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{"created":"2022-01-31T16:34:04.650447+00:00","id":"lit15199","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"M\u00fcller, G. E.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 4: 404-414","fulltext":[{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"Berichtigung zu Prof. M\u00fcnsterbergs Beitr\u00e4gen zur experimentellen Psychologie, Heft 4.\nVon\nProf. Dr. G. E. M\u00fcller.\nAuf S. 40 ff. des soeben erschienenen 4. Heftes seiner Beitr. z. exp. Psychol, entr\u00fcstet sich Prof. M\u00fcnsterberg \u00fcber einen der Einw\u00e4nde, die ich in meiner Kritik der drei ersten Hefte seiner Beitr\u00e4ge (G\u00f6ttingische gelehrte Anzeigen, 1891, S. 393 ff.) seinen Ausf\u00fchrungen und Versuchen gegen\u00fcber erhoben habe. Prof. M. hatte bei seinen Reaktionsversuchen zwar jedes Mal das HiPPsche Chronoskop mit einem Kontrollhammer gepr\u00fcft, der etwa bis 160 a reichende Zeiten hersteilen und kontrollieren liefs, aber thats\u00e4chlich Reaktionszeiten erhalten, die der grofsen Mehrzahl nach \u00fcber 500 g liegen und h\u00e4ufig sogar noch den Wert einer Sekunde erheblich \u00fcbersteigen. Dem gegen\u00fcber hatte ich eingewandt, dafs eine Kontrollierung des Chronoskopes f\u00fcr kurze Zeiten durchaus keine Gew\u00e4hr daf\u00fcr biete, dafs dasselbe auch f\u00fcr l\u00e4ngere Zeiten richtig gehe, im Gegenteile sogar eine Anpassung des Chronoskopes (nebst Zubeh\u00f6r) f\u00fcr kurze Zeiten einen richtigen Gang desselben bei betr\u00e4chtlich l\u00e4ngeren Zeiten ausschliefse. Bei Begr\u00fcndung dieses Einwandes war ich von der Voraussetzung ausgegangen, dafs Prof. M. bei seinen Reaktionsversuchen diejenige Versuchsanordnung benutzt habe, bei welcher die Zeiger des HiPPschen Chronoskopes nur so lange sich bewegen, als ein elektrischer Strom von gen\u00fcgender St\u00e4rke durch die Uhr geht. Prof. M. teilt nun mit, dafs er sich bei seinen Versuchen thats\u00e4chlich der anderen Versuchsanordnung bedient habe, bei welcher die Zeiger des Uhrwerkes sich bewegen, sobald der durch die Uhr gehende","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Berichtigung su Prof. M\u00fcnsterbergs Beitr\u00e4gen zur exper. Psychologie. 405\nStrom unterbrochen wird. Hierbei hebt Prof. M. hervor, dafs die Schuld f\u00fcr meinen \u201ekritischen Mifsgriff\u201c nicht an seiner Darstellung gelegen habe. Ausdr\u00fccklich habe er bei Beschreibung seiner Yersuchstechnik auf eine bestimmte Stelle der W\u00fcNDTschen Psychologie verwiesen, wo Wundt sage: \u201eDie Einrichtung ist so getroffen, dafs der Strom die Zeiger feststellt und seine Unterbrechung sie in Bewegung setzt.\u201c\nHierzu m\u00f6chte ich nun folgendes bemerken:\n1.\tProf. M. scheint zu \u00fcbersehen, dafs er selbst auf S. 68 des ersten Heftes seiner Beitr\u00e4ge die bei seinen Reaktionsversuchen benutzte Versuchsanordnung mit folgenden Worten beschreibt: \u201eDie allen Versuchen gemeinsame Anordnung bestand also darin, dafs der galvanische Strom die Tausendstel-Sekunden-Uhr dann in Bewegung setzte, sobald die durch den Schl\u00fcssel des Experimentierenden und den Schl\u00fcssel des Reagierenden f\u00fchrende Leitung geschlossen wurde.