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{"created":"2022-01-31T17:00:48.493546+00:00","id":"lit15228","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Brentano, Franz","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 6: 1-7","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den optischen T\u00e4uschungen.\nVon\nFranz Brentano in Wien.\n(Mit 13 Figuren im Text.)\nWie in Deutschland, so ist auch in Belgien und Frankreich mein Artikel \u201e\u00dcber ein optisches Paradoxon\u201c1 nicht unber\u00fccksichtigt geblieben. Noch hatte meine Antwort auf die von Th. Lipps erhobenen Einw\u00e4nde2 die Presse nicht verlassen, als ich eine Abhandlung der belgischen Akademie erhielt,3 worin Delboeuf den Inhalt der kleinen Schrift im wesentlichen wiedergiebt und dann meine Erkl\u00e4rung des auffallenden Ph\u00e4nomens zu widerlegen sich bem\u00fcht. In der Pariser \u201eRevue scientifique1,1' ist seine Studie abermals zum Abdrucke gelangt.4\nIm ersten Augenblick war ich durch den Gedanken, mich mit der kleinen Frage nochmals besch\u00e4ftigen zu sollen, kaum angenehm ber\u00fchrt, und die Worte des GoETHEschen Zauberlehrlings schwebten mir schon auf den Lippen:\n\u201eDie ich rief, die Geister,\nWerd\u2019 ich nun nicht los ! \u201c\nDoch die Stimmung schlug alsbald um; denn ich bemerkte, dafs Delboe\u00fcfs Er\u00f6rterungen, abgesehen von nicht unscheinbaren Argumenten gegen mich, auch noch manches boten, was in sich selbst eigent\u00fcmlich interessant und lehrreich ist. Dieses\n1\tDiese Zeitschrift. III. S. 350 ff.\n2\tA. a. O. V. S. 61 ff.\n3\tSur une nouvelle illusion d'optique.\n4\tEevue scientifique, t. LI, pp. 237 ss. (25. Febr. 1893). Nach dieser wohl weiter verbreiteten Ausgabe werde ich im folgenden Delboeuf citieren.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VI.\n1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nFranz Brentano.\nwar es denn auch vornehmlich, was mich hier von ihnen zu sprechen veranlafste; doch schien auch ein kurzes Wort der Abwehr unerl\u00e4fslich.\nFig. l.\nDie T\u00e4uschung, verm\u00f6ge deren wir in Fig. 1 die in Wahrheit gleichabstehenden Scheitelpunkte f\u00fcr ungleich halten, habe ich aus dem bekannten Satze begreiflich gemacht, dafs grofse Winkel \u00fcbersch\u00e4tzt, kleine untersch\u00e4tzt zu werden pflegen. Delboeuf verwirft meine Erkl\u00e4rung, indem er einen anderen Grund der T\u00e4uschung aufgefunden zu haben glaubt. Er bezeichnet als solchen \u201edie Anziehung, die Linien, auf einheitlicher Fl\u00e4che gezogen, auf das Auge \u00fcben.\u201c \u201eDie in dieser Studie untersuchte T\u00e4uschung,\u201c sagt er, \u201eist Folge der Anziehung, welche die in der N\u00e4he der Grenzen der zu messenden Abst\u00e4nde angebrachten Figuren, von was immer f\u00fcr einer Gestalt, auf das Auge \u00fcben.\u201c Zum Belege f\u00fchrt er an, dafs die T\u00e4uschung z. B. auch dann bestehe, wenn man die drei Winkel umdrehe, so dafs die Winkelspitzen an die Stelle der Winkel\u00f6lfnungen tr\u00e4ten und umgekehrt. (Fig. 2.)\nFig. 2.