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{"created":"2022-01-31T17:04:46.443784+00:00","id":"lit15259","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"T\u00f6nnies, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 6: 77-79","fulltext":[{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Litter \u00e4turbericht.\n77\nGem\u00fctsbewegungen (Schreck) zu beziehenden Amnesie. Ihr Gemeinsames ist der Chok, d. h. (wie Referent meint) doch nichts anderes) als die Funkti\u00f6nsl\u00e4hmung einer Partie Nervenzellen und -Fasern, denen die Aufgabe zuf\u00e4llt, die Association des Bewufstseinsinhaltes mit den \u00fcbrigen ihresgleichen zu vermitteln. Von der Er\u00f6rterung der psychologischen Frage des Vorganges steht Verfasser ab.\tFraexkel.\nGeorg Simmel. Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkcnnhuL-theoretische Studie. Leipzig. Duncker u, Humblot,; 1892.\nDie; Aufgabe der Philosophie in Bezug auf Geschichte wild in zwiefacher Weise bestimmt, je nachdem Geschichte wissenschaftliche Vorstellung und Darstellung von Thatsachen, oder aber diese Thatsachen.selber bedeute. So soll sie zuerst nachweisen, wie viele Vorstellungsweisen, die man sonst philosophisch nennt, in der scheinbar rein empirischen Geschichtsforschung enthalten sind. Insonderheit handelt es sich darum, die-psychologischen Interpretationen und Interpolationen, die der Geschichtserz\u00e4hlung regelm\u00e4fsig zugesetzt werden, zu enth\u00fcllen. Ferner um Analyse der metaphysischen Vorstellungen, wodurch s\u00e4mtliche Inhalte der historischen Forschung nach Tendenz, Form; und Inhalt affiniert werden. \u2014 In anderem Sinne hat die Philosophie mit dem Inhalt der Geschichte selbst zu thun, und zwar 1. die Gesetze der Ge-schichte zu finden \u2014 was eine illusorische Bem\u00fchung ist, wenn nicht darauf beschr\u00e4nkt, in vorl\u00e4ufigen Verallgemeinerungen die exakte Erkenntnis zu anticipieren und vorzubereiten; 2. den Zweck und Sinn im geschichtlichen Sein zu erkennen. Hier ist eine eigentliche Erkenntnis nicht m\u00f6glich, weil der Inhalt eines geistigen Prinzips nur aus der Wirklichkeit gewonnen werden kann, die es doch erst erkl\u00e4ren soll. Hingegen kann man symbolische Deutungen der Wirklichkeit nicht als falsch bezeichnen, sofern sie nicht Erkenntnisse, sondern Ausgestaltungen von Interessen sind, die als psychologische Thatsachen unanfechtbar sind.\nDiese Angaben folgen der eigenen Zusammenfassung des Autors am Schl\u00fcsse seiner Schrift (S. 106\u2014109), Der psychologische Faden wird im ersten der drei Kapitel gesponnen und soll die Vorau ssetzun gen, die in der Geschichtsforschung enthalten sind, bezeichnen. \u201eG\u00e4be es eine Psychologie als Gesetzeswissenschaft, so w\u00fcrde Geschichtswissenschaft in demselben Sinne angewandte Psychologie sein, wie Astronomie angewandte Mathematik ist\u201c (S. 2). Die Aufgabe der Geschichte, nicht nur Erkanntes zu erkennen, sondern auch Gewolltes und Gef\u00fchltes, ist nur l\u00f6sbar, indem in irgend einem Modus .psychischer Umsetzung das Gewollte mitgewollt, das Gef\u00fchlte mitgef\u00fchlt wird (S. 15). Nicht erst in der Darstellung wird der Historiker K\u00fcnstler, sondern schon im Processe seiner Erkenntnis ist die dichterische Freiheit enthalten, wenn auch, verglichen mit der Th\u00e4tigkeit des Dichters, in umgekehrter Folge: zuerst an das thats\u00e4chliche Material gebunden, in der Formgebung frei (S. 19). Wesentlich f\u00fcr den psychologischen Nachbildner ist 1. der Umfang seiner eigenen Kr\u00e4fte und der Kategorien, die er an die Dinge heranbringt,.","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nLitteraturbericht.