\u201c Unter einer Versuchsanordnung, bei welcher der galvanische Strom die Uhr oder richtiger die Uhrzeiger in Bewegung versetzt, kann niemand eine Versuchsanordnung verstehen, bei welcher eine Unterbrechung des galvanischen Stromes die Zeiger in Bewegung bringt. Prof. M. hat sich also in der That an der hier angef\u00fchrten Stelle falsch ausgedr\u00fcckt und durch seine falsche Ausdrucksweise mein Mifsverst\u00e4ndnis verschuldet.\n2.\tWenn Prof. M. behauptet, er habe bei Beschreibung seiner Versuchstechnik ausdr\u00fccklich auf eine bestimmte Stelle der W\u00fcNDTschen Psychologie verwiesen, wo gesagt sei: \u201eDie Einrichtung ist so getroffen, dafs der Strom die Zeiger feststellt und seine. Unterbrechung sie in Bewegung setzt\u201c, so stimmt diese Behauptung mit dem wirklichen Sachverhalte nicht gen\u00fcgend \u00fcberein. An der Stelle des ersten Heftes seiner Beitr. z. exp. Psychol., welche Prof. M. bei dieser Behauptung vor Augen hat, \u00e4ufsert er sich \u00fcber seine beiden Reihen von Reaktionsversuchen folgendermafsen : \u201eBeide Arbeiten sind zeitmessende und experimentieren mit den aus den Reaktionsversuchen der W\u00fcNDTschen Schule bekannten, von Wundt ausf\u00fchrlich dargestellten Instrumenten (hier wird in Anmerkung auf Wundt, Physiol. Psychol. Bd. II.8, S. 274 ff. verwiesen), deren Einrichtung ebenso wie die Technik der gew\u00f6hnlichen Reaktionsexperimente, um Elementares nicht zu wiederholen, als bekannt vorausgesetzt wird. Auch ich pr\u00fcfte, nach Langes Angaben,","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nG. E. Millier.\ndas Hippsche Chronoskop vor jeder Versuchsreihe durch deu \u00e4ufserst zweckm\u00e4fsigen Kontrollhammer. \u201c Schl\u00e4gt mau nun die in dieser Auslassung zitierten Seiten der W\u00fcNDTschen Psychologie nach, so sieht man, dais Wundt daselbst durchaus nicht blofs von derjenigen Anordnungsweise spricht, bei welcher die Zeiger des Chronoskops durch Unterbrechung eines durch die Uhr gehenden elektrischen Stromes in Bewegung versetzt werden, sondern ebenso auch von der anderen Anordnung, bei welcher die Zeiger durch Schliefsung eines die Uhr durch-fliefsenden Stromes in Bewegung gerathen. An der hier vor allem in Betracht kommenden Stelle z. B., wo von der Pr\u00fcfung des Chronoskopes mittelst des (auch von Prof. M. benutzten) Kontrollhammers die Rede ist, \u00e4ufsert sich Wundt (S. 276) folgendermafsen : \u201eWird der durch diesen (den Kontrollhammer in bestimmter H\u00f6he festhaltenden) Elektromagneten gehende Strom unterbrochen, so f\u00e4llt der Hammer und stellt w\u00e4hrend seines Palls, indem ein an ihm befestigter Fortsatz auf einen Hebel dr\u00fcckt, entweder einen Stromschlufs her, in welchem die HiPPsche Uhr eingeschaltet ist, oder er unterbricht einen solchen; beim Auffallen des Hammers unterbricht er im ersten Fall den n\u00e4mlichen Stromeskreis, im zweiten schliefst er denselben.\u201c Die Stelle in der W\u00fcNDTschen Psychologie, auf welche ausdr\u00fccklich verwiesen zu haben Prof. M. behauptet, findet sich auf S. 275, wo Wundt beispielsweise eine Versuchsanordnung darstellt, \u201ewelche zur Messung der Reaktionszeit bei Schalleindr\u00fccken von wechselnder Intensit\u00e4t benutzt werden kann\u201c. Da Prof. M. bei seinen Reaktionsversuchen nicht mit Schalleindr\u00fccken von wechselnder Intensit\u00e4t \u2022 operiert hat, so lag nicht der mindeste Grund vor, seinen Hinweis auf S. 274 ff. der W\u00fcNDTschen Psychologie lediglich auf diese Stelle zu beziehen. Eigent\u00fcmlicherweise teilt \u00fcbrigens Prof. M. die betreffende Stelle nicht vollst\u00e4ndig mit. Dieselbe lautet n\u00e4mlich vollst\u00e4ndig folgendermafsen: \u201eDie Einrichtung ist so getroffen, dafs der Strom die Zeiger feststellt, und seine Unterbrechung sie in Bewegung setzt (erste Anordnung).