\nHierauf erwidere ich folgendes:\n1. Angenommen, es sei Delbouef gelungen, sowohl sein Prinzip als richtig zu erweisen, als auch zu zeigen, wie es in unserem Falle einen Einflufs \u00fcbe, so h\u00e4tte er doch damit nicht dargethan, dafs es die alleinige Quelle der T\u00e4uschung sei, die hier so auff\u00e4llig besteht. Und so bliebe es denn immer noch denkbar, dafs zugleich, ja sogar vornehmlich, auch der von mir angerufene Satz f\u00fcr die Erscheinung von Bedeutung w\u00e4re. Vielleicht meint er mit Newton sagen zu d\u00fcrfen : \u201eentia non sunt multiplicanda praeter necessitatem. \u201c Aber dies Wort w\u00e4re hier sehr \u00fcbel angebracht; steht doch das von mir angezogene Prinzip schon unabh\u00e4ngig von der Erscheinung fest; und ich","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den optischen T\u00e4uschungen.\n3\nhabe zu zeigen gesucht, warum und wie es im gegebenen Falle auf die Sch\u00e4tzung der Distanzen einen Einflufs \u00fcben m\u00fcsse. Delboeuf hat nicht das Geringste gegen die B\u00fcndigkeit dieser Folgerungen einzuwenden versucht.\n2.\tMit dem, was ich hier sage, stimmt, was man findet, wenn man die St\u00e4rke der T\u00e4uschung in Fig. 1 mit der in Fig. 2 in Vergleich bringt. Nach Delboeufs Auffassung sollte man erwarten, dafs beide einander gleich w\u00e4ren, w\u00e4hrend that-s\u00e4chlich die in Fig. 1 jene in Fig. 2 um ein vielfaches \u00fcbertrifft.\n3.\tUnd noch klarer zeigt sich die \u00dcberlegenheit der t\u00e4uschenden Kraft, die aus dem Prinzip der \u00dcbersch\u00e4tzung der grofsen und Untersch\u00e4tzung der kleinen Winkel fliefst, \u00fcber die, welche aus dem von Delboeuf angerufenen Satze sich ergeben mag, wenn man beide nicht zusammen, sondern gegeneinander wirken l\u00e4fst, wie es in den folgenden Figuren (3\u20147) geschieht. Der Effekt ist dann der entgegengesetzte von dem, welchen man nach Delboeuf zu erwarten h\u00e4tte.\nFigg. 3\u20147.\n4.\tDelboeuf sagt: \u201eFig. 34 zeigt uns, dafs ein spitzer Winkel kr\u00e4ftiger wirkt, als ein stumpfer Winkel. Er zieht das Auge st\u00e4rker, sei es nach aufsen, sei es nach innen.\u201c Er scheint hier der Meinung, die Winkel seien um so wirksamer,\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nFranz Brentano.\nje spitzer sie seien. Ich habe schon anderw\u00e4rts1 ausgef\u00fchrt, dafs dem nicht so sei, und dafs ganz so wie bei der Z\u00f6llner-schen Figur die T\u00e4uschung bei Winkeln von 30\u00b0 (respektive 150 \u00b0) ihr Maximum erreiche.2 Die folgende Figur m\u00f6ge dienen, dies anschaulich zu zeigen. Vergleicht man in ihr, in jeder der beiden Reihen, zwei unmittelbar sich folgende Abst\u00e4nde der Scheitelpunkte, so scheint bei der oberen, wo die spitzen Winkel (zweimal) volle 30\u00b0 betragen, ihre Differenz merklich gr\u00f6fser als bei der unteren. (Fig. 8.)\n> < > < >\nFig. 8.\nDiese Koincidenz der Maxima liefert noch eine besondere Gew\u00e4hr f\u00fcr die schon nachgewiesene Einheit des Prinzips der T\u00e4uschung in beiden F\u00e4llen.\nHiermit d\u00fcrfte genugsam dargethan sein, dafs Delboeuf meinen Versuch nicht wahrhaft widerlegt hat, und dafs die von mir gegebene Erkl\u00e4rung wohl \u00fcberhaupt nicht mehr ernstlich in Zweifel gezogen werden kann.