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{"created":"2022-01-31T17:03:37.714649+00:00","id":"lit15260","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Pelman, C.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 6: 79-80","fulltext":[{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\t79\nder Massen-Psychologie zu st\u00e4rkerer Wirkung h\u00e4tte gelangen lassen. Er bemerkt so treffend, dafs hier die richtige Deutung viel leichter und wahrscheinlicher ist. Er h\u00e4tte aber hinzuf\u00fcgen d\u00fcrfen, dafs hier die eigentliche Aufgabe des Historikers gelegen ist, sofern diese in strengerem Sinne als eine wissenschaftliche begriffen wird. Von der herk\u00f6mmlichen k\u00fcnstlerischen Th\u00e4tigkeit des Historikers, die in der psychologischen Portr\u00e4tierung ihre Triumphe feiert, werden wir freilich uns gar viel schenken m\u00fcssen, wenn wir an ihn die Forderung stellen, vor allen Dingen die elementaren Volksentwickelungen, die im ganzen so einfach als im einzelnen uns\u00e4glich kompliciert sind, in der Verl ettung ihrer Ursachen und Wirkungen zu erforschen und darzustellen. Offenbar l\u00e4fst sich an des Verfassers eigene S\u00e4tze das Korollar anf\u00fcgen: je mehr sichere Psychologie, desto mehr Wissenschaft in der Geschichte. Die Massen-Psychologie ist sicherer. Ergo \u2014 Wir fordern aber diese Artung der Geschichte aus ganz anderen Ursachen. Unser Interesse an den wirklichen Kausalit\u00e4ten des sozialen Lebens, denen die grofsen M\u00e4nner, F\u00fcrsten und Feldherren untergeordnet sind, w\u00e4chst sichtlich mit den Schwierigkeiten unseres eigenen socialen Lebens. Wir w\u00fcnschen das Bewegungsgesetz vergangener Ereignisse zu entdecken, um aus gegenw\u00e4rtigen Bewegungen auf zuk\u00fcnftige schliefsen zu k\u00f6nnen. \u2014 Der Ehrgeiz unseres Autors scheint aber dahin zu gehen, gleichsam zeitlos zu philosophieren. Er f\u00fcrchtet, die Eeinheit und Allgemeinheit seiner Gedanken durch Ber\u00fchrungen mit dem Marktplatze zu tr\u00fcben. Ich weils diese Scheu zu w\u00fcrdigen; aber ich m\u00f6chte doch raten, in etwas resoluterer Weise an die Sachen selbst heranzugehen und nicht zu enge in die eigenen vier W\u00e4nde erkenntnistheoretischer Begriffe Sich einzuschliefsen. \u2014 Die Form ist immer elegant. Aber man freut sich auch, wenn sie, wie im zweiten Kapitel, etwas lebhafter wird. Auch dieses und das dritte geh\u00f6ren sicherlich zu dem Geistreichsten, was neuerdings \u00fcber Inhalt und Sinn der Geschichte er\u00f6rtert worden ist.\nF. T\u00f6n .MKS (Kiel).\nGustav Siegert. Das Problem der Kinderselbstmorde. Leipzig. 1893.\nR. Voigtl\u00e4nder. 96 S.\nDie p\u00e4dagogische Litteratur hat neuerdings einen Aufschwung genommen, und was mehr ist, sie ist bem\u00fcht, sich auf den Boden der Naturwissenschaften zu stellen.\nEin ebenso r\u00fchriger, wie gewandter Vork\u00e4mpfer nach dieser Richtung hin ist Siegert, und das Problem, das er sich in der vorliegenden kleinen Schrift gesteckt hat, ist wohl geeignet, das Interesse weiterer Kreise zu erregen. Denn wenn schon mit dem Selbstmorde, der freiwilligen Vernichtung des eigenen Ichs, eine Reihe von Fragen der verschiedensten Art verkn\u00fcpft ist und ihrer L\u00f6sung harrt, so ist dies beim Selbstmorde der Kinder noch vielmehr der Fall.