\u201c Die in Klammem eingeschlossenen Worte \u201eerste Anordnung\u201c, welche den Leser notwendig darauf aufmerksam machen mufsten, dafs Wundt auf den betreffenden Seiten seines Werkes auch noch von einer anderen Anordnung der Versuche rede, hat Prof. M. weggelassen!","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Berichtigung zu Prof. M\u00fcnsterbergs Beitr\u00e4gen zur exper. Psychologie. 407\nAus vorstehendem ergiebt sich erstens, dafs der Hinweis auf ;S. 274 ff. des WuNDTschen Werkes mir hinsichtlich der Versuchsanordnung, welcher sich Prof. M. bedient habe, gar keine bestimmte Auskunft geben konnte. Ich war lediglich auf die oben mitgeteilte Auslassung des Prof. M. angewiesen, worin es heifst, dafs \u201eder galvanische Strom die Tausendstel-Sekunden-Uhr dann in Bewegung setzte, sobald die durch den Schl\u00fcssel des Experimentierenden und den Schl\u00fcssel des Reagierenden f\u00fchrende Leitung geschlossen war\u201c. Diese Auslassung habe ich so verstanden, wie man sie verstehen mufste.\nFerner ergiebt sich aus dem Vorstehenden, dafs Prof. M. \u2022es sich zuweilen (wenigstens da, wo ihn der Leser kontrollieren kann) nicht allzu sehr angelegen sein l\u00e4fst, bei seinen Ausf\u00fchrungen in strikter \u00dcbereinstimmung mit dem Sachverhalte zu bleiben.\n3. Es ist einigermafsen schlimm, dafs Prof. M. nicht weifs, \u2022dafs das von mir erhobene Bedenken thats\u00e4chlich triftig ist, mag er sich dieser oder jener Versuchsanordnung bedient haben, mag bei seinen Versuchen das Zeigerwerk des Chronoskops durch Schliefsung oder (ann\u00e4hernde) Unterbrechung eines elektrischen Stromes in Bewegung versetzt worden sein. Auch bei derjenigen Versuchsanordnung, welcher sich Prof. M. seiner neuesten Erkl\u00e4rung gem\u00e4fs thats\u00e4chlich bedient hat, ist es \u25a0durchaus fehlerhaft, ohne weiteres vorauszusetzen, dafs die Pr\u00fcfung des Chronoskops bei kurzen Zeiten eine Gew\u00e4hr daf\u00fcr biete, dafs dasselbe auch bei l\u00e4ngeren Zeiten richtig gehe. Prof. M. findet \u00fcber diesen Punkt in der vor kurzem erschienenen Abhandlung von K\u00fclpe und Kirschmann (Wundts Philos. Studien, 8, 1892, S. 142ff.) die ihm erforderliche Belehrung. Ich brauche mich daher bei diesem Punkte nicht weiter aufzuhalten.\nProf. M. hat also nur Grund, \u00fcber sich selbst entr\u00fcstet zu sein, erstens deshalb, weil er sich an der oben mitgeteilten Stelle falsch ausgedr\u00fcckt hat, zweitens deshalb, weil er sich in seiner Entgegnung auf mein Bedenken als einen Mann hingestellt hat, der gelegentlich mit der Wahrheit etwas frei herumspringt, und drittens deshalb, weil er in eben dieser Entgegnung verraten hat, dafs er sich die Funktionsweise des HiPPschen Chronoskops, mit welchem er so viel operiert, noch heutigen Tages nicht gen\u00fcgend klar gemacht hat.","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nG. E. Muller\nNachdem Prof. M. die von ihm bei seinen Reaktionsversuchen benutzte Anordnung erw\u00e4hnt hat, schliefst er (S. 42) seine Entgegnung mit folgenden Worten: \u201eM\u00fcller kann nicht beanspruchen, dafs ich dieses Verfahren pl\u00f6tzlich \u00e4ndere, nur, um endlich einmal einen seiner Angriffe zu einem berechtigten zu machen.