesinnung mufs auf diejenige der einzelnen Thaten zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, obgleich historisch eine v\u00f6llige Verschiebung stattgefunden hat, die als Begriffsrealismus sich darstellt (233 f.).\n1\u2014 Wie k\u00f6nnen ,Gef\u00fchle1 sittlich gefordert werden? Weil sie von Thaten die Folgen sind, ebenso wie Thaten selber (238). Gew\u00f6hnlich identifizieren wir das eigentliche Ich mit dem guten Prinzip, und entschuldigen sein Unterliegen . durch die , St\u00e4rke der ,Versuchung\u201c (246). Diese aber ist schon ein eigener Anfang der That selber, hat also Anteil an der Schuld (247); wie die Verdienstlichkeit da beginnt, wo \u00fcberhaupt \u00dcberwindung unsittlicher Triebfedern durch sittliche festzustellen ist (259). Nicht jede Pflichterf\u00fcllung enth\u00e4lt Verdienst, aber jede Pflichtvergessenheit Schuld; der Umstand aber, dafs diese Bewufstsein der Verpflichtung","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nLitteraturbericht.\nvoraussetzt, stellt den Parallelism wieder her (260 ff A Wie Versuchung als Schuld, so sind die guten Antriebe, wenn auch der Ungehorsam gegen sie die Schuld erh\u00f6ht, doch als Verdienst zu sch\u00e4tzen ; die zuzurechnende Sittlichkeit ist ein Prozefs (268). Drei typische Erkenntnis-fehler hat der Begriff des Charakters ; als Urgrund psychischer Erscheinungen gedacht, ist er eine blofse Illusion (275). Obgleich das Bewufstsein oft in einem unklaren Zwischenzustande zwischen Verdienst und Schuld bleibt (280), so ist doch der Mensch als Charakter nur eine Summe von Handlungen (282). Auch der Gedanke, dafs die Sittlichkeit in uns als Ganzes mit der Unsittlichkeit in uns k\u00e4mpfe, ist nur ein abstrakter und bildlicher Ausdruck (285). - Der Begriff Freiheit steht in einem Descendenzverh\u00e4ltnis zu Verdienst und Schuld (286). Es handelt sich um Befreiung von feindlichen Motiven \u00fcberhaupt, darum ist Freiheit nicht identisch mit Sittlichkeit (289 ff.). \u2014 IV. \u201eDie Gl\u00fcckseligkeit,\u201c Der Satz, dafs Gl\u00fccksmehrung das wirkliche Motiv alles Handelns sei, ist vom ethischen Eud\u00e4monismus zu unterscheiden (296). Der ,thats\u00e4chliche\u2018 Eud\u00e4monismus besitzt nicht absolute Herrschaft, sondern nur einen relativen Bezirk, indem er einen durch die psychologischen Verh\u00e4ltnisse n\u00e4her r\u00fcckenden Endpunkt der Entwickelung unseres Handelns bedeutet (311). Auch wenn im anderen Sinne richtig, k\u00e4me er nur darauf hinaus, die aus Erfahrung erkannten Ziele als Gl\u00fcck zu bezeichnen (312). Ethischer Eud\u00e4monismus ist wiederum zu unterscheiden, ob er behauptet wird als Prinzip der wirklichen Moral, wof\u00fcr kein Beweis erbringbar ist (316), oder der idealen Moral. Diese kann nur hypothetische Imperative, keine absoluten, die dem Wollen angeh\u00f6ren, aufstellen (323). Das utilitarisclie Prinzip hat seine Bedenken hinsichtlich der Qualit\u00e4t wie der Verteilung des Gl\u00fcckes (325 ff.). Sie k\u00f6nnen sich beeintr\u00e4chtigen ; m\u00f6glich ist sogar, dafs die gr\u00f6fsere Summe zunehmende Ungleichm\u00e4fsigkeit voraussetze (334). Ausgleichung der Gl\u00fcckslagen w\u00fcrde gegen Gl\u00fcck \u00fcberhaupt abstumpfen, daher Sozialismus nur als regulatives Prinzip anerkennbar ist (341). Nur mit einem pessimistischen (negativen) Eud\u00e4monismus l\u00e4fst er als absolutes Ideal sich vereinigen (343). \u00dcbrigens steht die Antinomie zwischen Gleichheit und Empf\u00e4nglichkeit dem Erfolge jeder Verteilung der G\u00fcter entgegen (345). Ferner f\u00e4llt die psychologische Thatsache gegen jede Berechnung einer eud\u00e4monistischen Summe schwer ins Gewicht: dafs