\n2. die thats\u00e4chlichen Erfahrungen die diesen Verm\u00f6gen und Formen den Inhalt gehen (S. 21). Der Procefs des historischen Verstehens ist nur quantitativ von dem des allt\u00e4glichen verschieden, n\u00e4mlich viel schwieriger. Die dunklen Vererbungen, die beim Genie besonders reich und wirksam vorhanden sein m\u00fcssen, k\u00f6nnen allein uns helfen, das nicht Selbsterlebte verst\u00e4ndlich zu machen \u2014 die Ausscheidung der nur pers\u00f6nlichen Inter, pretationen ist um so schwerer (S. 27). Die psychologische Rekonstruktion scheint nur deshalb leidlich zu gelingen, weil es sich in der Geschichte wesentlich um die Interessen und Bewegungen von Gruppen handelt, wo alles allgemeiner, niedriger, deutlicher ist (S. 27)., Das tendenzi\u00f6se Apriori verbirgt sich aber auch hier leichter, das in Auffassung einer Pers\u00f6nlichkeit unvermeidlich scheint, und zwar nach der subjektiven wie nach der objektiven Seite hin wirksam ist. \u201eEs w\u00e4re die wichtigste Aufgabe f\u00fcr die Philosophie der Historik, jene einzelnen Normen festzustellen, die wir auf Grund der Einheitlichkeit1 der Charaktere zu Kriterien der \u00dcberlieferungen und Vehikeln der Darstellung machen; die Latitude, innerhalb deren wir abweichende Handlungen dennoch f\u00fcr m\u00f6glich erkl\u00e4ren; die Entwickelungen und Ab\u00e4nderungen, die wir als selbstverst\u00e4ndlich, aus dem inneren Prinzip der Pers\u00f6nlichkeit folgend, annehmen, und diejenigen, bei denen wir eine Erkl\u00e4rung in den \u00e4ufseren Umst\u00e4nden meinen suchen zu m\u00fcssen\u201c (S. 32).' Als noch tieferes Problem kommt hinzu die gegenseitige Steigerung zwischen dem subjektiven und dem empirischen Faktor jener Vorstellung einer Einheitlichkeit in Menschen, Ereignissen, Gruppen und Zeitabschnitten festzustellen (S. 33). Psychologie ist das Apriori in der Geschichtswissenschaft ; Erkenntnistheorie mufs die Regeln finden, nach denen aus \u00e4ufseren Th\u00e4tsachen auf psychische Vorg\u00e4nge geschlossen wird, und die Regeln, nach denen wir den Zusammenhang zwischen, diesen uns verst\u00e4ndlich machen (S. 33). \u2014 Wie die ganze von. eigent\u00fcmlichem Denken durchdrungene Schrift nicht durch einen Auszug mitteilbar ist, so nicht einmal dieses erste Kapitel. Und d\u00f6ch h\u00e4tte man Grund, dem Verfasser eine gewisse Breite und zu grofse Behaglichkeit vorzuwerfen, womit er in einer \u00e4therischen H\u00f6he seine Reflexionen zusammenflicht, deren Ergebnis zu der m\u00fchevollen und sorgf\u00e4ltigen Arbeit nicht ganz in richtigem Verh\u00e4ltnisse stehen d\u00fcrfte. Trotz dieser Breite wird man bei n\u00e4herem Zusehen, d. h. wiederholtem Lesen finden, dafs der Gedanke auch da fortschreitet, wo er stille zu stehen oder sich hin und her zu bewegen schien. Der praktische Historiker wird, aus diesem ersten Kapitel nicht weniges lernen k\u00f6nnen. Mancher wird sich wundern, wie naiv er bisher verfahren ist, und vielleicht in der Zuversicht, mit der er die Menschen und Dinge auszulegen pflegte, von nun an durch Mifstrauen sich gehemmt f\u00fchlen. Wer aber \u00fcber sich selber sich erheben kann, wird zu einer bewufsteren Gestaltung seiner Th\u00e4tigkeit sich angeregt finden und dadurch nicht verlieren. Wenn diese Er\u00f6rterung so etwas, zu leisten vermag, so ist ihr damit ein betr\u00e4chtlicher Wert gesichert. Dafs der Historiker in erster Linie Psychologe sein mufs, hat unser Autor mit Sch\u00e4rfe und auf mannigfache Weise hervorgehoben. Wenn ich eine kritische Empfindung \u00e4ufsern darf, so wollte ich, dafs er das