\u201c Dieser Schlufssatz bringt in nicht gerade sehr geschmackvoller Form die Meinung zum Ausdruck, dafs meine Kritik der drei ersten Hefte der M\u00fcNSTERBERGschen Beitr\u00e4ge nichts weiter als eine Anh\u00e4ufung \u201ekritischer Mifsgriffe\u201c gewesen sei. Beim Lesen dieses Schlufssatzes kam mir unwillk\u00fcrlich die Erinnerung daran, dafs Prof. M. fr\u00fcher {Zeitschr. f. Philos. und philos. Kritik, 95. Bd., S. 143) \u201evon jener kritischen Energie, mit der vor zehn Jahren Gr. E. M\u00fcller seine un\u00fcbertroffene Grundlegung der Psychophysik ausgef\u00fchrt\u201c, gesprochen hat. Die Thatsache, dafs Prof. M. meine Kritik r\u00fchmt, wo sie andere trifft, hingegen f\u00fcr fehlgreifend und pers\u00f6nlich erkl\u00e4rt, sobald sie ihm selbst zu teil wird, entbehrt nicht des Humors. Was den Vorwurf der pers\u00f6nlichen F\u00e4rbung anbelangt, den Prof. M. (S. 40) meiner Kritik gegen\u00fcber erhebt, so habe ich schon in meiner Kritik (S. 396) moniert, dafs Prof. M. etwas viel von sich selbst rede. Wenn Prof. M. selbst seine Pers\u00f6nlichkeit ganz besonders interessant findet, so schliefst dies nicht ein, dafs dieselbe andere Menschen in gleicher Weise besch\u00e4ftige. Die Person des Prof. M. war mir v\u00f6llig unbekannt und gleichg\u00fcltig, als ich daran ging, seine Beitr\u00e4ge z. exp. Ps. einer Kritik zu unterwerfen. Ich w\u00fcfste auch wirklich nicht, inwiefern mich seine Person h\u00e4tte irgendwie besch\u00e4ftigen k\u00f6nnen. Ich sah nur, dafs, wenn die Manier leichtfertiger Produktionssucht, welche in jenen Beitr\u00e4gen herrschte, in der experimentellen Psychologie noch weiter \u00fcberhandnehmen sollte, die letztere zum Gesp\u00f6tte aller derjenigen werden w\u00fcrde, welche eine Ahnung von Exaktheit und wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit besitzen. Deshalb entschlofs ich mich, das Opfer an Zeit und guter Laune zu bringen, welches eine eingehendere Besch\u00e4ftigung mit jenen Beitr\u00e4gen erforderte. Prof. M. hat mich \u00fcbrigens selbst f\u00fcr dieses Opfer ein wenig dadurch belohnt, dafs er nach dem Erscheinen des 3. Heftes seiner Beitr\u00e4ge zwei volle Jahre hat vergehen lassen, bevor er mit der Ver\u00f6ffentlichung eines vierten Heftes hervortrat, und dafs er in diesem vierten Hefte, trotz verschiedener starker R\u00fcckf\u00e4lle und","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Berichtigung zu Prof. M\u00fcnsterbergs Beitr\u00fcgen zur exper. Psychologie. 409\neiner hier und da etwas stark sanguinischen Methodik, im grossen und ganzen verdienstlicheres geleistet hat als in den fr\u00fcheren Heften.\nIch habe mich nat\u00fcrlich sorgf\u00e4ltig umgesehen, ob mir Prof. M. in seiner W eise nicht noch weitere kritische Mifsgriffe nachweise. Leider habe ich nur einen Punkt gefunden. Ich hatte in meiner Kritik mein Befremden dar\u00fcber ge\u00e4ufsert, dafs Prof. M. in seiner Theorie des Zeitsinnes von einem Auf- und Abschwellen der Intensit\u00e4t der Spannungsempfindungen rede, hingegen in seiner neuen Grundlegung der Psychophysik den Spannungsempfindungen alle Intensit\u00e4tsunterschiede abspreche. Hierzu bemerkt nun Prof. M. in seinem neuen Hefte (S. 90 f.), dafs zwischen seiner Behauptung, dafs die Zeitsch\u00e4tzung zum Teil auf die zu- und abnehmenden Muskelempfindungen zur\u00fcckzuf\u00fchren sei, und seiner anderen Behauptung, dafs diejenigen Ver\u00e4nderungen der