auch die absolute Gr\u00f6fse ihrer Faktoren einen wirklichen Wert des Lebens ausmacht (362). Hierauf beruht das Ideal der Differenzierung, des Individualismus, Aristokratismus, des Kulturfortschritts, das der Gleichheit und dem Sozialismus sich entgegenstellt (365). Zwischen und \u00fcber beide l\u00e4fst eine denkbare Kontinuit\u00e4t der Gl\u00fcckslagen sich stellen, obgleich auch dieses Ideal formale und materielle (Negierung parteilicher Gegens\u00e4tze \u00fcberhaupt) Schwierigkeiten hat (371). \u2014 Viel l\u00e4fst sich geltend machen f\u00fcr ein Moralprinzip der gr\u00f6fstm\u00f6glichen ,Th\u00e4tigkeit\u2018, das nur in scheinbarem Widerspruch steht mit dem Trachten nach Kraftersparnis, welcher insbesondere das Denken dient (37 6) ; sie ist auch Mittel der Gattungsentwickelung (378), welche doch zugleich Th\u00e4tigkeit vermehrt (382). Die Begriffe Th\u00e4tigkeitssteigerung und Sittlichkeit stehen in einer notwendigen Verbindung (385). Dies rechtfertigt auch den Wert der f\u00fcr","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturberich t.\n397\ndie absolute Schwingungsweite zwischen Schmerz und Lust angesetzt wurde (388). Der Eud\u00e4monismus kann auch die Frage nicht umgehen: oh Gl\u00fcck gegen den Willen des Begl\u00fcckten zu f\u00f6rdern sei? wie in Bezug auf Kinder geschieht (389). Zuletzt wird sich aber Gl\u00fcck immer als subjektiv bedingt erweisen, so dafs eine leere Formel (Wolle was der andere will) \u00fcbrig bliebe (391). \u2014 Unabweisliche Forderung: dafs Tugend und Gl\u00fcck vereinigt seien (ib.). In Bezug auf ihre Umkehrung die fortschreitende Objektivierung: Abwehr \u2014 Bachetrieb \u2014 Wunsch der Vergeltung (393). Sie selbst beruht hingegen sowohl auf thats\u00e4chliclier Folge von Vorteil auf Tugend, als auf der nat\u00fcrlichen Erscheinung, dafs der Gl\u00fcckliche, Bewunderte auch sittliches Vorbild wird (395). Das Mafs der Vergeltung ist in beiden F\u00e4llen schwierig (397 ff.). In Bezug auf die wirkliche Korrespondenz sind sechs Thesen m\u00f6glich : 1) Identit\u00e4t (400) \u2014 metaphysisch denkbar, am ehesten in engen sozialen Kreisen verwirklicht (402). 2) Tugend Ursache. In einigem Mafse wahr dadurch, dafs Vorstellungen die Wirklichkeit selbst umgestalten (404 f.). Die Kausalit\u00e4t insbesondere vermittelt durch das Gewissen \u2014 d.i. die Gattungserfahrung (408). Jedoch das Mafs der Wirkung eher im umgekehrten Verh\u00e4ltnis zur ethischen Qualit\u00e4t der Person (410 ff.). \u00c4ufseres Gl\u00fcck folgt oft der Unsittlichkeit, jedoch immer auf Grund der Seltenheit dieser Unsittlichkeit (415). Immerhin bleibt eine weite Inkongruenz zwischen Legalit\u00e4t und Moralit\u00e4t zu Gunsten des Gewissenlosen (ib. f.). Ebenso \u00fcbel ist die Disproportionalit\u00e4t zwischen positiver, insbesondere wirtschaftlicher Leistung und Lohn (417 ff.).\t3) Gl\u00fcck Ursache \u2014 relativ\nrichtig (425), doch auch das Gegenteil : Gl\u00fcck macht hart (429). 4) Negative Kausalit\u00e4t \u2014 diese Meinung beruht auf Wortpessimismus, auf unzul\u00e4ssigen Verallgemeinerungen oder auf Irrt\u00fcmern (430 ff.).