Moment","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\t79\nder Massen-Psychologie zu st\u00e4rkerer Wirkung h\u00e4tte gelangen lassen. Er bemerkt so treffend, dafs hier die richtige Deutung viel leichter und wahrscheinlicher ist. Er h\u00e4tte aber hinzuf\u00fcgen d\u00fcrfen, dafs hier die eigentliche Aufgabe des Historikers gelegen ist, sofern diese in strengerem Sinne als eine wissenschaftliche begriffen wird. Von der herk\u00f6mmlichen k\u00fcnstlerischen Th\u00e4tigkeit des Historikers, die in der psychologischen Portr\u00e4tierung ihre Triumphe feiert, werden wir freilich uns gar viel schenken m\u00fcssen, wenn wir an ihn die Forderung stellen, vor allen Dingen die elementaren Volksentwickelungen, die im ganzen so einfach als im einzelnen uns\u00e4glich kompliciert sind, in der Verl ettung ihrer Ursachen und Wirkungen zu erforschen und darzustellen. Offenbar l\u00e4fst sich an des Verfassers eigene S\u00e4tze das Korollar anf\u00fcgen: je mehr sichere Psychologie, desto mehr Wissenschaft in der Geschichte. Die Massen-Psychologie ist sicherer. Ergo \u2014 Wir fordern aber diese Artung der Geschichte aus ganz anderen Ursachen. Unser Interesse an den wirklichen Kausalit\u00e4ten des sozialen Lebens, denen die grofsen M\u00e4nner, F\u00fcrsten und Feldherren untergeordnet sind, w\u00e4chst sichtlich mit den Schwierigkeiten unseres eigenen socialen Lebens. Wir w\u00fcnschen das Bewegungsgesetz vergangener Ereignisse zu entdecken, um aus gegenw\u00e4rtigen Bewegungen auf zuk\u00fcnftige schliefsen zu k\u00f6nnen. \u2014 Der Ehrgeiz unseres Autors scheint aber dahin zu gehen, gleichsam zeitlos zu philosophieren. Er f\u00fcrchtet, die Eeinheit und Allgemeinheit seiner Gedanken durch Ber\u00fchrungen mit dem Marktplatze zu tr\u00fcben. Ich weils diese Scheu zu w\u00fcrdigen; aber ich m\u00f6chte doch raten, in etwas resoluterer Weise an die Sachen selbst heranzugehen und nicht zu enge in die eigenen vier W\u00e4nde erkenntnistheoretischer Begriffe Sich einzuschliefsen. \u2014 Die Form ist immer elegant. Aber man freut sich auch, wenn sie, wie im zweiten Kapitel, etwas lebhafter wird. Auch dieses und das dritte geh\u00f6ren sicherlich zu dem Geistreichsten, was neuerdings \u00fcber Inhalt und Sinn der Geschichte er\u00f6rtert worden ist.\nF. T\u00f6n .MKS (Kiel).\nGustav Siegert. Das Problem der Kinderselbstmorde. Leipzig. 1893.\nR. Voigtl\u00e4nder. 96 S.\nDie p\u00e4dagogische Litteratur hat neuerdings einen Aufschwung genommen, und was mehr ist, sie ist bem\u00fcht, sich auf den Boden der Naturwissenschaften zu stellen.\nEin ebenso r\u00fchriger, wie gewandter Vork\u00e4mpfer nach dieser Richtung hin ist Siegert, und das Problem, das er sich in der vorliegenden kleinen Schrift gesteckt hat, ist wohl geeignet, das Interesse weiterer Kreise zu erregen. Denn wenn schon mit dem Selbstmorde, der freiwilligen Vernichtung des eigenen Ichs, eine Reihe von Fragen der verschiedensten Art verkn\u00fcpft ist und ihrer L\u00f6sung harrt, so ist dies beim Selbstmorde der Kinder noch vielmehr der Fall.\nDie Kindheit ist das Alter des naiven Egoismus, leichter Sinn und Leichtsinn sind zwei unl\u00f6sbar mit dem Worte Kind verbundene Eigenschaften, und wenn es hier trotzdem zu einer solchen Handlung der Verzweiflung kommt, wie sie der Selbstmord ist, so m\u00fcssen andere","page":79}],"identifier":"lit15259","issued":"1894","language":"de","pages":"77-79","startpages":"77","title":"Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie, Eine erkenntnistheoretische Studie. Leipzig, Duncker u. Humblot 1892","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:04:46.443790+00:00"}