Muskelempfindungen, welche wir Zu- und Abnahme derselben nennen, psychologisch eigentlich keine Intensit\u00e4tsschwankungen darstellen, ein Gegensatz selbst dann kaum bestehen w\u00fcrde, \u201ewenn beide Aussagen koordiniert w\u00e4ren; da die Vorstellung einer Zeitdauer etwas anderes ist als die Zeitdauer einer Vorstellung, so k\u00f6nnte sehr wohl die Ausmessung der Zeitr\u00e4ume vermittelst derjenigen \u00c4nderung unserer Spannungsempfindungen erfolgen, die wir gew\u00f6hnlich Intensit\u00e4ts\u00e4nderungen nennen, und dennoch k\u00f6nnte sich bei n\u00e4herer Analyse zeigen, dafs diese scheinbare Intensit\u00e4ts\u00e4nderung nur auf denjenigen qualitativen \u00c4nderungen der Empfindung beruht, die aus der r\u00e4umlichen Ausdehnung und der zeitlichen Dauer des Empfindungsreizes entstehen. In Wirklichkeit sind jene Behauptungen aber keineswegs koordiniert, und wer aus ihnen einen Zirkel-schlufs abzuleiten meint, \u00fcbersieht den Unterschied zwischen psychophysischer, psychologischer und erkenntnis-theoretischer Betrachtung.\u201c In einer in nicht ferner Zeit zu ver\u00f6ffentlichenden, systematischen Darstellung der Psychologie will Prof. M. zeigen, \u201edafs das Seiende, wie es vom absoluten, \u00fcberindividuellen Bewufstsein anerkannt ist (?!), sich in eine psychische und eine physische Welt erst dadurch differenziert, dafs es in der physischen Welt unter dem Grenzbegriff des Quantitativen, in der psychischen unter dem Grenzbegriff des Qualitativen gedacht wird. Im Psychischen giebt es daher nur \u00c4hnlichkeitsbestimmungen, im Physischen nur Messungen; ebendeshalb","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nG. E. Muller.\nkommt dem Psychischen als solchem nicht nur keine r\u00e4umliche, sondern auch keine zeitliche MafsbeStimmung zu. Der psychische Vorgang hat zeitliche Ausdehnung erst, sobald er auf ein Physisches bezogen ist ; eben dann gewinnt er auch Intensit\u00e4tsabstufung. So k\u00f6nnen gerade in der Frage der Zeitanschauung dem Wortlaut nach sich widersprechende Behauptungen nebeneinander zu Recht bestehen, da die Widerspr\u00fcche sich l\u00f6sen, sobald die verschiedenen Standpunkte ber\u00fccksichtigt werden, von denen aus jene Behauptungen g\u00fcltig sind.\u201c Ich brauche einem unterrichteten Leser nicht erst darzulegen, dafs die Andeutungen, welche Prof. M. hier betreffs der Differenzierung seines \u201evom absoluten \u00fcberindividuellen Bewufstsein anerkannten Seienden\u201c in eine psychische und eine physische Welt giebt, erstens einen Mangel an psychologischem Denken und Wissen und zweitens eine ungen\u00fcgende Kenntnis der historischen Entwickelung unserer Naturauffassung verraten. Den hier vorgebrachten metaphysischen Ausfl\u00fcchten des Prof. M. gegen\u00fcber kann ich mich kurz fassen. Wie ich schon in meiner Kritik (S. 426 f.) geb\u00fchrend hervorgehoben habe, beschreibt Prof. M. in seiner Theorie des Zeitsinns auf Grund seiner Selbstwahrnehmung die Spannungsempfindungen als Empfindungen, welche Intensit\u00e4tsverschiedenheiten erkennen lassen, und in seiner Grundlegung der Psychophysik beschreibt er ganz dieselben Spannungsempfindungen auf Grund ganz derselben Selbstwahrnehmung als Empfindungen, an denen \u00fcberhaupt keine Intensit\u00e4tsverschiedenheiten vork\u00e4men. Er beschreibt nicht etwa die Spannungsempfindungen im ersteren Falle als Bestandteile der physischen Welt (was, wenn er es gethan