\t5) Beide\nberuhen in gemeinsamer Ursache, a) der Sch\u00f6nheit (434), wof\u00fcr wiederum die Empfindung aus Gattungserfahrungen des Zweckm\u00e4fsigen verstanden werden mufs (437 f.). Jedoch auch hier Diskrepanzen: das Gef\u00fchl ist konservativer als der Verstand (441), daher auch die \u00e4sthetische Empfindung mit ihm in Konflikt ger\u00e4t (442). Obgleich aber z. B. der \u00e4sthetische Widerstand gegen den Sozialismus stark ist, so kann doch auch \u00e4sthetische Empfindung (des Massenelends) ihn f\u00f6rdern (443 f.); h) der Beligion \u2014 es giebt eine tiefe Analogie zwischen dem Verhalten zur Allgemeinheit und dem zu Gott (445). Aber die Selbst\u00e4ndigkeit der religi\u00f6sen Normen enth\u00e4lt grofse Gefahren (448 f.). Es ist dann allein konsequent, die Sittlichkeit nur aus der Beligion zu sch\u00f6pfen (454). Der sittliche Wille ist aber wie jeder an Logik nicht gebunden (456); diese Autonomie mufs denn auch dem g\u00f6ttlichen gelassen werden (457). Das religi\u00f6se Moralprinzip macht das eigene Heil zur Pflicht (458), wobei ein grofser Vorzug die Konkurrenzlosigkeit solches Strebens (461). Darnach bleibt das Verh\u00e4ltnis zwischen Beligion und Gl\u00fcck ein zuf\u00e4lliges (463). Erst dazwischenstehende psychologische Verh\u00e4ltnisse bedingen ihren eud\u00e4monistischen Wert (465). 6) In Wahrheit giebt es keine konstante Kausalit\u00e4t dieser Art; es treten zu viele variable Gr\u00f6fsen hinein (466). Die beiden Begriffe sind zu umfassend, nach Inhalt und Umfang zu unbestimmt (ib.).\nSoweit der Inhalt dieses Bandes. Wir haben es mit einigen be-","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nUtteraturbericht.\ngrifflichen, aber vorzugsweise mit psych olo gisch en Analysen zu thun, von denen die meisten durch Sorgfalt, Sch\u00e4rfe, Lebhaftigkeit ausgezeichnet sind. Von den vielen zutreffenden und bemerkenswerten Gedanken, die in einzelnen auftreten, konnte hier kaum eine Vorstellung gegeben werden. Wir m\u00fcssen uns an die Grundz\u00fcge halten. Was nun einer daran und an der Methode des Verfassers sch\u00e4tzen m\u00f6ge, wird davon abh\u00e4ngen, wie er selber etwa \u00fcber diese und \u00e4hnliche Gegenst\u00e4nde gedacht hat, zu denken gewohnt ist, und wieviel er folglich sich davon assimilieren kann; in welcher Hinsicht ich mich pers\u00f6nlich als nicht wohl vorbereitet bekennen mufs. Weder an den Begriffen des Sollens, noch an Egoismus und Altruismus ist mir anders gelegen, als dafs sie, geh\u00f6rig definiert, f\u00fcr Wissenschaft von Thatsachen fruchtbar gemacht werden. Und diese Behandlung als m\u00f6glicher Elemente eines begrifflichen Systems mufs strenger, wie ich meine, als hier geschehen, von jeder Untersuchung ihrer wirklichen Geltung, sei es in popul\u00e4rem oder litterarischem Sprachgebrauch, wie auch ihres psychologischen Ursprunges und Inhaltes unterschieden werden. Der Verfasser nennt sein Verfahren ein teilweise spekulatives (pag. IV). Dies ist eine gef\u00e4hrliche Bezeichnung. Die Er\u00f6rterungen \u00fcber das Sollen und mehrere in den anderen Kapiteln scheinen mir allerdings zu jenen Spekulationen zu geh\u00f6ren, die zwar dem, der sie denkt oder mitdenkt, f\u00f6rderlich sein m\u00f6gen, f\u00fcr die Erkenntnis der wahren Zusammenh\u00e4nge aber so wenig Gutes bedeuten, wie die Spekulationen der B\u00f6rse f\u00fcr den Volkswohlstand. Ja, wenn es sich um Definitionen handelte, und der Verfasser erkl\u00e4rte, ein so vieldeutiges Wort nur in einem bestimmt umschriebenen Sinne anwenden zu wollen. Dergleichen l\u00e4fst aber nichts aus diesen Subtilit\u00e4ten sich herausklauben.\nDie Begriffe ,Verdienst1 und ,Schuld' scheint mir der Verfasser trotz seiner kritischen Akribie ziemlich unbesehen aufzunehmen, und gerade hier, wo seine Argumentationen vielleicht am gewandtesten sich bewegen, scheinen sie mir auf den schw\u00e4chsten F\u00fcfsen zu stehen. Eine Untersuchung des Thatbestandes, wie \u00fcber V erdienst und Schuld gedacht worden ist, gedacht zu werden pflegt, und warum so, w\u00fcrde ich als belangreich annehmen und begleiten. Dazu sind aber nur einige Ans\u00e4tze vorhanden. Bei rein wissenschaftlicher Ansicht der menschlichen Handlungen