\nDoch die von Delboeuf mit meinem Paradoxon in Vergleich gebrachten F\u00e4lle sind auch an und f\u00fcr sich interessant genug, um uns noch einen Augenblick zu besch\u00e4ftigen. Und da darf ich denn nicht verschweigen, dafs mir Delboeuf auch sie nicht richtig gedeutet zu haben scheint. Nicht sowohl auf eine Attraktion, die das Auge erleidet, als vielmehr auf eine Art Begriffsverwechselung ist ganz oder haupts\u00e4chlich die T\u00e4uschung zur\u00fcckzuf\u00fchren, welche bei seinen Figg. 33 und 35\u2014443 f\u00fcr die Mehrzahl der Beobachter einzutreten pflegt. Besonders stark erweist sie sich in Figg. 42 und 44. Die mit Strichen ausgef\u00fcllten Kreisfl\u00e4chen erinnern hier an Kugeln, von denen die\n1\t\u00dcber ein optisches Paradoxon. Zweiter Artikel. Biese Zeitschrift. Y. S. 61\u201482.\n2\tZum Verst\u00e4ndnis der Thatsache vgl. die eben angezogene Abhandlung S. 66.\n3\tWir geben von diesen Figuren Delboeufs als wesentlich gen\u00fcgend hur die Figg. 33, 40 und 44 (hier 9, 10, 11) unver\u00e4ndert wieder.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den optischen T\u00e4uschungen.\n5\neine der beiden \u00e4ufseren der mittleren betr\u00e4chtlich ferner steht, als die andere; und indem man sofort und unwillk\u00fcrlich den Vergleich vollzieht, hat man daraufhin die Neigung, das zur entfernteren Kugel Geh\u00f6rige selbst in gr\u00f6fserer Ferne befindlich zu denken.\nDelboeuf legt Gewicht auf die grofse Zahl der Schattenstriche und sucht in ihr den Grund, warum die T\u00e4uschung bei Figg. 42 und 44 gr\u00f6fser sei als bei Figur 40. Er w\u00fcrde aber, wenn er die Kreisfl\u00e4chen statt mit parallelen Strichen mit gleichm\u00e4fsigem Schwarz gef\u00fcllt h\u00e4tte, die T\u00e4uschung noch immer\nFigg. 9 \u2014 11.\nin voller St\u00e4rke wirksam gefunden haben. Die Zahl der Striche hat also mit der T\u00e4uschung nichts zu thun. Ich stellte mit einer ganzen Reihe von Personen Versuche an, bei welchen ich drei v\u00f6llig abgegriffene M\u00fcnzen ben\u00fctzte. Indem ich zwei davon mehrere Zoll voneinander entfernt auf den Tisch legte, forderte ich sie einzeln auf, die dritte so zwischen sie zu bringen, dafs die n\u00e4chsten Punkte h\u00fcben und die entferntesten Punkte dr\u00fcben gleichweit voneinander abst\u00e4nden. Selbst Maler begingen die erstaunlichsten Fehler, w\u00e4hrend ich, doch ganz vereinzelt, allerdings auch solche traf, die, an scharfes Unterscheiden gew\u00f6hnt, schon beim ersten Versuch der Gefahr einer Begriffsverwechselung vollkommen Meister wurden.\nDafs auch in Delboe\u00fcfs Fig. 38 (die wir oben in Fig. 2 wiedergegeben) die T\u00e4uschung wesentlich aus derselben Quelle","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nFranz Brentano.\nentspringe, wird man erkennen, wenn man, w\u00e4hrend man die Punkte schwarz l\u00e4fst, die Linien statt mit schwarzer mit roter Farbe zieht. Die Versuchung zur T\u00e4uschung ist dann f\u00fcr die Mehrzahl v\u00f6llig behoben. Nach Delboeufs Auffassung m\u00fcfste sie dagegen offenbar mit gleicher, wenn nicht gr\u00f6fserer Kraft sich f\u00fchlbar machen, da die Linien, durch ihre abweichende Farbe noch auff\u00e4lliger geworden, nun eine noch gr\u00f6fsere Anziehung zu \u00fcben geeignet scheinen. Da aber die ganze Gruppe der Zeichnung