haben w\u00fcrde, auch nicht gerade sch\u00f6n gewesen w\u00e4re) oder sonstwie von einem anderen Standpunkte aus als im zweiten Falle.1 Er deutet auch nicht etwa in seiner Grundlegung der Psychophysik an, dafs er daselbst die Spannungsempfindungen von einem anderen Standpunkte aus beschreibe als in der Theorie des Zeitsinns. Er beruft sich vielmehr in ersterer in gleicher Weise wie in letzterer auf die Selbstwahrnehmung, die bekanntlich\n1 Hat Prof. M\u00fcnsterberu etwa auch den Muskel von zwei verschiedenen Standpunkten aus betrachtet, als er in der Theorie des Zeitsinns (S. 21 f.) den absoluten Wert der Muskelspannung, hingegen in der Grundlegung der Psychophysik (S. 32) nur die \u00c4nderung der Muskelspannung als mafsgebend f\u00fcr die Spannungsempfindung erkl\u00e4rte?","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Berichtigung su Brof. M\u00fcnsterbergs Beitr\u00e4gen sur exper. Psychologie. 411\nnur von einer Art ist und nicht von verschiedenen Standpunkten aus gehandhabt werden kann. Prof. M. hat also ganz dieselben psychischen Zust\u00e4nde (n\u00e4mlich die Spannungsempfindungen) auf Grund der Selbstwahrnehmung in sich widersprechender Weise beschrieben und behandelt. Was er in der hier angef\u00fchrten Auslassung von den verschiedenen Standpunkten vorbringt, bei deren Ber\u00fccksichtigung die von ihm anscheinend begangenen Widerspr\u00fcche ihre L\u00f6sung f\u00e4nden, ist nur eine leere Ausflucht, die ihm nicht aus der Not hilft. Man entrinnt Widerspr\u00fcchen, die man begangen hat, heutzutage nicht mehr dadurch, dal's man sich in einen metaphysischen Sumpf fl\u00fcchtet. Und die ganze experimentelle Psychologie k\u00f6nnte sich begraben lassen, wenn sie es ohne die sch\u00e4rfste R\u00fcge hingehen liefse, dafs ein Psycholog ganz dieselben psychischen Zust\u00e4nde bei Verfolgung verschiedener theoretischer Einf\u00e4lle auf Grund seiner Selbstwahrnehmung in widersprechender Weise beschreibt und dann hinterher zu seiner Rechtfertigung vorbringt, er habe in dem einen Falle der Selbstwahrnehmung auf dem psychophysischen, in dem anderen Falle aber auf dem psychologischen oder dem erkenntnistheoretischen Standpunkte gestanden.\nIn meiner Kritik der drei ersten Hefte der Beitr\u00e4ge von Prof. M. hatte ich (auf S. 427) im Hinblick auf den im Vorstehenden erw\u00e4hnten Sachverhalt die Frage aufgeworfen, in welchem dritten Gew\u00e4nde uns wohl die Spannungsempfindungen in einem etwaigen vierten Hefte von Prof. M. geschildert werden w\u00fcrden. Wenn Prof. M. in dieser Frage einen Ausflufs pers\u00f6nlicher Gereiztheit erblickt haben sollte, so hat er sich selbst weniger erkannt, als ich ihn erkannt gehabt habe. Denn Aie Spannungsempfindungen erscheinen uns ja wirklich in dem vierten Hefte in einem ganz neuen, ganz \u00fcberraschenden Gew\u00e4nde, ja sogar in einem ganz neuen D o ppelgewande! Auf S. 227 f. dieses Heftes wird uns eine \u201eneue Theorie der Gef\u00fchle\u201c vorgetragen, welcher gem\u00e4fs \u201edie reflektorisch erzeugten Streckungen und Beugungen die Bedingung derjenigen Be-wufstseinsvorg\u00e4nge sind, welche wir Lust und Unlust nennen . . . Der f\u00f6rderliche Reiz l\u00f6st . . . reflektorisch Streckbewegungen, der sch\u00e4dliche Reiz Beugebewegungen aus; diese Bewegungen aber rufen centripetal Empfindungen hervor, welche sich mit der Reizvorstellung verbinden und dieser den Lust- und Unlustcharakter verleihen. Insofern dieses Bewufstseinselement seine","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nG. K. M\u00fcller.