selbst kann ich diesen Begriffen keine G\u00fcltigkeit belassen. Der Mensch ist nicht verantwortlich, sondern er wird verantwortlich gemacht, und dieses Machen ist nicht des Philosophen Sache; Verdienst wird ihm ,beigemessen1, Schuld wird ihm ,gegeben1, seine Thaten werden ihm ,zugerechnet1 \u2014 das alles leiste, wer zum Richter berufen ist oder dazu sich berufen f\u00fchlt. \u2014 Wissenschaftliche Psychologie und Ethik hat hingegen zwar alle Ursache, die Einheit des Menschen zu behaupten, daher den einzelnen Menschen als Urheber seiner Handlungen, mit gr\u00f6fserer oder geringerer Klarheit Wissenden und Wollenden zu betrachten. Wie man aber das Ich aufl\u00f6sen und zugleich von Verdienst und Schuld als von Thatsachen sprechen kann, verstehe ich nicht; und dies thut der Verfasser, wie mir scheint. Verdienst setzt nach ihm Versuchung voraus, die Schuld bedeutet; Schuld Versuchung zum Guten","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturberieht.\n399\ndie ein sittliches Verdienst sein soll. Ob dies logisch sei, stehe dahin. Dafs aber damit objektiv mehr gesagt wird als : im einen Falle ist der ,gute\u2018, im anderen der ,schlechte1 Antrieb st\u00e4rker, mufs ich leugnen. Und warum der gute besser, der schlechte schlechter werde durch den Kontrast des besiegten Gegners, gewahre ich nicht, wenn auch ein solcher Schein die Wirkung jedes Kontrastes ist. Und in der That w\u00fcrde ein Motiv wie jede Kraft nicht besser gemessen werden k\u00f6nnen, als an dem Widerstande, den es \u00fcberwindet, wenn es nur \u00fcberhaupt mefsbar w\u00e4re. In grober Weise ausgef\u00fchrt, liegen solche Messungen den t\u00e4glichen Urteilen und auch gerichtlichen Urteilen zu Grunde, hier ist aber keineswegs blofs Bezwingung eines schlechten1 Motivs, was die G\u00fcte sichtbar macht, sondern irgendwelchen Motivs. Ebenso die Schlechtigkeit. Wenn Wollust siegt \u00fcber Furcht vor Strafe, so ist diese darum kein guter Antrieb, geschweige denn verdienstlich. Was wir lieben, wenn wir es erkennen, ist die G\u00fcte als solche und andere gute Eigenschaften, wozu auch die Willensst\u00e4rke gez\u00e4hlt wird, zumal wenn sie in der Herrschaft \u00fcber b\u00f6se Begierden sich beth\u00e4tigt; w\u00e4hrend sie auch bei Schurken \u201ebewunderungsw\u00fcrdig\u201c sein mag. So ist, was wir hassen, die Bosheit als solche und andere schlimme Eigenschaften, wozu auch die Willensschw\u00e4che geh\u00f6ren mag, zumal wenn sie in der Ohnmacht gegen eigene lasterhafte Neigungen und Gewohnheiten offenbar wird, w\u00e4hrend sie auch bei Guten bemerkt und bedauert werden kann. Der wissenschaftliche Moralist mag ja, wie andere Leute auch, die guten Eigenschaften, Grunds\u00e4tze und was weifs ich, aufser dafs er sie darstellt und erkl\u00e4rt, auch loben und preisen und sie in die Form von Geboten bringen (du sollst etc.) ; er mag zumal und folglich die damit angethanen und gut handelnden Menschen durch seinen Beifall auszeichnen \u2014 die B\u00f6sen tadeln, verdammen u. s. w. Nur t\u00e4usche er sich nicht, dafs er hiermit aus der Bolle des Theoretikers herausf\u00e4llt und wie in einer Parabase seine Zuh\u00f6rer anredet. Niemals und nirgends aber kommt es vor, aufser in \u00fcberspannten religi\u00f6sen Darstellungen und in der hier vorliegenden moralphilosophischen Spekulation, dafs Verdienst und Schuld in guten und b\u00f6sen Antrieben gefunden wird, sondern beide Begriffe werden auf ein am liebsten qualit\u00e4tlos gedachtes Ich bezogen, das die Schuld auf sich geladen, das Verdienst sich erworben habe. Lob und Tadel, Lohn und Strafe sehen ab von der Verursachung (besonders freilich die negativen \u00c4ufserungen) ; erst