\nDie Kindheit ist das Alter des naiven Egoismus, leichter Sinn und Leichtsinn sind zwei unl\u00f6sbar mit dem Worte Kind verbundene Eigenschaften, und wenn es hier trotzdem zu einer solchen Handlung der Verzweiflung kommt, wie sie der Selbstmord ist, so m\u00fcssen andere","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturberickt.\n80\nUrsachen wirksam sein, die wir aufserhalb der Natur des Kindes zu suchen haben.\nIm ersten Abschnitte giebt Siegert einige statistische Belege, die, obwohl unvollst\u00e4ndig, doch so viel ergeben, dafs in den Jahren 1883\u201488 in Preufsen 289 Sch\u00fclerselbstmorde zur Anzeige gebracht wurden, d. h. 48 im Jahre.\nSiegert fafst sie ihrer Mehrzahl nach als pathologische Erscheinungen auf, und das gilt auch dann, wenn aufser der individuellen Anlage noch besondere sociale Motive vorhanden sind, die der Natur der Sache nach meist im Schulleben, in der Erziehung und Strafe liegen werden.\nDabei w\u00e4re es verkehrt, wollte man die Kinderselbstmorde lediglich als ein Produkt unserer Zeit ansehen. Die Bedingungen daf\u00fcr waren auch fr\u00fcher vorhanden, namentlich soweit krankhafte Veranlagung und harte Behandlung als Ursache in Frage kamen.\nAndererseits aber soll nicht bestritten werden, dafs das heutige Leben ganz andere und vielfach \u00fcbertriebene Anforderungen an das kindliche Gehirn stellt, die sich besonders dort verderblich erweisen m\u00fcssen, wo sie von vornherein auf eine mangelhafte Organisation des Gehirns stofsen. Der Satz, dafs unsere Zeit in dem Zeichen der Nervosit\u00e4t stehe, wird uns zu oft vorgehalten, um nicht einen Teil unserer \u00dcberzeugung zu bilden, und diese Nervosit\u00e4t wird immer mehr und immer intensiver auf die Jugend \u00fcbertragen\nDie mit Nervenschw\u00e4che und verminderter Widerstandskraft behafteten Kinder sind dem allgemeinen Wettkampfe nicht gewachsen, und wenn sie alsdann unterliegen und sich eigenm\u00e4chtig dem Elende ihres Daseins entziehen, so liegt darin eine ernste Mahnung f\u00fcr Eltern und Erzieher, mehr, wie dies gew\u00f6hnlich geschieht, R\u00fccksicht auf die pers\u00f6nlichen F\u00e4higkeiten und Eigenschaften der Kinder zu nehmen.\nWenn man einem Kinde mehr auf erlegt, als es tragen kann, dann darf man sich nicht wundern, wenn es unter der Last erliegt, und wenn in der ganzen Anlage des Unterrichts der Geist auf Kosten der k\u00f6rperlichen Entwickelung zu immer gr\u00f6fseren Leistungen angetrieben wird, so mufs man auch darauf gefafst sein, dafs die \u00fcberreizte und \u00fcberlastete Gehirnth\u00e4tigkeit sich in sonst unerkl\u00e4rlichen Handlungen ent-\u00e4ufsert. Hier kann nur R\u00fcckkehr zu einfacheren Lehrpl\u00e4nen, Erweiterung der k\u00f6rperlichen Erziehung, Verhinderung der Vielleserei und \u00dcberb\u00fcrdung, kurz eine nach neuen, einfachen und hygienischen Grunds\u00e4tzen eingerichtete Erziehung H\u00fclfe bringen. Einfachheit, Licht und Kraft \u2014 in diesem Zeichen m\u00f6gen Gesellschaft, Familie und Schule gegen die Kinderselbstmorde zu Felde ziehen, dann mufs ihnen der Sieg bleiben !\nPelma>\u2019.","page":80}],"identifier":"lit15260","issued":"1894","language":"de","pages":"79-80","startpages":"79","title":"Gustav Siegert: Das Problem der Kinderselbstmorde. Leipzig 1893, R. Voigtl\u00e4nder","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:03:37.714655+00:00"}