\nQuelle in den reflektorischen Reaktionen des eigenen K\u00f6rpers hat, diese K\u00f6rperempfindungen aber den Untergrund unserer konstanten Ichvorstellung bilden, m\u00fcssen wir dieses, Gef\u00fchl genannte Element unwillk\u00fcrlich als subjektiv gegen\u00fcber der objektiven Reiz Vorstellung auffassen, und insofern diese Beugungs- und Streckungsempfindungen die Bewufstseins-vertretung entgegengesetzter Handlungen darstellen, m\u00fcssen diese Empfindungen selbst als gegens\u00e4tzliche empfunden werden.\u201c W\u00e4hrend der Leser infolge der sch\u00f6nen Aufkl\u00e4rung, die er durch diese Theorie der Gef\u00fchle erhalten hat, noch heifsig seine Streckmuskeln regt, wird er pl\u00f6tzlich auf S. 236 noch durch die Hypothese \u00fcberrascht, dafs auch derjenige Bewufstseinsvorgang, den wir Bejahung und Verneinung nennen, \u201eseiner psychophysischen Struktur nach mit dem Lust- und Unlustvorgang identisch sei und lediglich in der Innervationsempfindung der Beugung und Streckung, d. h. in der reproduzierten Empfindung fr\u00fcherer Beugung und Streckung, fr\u00fcherer K\u00f6rperverengerung und K\u00f6rpererweiterung besteht\u201c. Lust und Unlust, Bejahung und Verneinung sind also das neue Doppelgewand, in welchem uns jetzt die Muskelempfindungen geschildert werden. Dafs Prof. M. bei Entwickelung seiner neuen Theorie der Bejahung und Verneinung die ganz anders gearteten Ausf\u00fchrungen, welche er im ersten Hefte seiner Beitr\u00e4ge (S. 141 ff.) \u00fcber das logische Denken bereits gegeben hat, anscheinend ganz vergessen gehabt hat, konnte einem M\u00fcnsterberg-Kenner wie mir nicht entgehen. Dieses Vergessen ist bei Prof. M. nicht ohne Vorgang. (Man vergleiche die Intensit\u00e4t der Spannungsempfindungen.)\nProf. M.s grofse Phantasie \u00fcber die Muskelempfindungen oder richtiger \u00fcber die psychischen Begleiterscheinungen derjenigen sensorischen Erregungen, welche aus der Muskelth\u00e4tigkeit entspringen, besteht also, soweit sie zur Zeit vorliegt, aus folgenden f\u00fcnf Hauptst\u00fccken:\n1. Die Muskelempfindungen dienen dazu, den mit ihnen verbundenen Empfindungen anderer Art eine h\u00f6here Klarheit zu verleihen. So wird uns im ersten Hefte der Beitr\u00e4ge (S. 136, 138 und anderw\u00e4rts) gelehrt. Im dritten Hefte (S. 111 f.) ist diese Funktion der Muskelempfindungen dahin gesteigert, dafs \u201ejeder Bewufstseinsinhalt eine Muskelempfindung verlangt\u201c, dafs da, wo keine Muskelempfindung in den Bewufstseinsinhalt","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Berichtigung zu Prof. M\u00fcnsterbergs Beitr\u00e4gen zur exp er. Psychologie. 413\neingeht, \u00fcberhaupt jedes bewufste Erlebnis verschwindet und dergleichen mehr.\n2.\tDie Muskelempfindungen liegen insofern, als sie hinsichtlich der Intensit\u00e4t variabel und von dem absoluten Werte der Muskelspannung abh\u00e4ngig sind, der Vergleichung kleiner Zeitr\u00e4ume zu Grunde. Dafs an dieser Behauptung etwas richtig ist, die Sache sich aber doch nicht gerade so verh\u00e4lt, wie Prof. M. es sich gedacht hat, hat Schumann (diese Zeitschrift, IV, S. 1 ff., insbesondere S. 35 ff.) gezeigt.\n3.\tDie Muskelempfindungen liegen insofern, als sie hinsichtlich der Intensit\u00e4t nicht variabel und nur von der \u00c4nderung der Muskelspannung abh\u00e4ngig sind, der Vergleichung von Empfindungsintensit\u00e4ten und von Empfindungsunterschieden zu Grunde.