infolge davon wird sie in der freien Willens-Doktrin geleugnet, was allerdings notwendig ist, um diejenige Begr\u00fcndung (von Lob, Tadel etc.) zu retten, welche diese unvermeidliche Praxis fordert; da sie n\u00e4mlich sich an das Subjekt halten und bei ihm verweilen will, um etwas an ihm zu thun \u2014 und das Thun verschlingt immer die Betrachtung. Die eigentliche kritische Frage dagegen ist nicht, ob man ein relativ qualit\u00e4tloses Ich gelten l\u00e4fst, sondern ob dieses Ich eine unendliche und eben darum bei allen gleiche Kraft enthalte (was gemeint wird, ob es gleich unausdenkbar ist) und ob die gr\u00f6fsere Kraft sich aus sich selbst erzeugt oder wie alle Kr\u00e4fte ihr Mehr von einer anderen Kraft bezieht. Wenn man dies bejaht, jenes verneint, so kann man das denkende, vern\u00fcnftige Ich wohl gelten lassen und wird es in richtigem Verst\u00e4nde gelten lassen m\u00fcssen, aber sofern man","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\ni\u00c0ttera turbericht.\nseiner Theorie Einflufs auf seine Praxis gew\u00e4hrt, so wird man diese von Grund aus ver\u00e4ndern m\u00fcssen. Man wird seinem Lobe und Tadel, Belohnungen und Strafen zweckm\u00e4fsigere und edlere Gestalt verleihen, indem man sie der Idee der H\u00fclfe unterordnet, mithin den Zorn und die Bewunderung daraus verbannt, hingegen mit aller Leidenschaft, ja meinethalben mit schonungslosem Hasse die Ursachen der \u00dcbel auszurotten, mit Begeisterung die Ursachen des Guten zu hegen und zu f\u00f6rdern beflissen ist. Dieser Zorn kann auch Menschen treffen, er ist aber an die Voraussetzung der Verantwortlichkeit nicht mehr gebunden, er braucht diese Ehre so- wenig den schlauesten Schuften als Deliranten zu gew\u00e4hren, sondern vertilgt das Unkraut, weil es Unkraut ist und das Wachstum des Weizens hemmt. Hier wird nicht mehr gestraft, weil einer freiwillig gefehlt hat und man meint, dafs er seinen Willen anders h\u00e4tte bestimmen k\u00f6nnen und sollen, sondern es wird einer unsch\u00e4dlich gemacht, weil er eben nicht anders konnte und nicht anders kann, als sch\u00e4dlich sein und Unheil anrichten. \u2014 Durch diese beiden \u00fcberw\u00e4ltigenden Gesichtspunkte (1. H\u00fclfe, 2. Unsch\u00e4dlichmachung) ist die gegenw\u00e4rtige Krisis des Strafrechts bestimmt, welche dahin f\u00fchren sollte, dieses Hecht (soweit es nicht auf Privatrecht zur\u00fcckgef\u00fchrt werden kann) allm\u00e4hlich in ein gr\u00f6fseres Quantum von Psychiatrie und in ein kleineres von Polizei auseinandergehen zu lassen. \u2014 Um aber auf vorliegendes Werk, als unser Thema, zur\u00fcckzukommen, so erwarte ich, dafs mehrere der leitenden Ideen erst im zweiten Bande ihre Vollendung und volle Erkl\u00e4rung finden werden. Mit Bezug auf das vierte Kapitel, in dem vielleicht noch mehr, als in den fr\u00fcheren, sinnreiche Betrachtungen enthalten sind, will ich nur diese Frage erheben. Das schliefsliche Er-gebnifs: die beiden Begriffe (Tugend und Gl\u00fcckseligkeit) seien zu umfassend, nach Inhalt und Umfang zu unbestimmt (v. s.) \u2014 konnte es nicht vorausgeschickt, konnte es nicht als bekannt vorausgesetzt werden ? \u2014 sind wir nicht gerade, im Gegens\u00e4tze zu den \u201eAlten\u201c und ihren neueren Imitatoren, dar\u00fcber einig, dafs aus Zergliederungen solcher Begriffe nicht viele Belehrung gewonnen werden kann? E. T\u00f6nnies (Kiel).","page":400}],"identifier":"lit15197","issued":"1893","language":"de","pages":"393-400","startpages":"393","title":"Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, Erster Band, Berlin, Hertz, 1892","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:35:09.789725+00:00"}