sich jetzt nicht mehr so, wie bei der Gleichheit der Farbe, als eine Einheit darstellt, so entf\u00e4llt das eben von mir bezeichnete wesentlichere Motiv. Auch bei Delboeufs Fig. 331 fand ich, dafs die Kraft der T\u00e4uschung nachl\u00e4fst, wenn die aufsen und innen hinzugef\u00fcgten Kreise in abweichender Farbe gezogen werden. Offenbar hatte man die Kreise wie Grenzlinien eines Binges genommen und sich durch den Unterschied der Gr\u00f6fse der Binge zu einer falschen Sch\u00e4tzung der ihnen zugeh\u00f6rigen Linien selbst verf\u00fchren lassen.\nWie es \u00fcberhaupt geschehen kann, dafs eine Mehrheit von Ursachen zu ein und derselben optischen T\u00e4uschung zusammenwirkt, so will ich nicht bestreiten, dafs auch die eben erw\u00e4hnte Versuchung zu Begriffsverwechslungen bei gewissen, in meiner Studie besprochenen F\u00e4llen mit von Einflufs sein m\u00f6ge. Immerhin halte ich daf\u00fcr, dafs das dort von mir geltend gemachte Moment das schwerwiegendste ist. F\u00fcr seine \u00fcberlegene Macht d\u00fcrfte insbesondere der folgende Versuch (Figg. 12 und 13) lehrreich sein.\nIn Fig. 12 haben wir zwei spitzwinkelige Dreiecke. Von den einander zugekehrten spitzen Winkeln ist ein Schenkel des einen einem Schenkel des anderen parallel; die anderen beiden fallen in ein und dieselbe gerade Linie. Man ist aber geneigt, zu glauben, dies sei nicht vollkommen der Fall, indem die Bichtung der ganzen Winkelspitze einen Einflufs auf die Sch\u00e4tzung der Bichtung der Schenkel \u00fcbt, namentlich wenn man, wie es in der Figur geschehen, den Winkelraum einheitlich ausf\u00fcllt.\nAber die T\u00e4uschung h\u00f6rt auf, ja sie schl\u00e4gt sofort in ihr Gegenteil um, wenn man, so wie in Fig. 13, die beiden einander","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den optischen T\u00e4uschungen.\n7\nparallelen Schenkel ein wenig verl\u00e4ngert. Indem nun neben den spitzen stumpfe Winkel auftreten, werden jene als kleine Winkel \u00fcbersch\u00e4tzt, diese als grofse untersch\u00e4tzt, und es entsteht die entgegengesetzte Illusion. (Vgl. f\u00fcr sie, in meiner\nFigo. 12\u201413.\nAbhandlung \u201e\u00dcber ein optisches Paradoxon\u201c. III. S. 355, Fig. 18). Somit siegt in \u00fcberraschender Weise beim Konflikt der beiden Prinzipien das Prinzip der Winkelsch\u00e4tzung \u00fcber das, welches sich uns f\u00fcr die von Delboeuf geltend gemachten F\u00e4lle als mafsgebend erwiesen hat.1\n1 Bei dieser Gelegenheit mache ich darauf aufmerksam, dafs in meinem zweiten Artikel \u201e\u00dcber ein optisches Paradoxon\u201c in Pig. 3 (Y. S. 64) die Hauptlinie durch einen Fehler der Zeichnung den Eindruck der T\u00e4uschung aufhebt. Sie ist nicht gerade, sondern in einer dem pseudoskopischen Effekt entgegenwirkenden Weise gekr\u00fcmmt. Ich bedauere, dies bei der Revision nicht bemerkt zu haben. Auch Fig. 6 bedarf einer Korrektur; die von b ausgehende punktierte Linie sollte in entgegengesetztem Sinne gekr\u00fcmmt sein.","page":7}],"identifier":"lit15228","issued":"1894","language":"de","pages":"1-7","startpages":"1","title":"Zur Lehre von den optischen T\u00e4uschungen","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:00:48.493552+00:00"}