\n4.\tDie Muskelempfindungen sind Gef\u00fchle der Lust oder Unlust, wenn sie auf reflektorisch ausgel\u00f6sten Streck- oder Beugebewegungen beruhen und mit den Vorstellungen der Reize verbunden werden.\n5.\tDie Muskelempfindungen sind vom psychophysischen Standpunkte aus betrachtet in \u00e4hnlicher Weise zugleich die logischen Akte der Bejahung und Verneinung.\nIn das Finale dieser grofsen Phantasie, dessen Motiv die Akte der Bejahung und Verneinung als blofse Streck- und Beugeempfindungen sind, werden dann noch eine Reihe grofs-artiger metaphysischer Ausspr\u00fcche hineingeschmettert, z. B. die Ausspr\u00fcche (vergl. S. 238), dafs vom erkenntnistheoretischen Standpunkte aus \u201edas beurteilende Bewufstsein selbst, nicht nur das reine Bewufstsein als die Bedingung des Seienden \u00fcberhaupt gedacht werden kann, so dafs das Urteil nicht selbst wieder aus dem Seienden erkl\u00e4rt werden kann\u201c, dafs \u201eder Wille, welcher die Welt bejaht und sie dadurch setzt, die absolute Bedingung des Seins ist\u201c u. dergl. m. Hoffentlich l\u00e4fst sich Prof. M. in der uns versprochenen systematischen Darstellung der Psychologie auch dazu herab, uns die Erkenntnisquelle zu nennen, aus welcher er seine Kenntnis des die Welt bejahenden und sie dadurch setzenden Willens gewonnen hat. Wie viel k\u00f6nnte ich lernen, wenn Prof. M. in seiner Psychologie jenen transcendenten Willen und dessen die Welt setzenden Bejahungsakt oder das als Bedingung des Seienden \u00fcberhaupt zu denkende, beurteilende Bewufstsein in gleicher Weise","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\n6r. E. M\u00fcller.\nanalysieren wollte, wie er den mis beschr\u00e4nkteren Erdenmenschen allein bekannten empirischen Willen in seiner Schrift \u00fcber die Willenshandlung zu analysieren versucht hat, wenn er die Merkmale jenes mir v\u00f6llig unbekannten Etwas angeben wollte, welche ihn dazu berechtigt haben, die zun\u00e4chst nur f\u00fcr unseren mit Bewegungsbildern u. s. w. operierenden, empirischen Willen gegebene Bezeichnung auch auf jenes mir unbekannte Etwas anzuwenden u. dergl. m.\nNach den im Vorstehenden mitgeteilten Proben wird ein nachdenklicher Leser meinen, dafs ich nicht Unrecht gehabt habe, als ich oben bemerkt habe, dafs Prof. M. an verschiedenen Stellen des soeben erschienenen vierten Heftes seiner Beitr\u00e4ge r\u00fcckf\u00e4llig geworden sei, und dafs Prof. M. besser gethan h\u00e4tte, sich lieber meine Kritik noch etwas mehr zu Herzen zu nehmen. Ich finde in der That auch, dafs mich Prof. M. durch das in dem vierten Hefte Geleistete f\u00fcr das Opfer an Zeit, welches mir die eingehendere Besch\u00e4ftigung mit den drei ersten Heften auferlegte, und die vielen bei dieser Besch\u00e4ftigung eingetretenen \u201eK\u00f6rperverengerungen\u201c und Kontraktionen der Beugemuskeln doch nur unvollkommen belohnt hat. Ich werde demgem\u00e4fs mich wohl h\u00fcten, mir dasselbe Opfer auch wieder betreffs des vierten Heftes aufzuerlegen, und schliefse daher schleunigst meine Entgegnung.","page":414}],"identifier":"lit15199","issued":"1893","language":"de","pages":"404-414","startpages":"404","title":"Berichtigung zu Prof. M\u00fcnsterbergs Beitr\u00e4gen zur experimentellen Psychologie, Heft 4","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:34:04.650453+00:00"}